Der Rabenvater

Der Vater Rhein floss friedlich in seinem Bett. Die Wellen kräuselten sich in dessen Mitte schwollen an, strebten ans Ufer und brandeten dort ab.

Die Schiffe, die sich dort in langsamen gleichmäßigen Takt bewegten sorgten ständig für Nachschub. Die Nachmittagssonne spiegelte sich im Wasser und strebte beständig dem Horizont entgegen, der dort voller Sehnsucht auf sie zu warten schien.

Geschäftigkeit herrschte an der Promenade der kleinen malerischen Stadt Königswinter.

Elena hatte dort auf einer Bank Platz genommen und richtete ihren Blick auf den uralten majestätisch dahinfließenden Strom.

Neidhardt war vor wenigen Minuten in die kleine schmucke Pension zurückgekehrt, in deren gastliche Mauern sie sich vor drei Tagen eingemietet hatten. Er fühlte sich etwas müde und sehnte sich nach Ruhe.

Der alte Revolutionär, das zurückliegende Jahr daran gewöhnt in völliger Abgeschiedenheit in seinem Bunker zu leben, tat sich schwer daran in das pulsierende Leben zurückzukehren. Elena sah ihm das nach, so wie viele anderer seiner Marotten auch.

Sie selbst genoss die Rückkehr ins Leben in vollen Zügen, hatte sich sofort in das kleine Touristenstädtchen am Ufer des Rheins verliebt und war ständig damit beschäftig seine Kleinodien auszukundschaften.

Wie nicht anders zu erwarten, zog ihr Erscheinungsbild die Blicke magisch an, sobald sie sich in der Öffentlichkeit blicken ließ.

Zwar hatte sie ihre kupferrote Lockenmähne kunstvoll unter einem Tuch aus feinem violett-farben Leinen verborgen und eine Sonnebrille sorgte für zusätzliche Tarnung, doch ihr sinnlich-erotisches Erscheinungsbild ließ sich nicht verbergen.

Stets und ständig war sie im Focus aufdringlicher Kavaliere, die sie umschwirrten wie Motten eine Neonleuchte.

Mit ihrem souveränen Auftreten verstand sie es zwar diese in Handumdrehen abzuweisen, doch nicht immer schienen die das auch zu verstehen. Einem besonders hartnäckigen Subjekt, hatte die erfahrene Karatemeisterin erst an diesem Morgen schlagkräftige Nachhilfe in Sachen Anstand erteilen müssen.

Sie war es gewohnt auf sich aufzupassen und kam gut mit solchen Situationen zurecht, trotzdem war sie erleichtert, wenn Neidhardts wuchtige Gestalt an ihrer Seite ging, den man natürlich auf den ersten Blick für ihren Vater halten musste.

 

Sie wollten sich keineswegs unter Druck setzen und hatten beschlossen, erst einmal ein paar Tage auszuspannen, zu genießen, bevor sie sich ihren jeweiligen Missionen widmen wollten.

Neidhardts Tochter Lucy, die in Köln in einer WG lebte, wollte sie hier aufsuchen, um auf diese Weise den Kontakt mit dem unbekannten Vater zu suchen. Es war nicht weiter verwunderlich, dass sich dessen Nervosität von Tag zu Tag steigerte.

 

War dies vollbrach kam für Elena die Stunde der Wahrheit. Die Rückkehr in den Schoß der Schwesternschaft, die noch immer in den Mauern der Akademie in Bensberg beheimatet, ihrer Rückkehr in die Heimat nach Anarchonoplis harrten.

Das konnte schon bald geschehen, denn die Nachrichten aus Akratasien überschlugen sich. Der Diktator stand offensichtlich mit dem Rücken zur Wand. Es schien nur noch eine Frage der Zeit bis zu seiner Entmachtung.

Die Exilgemeinde saß schon jetzt auf gepackten Koffern.

 

Umso mehr Eile schien geboten. Lucy hatte für morgen ihren Besuch angekündigt, sicher war das nicht. Sollte sie nicht erscheinen, hatten sie sich vorgenommen sie in Köln aufzusuchen.

Elena fieberte ihrer Rückkehr in den Schoß der Schwesternschaft entgegen. Einen weiteren unnötigen Aufschub wollte sie unbedingt vermeiden.

Natürlich hätten sie auch in Akratasien verbleiben können, um die Rückkehr der Exilgemeinde nach Anarchonopolis abzuwarten. Doch dann würde Lucy wohl nie mit ihrem Vater zusammenkommen.  Elena schien es außerordentlich wichtig, dass Neidhardt endlich mit seinem Fleisch und Blut zusammentraf.

 

Elena erhob sich und schritt noch einige Zeit an der Rheinpromenade auf und ab, bevor sie sich ebenfalls auf den Weg in ihre Pension machte, die nicht weit vom Ufer entfernt lag.

Es ging durch die engen Gassen mit den schmucken Geschäften und der kleinen barocken Kirche des Ortes.

Ein sanfter warmer Wind wehte ihr vom Rhein herüber. Elena schlenderte, sie hatte es nicht eilig.

Genießen, einfach nur das neu geschenkte Leben genießen, so ihre Devise.

 

Schließlich trat sie in das kleine im rustikalen rheinländischen Stil eingerichtete Haus, das sie Pension beherbergte. Schritt die Treppe hinauf und den Flur entlang, trat in das geräumige Zimmer.

Neidhardt lag auf dem breiten Doppelbett und schreckte in die Höhe.

„Entschuldige! Hab ich dich aufgeweckt? Das war nicht meine Absicht.“

 

„Wie? Äh…ja..äh… nein, nein, keine Ursache Elena. War nur ein kleines Nickerchen.“

„Geht es dir gut? Kreislauf in Ordnung?“ Sprach Elena, während sie sich auf der Bettkante niederließ.

„Ja! Ja, ich glaube schon. Ich darf mir am Anfang nicht zuviel zumuten. Der alte Eremit muss erst langsam ins Leben zurückfinden.“

„Natürlich! Geh es langsam an. Deshalb haben wir ja diese Ruhephase am Anfang eingelegt.

Wie sieht es mit morgen aus. Fühlst du dich wirklich in der Lage deine Tochter zu treffen?“

Wollte Elena wissen, während ihre Hand langsam über Neidhardts Kopf strich.

 

„Ich bin bereit! Auch wenn ich meine Nervosität nicht leugnen kann. Ist ein komisches Gefühl. Meine Tochter! Mir wird eine erwachsene Frau gegenüberstehen. Ich denke so kann ich sie betrachten?“

„Sicher doch! Sie wird bald 20 in dem Alter ist ein Mensch schon erwachsen. Es gibt nicht wenige Frauen, die in diesem Alter selbst schon Mutter sind.“

„20 Jahre! Ich kann es nicht glauben. Kann man diese Zeit einfach so beiseiteschieben? Ich hab sie nie als kleines Mädchen erlebt, war nicht dabei als sie sich entwickelte in Richtung Teenager, schließlich zur jungen Frau.“ Gestand Neidhardt mit einem Seufzer in der Stimme.  

„Klar! Da fehlt etwas. Das ist nicht zu leugnen. Aber da bist du nicht der Einzige dem es so geht. Du reihst dich ein in eine lange Riege von Männern, die sich erst spät ihrer Rolle als Vater erfreuen können.“ Versuchte Elena zu beschwichtigen.

 

Neidhardt erhob sich und streckte seine langen Beine aus.

„Es kommt erschwerend hinzu, dass ich kein junger Mann mehr bin. Ich bin 65 Jahre, schon du könntest altersmäßig meine Tochter sein. Lucy ist noch eine Generation weiter entfernt. Also eher eine Enkeltochter Ich weiß wirklich nicht, was ich da noch aufholen könnte. Ist alles ein wenig viel für mich. Ich glaube das ich der Sache eher nicht gewachsen bin.“

Elena griff nach seiner rechten Hand.

„Du schaffst das. Es wird nicht leicht, das ist mir schon bewusst. Aber nichts ist unmöglich. Ich werde dabei sein, halte mich zwar zunächst zurück. Solltest du Hilfe brauchen, signalisiere sie mir so wie wir vereinbart haben.“

„Ich werde daran denken.“

 

Neidhardt erhob sich. Nachdem er auf seinen Beinen stand, begann er kurz zu schwanken.

Wie ein Blitz erhob sich Elena und stand an seiner Seite.

„Dir ist nicht gut, nicht wahr? Es ist doch der Kreislauf. Hast du deine Medikamente eingenommen?“

„Jaja! Natürlich!

„Na? Ich sehe nach!“

„Ich hab sie geschluckt! Kannst du glauben! Es ist die Umgebung. Wunderschöne Gegend hier, kein Zweifel, ich fühle mich wohl hier. Aber andererseits habe ich auch das Verlangen nach der Abgeschiedenheit des Bunkers. Ich muss jetzt einfach noch mal an die frische Luft.“

 

„Sicher! Die wird dir guttun! Ich werde dich begleiten.“Bot Elena sofort an.

„Nein, nicht böse sein. Ich muss einfach einen Augenblick mit mir ganz alleine sein. Keine Angst. Ich habe einen Deal mit dem Tod. Der lässt mir noch ein paar Jahre.“ Lehnte Neidhardt ab.

„Wie du willst! Das Handy hast du dabei? Wenn etwas ist, pieps mich an, dann eile ich so schnell ich kann.“

„Danke Frau Doktor! Wie praktisch es doch ist eine waschechte Ärztin zu lieben.“

Neidhardt setzte seine Mütze auf den Kopf, ohne die er nie auf die Straße ging. Dann trat er ins Freie.

Elena blickte ihm nach. Ihr war nicht wohl dabei.

 

Es war in der Tat von Vorteil für den alten Revolutionär, dass er mit Elena immer eine Medizinerin an seiner Seite hatte, auch wenn die ihren Beruf sehr lange nicht mehr ausgeübt hatte. Elena hatte ihn mehrfach untersucht. Seine Kondition war noch gut. Er klagte auch nie, das verbot ihm seine Ehre. Trotzdem machte sie sich Sorgen.

„Ich glaube, dass ich der Sache nicht gewachsen bin!“ Diese Worte klangen noch lange in ihr nach. So eine Aussage aus seinem Mund zu vernehmen, stellte ein absolutes Novum dar.

Er der große Kämpfer, der Revolutionär, ein Kleiderschrank von Mann, stets bereit im Kampf vorauszugehen, der nie eine Aufgabe scheute und der größten Gefahr zu trotzen vermochte, fühlte sich auf einmal einer Sache nicht gewachsen.

Er hatte sich verändert, das Leben hatte ihn verändert, die Lebensbedingungen, die Leere, die sich in seiner Seele auftat. Er wurde alt. Bei der Vorstellung ihn als tatterigen Greis zu erleben, schauderte Elena.

 

Sie schüttelte den Gedanken von sich und versuchte sich auf das hier und jetzt zu konzentrieren.

 

Den Abend verbrachten beide wieder gemeinsam, auf der Bank auf der Uferpromenade sitzend und den vorbeifahrenden Schiffen zusehend.

 

Über den Folgetag breitete sich von Anfang an eine immense Spannung aus.

Lucy hatte sich für den frühen Nachmittag angesagt, Treffpunkt auch heute an der Haltestelle Denkmal an der Rheinpromenade Königswinter. Elena und Neidhardt hatten sich diesen Platz als ihren Lieblingsort erkoren.

Bevor sie aufbrachen, hatte es eine kleine Auseinandersetzung über Neidhardts Kopfbedeckung gegeben. Elena hatte Neidhardt einen breitkrempigen Hut** aus feinen beigefarbenen Leinen gekauft. Der aber hatte sich nur widerwillig dazu bereitgefunden, diesen auch auf den Kopf zu setzen.   

 

Auch am Rheinufer konnte er sich damit nicht recht anfreunden.

„Ich weiß überhaupt nicht was du hast? Ich finde, der Hut steht dir ausgezeichnet. So, ein wenig schräg und er passt sich leger an. Passt ausgezeichnet.“

Selbst die große Elena musste sich auf die Zehenballen erheben, um an seinen Kopf zu gelangen.

