Indiens Drittes Geschlecht

                                                Rechte statt Romantik

 

                                  Indien und Pakistan erkennen ein Drittes Geschlecht an

 

Artikel von Madeleine erschienen in der Zeitschrift iz3w Ausgabe 326 Sept/Okt 2011

 

 

Bisher kannte nur das kleine Südseekönigreich Tonga ein Drittes Geschlecht. Mit Indien und Pakistan haben nun zwei weitere Staaten ein drittes Geschlecht formal-juristisch anerkannt, die Hijras

 

Die Gesellschaft begegnet ihnen mit Scheu und Abscheu. Furcht und Ehrfurcht begleiten die Sicht auf die indischen Hijras (in Pakistan nennt man sie Kuschras) gleichermaßen.

Ihnen wird nachgesagt sie verfügen über die Kraft des Segens und Verfluchens. Hijras, anatomisch männliche Personen, welche die männliche Geschlechterrolle ablehnen und Sexualität mit ihresgleichen und mit Männern pflegen- werden in der indischen (und pakistanischen) Gesellschaft geduldet. In Indien ist die Tendenz alles und jeden genauestens definieren zu müssen, weniger ausgebildet. So gibt es seit je her Hijras- sie sind weder Mann noch Frau, sondern eben ...Hijras. Gemäß moderner westlicher Definition sind sie weder homo-noch Transsexuelle, sondern Mann-zu-Frau-Transgenders. Schon seit Jahrhunderten sind sie fester Bestandteil im sozialen und kulturellen Gefüge der indischen Gesellschaft.

Dennoch werden die Hijras weithin diskriminiert, sind Ausgestoßene. Stellt ein pubertierender Jüngling fest, dass er sich zur Hijra entwickelt, so ist im traditionellen Familienverband keinPlatz mehr für ihn oder sie. Er oder sie ist gezwungen, die Familie zu verlassen und Unterschlupf in einer der zahlreichen, über das ganze Land verstreuten Hijra-Kommunen zu suchen, denn die Hijras leben in kleinen kommuneartigen Wohngemeinschaften zusammen. Sie haben in Indien eigene Tempel mit einer eigens für sie zuständigen Göttin. In der streng patriarchal organisierten indischen Familie gilt eine Hijra als Schande, ein Weiterverbleib im Familienverband ist unmöglich.

Eine fachgerechte geschlechtsangleichende Operation ist weder in Indien noch in Pakistan möglich oder bezahlbar. Immer wieder kommt es zu stümperhaften Selbstverstümmelungen mit verheerenden Folgen. Die meisten Hijras haben aber einen Kompromiss mit dem Leben geschlossen, in dem sie ich als eigenständige Gruppe betrachten, die nichts weiter anstrebt als einen Platz, um menschenwürdig und selbstbestimmt leben zu können.

Das aufgrund der Hindu-Tradition in Indien geltende Kastensystem ist in den Hijra.Kommunen aufgehoben. Hier finden sich Angehörige der obersten Brahmann-Kaste ebenso wie die Paria, der so genannten Unberührbaren. Ebenfalls aufgehoben sind ethnische und religiöse Unterschiede, die ansonsten sowohl in Indien als auch in Pakistan eine große Rolle spielen.  Wir finden in den Hijra-Gemeinschaften Hindus, Moslems, Anhängerinnen der Sikh-Religion und sonstiger Religionsgemeinschaften. Das gemeinsame Schicksal verbindet und lässt ungewöhnliche Wege gehen.

Ihren Lebensunterhalt bestreiten die Hijras vor allem mit Betteln und Prostitution. Wer Glück hat kann auch als Tänzerin oder Gauklerin den Lebensunterhalt bestreiten. Einige praktizieren alternative Heilberufe. Jede bringt ihr verdientes Geld in die Gemeinschaft ein, davon leben sie. Ohne diese gegenseitige Solidarität könnten die Hijras nicht überleben. Es ist die soziale Lage der Hijras, die zum Handeln zwingt.