„Ein breitkrempiger Hut, ich bitte dich, du willst unbedingt einen Dandy aus mir machen. Ich glaube auf meine alten Tage habe ich das nicht verdient.“

„Aber du geht’s doch sonst nie ohne Kopfbedeckung aus dem Haus.“

„Ja, meine speziellen. Baskenmütze oder Ernst-Thälmann-Mütze. Die sind meiner angemessen. Ich habe sie ein Leben lang getragen. Ich verstehe nicht, warum ich mich jetzt noch umstellen soll.“

„Die will ich dir ja auch nicht übelreden. Aber alles, wo es hingehört. Zur Rheinpromenade gehört ein solcher Hut. Die breite Krempe schütz doch gut vor der Sonne, die Mützen tun das nicht.“

 

„Ach was! Ich sehe wie eine Vogelscheuche aus. So jetzt werfe ich ihn in den Rhein, wo er schon lange hingehört!“

„Untersteh dich! Komm! Komm, gib den Hut her!“ Elena zog ihn aus seiner Hand.

„Setzt dich wieder auf die Bank!“

Neidhardt gehorchte und nahm Platz.

„So jetzt sitzt er wieder! Da bleibt er auch! Verstanden?“ Elena ließ sich auf seinem Schoß nieder.

„Brrrrrr, alter Sturkopf!“

„Elena geh runter! Was sollen denn die Leute denken?“

„Die Leute! Was interessieren mich die Leute!“

 

Nach einer Weile erhob sie sich doch kurz, um sich sogleich an seiner Seite zu platzieren.

 

„Was warten wir hier eigentlich noch? Die kommt nicht! Die lässt uns bis zum Abend sitzen!“

Meckerte Neidhardt sich dabei zur Seite drehend.

„Na und wenn schon? Wir haben Zeit. Dann sitzen wie eben bis zum Abend, ist schön hier, ich könnte einen ganzen Tag so verbringen, ohne dass es mir langweilt. Hast du etwas was Bestimmtes vor?“

„Nein! Natürlich nicht!“

„Na siehst du!“

„Aber meinen Mittagsschlaf hat sie mir geraubt!“

„Du bist unmöglich Neidhardt. Du kannst doch einmal darauf verzichten. An einem solchen Tag. Der ist ausgesprochen wichtig, entscheidend für dein ganzes weitere Leben.“

Versuchte Elena auf den Ernst der Situation zu weisen.

„So? Wichtig! Findest du? Ist der das tatsächlich?“

„Ach Mensch, alter Sturkopf!“

Elena drehte sich auf der Bank, Neidhardt tat es ihr gleich. Das brachte es mit sich, dass sie eine Weile Rücken an Rücken saßen und jeder für sich dahinschmollten.

Auf diese Weise war es ihnen entgangen, dass die letzten Siebengebirgsbahn eine junge Dame entstiegen war und sich ihnen bereits genähert hatte.

Sie betrachtete das ungleiche Paar zunächst eine Zeitlang aus der Distanz, konnte sich dabei ein Lachen nicht verkneifen.

Dann machte sie einen Schritt auf die beiden zu.

 

„Na ihr seid mir zwei komische Vögel. Wie ein Liebespaar seht ihr nicht gerade aus. Oder habe ich etwa die Falschen angequatscht? Du bist Elena, nicht wahr? Nicht zu übersehen. Wau, du bist tatsächlich ne heiße Braut. Aber viel geiler als auf Bildern. Naja, natura ist eben natura.“

„Dann bist du Lucy, wenn ich mich nicht irre:“ Antwortete Elena.

„Genau die!  Und du bist also der Typ, der mich vor fast zwei Jahrzehnten gezeugt hat. Neidhardt, der große Neidhardt, vor dem die Welt einst zitterte. Wenn ich dich so betrachte, siehst du nicht gerade Furcht einflößend aus.“

Neidhardt verschlug es die Sprache.

Vor ihnen stand eine junge Frau in gemäßigtem Punkeroutfit.

Springerstiefel und schwarze Khakihose, ein ebenso farbiges hochgeschlossenes Muskelshirt, darüber eine ausgewaschene hellblaue Jeansweste, mit jeder menge Stickers daran. Silbernglänzende Metallketten um den Hals, Ringe an den Fingern und einem kleinen Nasenring, der sofort ins Auge fiel, ebenso auffälligen zahlreichen Ohrringen. Die Fingernägel mit kunstvoll angelegtem rot-schwarzem Lack verziert verrieten sogleich ihre Gesinnung. Die Haare hatte sie sich an den Schläfen, etwa 3cm abrasiert. Die verblieben in pink-grün gefärbt.

 

Eine Person, die durch bloßes Betrachten schon die Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein ausgesprochen hübsches feminines Gesicht, gepaart mit den Manieren eines Jungen. Ihr ganzes Auftreten und Gehabe durch und durch jungenhaft.

Elena war vom ersten Augenblick an von der Gestalt fasziniert. Neidhardt jedoch schien ganz und gar nicht begeistert. Ihr Auftritt hatte ihn tief schockiert. Er war es einfach nicht gewohnt, dass jemand so mit ihm redete.

 

„Guten Tag! Du hast richtig geraten. Ich bin Neidhardt. Und du bist also meine Tochter. Nun, ich bin in der Tat etwas überrumpelt. Ich habe zwar Bilder von dir betrachtet, trotzdem aber waren meine Vorstellungen von dir deutlich anders.“ Wagte er eine Reaktion.

„So ne Art Püppchen oder was, Marke Barbie in Fleisch und Blut. Na toll, kann ich mir vorstellen. So sieht keine Frau aus die sich eine anständige Mutter als Schwiegertochter wünscht. Oder ein Rabenvater, der ihr das erste Mal gegenübersteht.“

 

Elena konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, versuchte es aber geschickt zu verbergen, wollte sie Neidhardt doch nicht damit brüskieren.

„Ich muss doch sehr bitten?“ Brauste Neidhardt auf.

„Ja von mir aus! Also, nun bin ich hier. Was gibt es zu bequatschen? Meine Vorstellungen? Hmm…schwer zu sagen. Plötzlich einen Vater zu bekommen is nich gerade einfach. Ich hätte mir ehrlich gesagt auch nen cooleren Typ gewünscht.“

„Dann endschuldige das ich deinen Vorstellungen nicht entspreche. Dann liegen wir aber beide auf einer Linie.“ Beschwerte sich Neidhardt.

 

„Hey, immer cool bleiben. Musst nicht immer gleich den Beleidigten spielen. Is nich immer so gemeint wie gesagt. Ich hab halt ne große Klappe, das is alles.“

„Ja, das merkt man. Das ist nicht zu übersehen.“ Neidhardts Blick verfinsterte sich und auf seiner Stirn bildete sich eine Zornesfalte. Elena fühlte sich zum Eingreifen genötigt, wollte sie doch eine Eskalation vermeiden.

 

„Also, wenn ich mal was sagen darf. Ihr seid jetzt erst mal hier zusammen. Gegenseitiges Beschnuppern, wie du in deinem Brief geschrieben hast Lucy. Nun gut, tut es. Wenn ihr euch aber von Anfang an nur zankt und streitet, dann habe ich wenig Hoffnung.“

 

Lucy rückte näher an Neidhartd heran und begann ihn im wahrsten Sinne des Wortes zu beriechen. Dem schien das ausgesprochen unangenehm.

„Na, jetzt hörst sich doch alles auf.“

 

Elena konnte nun das Lachen nicht mehr unterdrücken, ein Umstand, der ihn noch mehr auf die Palme brachte.

„Naja, nix besonders. Riecht so wie alle Männer.“

Dann kramte Lucy in ihrem Rücksack, holte Tabakbeutel und Feuerzeug hervor. Verteilte den Tabak kunstgerecht auf dem Blättchen und drehte sich eine, leckte an der Nahtstelle und steckte sich das fertige Produkt in den Mund. Dabei presste sie auf lässige Art die Lippen zusammen.

Sie betätigte das Feuerzeug und begann den Rauch zu inhalieren.

Die Zigarette hielt sie nun wieder mit einer sinnlichen fast damenhaften Geste in den Fingern und blies den Rauch genüsslich in die Luft.

Elena war von diesem Anblick hingerissen, ihr Interesse an dieser unkonventionellen jungen Frau, die so in ganz und gar kein Schema zu passen schien steigerte sich von Augenblick zu Augenblick.

 

Neidhardt hingegen trachtete danach dieser Gemeinschaft so bald als möglich zu entkommen.

Und hachelte unruhig auf der Bank hin und her.

Lucy ließ sich im Gras neben der Bank nieder und blickte ihn immerfort an.

„Willst du mich nur anstarren oder mit mir ins Gespräch kommen?“ Wollte der alte Revolutionär wissen.

„Kommt ganz drauf an was du zu bieten hast. Naja, da gibts schon ne Menge an Fragen. Über deine Biographie brauchste nix zu erzählen, die kenn ich in und auswendig. Meine Mum hat ausführlich Bericht erstattet. Sie war der Meinung ich solle das wissen. Ich bin im Bilde. Naja und wir leben schließlich im Medienzeitalter, wie man so schön sagt. Du warst ne zeitlang ständig in den Schlagzeilen, natürlich vor allem negativer Natur.“

 

„Du musst nicht um den heißen Brei reden. Du magst mich nicht, ist doch klar. Hab ich sofort bemerkt. Nun denn, es beruht auf Gegenseitigkeiten. Wir müssen das Gespräch nicht fortsetzen. Wir können hier einen Schlussstrich ziehen und alle nachhause gehen. Das Gespräch hat nie stattgefunden.“ Erboste sich Neidhardt

 

„Hey, was biste denn gleich so pinselich. Lass mich doch erst zu Ende reden, so was tut man üblicherweise. Hab ich so doch gar nicht gemeint. Sorry. Den Diktator Neidhardt mochte ich natürlich nicht, is doch verständlich, oder? Den Revolutionär und Theoretiker Neidhardt fand ich dagegen schon ganz annehmbar, wenn natürlich auch der mit nen paar Ecken und Kanten versehen war. Aber egal. Aber als ich alt genug war, um entscheiden zu können, ob ich dich mal persönlich unter die Lupe nehmen möchte und zu dir fahren, da gabs den Revolutionär eben nich mehr. Und der Diktator? Nee, kein Bedarf!“

 

„So! Und nun? Nun gibt es beide nicht mehr. Was also könnte ich in diesem Fall zu bieten haben, dass für eine junge Dame von Interesse wäre.“

Neidhardts Stimmung schwankte.

 

„Oh, würd ich nich sagen. Wir leben doch in bekloppten Zeiten. Ich denke Revolutionäre sind doch wieder in, oder? Bei euch in Melancholanien, oder Akratasien steht`n echter Kotzbrocken an der Spitze, gegen den warst du geradezu ein Benjamin Blümchen.“

Elena konnte nicht mehr an sich halten und lachte laut los.

 

„Klar, du findest das natürlich komisch. Schön wenn man den alten Neidhardt zur Witzfigur machen kann.“ Brauste Neidhardt nun in Richtung Elena auf.

„Ach was Neidhardt. Merkst du nicht was die Lucy dir sagen will. Zugegeben hat sie ne eigenartige Art benutzt es auszudrücken. Sie mag dich. Stimmt es Lucy? Im Grunde hast du nichts gegen deinen….Vater?“

 

„Öhmmmm, ja..äh. So könnte man es ausdrücken. Aber ist nicht leicht, Vater zu dir zu sagen.

Auch wenn ich schon lange weiß, dass du es bist. Warst halt nie da! Vor allem dann, wenn ich dich gebraucht hätte!“

„Ist doch nicht meine Schuld, verdammt noch mal, wie oft soll ich das noch sagen. Die Zeiten waren eben so damals. Niemand kann aus seiner Haut. Was hätte ich denn tun können?

Na? Was denn?“

 

Jetzt fiel es auch Lucy nicht leicht eine passende Antwort zu finden.

„Siehst du? Du weißt es nicht! Ja, das Leben ist nun mal ein Labyrinth. Es geht nicht immer gerade aus, den gerade Weg gleichsam zum Ziel. Das ist nur den wenigsten vergönnt. Mir war es das nicht. Ich hätte nie die nötige Zeit aufbringen können, mich um eine Tochter zu kümmern. Ich war Revolutionär, ja, tatsächlich. Ich war es mit Haut und Haar. Ich war gleichsam mit der Revolution verheiratet. Kein Platz für Frau und Kind. Wie denn auch?

Ständig im Untergrund, immer die Gefahr vor Augen jeden Moment geschnappt zu werden.

So ging das Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Zwischendurch ins Exil, getrennt von der Heimat. Dann wieder zurück. Hoffnung! Dann wieder Absturz, gerade noch entkommen, wieder Exil. Zerschlagene Hoffung. Alles eine Sache der genauen Analyse. Keine Zeit für Träume, schon gar nicht für jene von romantischer Natur.

Und nun sitze ich hier, gealtert, verbraucht, am Ende, ein Relikt aus vergangenen Tagen, für das es keine Verwendung mehr gibt und höre mir deine Frechheiten an.“

 

Ruhe Stille, Neidhardt verschränkte die Arme und starrte zu Boden.

 

„Na, jetzt hast du aber ordentlich Dampf abgelassen, alle Achtung. Ja, das war dein Leben, ohne Zweifel. Der Berufsrevolutionär hat gesprochen. So sagen sie es alle, die Herren der Revolution. Die Frauen hatten bei dir nix zu sagen. So habe ich das zumindest in Erinnerung. Die haben kaum einen Platz in der Hierarchie der Revolution. Schon artig den Machos die Pantoffeln bringen, wenn sie erschöpft von so viel Revolution nachhause kommen. Aber du hast meiner Mutter nicht mal das gegönnt. Hast dich auf und davon gemacht. Ich brauche keine Berufsrevolutionäre. Deshalb bin ich Anarchistin.“

 

„Ja natürlich! So einfach ist das, wenn man jung ist und alles aus der Perspektive der Jugend betrachtet. Den Kopf noch voller Flausen hat, sich tagtäglich dem Träumen hingeben.“

 

„Ach, nee, jetzt wird`s doch zu blöd. Diese Sprüche sind echt ätzend. Ist doch abgedroschen.

Nur erst mal erwachsne werden, Lebenserfahrung sammeln und so`n Zeug`s kann ich nicht mehr hören. Ich hab mich rechtzeitig vom Acker gemacht. Ich hab mit diesem bürgerlichen Scheiß nix am Hut.“

Die Spannung nahm an Schärfe zu. Elena wollte immer eingreifen, doch sie mochte den beiden auch nicht in die Quere kommen.

Schweigen, tiefes brodelndes Schweigen. Was würde wohl als nächstes folgen.

Auf der Bank nebenan, hatte sich ein Typ niedergelassen, der den Vorgang dem Anschein nach genüsslich folgte. Dabei blickte der mit lüsternem Blick zu den beiden Frauen.

Natürlich hatte er vor allem Elena im Visier.

 

Lucy drehte mehrmals den Kopf in alle Richtungen.

„Ey! Is was? Was glotzt du denn so dämlich?“

Dem Typ schien das zwar zu schockieren, doch wendete er den Blick nicht ab.

„Ey Mann! Verpiss dich aber dalli!“

Lucy präsentierte ihm den Stinkefinger auf sehr penetrante Art.

Wutentbrannt erhob er sich und macht sich aus dem Staub.

„Siehst du, so macht man das!“ meinte Lucy und schnippte dabei auf lässige Art mit dem Zeigefinger die Zigarettenkippe weg.

 

„Du hast aber eine direkte Art zur Sache zu kommen, alle Achtung. Du verschaffst dir von Anfang an Respekt. Das ist imponierend.“ Lobte Elena und schenkte Lucy dabei in sanftes Lächeln.

„Is meine Art. Ich sag den Leuten immer direkt, was ich von ihnen halte. Is nicht immer leicht, aber es funktioniert.“

 

Lucy hatte sich mit wenigen Worten selbst charakterisiert. Schon als kleines Mädchen hatte sie damit begonnen. Nie blieb sie eine Antwort schuldig.  Niemals in die Defensive geraten. Angriff ist die beste Verteidigung, so lautete ihre Devise.

Sich nichts gefallen lassen. Schlag zu bevor du selbst geschlagen wirst.
Sie schien ein unerschütterliches Selbstvertrauen zu besitzen. Traute sich alles zu, auch in den ausweglosesten Situationen behielt sie einen klaren Kopf und ging mit äußerster Konzentration ans Werk. Obwohl sie andererseits auch emotional stark geladen schien und sich bei ihren Wutausbrüchen oft der Gefahr geradezu auslieferte.

Sie war eine Draufgängerin, die in ihrem Auftreten auch den überzeugtesten Macho in den Schatten stellte

 

Lucy war Anarchistin mit jeder Faser ihres Lebens. Beugte sich keiner Autorität und stellte jede Weltordnung in Frage. Es lag auf der Hand das sie mit einem wie auch immer ausgerichteten Avantgardedenken nicht das Geringste anzufangen wusste. Sie bewunderte zwar die alten Revolutionäre a la Neidhardt, konnte sich auch mit einer Reihe von deren Thesen eine Zeit lang identifizieren.

Eine Unterwerfung unter eine Parteihierarchie kam für sie aber unter keinen Umständen in Betracht.

Sie war frei und allem enthoben, nichts konnte sie aufhalten oder zur Strecke bringen, so glaubte sie zumindest. Frei wie ein Sturmwind im November.

Wie es mit ihr einmal weitergehen sollte? Daran verschwendete sie keinen Gedanken. Genieße den heutigen Tag, der morgige wird für sich selbst sorgen, pflegte sie stets zu sagen.

 

Elena bewunderte und bedauerte sie zugleich. Lucys Leben glich einem Tanz auf dem Vulkan. Gefahr lag ständig in der Luft.

Ihr loses Mundwerk imponierte nicht immer und es schien nur eine Frage der Zeit, bis sie einmal an den Richtigen geriet.

 

„Nun das ist zwar einerseits richtig. Andererseits gefährlich. Viele werden sich von deiner Art zu reden abgestoßen fühlen. Offensiv leben, gut und richtig. Aber die Offensive muss in eine bestimmte Richtung laufen. Muss geplant und gut durchdacht sein. Wenn du wirklich etwas im Leben erreichen willst, musst du auch bereit sein, Lehre anzunehmen.“ Versuchte Neidhardt

nun eine sanftere Tour anzuschlagen, doch biss er bei Lucy auf Granit.

„Ach lass diesen Kackscheiß. Damit erreichst du bei mir gar nichts. So nen Stuss höre ich mir schon lange nicht mehr an. Die Scheißmachos können mich mal.“

 

„Das höre ich mir nicht länger an!“

Neidhardt schoss in die Höhe.

Elena hielt ihn unter großer Anstrengung an der Hand fest. Nun war es wohl endgültig an der Zeit die Notbremse zu ziehen.

„Neidhardt bleib hier! Los setzt dich wieder hin!“

Sie zog ihn auf die Bank zurück, was dieser widerwillig zur Kenntnis nahm.

„Und du Lucy halt mal nen Moment die Luft an. Verstanden? Runterkommen! Alle beide. So kommen wir keinen Schritt weiter.

„Is mir doch egal! Ich find das ganze Gequatsche eh nur noch zum Kotzen. Ich denke ich mach nen Abgang.“ Lucy erhob sich vom Boden und klopfte sich den Staub von der Hose.

„Halt hiergeblieben! Hock dich wieder hin! Auf der Stelle!“ Elena die geübte Konfliktmanagerin in auch noch so komplizierten Momenten verstand es geschickt, sofort umzuschalten. Sie bediente sich der Metaphern, die Lucy verwendete und hatte damit Erfolg     

Die nahm augenblicklich wieder Platz, hockte sich auf den Boden und starrte wie gebannt auf Elena.

 

Mit Elenas Autorität schien Lucy erstaunlicherweise keine Probleme zu haben. Die Frage nach dem Warum ließ sich leicht beantworten. Lucy fühlte sich von Elena angezogen

Wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie sich eingestehen, dass sie dem Treffen nur deshalb zugestimmt hatte um Elena kennen zu lernen. Neidhardt spielte dabei nur eine Statistenrolle.

Elenas Charisma war ungebrochen, auch die längere Abwesenheit von der Weltbühne hatte daran nichts geändert.

Einer solchen Powerfrau gegenüber zu Sitzen faszinierte Lucy.

 

„Nun gibt es eine Mediation. Lucy, du wohnst in einer politischen WG, du kannst mit dem Begriff sicher was anfangen.“

„Na logo! Dann schieß mal los!“

 

„Gut, erst mal runterkommen, alle beide, wie ich schon sagte. Jetzt rede ich, die Mediatorin. Ihr werde mich reden lassen, keine Unterbrechung, keine flapsigen Sprüche!“

„Klaro!“ Stimmte Lucy zu.

Neidhardt signalisierte Kopf nickend seine Zustimmung.

 

„Also ihr habt euch jetzt ne ganze Zeit einen Schlagabtausch geliefert. Das ist einerseits gut, denn es soll ja alles auf den Tisch, was von Belang ist. Andererseits ist es kontraproduktiv, denn ihr wollt ja zusammenfinden. Auf diese Weise aber wird nichts draus. Wenn ihr nur auf dem negativen herumreitet, kommt ihr nie auf einen grünen Zweig. Dann hätten wir in der Tat zuhause bleiben können.“

 

„Ja und? Wie weiter? Was schlägst du vor?“ Wollte Neidhardt wissen.

„Neidhardt, keine Unterbrechung. Ich war noch nicht fertig. Nähe suchen, sich miteinander vertraut machen. Versuchen den oder die andere kennen zu lernen, dass solltet ihr jetzt tun. Und zwar auf ruhige und sachliche Art

Über unser Leben bist du im Bilde Lucy, davon gehe ich zumindest einmal aus, oder?“

 

„Ja, ihr ward früher mal ständig in den Schlagzeilen. Nun die letzte Zeit nicht mehr so oft. Hat mir gefehlt, da bekomme ich fast Entzugserscheinungen, vor allem deine Präsens in den Medien, Elena. Sorry Neidhardt, war nich so gemeint.“

„Gut, das könnte sich schon bald ändern.“ Richte Elena einen kurzen Blick in die Zukunft.

 „Eh, echt cool.“

 

„Wir wollen nicht von mir reden, Lucy, sondern von dir. Wie lebst du? Was machst du den ganzen Tag. Wie stellst du dir dein weiteres Leben vor? Was hast du für Träume?“

Hakte Elena weiter nach.

„Eh, Elena, das is ja wie beim Psychioklempner. Woll`n wir auf dieses Niveau sinken? Nö, da kannste mich nich hinterm Ofen vorlocken.“ Lehnte Lucy ab.

 

„Sorry! Mal wieder in alte Denkstrukturen gerutscht. Du hast also Erfahrung mit den Psychioheinis? Gut, dass du das erwähnt hast. Die mag ich ebenso wenig wie du. Aber darüber sprechen wir ein andermal.

Aber mal nen bischen erzählen von dir. Wie lebt es sich in der Clique?“

 

„Ach ganz gut. Bin da einigermaßen untergekommen, sind recht cool, die Jungs. Hätte es wesentlich schlechter haben können. Auf Dauer ist das natürlich nix, bin noch am Suchen.“

„Arbeiten tust du nicht?“ Schaltet sich nun Neidhardt wieder ein

„Nee, da hab ich keinen Bock drauf, zumindest nich unter diesen Bedingungen, diese Sklaventreiber bekommen mich nich zu fassen. Wenn dann was Richtiges, was Alternatives eben. Wo ich wirklich was vollbringen kann. Im Moment mach ich meine Politagitation. Is dir doch sicher geläufig Neidhardt. Leben tue ich von der Sozialstütze, wenn ihrs genau wissen wollt. Gelernt habe ich auch nichts. So nun hoffe ich das reicht euch. Meine Träume? Die wollt ihr doch nich wirklich wissen und die gehen euch auch nichts an. Die behalte ich lieber für mich.“

Klärte Lucy mit großer Souveränität auf.

 

„Hast du einen festen Freund?“ Wollte Neidhardt wissen.

„Auf die Frage habe ich gewartet. Nee, habe ich nicht und will auch keinen. Bis in alle Ewigkeit nicht, die Kerle können mir gestohlen bleiben.“

„Du stehst auf Frauen?“ schätzte Elena die Sachlage gleich richtig ein.

„So isses! Zu 100 Prozent! Mit Haut und Haar! Ob blond ob brau, ich liebe nur die Frau`n

Alles was zu haben ist.“

 

„Klar, das hätte ich mich denken können!“ erwiderte Neidhardt.

„Wie? Das hättest du dir denken können?“ Brauste Lucy gleich wieder rauf.

„Stopp! Stopp ihr zwei! Darüber braucht man nicht zu streiten.“ Ging Elena gleich dazwischen

„Also lass uns zusammenfassen, Lucy. Du bist jung, stehst am Anfang, hast eine ausgesprochen gesellschaftskritische anarchistisch motivierte Einstellung. Du möchtest gern mehr aus dir machen, dich aber nicht dem Diktat des Kommerzes unterwerfen, was eine sehr lobenswerte Einstellung ist.

Neidhardt wird mir da mit Sicherheit zustimmen.“

Der angesprochene nickte deutlich sichtbar mit dem Kopf.