Hijras sind auf dem indischen Subkontinent seit Jahrtausenden nachweisbar. Niemanden schienen sie zu stören. Eine Blütezeit erlebte ihre Kultur während der Herrschaft der islamischen Mogulkaiser. Sie konnten bis in höchste Ämter aufsteigen. Eine solle der Legende nach bis zum Wesir gebracht haben. Viele Mogulkaiser hatten Hijras als Mätressen.

Mit der britischen Kolonialverwaltung setzte der Absturz ein. Die Briten versuchten erstmals Papiere, also Vorläufer unserer Personalausweise, einzuführen. Mit den Hijras konnten sie nichts anfangen-also wurden diese einfach als Männer registriert. Damit begann  die staatlich sanktionierte Diskriminierung. Nach der Unabhängigkeit 1947 übernahmen sowohl Indien als auch Pakistan weite Teile der britischen Rechtssprechung. Für die Hijras blieb alles wie gehabt.

Seit Juni 2011 erkennt nicht nur der oberste Gerichtshof Indiens ab sofort ein drittes Geschlecht an, sondern auch Pakistan. Damit erfüllt sich -rein formal-die Forderung indischer und pakistanischer Transgender nach juristischer Gleichberechtigung. Insbesondere für das islamisch dominierte Pakistan ist diese Entscheidung geradezu revolutionär. Für die angeblich so liberale und tolerante westliche Kultur bedeutet diese Entscheidung eine schallende Ohrfeige.

Durch ihre eigenständige Existenz stellen die indischen Hijras und pakistanischen Kuschras die patriarchale Weltordnung gewissermaßen auf den Kopf. Allerdings auch mit Defiziten. Von Transmännern , also Frau-zu-Mann-Transsexuellen,ist nicht die Rede, so als gäbe es die überhaupt nicht. Frauen, die in Indien oder Pakistan als Männer leben wollen? Das klingt unerhört. Diese haben den Weg der Emanzipation noch vor sich. Auch sind sexuellen Beziehungen von Hijras zu Frauen verpönt. Auch wenn es nicht ungewöhnlich ist dass indische Frauen in Hijra-Kommunen leben, finden diese doch hier eine Freiheit die ihnen die patriarchale indische wie pakistanische Gesellschaft vorenthält. Sowohl in Indien, als auch in Pakistan sind Frauen in allem dem Manne unterstellt. Da Hijras ohnehin aus der Gesellschaft herausfallen, gilt jene straffe Trennung für sie nicht. Eine aus dem ´Familenverbund verstoßene Hijras weiß wohin sie sich wenden kann, nämlich an die Hijra-Kommunen. Eine Frau hat eine solche Möglichkeit normalerweise nicht.

In Indien leben rund eine Million Hijras, in Pakistan einige hunderttausend Kuschras. Schon allein aufgrund ihrer Lebensweise und nun auch noch der formal-juristischen Anerkennung stellen sie das Zwei-Geschlechter-Dogma der westlich-europäischen Denkstruktur auf den Kopf.

Hingegen unterwerfen sich die meisten westlichen Transgender noch immer dem dem patriarchalen Weltbild und dem Dogma der Zweigeschlechtlichkeit. Ein hoher medizinischer Standard und ein noch einigermaßen funktionierende Sozialversicherung lässt für die meisten Transgenders in Europa eine fachgerechte Angleichung an das gefühlte Geschlecht zur greifbaren Realität werden. Viele sehen die körperliche Angleichung an das Wunschgeschlecht als einzig gangbaren Weg.

Europäische Hijras? Im Moment noch undenkbar! Ein wie auch immer geartetes Drittes Geschlecht war bisher nicht der Fokus des Kampfes um Anerkennung. Traditionalistisch eingestellte europäische Transgender trugen bisher auch zur Festigung patriarchaler Strukturen bei.

Es gilt zu hoffen dass sich das bald ändert.

 

Madeleine