„Gut! Du bist auf der Suche, nach sinnvoller Betätigung, nach Gemeinschaft, nach einer Möglichkeit, deine Ideale und Vorstellungen zu leben. Ja und du bist queer, du liebst Frauen.“

 

„Anwesende mit eingerechnet. Wie ich schon vorher sagte. Bist ne heiße Nummer Elena.  Normalerweise halte ich nicht viel von dem was diese Medienfuzzys so von sich geben, ihre schwulstigen Komplimente und so`n Quark. Aber in deinem Fall trifft das voll ins Schwarze. Eh, die haben sogar noch untertrieben. Mit dir möchte ich mal´n Wochenende im Fahrstuhl gefangen sein.“

Schwärmte Lucy unverblümt.

„Danke! Ich denke es gibt wesentlich bequemerer Möglichkeiten der Nähe.“

Lucy fuhr vom Boden in die Höhe.

„Ein Angebot? Wau cool. Wann steigt die Party?“ Lucy ließ sich direkt neben Elena auf der Bank nieder, die dadurch ein wenig enger wurde.

„So weit sind wir noch nicht!“

„Schade!“

„Ich habe ein Angebot für dich, aber eins von praktischer Natur.

Dein Vater und ich sind hier gekommen, einmal um dich zu suchen, andererseits möchte ich den lange verschütteten Kontakt zu den Freiheitstöchtern wieder aufnehmen. Ich kehre sozusagen nachhause zurück. Die Schwestern leben derweil noch in ihrem Asyl in Bensberg.

Wir werden aber wieder zurückkehren, heim, nach Akratasien, nach Anarchonopolis, wenn der Tag gekommen.

Das kann schon bald geschehen, kann sich aber auch noch ne Weile in die Länge ziehen. Je nachdem wie lange Cassians Herrschaft andauert. Wir sitzen allesamt auf dem Sprung, Abreise ungewiss.

 

„Wird höchste Zeit das dieser Kotzbrocken den Abgang macht.“ Meinte Lucy.

„In diesem Falle kann ich dir ausnahmsweise zustimmen.“ Pflichtete ihr Neidhardt bei.

„Schön, dass ihr mal einer Meinung seid.“ Fügte Elena hinzu, um dann mit ihrem Angebot fortzufahren.

„Ich würde mich freuen, wenn du mit uns kommen könntest. Ich biete dir an dich den Freiheitstöchtern anzuschließen. Wie findet du das?“

„Wau! Da bleibt mir glatt die Spucke weg. Meinst du das im Ernst!“ Lucy schien aus allen Wolken zu fallen.

„Todernst! Was dachtest du denn? Du bist wie geschaffen für unsere Girlgroup. Du wirst dich dort voll einbringen können, mit deinen Ideen und Vorstellungen.

Deine Talente sind dort immer gefragt. Du kannst lernen, studieren. Musik machen etc. alles was du magst. Naja, und für die Liebe ist alle mal gesorgt. Du findest dort Frauen nach allen Geschmacksrichtungen.“

„Jippiey! Das haut mich glatt vom Hocker. Du meist so ne Art erotisches Schlaraffenland für Lesben?“

„Ja, wenn du so willst. Gute Bezeichnung!“

„Klar und an die Männer denkt wieder mal keiner!“ Schaltete sich Neidhardt ein

„Äh…Männer, wen interessieren die denn?“

Neidhardt vernahm diese Aussage mit versteinerter Mine.

 

„Natürlich Männer, die spielen in Anachonopolis ja ohnehin

nur eine Statistenrolle. Die braucht ihr dort doch gar nicht. Ich verstehe es nicht. Dieses Mysterium von Anarchonopolis. Frauen, die bisher ein völlig normales Leben geführt haben, einen Mann an der Seite, womöglich Kinder, drehen völlig am Rad, wenn sie nur mit den Freiheitstöchtern in Berührung kommen. Ab diesem Zeitpunkt wollen die nur noch lesbisch leben. Werfen alles über Bord, was für sie mal von Bedeutung war. Fühlen sich, als ob sie ab diesem Zeitpunkt überhaupt erst geboren wären. Ich versteh es nicht. Auch du Elena hast mich nie darüber aufgeklärt.

„Es ist nicht einfach zu erklären, Neidhardt. Ja von den Freiheitstöchtern geht tatsächlich eine Art von Magie aus. A kind of magic, wie wir es auf englisch ausdrücken. Deine Vermutung, dass sie sich wie neu geboren fühlen ist gut umschrieben. Aber so tiefe Gefühle beschreiben ist schwierig. Du kannst es nicht begreifen. Weil…weil…weil, du ein Mann bist.“

Versuchte Elena zu erklären.

„Selbstverständlich! Das musste ja jetzt kommen. Die alte Platte. Wir Männer sind was Gefühle betrifft Analphabeten. Wir begreifen es nicht. Und schon ist alles gesagt. Klar, warum in ich da nicht selbst draufgekommen.“

Neidhardt verschränke die Arme und blickte zu Boden.

 

„Und wie isses? Kommst du mit uns?“ Sprach Elena nach einer Weile des Schweigens zu Lucy.

„Da muss ich gar nicht lange überlegen. Klaro! Bin total gespannt, was dort abgeht. Ihr Freiheitstöchter seit Kult in der Szene. Welche Lesbe möchte der schönen Elena nich Mal ihre Briefmarkensammlung zeigen.“

 

„Prima! Da wäre alles geritzt! Wie gesagt, es kann schnell gehen, schön übermorgen, kann aber auch noch zwei Monate dauern. Je nach Lage der politischen Situation.

Wir gehen alle zurück. Neidhardt wird dann auch bei uns wohnen, in der alten Abtei, in Anarchonopolis!“ Bestimmte Elena.

 

„Soo? Tut er das? Ich werde wohl überhaupt nicht mehr gefragt?“

„Natürlich wirst du bei uns leben! Ist`n echter Sturkopf. Musste noch damit umgehen lernen, Lucy. Aber oft meint er es nicht so wenn er etwas sagt.“ Sprach Elena zu Lucy gewandt.

„So, er meinst es also nicht so. Gut, dann ist das was ich jetzt sage auch nicht so gemeint.

 Ich gehe. Quatscht weiter, solange ihr mögt. Ich habe für meinen Teil genug.

Nein Elena, diesmal hältst du mich nicht zurück. Ich bin schon weit genug über meinen Schatten gesprungen heute. Gehabt euch wohl und noch fiel Spaß euch beiden.“

 

Neidhardt erhob sich und ging schnurgerade in Richtung Pension. Er hatte in der Tat genug. Noch nie vorher in seinem Leben hatte ein Mensch so mit ihm geredet. Er galt in seiner Politischen Bewegung als Respektperson. Und auch darüber hinaus war er 30 Jahre lang gefürchtet und geachtet zugleich. Und nun wurde er von einer 20Jährigen regelrecht vorgeführt. Das war des Guten zuviel. Er ärgerte sich vor allem über sich selbst über den Umstand, dass er diese unwürdige Szene nicht schon viel früher beendet hatte. Nein, für ihn war die Sache erledigt.

Er sehnte sich mit jeder Faser seines Herzens zurück in die Abgeschiedenheit, in seinen Bunker, der ihm zur Heimstätte geworden. Er hätte ihn nie verlassen sollen.

 

Elena und Lucy tratschten noch eine ganze Zeitlang weiter, kamen sich dabei immer näher.

Keine Frage, die Chemie zwischen den beiden stimmte.

 

Als Elena Lucy verabschiedet hatte und in die Pension zurückgekehrt war, fand sie Neidhardt wie nicht anders zu erwarten in ausgesprochen mieser Stimmung.

„Mein Gott, Neidhardt du machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Das ist ja zum Fürchten. War des denn wirklich sooo schlimm?“

 

„Schlimm? Du fragst, ob es schlimm für mich war? Gar kein Ausdruck. Mich in eine solche Situation zu bringen. Nie und nimmer hätte ich mich drauf einlassen sollen. Ja, Strafe für meine grenzenlose Dummheit. Das hat man davon, wenn man einer Frau nachgibt.

Meine Tochter! Das ich nicht lache. Das ist niemals meine Tochter. So eine Rotzgöre. Nicht die Spur von Anstand. Ein Benehmen ist das. Wie die mit mir geredet hat. Solche vulgären Ausdrücke. So was muss ich mir auf meine alten Tage nicht mehr antun.

Und stur schient die zu sein. Wie eine Betonwand.“

 

„Von wem sie das wohl hat? Nicht deine Tochter? Hahahaha. Die gleiche Kompromisslosigkeit, der gleiche Dickschädel und die gleiche grenzenlose Selbstüberschätzung. Nein mein Lieber, das ist deine Tochter. Was den Charakter betrifft gleicht sie dir aufs Haar.“

 

„Selbst wenn es so wäre, ich lege nicht den geringsten Wert auf eine wie auch immer geartete Beziehung zu ihr. Nur das du es weißt, die ist für mich gestorben. Ein für allemal.“

 

„Also mir gefällt sie. Ihre Art aufzutreten, ihr Umgangston. Ihre ganzen Manieren lassen zu wünschen übrig. Keine Frage. Aber trotzdem ist sie schwer in Ordnung. Raue Schale, weiches Herz wie man so schön sagt.“

 

„Die und ein Herz? So was hat die noch nie besessen. Dir gefällt sie, klar. Wen wundert`s? Du hast sie angezogen wie ein Magnet die Eisenspäne. Die hat dich mit ihren Blicken regelrecht ausgezogen. Die ist doch nur gekommen, um dich aus der Nähe zu betrachten. Ich war für sie nie von Interesse. Na, dann wäre doch alles klar für die neue Gespielin. Geh ihr nach und hol sie dir. Los fahr nach Köln und ich versichere dir ihr landet heute Nacht noch im Bett.“

 

„Du bist unfair und gemein Neidhardt. Das hat überhaupt nichts damit zu tun. Gut, ich müsste lügen, würde ich sagen, dass ich sie nicht anziehend finde….“

„Siehst du? Du gibst es sogar zu.“

„Ja, ich gebe es zu, zum Donnerwetter nochmal. Aber ich hege keine Pläne in diese Richtung, nein nicht in diesem Fall.“

 

„Sooo? Das wäre ja mal ganz was Neues.“ Ereiferte sich Neidhardt weiter.

„Früher ja! Dann wäre ich gleich auf den Zug aufgesprungen. Nein, es sind diesmal vorrangig mütterliche Gefühle, die ich hege. Auch ich werde mal älter. Auch für mich geht die Party irgendwann zu Ende.

Ich möchte das Lucy eine Chance bekommt, eine echte Chance etwas aus sich zu machen. Die hat das Zeug dafür, ist intelligent und hat den Willen zu lernen. In Anarchonopolis findet sie die besten Bedingungen.“

 

„Ja, gut! Dann tue es, nimm sie mit, geh mit ihr ins Bett oder lass es bleiben. Meinetwegen, aber lass mich aus dem Spiel. Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ich fahre zurück, ich will in meinen Bunker, den ich nie hätte verlassen sollen.

Such mir bitte ne gute Zugverbindung raus.“ Lehnte Neidhardt weiter kategorisch ab.

 

„Du willst waaas? Bist du verrückt geworden. Du kannst nicht nach Akratasien, das gibt es im Moment noch nicht. Die schnappen dich, sobald du die Grenze überschritten hast. Dort herrscht Aufruhr. Cassian wird die Bühne nicht kampflos verlassen. Der ist zu allem entschlossen, notfalls auch zur Taktik der verbrannten Erde.“

 

„Was sollte Cassian mit mir anfangen? Der hat kein Interesse mehr an einem Kämpfer aus der Zeit von vorvorgestern. Der weiß ja nicht mal, dass ich noch am Leben bin. Offiziell gelte ich als Tod. Hast du das vergessen? Ebenso wie du übrigens!“

„Nicht mehr! Seid Colette in ihrer flammenden Rede mein baldiges Erscheinen angekündigt hat stehe wieder ich im Focus der Aufmerksamkeit.  Und du, mein Lieber giltst als verschollen, abgetaucht, nicht als tot, das ist ein kleiner, aber sehr feiner Unterschied.“

„Ach, das sind doch Haarspaltereien. Ob tot oder verschollen, ich will nach hause. In ein Zuhause, dass ich mir selbst habe geschaffen. Ich will meine Ruhe und sonst gar nichts. Keinesfalls werde ich mich die paar Jahre, die mir noch bleiben mit dieser ungehobelten Göre abgeben.

Ich und in Anarchonopolis leben? Du spinnst total. Als ob ich dahinein passe, in eure Kommune, in eure WGs und eure Art zu leben. Mittendrin, ich? Der alte Neidhardt.“

Er schlug mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel, um seinen Worte Nachdruck zu verleihen.

 

„Niemand verlangt von dir, dass du in eine WG ziehst, nicht in meine oder irgendeine andere.

Selbstverständlich bekommst du eine schöne große abgeschlossene Wohnung für dich allein, wohin du dich zurückziehen kannst. Du selbst entscheidest ob, wann und wie du Kontakt zur Gemeinschaft haben möchtest. Ich werde dich regelmäßig aufsuchen und Zeit mit dir verbringen. Natürlich abgewogen.“

 

„Wenn du noch Zeit für mich aufbringen kannst. Wenn du dein altes Leben wieder aufnimmst, bleibt dir sehr wenig davon.“

„Dessen bin ich mir bewusst. Aus diesem Grund werde ich frühzeitig Vorsorge treffen. Ich habe keinesfalls vor meine Fehler von einst zu wiederholen. Es wird zahlreiche Veränderungen geben. Auch das alte Akratasien wird es in dieser Form nicht mehr geben.

„Hört hört! Gute Vorsätze, die sind schnell dahin, sobald sich der Alltag sein Terrain zurückerobert.

Ich sage es zum hundertsten Male. In dem Augenblick da Madleen vor deiner Türe steht, nebst deiner Tochter Tessa wird deine Freude grenzenlos sein. Dann hast du deine Familie wieder gefunden, ich habe verloren. Ich gönne es dir. Ich werde es verkraften, wenn es auch schwerfällt.“

Er weinte und die Tränen gruben eine dünne feuchte Falte in seine Haut.

Elena erschrak. Noch nie hatte sie eine solche emotionale Regung bei ihm wahrgenommen.

Das alles hatte ihn bedeutend tiefer getroffen als er bereit war zu zugeben.

Wortlos ließ sie sich auf der kleinen Couch neben ihn nieder und schlang ihre Arme um seinen massigen Oberkörper

Sie sprach mit sanften beruhigen Worten zu ihm:

„Ich werde von nun an zwei kleine Familien haben. Madleen und Tessa auf der einen Seite, dich und Lucy auf der andern. Eingebettet in die große Familie der Freiheitstöchter.

Ich werde alles verbinden müssen. Es wird nicht leicht, aber es wird mir gelingen. Vertraue mir Neidhardt, ich kann dich nur darum bitten. Wir gehören zusammen.“

Mehr Worte bedurfte es nicht mehr. Worte zerstören, wo sie nicht hingehören, wie es so schön hieß.

Sie saßen beisammen und genossen den Augenblick. Er musste sich geschlagen geben, wieder einmal mehr konnte er ihrem sinnlichen Charisma nicht widerstehen 

 

Die Situation war alles andere als einfach für ihn. Als es Abend wurde glaube Elena, dass er sich nach den Aufregungen des Tages eine Entschädigung verdient hatte.

Lange hielt sie das Badezimmer in Beschlag, um sich zurecht zu machen. Sie erschien im Zimmer als die fleischgewordene Versuchung. Beim Anblick dieses erotischen Meisterwerkes verschlug es ihm die Sprache. Sie befreite sich von ihrem Negligee und kroch zu ihm unter die Decke, wickelte Arme und Beine um seinen Körper.

„ Nimm mein Geschenk, ich gebe mich dir, für alle Zeit.“ Flüsterte sie zärtlich in sein Ohr, dann löschte sie das Licht.

 

Die folgenden drei Tage herrschte zwischen Vater und Tochter weitgehend Funkstille. Elena versuchte tags darauf gar nicht erst das Thema anzuschneiden. Neidhardt musste alles sacken lassen. Sie spazierten einfach so durch Königswinter genossen das gute Wetter und die Atmosphäre dieses kleinen Ortes am Rheinufer, dessen malerische Gässchen mit vielen Geschäften, Märkten und der kleinen barocken Kirche.

Sie bestiegen schließlich ein Schiff der Köln-Düsseldorfer Rheinschifffahrt und fuhren Rheinabwärts, passierten dabei auch den Drachenfels bei Bad Honnef. Für kurze Zeit bewegte sich Neidhardts Bewusstsein in die Vergangenheit, als er hier mit Karin seiner damaligen Liebe entlang schipperte. Die einzige Liebe seines Lebens, bis Elena in sein Leben drang.

Ein warmer Tag, für Anfang September. Die Sonne ergoss sich von Himmel wie geschmolzenes Blei.

Neidhardt schwieg und blickte in die Weite, über die sich der Himmel breitete, in seinen Augen noch immer eine Spur von Trauer.

Schweigen ist manchmal der beste Weg sich mitzuteilen.

 

Elena trat an seine Seite und hakte sich bei ihm unter. Sie wagte nicht das Schweigen zu durchbrechen, wollte die Erhabenheit des Augenblickes nicht mit unnötigen Fragen zerstören. 

Der Wind wehrte vom Ufer herüber und zerzauste ihr in der Sonne glänzendes Haar Das Kopftuch befand sich in ihrer Tasche, sie hatte es bewusst nicht angelegt. Als Tarnung hatte es ausgedient, ihre Identität längst bekannt. Und wenn schon, darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Bald würde sich ihr Leben ohnehin grundlegend ändern.

 

„Ein Blick in die Vergangenheit, Elena.“ Beendete Neidhardt die gespannte Stille.

Dann legte er sanft seinen Arm um ihre Schulter.

„Die Zeit zurückdrehen, noch einmal von vorn anfangen. Ist es vermessen so zu denken.“

„Nein! Überhaupt nicht. Die meisten Menschen denken so, wünschen sich zurück in die Tage der Jugend. In die vermeintlich bessere Zeit. Mir geht es da nicht anders. Auch ich fange bereits an in diese Richtung zu denken.“ Erwiderte Elena und lehnte ihren Kopf an seinen Oberarm.

„Du? Aber du hast das Leben noch vor dir, hast die Möglichkeit noch einmal neu zu beginnen:“

„Und ich habe Angst davor. Schreckliche Angst, Neidhardt.“ Offenbarte sie ihre geheimen Sorgen.

„Du? Die souveräne Elena, die immer die passende Antwort parat hat? Die immer einen Ausweg kennt, die immer weiß, wo es lang geht? Das macht dich mir aber noch einige Grade sympathischer. Dann teilen wir unsere Zukunftsängste.“

Neidhardt zog Elena noch ein Stück näher an sich.

„Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft., konzentriere dich auf den gegenwärtigen Augenblick, so lautet eine alte buddhistische Weisheit. Ich versuche zwar danach zu leben, aber gelingen tut es nur schwerlich.“ Raunte ihm Elena ins Ohr

 

„Wie muss ich die Vergangenheit und Zukunft auffassen, wie muss ich die Welt betrachten, damit ich mit dem Leben fertig werde, damit ich das Dasein freudig ertrage. Ich finde keine Antwort so sehr ich auch danach suche.“

Seufzte Neidhardt.

„Jede neue Anschauung, jede neue Religion, ist immer dann emporgekommen, wenn das Leben nicht mehr zu ertragen war. Wir haben es in Anarchonopolis versucht, sind vorerst gescheitert. Wir werden es wieder versuchen, ob es uns gelingt. steht in den Sternen. Auf den Versuch kommt es an.“

 

„Und ihr könnt Geschichte damit schreiben. Unter Umständen hätte ich sogar Lust euch dabei zu helfen. Im Hintergrund natürlich, aus dem Verborgenen heraus, versteht sich.“

Elena wand sich ihm zu.

„Wirklich?? Oh Neidhardt, endlich! Wie sehr habe ich auf diesen Moment gewartet.“

Elena fiel ihm um den Hals und küsste ihn mehrfach.

„Natürlich im Verborgenen. Das sei dir gerne gewährt. Aber allein das du es tun möchtest ist schon ein riesiger Fortschritt.“

„Nun, nichts übereilen. Ich habe zunächst lediglich mein Interesse bekundet. Entschieden ist noch lange nichts. Noch bin ich in der Überlegungsphase.“

„Selbstverständlich! Überlege in Ruhe. Lass dir Zeit. Die haben wir. Noch!“

Elena war von tiefer Zufriedenheit durchdrungen. Sie hatte ihn endlich da, wo sie ihn schon lange haben wollte. Wenn auch noch nichts entschieden war.

 

Schweigend richtete Neidhardt erneut seinen Blick auf den Berg vor ihnen, den Berg mit dem berühmten Symbol aus der Nibelungensage.

„Ein geschichtsträchtiger Ort. Findest du nicht auch.“ Begann Neidhardt das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Siegfried der Drachentöter. Keine historische Person, aber die Legende hat ihn unsterblich gemacht. Man braucht nicht einmal wirklich gelebt zu haben, um sich einen Namen zu machen. Ja, so einfach kann das sein.“

 

„Das mag sein. Die Menschen brauchen Mythen und Legenden. Ohne diese wäre unser Leben wohl noch öder, noch wüster und deprimierender als es ohne hin schon ist. Sich seine Helden erfinden und auf ihre Weise leben lassen.“

Auch Elena war über den Umstand froh über etwas anders sprechen zu können als über die Sorge um die Zukunft, obgleich sie in Gedanken schon lange bei den Freiheitstöchtern verweilte. Beständig nach Worte suchend mit denen sie den Schwestern gegenübertreten konnte.

   

„Nun, wir beide leben, wir atmen, wir laufen, wir sprechen miteinander, wir lieben uns sogar hin und wieder ganz real. Können wir dereinst zu Legenden werden oder gar Mythen?“

Neidhardts Frage versetzte Elena in Verlegenheit Sie besaß eine legendäre Vergangenheit, weit älter als die der Nibelungen oder eines König Arthur und seiner Tafelrunde.

Aradia! Unaufhörlich hallte dieser Name in ihrem Unterbewusstsein. Sie hatte einen Namen. Sie, die wiedergeborene Amazonenkönigin aus dem legendären Akratasia der Frühgeschichte.

Auch er wusste von dieser grandiosen Vergangenheit seit Kurzem.

 

 

Sie bewegten sich weiter Rheinabwärts gingen dann bei Bad Honnef an Land und speisten in einem kleinen Cafe am Ufer des großen Stromes, mit Blick auf die Insel Nonnenwerth.

Ein guter Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Beide fühlten sich wohl und genossen noch lange die Zweisamkeit vor einer malerischen Kulisse.   

 

Für den Folgetag hatte sich Lucy angesagt. Sie wollte sich mit Elena treffen. So zumindest ihre eindeutige Aussage in der SMS, die sie am Vorabend schrieb.

An Neidhardt schien sie kein Interesse mehr zu haben. Elena nahm das mit Sorge und großen Bedauern zur Kenntnis.

Ihr Eingreifen war gefragt. Sie musste die beiden versöhnen und einander näherbringen und das so bald als möglich, um frei zu sein, sich ihrer eigenen Probleme stellen zu können. Die Schwestern warteten auf ihre Rückkehr, sie konnte Colette und die anderen nicht noch länger im Unklaren lassen. Sie sehnte sich danach endlich wieder heimzukehren, wenn dieses Heim derzeit auch noch auf fremder Erde zu finden war.

Anarchonopolis ich komme, raunte ihr die innere Stimme beständig zu. Madleen, meine große Liebe, wann darf ich dich wieder in die Arme schließen und dich Tessa meine Tochter, die ich so vernachlässig habe.

 

Das Handy piepste und Lucy meldete sich in ihrer Flapsigen Art. Auf in den Kampf Aradia. Diese Schlacht muss schnell geschlagen werden.

 

Gemeinsam fuhren sie nach Köln, Lucy wollte natürlich in der Szene mit der schönen und berühmten Frau an ihrer Seite angeben, nach dem Motto: „Hey Leute, seht mal her wen ich hier mitgebracht habe.

Elena ist meine Freundin und wer weiß, möglicherweise gribbelt es bald gewaltig zwischen uns.“

Elena verstand es geschickt Lucys Avancen auszuweichen. Ihr war im Moment ganz und gar nicht nach einer neuen Nebenbeziehung und sie sah in Lucy tatsächlich so etwas wie ihre Tochter. Eine große Schwester für Tessa

Nachdem sie eine ganze Reihe von Szenelokalen aufgesucht hatten, sich mit verschieden Leuten getroffen und schließlich auch noch Lucys WG inspiziert hatten, fuhren sie in den Stadtteil Nippes und bewegten sich durch den kleinen Park am Rande des Veedels. Flankiert von einer Schrebergartensiedlung an der einen Seite. Auf der anderen Seite, durchbrochen von einer vielbefahrenen Hauptstraße erhaschte Elena einen Blick auf die Bauwagensiedlung, wohin Lucy sie zu Schluss auch noch kurz zu entführen gedachte.

 

Elena ließ sich erschöpft auf eine Bank fallen mit Blick auf die sich vor ihr erstreckende Wiese. Jogger, Radfahrer und Spaziergänger mit Hunden an den Leinen zogen in Abständen an ihnen vorbei.

„Ganz schönes Programm, das wir da hinter uns gebracht haben, findet du nicht auch.“

„Ja, ne echte Leistung würde ich sagen. Und? Hast du jetzt den Einblick in mein Leben, den du wolltest?“ Erkundigte sich Lucy, während sie sich ebenfalls auf der Bank niederließ und sich eng an Elena schmiegte.

„Ich denke schon! Führst ein abwechslungsreiches und ausgefülltes Leben würde ich sagen. Ein wenig stressgeladen mit einer gehörigen Portion Hektik. Wenn so dein Tagesablauf aussieht, kann ich verstehen, dass etwa für eine Erwerbsarbeit kaum noch Zeit bleibt.

 

„Die Sklaventreiber können warten. Es gibt noch so viel Interessantes zu entdecken. Jeder Tag sprich seine eigene Sprache und hat neue Überraschungen im Gepäck.“Antwortete Lucy mit einem nachgezogenen Gähnen.

„Da spricht schon fast ne Philosophin!“

 

„Ah, ja, man tut was man kann. Natürlich bin ich mir bewusst, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Darauf willst du mich sicher gleich hinweisen.“ Glaubte Lucy zu wissen und lag damit genau auf der richtigen Spur.

„Schön, dass du von selbst darauf kommst.“

„Das Angebot mit Anarchonoplis ist verlockend.“

„Und? Nimmst du es an?“ Elena wandte sich ihr zu.

„Ich glaub schon! Ich möchte euer Land gerne kennen lernen, eure Kommune, die Schwestern. Sehen die dort alle so toll aus?“

„Das würde ich wohl meinen. Obgleich Schönheit ein relativer Begriff ist. Blicke nicht nur auf die Oberfläche, blicke in das Herz und du wirst wahre Schönheit finden.“ Spann Elena den Bogen.

„Jetzt spricht Elena die Philosophin!“ Meinte Lucy und rückte dabei immer näher auf der Bank.

Endlich, endlich hob Elena den rechten Arm und ließ Lucy an sich, senke den Arm und Lucy war dort wo sie hin wollte.

„Und? Bist du zufrieden. Das war es doch was du wolltest, wenn ich mich nicht irre!“

„Bingo! Volle Kanone. Erraten meine Supersexypowerfrau.“

„Überall wo du Schönes findest, findest du auch Wahres und Gutes, da bist du daheim.“

Philosophierte Elena weiter.

„Wo du lebst, da bin ich daheim, o du Schönste aller Schönen. Ich lege dir mein Herz zu  Füßen, leider habe ich heute keine wertvollere Gabe um sie dir zu schenken.“

„Wer sein Herz verliert, ist verloren unter den Menschen, Lucy.“

„Was kümmern mich die Menschen, wenn ich am Tisch einer Göttin sitzen darf.“

„Auch eine Göttin ist nicht frei von Leidenschaft. Leidenschaft, Lucy ist die Kraft die Leiden schafft.“

„Jetzt spricht die Weisheit von tausend Jahren:“ Meinte Lucy.

„Tausend Jahre sind ein Tag, ein Tag im Leben einer Göttin.“

„Und, bist du schon tausend Jahre alt?“

 

Elena schreckte nach vorn. Konnte Lucy in ihre Seele blicken? Selbstverständlich war sie tausende Jahre alt, wenn auch nur ihre Seele. Elena war Aradia. Wie aber kam Lucy dazu ihr diese Frage zu stellen? Wusste sie davon? Aber woher? Das Geheimnis von Anarchonopolis

lebte es auch in einer Kölner Jugend-WG?

„Wie kommst du darauf Lucy? Sehe ich etwa aus wie tausend Jahre?

„Na dein Körper mit Sicherheit nicht, aber du machst auf mich den Eindruck als würde die Weisheit von tausenden von Jahren auf deinen Schultern ruhen.“

Elena verschlug es die Sprache. Das war unmöglich. Niemand konnte ihr davon berichtet haben, es sein denn….ja es sei denn sie hatte es selbst erlebt.

 

Natürlich konnte Elena diese Wahrheit nicht so mir nix dir nix quasi im vorbei gehen an einer Kölner Parkbank offenbaren.

Selbst Neidhardt hatte erst kürzlich davon erfahren. Der Öffentlichkeit war lediglich der Aradia-Mythos bekannt und der wurde nach wie vor weiter in Zweifel gezogen. In welcher Beziehung die Freiheitstöchter dazu standen wusste außer ihnen selbst niemand.

 

„Ist dir der Aradia Mythos bekannt?“ Versuchte Elena nun direkt in Erfahrung zu bringen.

 „Der was? Äh….ach so. Klar, die legendäre Amazonenschwesternschaft, die es da angeblich mal in der Frühzeit gegeben haben soll. Ich beschäftige mich viel damit. Freie Frauenliebende Frauen, Amazonen, Kriegerinnen für Gerechtigkeit und so was. Alles was ich in die Finger bekommen kann verschlinge ich. Aber über Aradia ist kaum was zu bekommen. Diese dämlichen Machohistoriker stellen alles in Frage. Klaro, ich würde gern mehr darüber erfahren. Aber du bekommst hier nicht viele Infos.“

„Blick in meine Seele und du wirst alles erfahren, dann offenbaren sich Welten von denen du hier nicht mal zu träumen hoffen darft:“ Dachte Elena, doch vermied sie es die Worte auszusprechen.

„Das ist toll! Noch ein Grund mehr mit uns zu kommen. Wir beschäftigen uns permanent damit, da wirst du alles finden was dein Herz begehrt.“ Entgegnete Elena und änderte damit ohne es zu wollen wieder das Thema.

„Das ist gut! Aber im Moment begehrt mein Herz etwas ganz anderes, etwas durch und durch reales.“ Lucy griff nach Elenas Hand und ihre Finger gruben sie in deren.

 

„Ich weiß Lucy! Ich kann mir vorstellen, was jetzt in deinem Herz geschieht. So was braucht Zeit, muss wachsen und sich entwickeln. Ich bin im Moment ziemlich durch den Wind gedreht. Bald werde ich nach langer Abwesenheit wieder zu den Schwestern gehen. Bald wird auch Madleen wieder in mein Leben treten. Deinen Vater muss ich auch noch in der Zukunft integrieren. Ein bisschen viel im Moment.“

Versuchte sich Elena einen Weg aus dem Wirrwarr der Gefühle zu bahnen, doch ihr Argument klang nicht sehr plausibel.

„Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst. Du warst doch früher nicht so zaghaft, wenn es um solche Dinge ging. Die anderen, die hast du doch auch genommen. Reihenweise standen sie an deinem Bett und baten um Einlass. Keine hast du zurückgewiesen.“
“Du scheinst gut über mich informiert zu sein.“

„Kunststück, bei der Publicity!“

„Um noch Mal Klartext zu sprechen und mit Gerüchten aufzuräumen. Anarchonoplis ist keine Sexkommune. Was die Pressefritzen daraus konstruieren steht auf einem anderen Blatt.

Ja, wir praktizieren die Freien Liebe, Polyamor, wie man heute zu sagen pflegt. Es gibt Mehrfachbeziehungen in unterschiedlichster Ausformung. Alles hat seine Berechtigung, aber alles wo es hingehört und alles hat auch seine Zeit und seine Grenzen.“

 

„Und die Grenzen beginnen bei mir. Mein Herz ist dir egal, wenn es sich vor Sehnsucht nach dir verzehrt.“ Lucy verzog ihr Gesicht zu einem Schmollmund.

„Du hast nicht richtig zugehört, Lucy. Ich sagte alles zu seiner Zeit. Wir können etwas ins Augen fassen, dann wenn es Zeit dafür ist.“

„Und jetzt ist also nicht die Zeit?“

„Jetzt ist es an der Zeit dich mit deinem Vater zu versöhnen. Deshalb sind wir hier, deshalb ist er überhaupt mitgekommen. Die Art wie du mit ihm umgehst ist nicht fair.“

„Ach und wie er mit MIR umgeht? Umgegangen ist? All die Jahre, ist das etwa fair?“

„Nein, natürlich nicht! Aber er ist bereit zur Wiedergutmachung!“

„Davon hab ich nix gemerkt!“

„Es gab bisher nur diese eine Begegnung. Einmal ist keinmal, wie es so schön heißt. Gib ihm noch ne Chance, oder noch ein paar. Ihr müsst euch langsam aufeinander zu bewegen.“

„Ich muss! Klar und was ist mit ihm? Der bewegt sich keinen mm auf mich zu. Sei`s drum, soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.“ Lehnte Luca weiter kategorisch ab.

Die Sache schien sich festzufahren. Wenn zwei Kompromisslose aufeinander treffen was könnte da noch wirken?

Elena lehnte sich zurück und in ihrem Kopf begann es unaufhörlich zu arbeiten. Wie konnte sie Lucy doch noch überreden, den ersten Schritt zu tun. Denn nur auf diese Weise würden sie vorankommen. Bei Neidhardt brauchte sie es gar nicht erst versuchen, der war in dieser Sache beweglich wie ein Sack Zement.

 

„Überlege doch Mal Lucy. Du hast Interesse an Anarchonopolis. Du möchtest mit uns gehen.

Wenn du dich mit deinem Vater versöhnst, wirst du ganz in meiner Nähe sein. Wir würden Tür an Tür leben und wer weiß was da nicht alles in Lauf der Zeit geschehen kann

Pass auf! Wenn du wirklich Interesse an mir hast, dann wirst du dich zunächst mit deinem Vater versöhnen. Ohne diesen Akt gibt es mich nicht.“

„Das…das ist ganz und gar nicht fair.“

„Oh doch, ohne Leistung keinen Lohn. So läuft das nun mal in der Welt. Versöhne dich mit Neidhardt, dann werden wir weitersehen.“ Wiederholte Elena ihr pikantes Angebot.

„Nee nee nee, jetzt wirst du wieder theoretisch. Wir werden weitersehen ist mir zu schwammig, zu wage. Das kann ja alles möglich bedeuten. Also gut! Ich bin bereit, ich gebe Neidhardt eine zweite Chance. Aber ich erwarte von dir, dass du Wort hältst.“

„Einverstanden! Aber nur wenn du erfolgreich bist. Scheitert der zweite Versuch, vergessen wir alles.“ Konkretisierte Elena.

„Abgemacht!“ Lucy hielt ihre Handfläche nach vorn, Elena schlug mit ihrer darauf. Beschlossene. Sache.

 

Elena war nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Wenn Lucy erfolgreich war, würde sie ihr Versprechen einlösen müssen. Lucy war attraktiv. Mit einer schönen jungen Frau ins Bett zu gehen, war eine sehr angenehme Vorstellung. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Nach diesem Motto hatte Elena stets gelebt. Viel Gutes konnte sie auf diese Weise bewerkstelligen. Aber seit einiger Zeit bahnten sich Veränderungen in Elenas Bewusstsein ihren Weg. Immer nur den Körper einsetzen, wenn es galt etwas zu erreichen? Auch das konnte nicht immer so bleiben. Auch Elena wurde älter, wenn man es ihr äußerlich auch nicht ansah. Sie würde in Zukunft noch mehr den spirituellen Weg einschlagen. Dabei kam ihr das Alter entgegen. Gut. Dieses eine Mal vielleicht noch. Wenn sie damit ihrem Ziel näherkam, den Vater die Tochter und der Tochter den Vater näher zu bringen, sollte es eben so sein.

 

„So, nun auf zum Bauwagenplatz! Die Kneipe dort öffnet in diesen Minuten. Dort können wir was trinken und mit den andern quatschen. Die werden Augen machen, wenn ich dort mit dir erscheine. Hätte nichts dagegen, wenn diesmal Pressefritze auftauchten. Elena auf dem Bauwagenplatz in der Krefelder Straße. Ich sehe schon die Schlagzeile.“ Phantasierte Lucy.

„Du willst wieder mit mir aufschneiden?“

„Klaro! Sind auch fast alles Lesben dort. Die werden vor Neid erblassen.“

„Na gut! Gehen wir!“

Elena erhob sich legte ihren Arm um Lucys Schulter. Die zögerte keinen Augenblick, legte ihren Arm um Elenas Taille und zog sie an sich.

Gemeinsam schritten sie zur Tat.

 

Den Folgetag machten alle drei Pause. Zeit in sich zu gehen, die Gedanken zu ordnen, auszuruhen, um sich neu zu orientieren.

 

Tags darauf erschien Lucy wie vereinbart in der kleinen Pension. Sie traf dort nur auf Elena, was ihr natürlich sehr entgegenkam. Neidhardt war dabei allein auf der Rheinpromenade zu spazieren, um sich in ausreichendem Maße auf das Gespräch einzustimmen.

 

„Komm setz dich, dein Vater ist noch nicht da, er spaziert am Rheinufer. Aber ich denke er wird gleich erscheinen.“ Begrüßte Elena.

„Na, dann habe ich noch nen Moment, um mich abzukühlen.“

Lucy griff nach Elenas Hand führte sie zu ihrem Mund und begann sie zu küssen.

„Denk an dein Versprechen Lucy. Erst die Arbeit dann das Vergnügen. Zuerst bist du am Zug, alles Weitere wird folgen.“

„Ja, natürlich! Ich stehe dazu. Ich werde es versuchen. Aber so`n bisschen knuddeln ist doch kein Akt, oder?“

„Na wie man`s nimmt! Da kann man leicht vergessen.“

„Aber was ist, wenn mein Vater nicht mitspielt? Daran haben wir gar nicht gedacht. Da kann ich ja nichts für. Gilt dein Versprechen dann trotzdem?“

Wollte Lucy wissen.

 

„Hab ich auch nicht drüber nachgedacht. Hey, du bist aber verdammt clever. Denkst auch wirklich an alles.“

Die Tür öffnete sich und Neidhardts wuchtige Gestalt erschien im Türrahmen.

„Na, da bist du ja. Wie du sehen kannst ,ist unser Besuch pünktlich erschienen. Weißt du Lucy, Neidhardt hat nicht damit gerechnet, dass du wirklich kommst. Also die erste Runde geht an Lucy.“

„Hmmmm! Na gut! Da ist sie eben da.“ Aus Neidhardts Worten sprach wenig Begeisterung.

Er nahm auf dem kleinen Sofa Platz und begann in dem Berg Zeitungen zu kramen, die auf dem Tisch vor ihm lagen.

„Aber du willst jetzt nicht wirklich Zeitung lesen?“ Sprach in Elena an.

„Lucy ist da, sie möchte was von ihrem Vater haben, den sie so lange hat vermissen müssen.“

„Hmmm, hmmm!“ Brummte der Angesprochen nur vor sich hin.

 

Plötzlich erhob sich Lucy und ließ sich im Anschluss direkt neben Neidhardt auf dem Sofa nieder, auf ihrem Mund ein verschmitztes Lächeln. Echt oder gespielt das war hier die Frage

Elena konnte es nicht deuten, so sehr sie auch versuchte hinter das Geheimnis zu steigen.

„Hallo Paps, na wie geht es dir denn. Darf ich dich so anreden? Oder was ist wäre dir recht?

Etwa Daddy, so wie in einem alten amerikanischen Film? Oder Vati? Nee, lieber nicht, klingt so abgedroschen, findest du nicht auch? Hmmm….las mich überlegen, dann hätten wir noch…“

„Warum sagst du nicht einfach Neidhardt zu mir? Ist doch heute im Allgemeinen üblich das Kinder ihre Eltern mit dem Vornamen anreden?“ Bot Neidhardt an.

„Ja, wäre natürlich auch ne Möglichkeit, hast Recht. Aber andererseits? Hmm… ein Kosename wäre nicht schlecht, oder?“

„Ach? Ein Kosename?“

„Ja, wie wär`s mit Big Daddy? Passt doch sehr gut zu deinem Erscheinungsbild!“

Elena hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr aufkommendes Lachen zu verbergen, doch es gelang ihr nur unzureichend.“

 

„Hab ich es dir nicht gesagt Elena, sie versucht schon wieder einen Hampelmann aus mir zu machen. Ist zwecklos! Ist einfach nur zwecklos.“ Enttäuschung sprach aus Neidhardts Worten.

Die beiden schienen es zu merken. Plötzlich änderte Lucy ihre Strategie erneut.

„Entschuldige bitte!“ war doch nur n`kleiner Spaß. Sag mal Elena sagte mir, dass du gerne Thälmann- Mützen trägst. Das trifft sich gut, ich nämlich auch. Wenn wir dann mal gemeinsam was unternehmen, können wir die aufsetzen, als Partnerlook sozusagen.

Thälmann hatte auch einen Kosenamen, seine Freunde und Genossen nannten ihn Teddy.

Ist doch ein schöner Kosename, der keinesfalls lächerlich erscheint. An so was habe ich gedacht.“

 

„Na dann denk dir eben was aus, bis es soweit ist, nennst du mich Neidhardt! Wie soll ich das verstehen, wenn wir mal was zusammen unternehmen? Das würdest du tatsächlich tun?“ Wunderte sich Neidhardt.

„Ja! Sieh mal! Ich habe es eingesehen! Ich hab mich dämlich benommen, dir gegenüber. Woll`n wir noch nen Versuch starten? Ich wäre bereit!“

„Und das soll ich dir glauben?“

„Ja! Wirklich! Ich hab über alles noch mal gründlich nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir so was wie ne Anlaufphase brauchen. Mehrere Begegnungen, um uns zu beschnuppern. Da könnte ja auch irgendwann mal das Eis brechen. oder?“

„Hmm….hmmm…klingt…recht überzeugend. Na gut! Meinetwegen! Ich bin dabei. Lass es uns versuchen.“ Stimmte Neidhardt zu beider großen Überraschung plötzlich zu.

 

„Hey, jippiey! Komm schlag ein!“ Lucy hielt Neidhardt die Handfläche entgegen, der schien sofort zu begreifen und klatschte mit seiner Handfläch dagegen.

Elena war sichtlich überrascht und natürlich auch erleichtert, wenn sie noch nicht eindeutig sagen konnte ob Lucys Einlenken echt war oder nur der Tatsache geschuldet, welche Belohnung auf sie wartete.

„Wau, das ging aber schnell! Also dass ihr euch so schnell einig werdet, hab ich nicht erwartet. Na gut! Warum nicht gleich so?“

„Ja, es gibt eben immer Ereignisse die zu überzeugen verstehen.“ Entgegnete Lucy wieder mit ihrem verschmitzten Lächeln.

„Also gut! Darauf stoßen wir an. Elena hol drei Weingläser. Ich habe einen exzellenten Lieblichen Rheinwein mitgebracht.“ Schlug Neidhardt plötzlich vor.

 

Auch diese Tatsache verblüffte Elena. Demzufolge hatte auch er insgeheim mit einer Verständigung gerechnet.

Umso besser! Ein vielversprechender Anfang, auch wenn der weitere Verlauf noch im Dunkel lag.

Elena brachte drei Gläser und Neidhardt der in der Zwischenzeit die Flasche geöffnet hatte goss die Gläser voll. Dann erhob er sein Glas und sprach.

„Auf die Tochter!“

Lucy schloss sich an. „Auf den Vater!“

Elena erhob ihr Glas: „Auf die neue Familie!“

Dann leerten alle drei die Gläser.

„So und nun machen wir`s uns richtig gemütlich, oder?“ Meinte Lucy.

„Na das wollen wir doch annehmen.“ Erwiderte Elena.

Es folgte in der Tat eine lockere und gelöste Atmosphäre. Eine Unterhaltung, die sich bis weit in den Nachmittag zog. Langweilig wurde es dabei nie. Es hatte den Anschein, als kämen sich Vater und Tochter dabei immer näher.  Elena glaubte das zumindest zu erkennen. Der Grundstein schien gelegt. Nun würden die Folgetage zeigen, wie fest das Fundament wirklich gemauert war.

 

 

Von nun an kam Lucy jeden Tag und die Nähe wuchs beständig, auch wenn eine gewisse Spannung noch immer in der Luft zu liegen schien.

 

Vater und Tochter kamen sich näher, philosophierten und politisierten, entwarfen ganze Utopien für die Zukunft. Lucy, die sehr wissbegierig war vernahm Neidhardt Lebensberichte mit großem Interesse.

Elena betrachtete alles mit Freude. Ihr Einsatz wurde mit Erfolg gekrönt. Wieder einmal hatte sich die alte Lebensweisheit bewahrheitet, dass man die Flinte nicht vorschnell ins Korn werfen sollte.

 

Während Vater und Tochter von einer gemeinsamen Unternehmung zur anderen strebten, Museen besuchte und Konzerte, natürlich auch politischen Diskussionen beiwohnten,

bereitete Elena ihre Abreise vor. Sie hatte in einer kleinen Pension in Bensberg ein Zimmer gebucht und zunächst zwei Wochen im Voraus bezahlt, danach wollten sie weitersehen, Es hing von den politischen Verhältnissen in Akratasien ab, ob ein längeres Verbleiben erforderlich war.

Sie würde mit Neidhardt dorthin fahren und eine letzte gemeinsame Nacht verbringen  

Während Neidhardt zunächst dort verbleiben sollte, würde Elena die Schwestern in der Akademie aufsuchen und natürlich dort einziehen.

Lucy verblieb in ihrer Kölner WG, konnte wann immer ihr danach war nach Bensberg fahren und sowohl Neidhardt als auch Elena besuchen kommen.

 

Schließlich brachte Lucy ihren Vater auf den Friedhof, an das Grab ihrer Mutter, dort legte der alte Revolutionär ein Blumengebinde nieder. Ein trauriger Moment, vor dem Neidhardt lange zurückgeschreckt war. Doch am Ende war er froh diesen schweren Gang noch getan zu haben. Es war das Einzige, das er noch für die kurzzeitige Liebe in seinem Leben tun konnte.

Zeit innezuhalten, Zeit der Rückschau. Hätte er sich damals doch für seine Liebe entscheiden sollen? Was würde er tun, könnte er tatsächlich noch einmal von vorne beginnen? Er wusste es nicht. Diese Frage würde wohl Zeit seines Lebens unbeantwortet bleiben.

 

Als krönenden Abschluss ihrer gemeinsamen Zeit hatten sie sich eine Wanderung ins Siebengebirge vorgenommen Und so brachen sie eines schönen Nachmittags auf in Richtung Löwenburg bei Bad Honnef, dort gedachten sie bis zum Abend zu verbleiben.

Es ging ein kurzes Stück mit der Siebengebirgsbahn, dann Ausstieg Bad Honnef, kurzer besuch der Stadt, dann gleich weiter in die Natur.    

 

Langsam drangen sie in das Dunkel des Waldes vor, die Bäume waren jetzt im September noch mit dichtem Blattwerk behangen, wenn die Blätter auch hier und da bereits die Farben des Herbstes annahmen.

Sie durchquerten auch ein Biosphärenreservat, Urwald gleichsam, hier trug die Natur ihre Angelegenheiten des Werdens und Vergehens noch mit sich selber aus. Alles was hier umfiel und liegen blieb, ging den Weg des Vergänglichen.

Neidhardt versuchte Schritt zu halten, wenn es ihm auch nicht leichtfiel, anmerken ließ er sich natürlich nichts.

 

„Der Wald ist eine Kathedrale der Natur.“ Sprach der alte Revolutionär schließlich in die Stille.

„Guter Spruch, Neidhardt, hätte von mir sein können.“ Antwortet Elena, während sie zurückfiel, um auf ihn zu warten.

 

„Von mir auch!“ Pflichtet ihr Lucy bei.

Elena hakte sich schließlich bei ihm ein, als sie bemerkte, dass er einen schweren Atem hatte.

Lucy näherte sich Elena, um ihr anzuhängen.

„Hmmm, dein Vater hat noch einen Arm, vielleicht hängst du dich dort ein?“

Lucy kam ohne Nachfrage der Bitte nach und reichte Neidhardt ihren Arm

So ging es zunächst weiter, bis sie an eine Lichtung kamen. Es war eine Bank vorhanden, willkommen für eine erste Pause.

 

Erschöpft setzte sich Neidhardt nieder.

Lucy kramte ihren Tabakbeutel hervor und drehte sich auf ihre unnachahmliche Art eine.

Das Mädchen ist ein Original. Dachte sich Elena. Daran besteht nicht der geringste Zweifel.

„Fällt zufällig einem von euch was Philosophisches ein?“ Schlug Lucy vor, während sie einen ersten Zug nahm.

 

„Was Philosophisches? Wie kommst du den darauf?“ Wollte Elena wissen.

„Mir geht allerhand durch den Kopf, so ist es immer, wenn ich in der Natur unterwegs bin. Hat mir gefehlt die Tage.“ Bekannte Neidhardt.

„Bald, bald bist du wieder zuhause. Die Kulisse an der Abtei ist in ihrer einzigartigen Schönheit kaum zu überbieten.“ Glaubte Elena zu wissen. „Die Hoffnung auf eine Heimkehr hat mir in den zurückliegenden Moneten viel Kraft gegeben.“

„Auch in den schweren Stunden?“ Erkundigte sich Lucy.

„Ja, vor allem dann!“

„Die Hoffnungslosigkeit brütet die Hoffnung aus, wie in der Berghöhle ein Adler, verwundet von der Kugel eines Jägers seine blutgeröteten Eier.“ Bemerkte Neidhardt.

„Sehr schöner Spruch, wirklich erfüllt von Weisheit.“ Gab Lucy zu verstehen.

„Ich war ohne Hoffnung, lange viel zu lange. Erst langsam, erst in der Umgebung des Bunkers lernte ich wieder Zufriedenheit. Zufriedenheit bedeutet nicht alles zu haben, sondern das Beste aus allem zu machen. Das scheint mir gelungen.“ Ließ Elena erkennen.

„Du darfst das Glück nie suchen, es läuft dir über den Weg, aber immer in umgekehrter Richtung.“ Sprach Neidhardt, dabei ließ er den Kopf nach hinten fallen und starte in den blauen Himmel.

„Dir ist die Geschichte bekannt, wie Elena in mein Leben trat, Lucy?***“

„Ja, das ist ne tolle Story, sollte mal einer`n Roman drüberschreiben. Ja, dir ist das Glück geradezu nachgelaufen. Du hast nicht danach gesucht, es kam einfach von allein. Ich bekomme noch immer ne Gänsehaut, wenn ich darüber nachdenke.“ Erwiderte Lucy

 

„Ja, Elena hat mich mehrmals in meiner selbst gewählten Isolation aufgesucht und mir das Leben neu geschenkt. Aber erst mit dir Lucy bekommt es tatsächlich Vollendung.“

Lucy errötete leicht.

„Ich hoffe, dass ich dich nicht enttäuschen muss, Neidhardt. Ich will mich bemühen, allem gerecht zu werden. Wenn ich mal über die Strenge schlage, nicht böse sein. Ich bin nun mal so. Aber ich arbeite an mir.“

Elena staunte nicht schlecht über diese Worte aus Lucys Mund, verrieten die doch viel über deren tatsächlichen Charakter, der sich hinter der Fassade der aufmüpfigen Revoluzzerin verbarg.

 

„Sei stark, aber nicht unhöflich. Sei freundlich, aber nicht schwach. Sei stolz, aber nicht arrogant. Wenn du danach lebst, wirst du es weit bringen im Leben, du hast das Zeug dazu.

Du hast viele Talente, wie ich bemerkt habe.

Erfolg kommt nicht von dem was man gelegentlich tut, sondern von dem was man konsequent tut.“

„Bisher war ich nicht sehr erfolgreich! Doch konsequent bin ich dafür umso mehr. Hast du ja mitbekommen, die Tage. Ist schon mal`n Anfang, würde ich sagen.“

„Ja, durchaus! Deine Konsequenz musst du jetzt nur noch in eine bestimmte Richtung lenken.“ Gebot ihr Neidhardt.

Lucy drückte die Zigarettenkippe am Boden aus und warf sie dann in den aufgestellten Müllbehälter neben der Bank.

„Ey, es is nicht so, dass ich nichts versucht hätte. Doch mehrmals. Aber du weißt ja wie das ist, einem alten Revolutionär brauche ich das wohl nicht zu sagen. Talente allein sind zu wenig, um in diesem Dschungel zu bestehen.“

„Da kann ich dir nur beipflichten.“ Bestätigte Neidhardt.  Allein ein Richard Wagner zu sein, nützt dir wenig, wenn du keinen König Ludwig an deiner Seite hast.“

 

„In Anarchonopolis wirst du alles finden was du brauchst. Dort kannst du auch konsequent sein, ohne dabei anzuecken. Du gehörst zu uns Lucy.“ Erneuerte Elena ihr Angebot.

„Apropos Roman über mein und Neidhardts Leben schreiben. Versuche es doch Lucy, wäre doch einen Versuch wert. Wir stehen beide jederzeit für Auskünfte zur Verfügung. Du kannst uns interviewen, wir werden dir unsere Geschichte bis ins Detail berichten. Na? Wie wär`s?

 

„Hmm, ein bisschen wuchtig würd ich sagen. Aber du hast Recht! Versuchen kann ich es, da habe ich viel Gelegenheit mit dir zusammen zu sein Elena und natürlich auch mit dir Neidhardt.“

Auch Lucy verstand es geschickt das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

 

Sie blieben lange auf der Löwenburg.

Der Abendhimmel erglühte gold und feuerrot, hoch über ihnen kreiste ein Bussard mit ausgebreiteten Schwingen. Elena legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den flammenden Himmel, in dem der Vogel seine Kreise zeichnete. Der Bussard war stumm, einzig in der Art, Sturzflüge zur Erde, Kehrwendungen und langes Schweben wechselten sich ab. Der endlose Flug schien seine einzige Beschäftigung zu sein; sich am Himmel emporschwingend, wie ein Schlittschuhläufer, der auf den Eis immer schneller wird, hob und senkte er seine Flügel in ausladenden Bewegungen. Es zählte einzig die Schönheit der Bewegung, die Luft schmiegte sich der Bewegung an.

Anarchaphilia, meldete sich eine Stimme aus Elenas Inneren. Ja, ich bin es, ich bin bei dir, ich war nie abwesend. Du konntest mich nur nicht wahrnehmen, weil dein Verstand, erfüllt mit Sorgen, nicht zu mir dringen konnte.

Du hast die nächste Prüfung überstanden. Bald, sehr bald endet dein Exil und wir sind für immer vereint.

 

Elena wurde von einem Glücksgefühl durchdrungen. Endlich, endlich wieder auf dem rechten Weg.

Unterdessen schritten Neidhardt und Lucy auf eine kleine Anhöhe und blickten auf den vor ihnen liegenden Horizont.

„Niemals in keinem Land der Erde, habe ich je einen Abend gesehen, der sich mit so magischer Pracht geschmückt hatte. “Begeisterte sich Neidhardt.

Dann erhob er die Arme weit in die Höhe, schloss die Augen und atmete tief durch. Sein Herz füllte sich mit tiefer Zufriedenheit.

„Ich habe eine Tochter. Ich habe nicht umsonst gelebt. Mein Leben hat plötzlich wieder einen Sinn. Es lohnt sich weiterzuleben. Der Tod muss noch warten Ich bekomme mit Lucy das schönste Geschenk, das sich ein Mann meines Alters wünschen kann. Spät erst hat das Glück bei mir angeklopft, erst durch Elena, nun durch Lucy. Ich bin gesegnet. Ich bin erfüllt.

mit tiefer Freude und bereit für ein neues Leben.“

Noch nie hatte Elena bei Neidhardt einen solchen emotionalen Ausbruch erlebt und war entsprechend ergriffen. Der alte Revolutionär befand sich dem Anschein nach tatsächlich auf einem neuen Weg, er war im Leben angekommen.

 

Spontan trat Lucy an seine Seite hob die Arme zum Himmel und sprach.

„Ich habe einen Vater. Endlich bist du in mein Leben getreten. Lange musste ich auf diesen Moment warten. Toll das es dich gibt. Ich begrüße dich in meinem Leben. Ich bin bereit für den nächsten Schritt. Lass uns von nun an Seite an Seite schreiten, vereint das Leben genießen Ich freue mich darauf.“

 

Elena trat in die Mitte.

„Ich habe euren Schwur vernommen. Ich steh in eurer Mitte und bin immer bei euch, wenn ihr mich braucht. Aber wie ich sehe, wird meine Vermittlung nicht mehr benötigt, ihr habt zueinander gefunden. Ich freue mich für euch und euer neues gemeinsames Leben.“

Dann umarmten sie sich und verweilten eine Zeitlang in dieser Stellung. Allen war bewusst, welche Kraft und Energie von diesem Augenblick ausging. Eine kleine persönliche Stunde Null für alle drei.

 

„Ein Revolutionär kann in seinem Leben viele große und gute Dinge tun, aber großen Unsinn am Ende seines Lebens. Davor hast du mich bewahrt meine Tochter.“

„Gern geschehen! Und du hast mich davor bewahrt viele Dummheiten überhaupt erst zu begehen.“ Entgegnet Lucy.

 

Schweigend verharrten sie noch eine Weile am Rande der Löwenburg, bevor sie den Rückweg antraten.

Die Stunde in der die große rote Sonne endlich verschwand, um dem Boden im blauen Schatten der Nacht Ruhe und Erholung zu gönnen.

Als sie im Ort ankamen hatte sich die Dunkelheit voll entfaltet.

Mit der Siebengebirgsbahn ging es nun weiter. Elena und Neidhardt brauchten nur bis Königswinter zu fahren. Verabschiedung. Für Lucy ging es weiter bis nach Köln.

Morgen war ein anderer Tag. Morgen begann ein neues Leben für alle drei Beteiligten.

Zeit der Veränderung, alles geriet noch einmal in Bewegung und musste nicht mehr im Stillstand verharren.

  

Am Folgetag packten Elena und Neidhardt ihre Sachen und machten sich auf den Weg nach Bensberg. Dort checkten sie sich in ihre Pension ein und verbrachten den Rest des Tages noch mit gemeinsamen Unternehmungen, sahen sich die Stadt an. Genossen ein Mittagessen später einen Kaffee. Ein gemütlicher Abend rundete den Tag. Die Nacht gehörte nur ihnen. Noch einmal die sinnlichen Freuden voller Leidenschaft genießen.

Für Neidhardt ein vorerst letztes Mal. Er würde Elena für eine ungewisse Zeit nicht mehr an seiner Seite wissen. Doch sie war nicht aus der Welt. Sie befand sich in der Nähe. Die Pension gestattete einen Blick auf den Berg, dort wo die Akademie wie eine Festung thronte. Dort würde Elena sein, jene Frau die seinem Leben vor einiger Zeit einen neuen Sinn gegeben, so wie jetzt die Tochter, die auf ihn wartete und zu der er sich von Augenblick zu Augenblick immer mehr hingezogen fühlte.

 

Am Morgen bereitete sich Elena zum Aufbruch vor. Zum Aufbruch nach Hause, in die Schwesternschaft, dort wo sie hingehörte, dort wo ihre Bestimmung lag, immer gelegen hatte.

Neidhardt hatte sich bereits von ihr verabschiedet und war nach Köln aufgebrochen, um sich erneut mit Lucy zu treffen. Beide hassten große Abschiedsszenen. Ein kurzes Lebewohl, es war ja nicht von langer Dauer.

Sie würden sich wieder sehen, dann wenn die Zeit dafür gekommen war.

Neidhardt und Lucy fanden zueinander, die Folgetage würden sie permanent daran arbeiten.

Elena konnte die beiden mit gutem Gewissen sich selbst überlassen, sie würden den Weg finden, davon war sie überzeugt.

Sie selbst war nun frei, frei sich um ihre Belange zu kümmern, die aufgrund der aktuellen Situation keinen weiteren Aufschub mehr duldeten.

Mit einem flauen Gefühl im Bauch schulterte sie ihre Reisetasche und verließ die Pension.

Langsamen Schrittes bewegte sie sich den Berg hinauf der zur Akademie führte. Eilig hatte sie es nicht, ihr stand alle Zeit der Welt zur Verfügung.

Auf dem Berg angekommen umrundete sie die Akademie zunächst einmal, um sich dann auf einer Bank niederzulassen. Tief durchatmen. Ihr persönliches Exil endete an diesem Morgen, es würde aufgehen im gemeinsamen Exil der Freiheitstöchter. Elena erwartete ein neuer Lebensabschnitt, wäre sie in der Lage die Herausforderung diesmal besser zu meistern?

 

 

 

 

 

** Neidhardts Hut ist jenem nachempfunden den DDR-Staats-und-Parteichef Erich Honecker (1912-1994) zu tragen pflegte

 

*** siehe Teil II Anarchonoplis - Kapitel 29-   Die Gralsburg hinter Stacheldraht