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Androgyna
Noch immer lag Akratasien im Würgegriff des Winters. Der Frühling hatte sich, nach einem kurzen Intermezzo, erst einmal verabschiedet. Sonnig-klar, aber kalt, schon seit Tagen und ein Ende war nicht abzusehen.
Auch politisch sah es nicht nach Aufbruchstimmung aus. Akratasien schien in eine Starre geraten und triftete immer deutlicher in eine kollektive Lethargie. Die Akratie wollte und wollte nicht Fuß fassen. Die Bestrebungen, den Freiheitsgedanken weiter voranzutreiben, waren ins Stocken geraten. Kaum noch jemand, der an deren baldigen Erfolg glaubte.
Den zahlreichen Arbeitsgruppen, Syndikaten und Projekten schien die Luft auszugehen, auch wenn sie nach wie vor versuchten, so überzeugend wie möglich zu erscheinen.
Das Übergangsstadium dauerte nun schon über zwei Jahre. Stagnation kennzeichnete die Lage. Die bildungsfernen Gesellschaftsschichten waren einfach nicht für die neuen Ideen zu gewinnen. Zu kompliziert schienen deren Aussagen. Zu abgehoben und unverständlich die Sprache. Die Umgestaltung des Gemeinwesens nach den Grundzügen der Akratie blieb eine Angelegenheit der Gebildeten, der Intellektuellen, die sich auf das Gelände von Anarchonopolis und dessen unmittelbarer Umgebung konzentrierte. Bald schon hatte es den Anschein, als habe die friedliche Revolution gegen das Neidhardt-Regime nie stattgefunden.
Die einfach gestrickten Menschen sahen sich einmal mehr abgehängt und von allen Fortschritten ausgeschlossen. Türen, gerade erst geöffnet, schlossen sich wieder vor ihren Augen. Alleingelassen mit ihren Problemen, außen vor. „Seht zu wie ihr zurecht kommt. Nun haben wir die Akratie, die volle Selbstbestimmung in allen Lebenslagen. Greift ein, gestaltet euer Leben nach euren Vorstellungen. Tut einfach das, was ihr schon immer wolltet. Es wird bald schon kein Oben mehr geben, das regulierend einzugreifen vermag. Regelt eure Anliegen selbst bestimmt und in voller Autonomie vor Ort.“
Die Menschen verstanden die Botschaft nicht. Leute, ein Leben lang darauf getrimmt Befehlen von oben zu gehorchen, sollten auf einmal alles selbst entscheiden? Das konnte nicht funktionieren.
So sahen sich die akademisch geschulten „Missionare der Akratie“, wie sie sich selber nannten, die ganz Akratasien durchquerten, auch in die entlegensten Dörfer und Gehöfte vordrangen, um dort für die Akratie zu werben, mit den Menschen vor Ort diskutierten, um ihnen die Grundzüge nahe zu bringen, immer häufiger mit einem großen Desinteresse konfrontiert.
Akratasiens Bewohner waren nicht reif für die Akratie. Oder war es möglicherweise genau umgedreht? War die Akratie etwa noch nicht ausgegoren genug, um sie den Menschen zu servieren?
Auf diese Weise verwunderte es kaum, dass immer mehr Missionare berichteten, dass sie auf offene Ablehnung, ja Feindseligkeit stießen. In nicht wenigen Haushalten hatten sie zudem Flugblätter und Zeitschriften der Rechtspopulisten vorgefunden.
Die Stunde der Patrioten hatte längst geschlagen. Die verstanden es wie keine andere politische Strömung, die Gunst der Stunde zu nutzen, um in diesen undurchsichtigen Zeiten ihre Schmalspurideologie den unkritischen, bildungsfernen Schichten unterzujubeln. Einfache Lösungen für einfältige Menschen. Das alte Rezept.
Die Kommune von Anarchonopolis bekam sehr wenig von den Vorgängen im Lande mit. Hier schien die Welt noch in Ordnung. Eine Insel der Glückseligen in einem Meer von Verunsicherten, allen Anfechtungen enthoben.
Private Angelegenheiten und Auseinandersetzungen dominierten zusehends das Geschehen.
Die Anwohner waren mit sich selbst beschäftigt, das betraf auch die Regierungsmitglieder.
Allen voran Elena.
Um ihre angespannte Beziehung zu ihrer Frau Madleen zu lösen, hatte sie sich in der letzten Zeit immer häufiger längere Auszeiten gegönnt, ohne jedoch den gewünschten Erfolg zu erzielen.
Sie überließ in diesen Fällen ihrem Stellvertreter Dagobert die Regierungsgeschäfte. Der machte seine Sache gut und an dessen Loyalität bestand kein Zweifel. Doch handelte es sich bei ihm um einen Vertreter des alten Neidhardt-Regimes. Als solcher zog er den Hass seiner unerbittlichen Gegner auf sich und somit auf die gesamte Regierung. Sowohl die militanten Anarchisten, auf der einen, als auch die bürgerliche Opposition und die Rechtspopulisten auf der anderen Seite, machten Front dagegen und gewannen immer mehr Anhänger.
Elena schien blind für solcherlei Gefahren. Möglicherweise wollte sie die auch nicht sehen, oder es war ihr inzwischen einfach alles egal. Madleen war ihr Lebensinhalt, sollte sie die verlieren, drohte sie in den Schlund einer gigantischen Depression zu geraten.
In der Geschichtsschreibung späterer Tage ist man sich weitgehend einig darüber, dass die Katastrophe mit einer banalen Auseinandersetzung begann. Ein sinnloser Streit, dessen Auswirkungen dramatischer nicht hätten sein können.
Elena kam eines Abends, wie so oft, gestresst, geschafft und frustriert von einer Kabinettssitzung nach Hause. Sie freute sich auf ihr Entspannungsbad und ein Glas ihres Lieblingsweines, dass sie bei dieser Gelegenheit zu konsumieren pflegte. Ausspannen, abschalten, den Tag mit einem erholsamen Ritual ausklingen lassen. Danach war ihr in diesem Moment. Sie spürte kein Verlangen nach stressiger Konversation. Ruhe, einfach nur Ruhe haben.
Das war ihr noch geblieben. Vorbei die Zeit, da Madleen voller Begierde zu ihr in die Wanne stieg, um den sich anschließenden Liebesakt schon einmal einzuleiten
Stattdessen fand sich Akratasiens Kanzlerin in einem handfesten Streit wieder. Madleen hatte sich vorgenommen, mit ihr über alle möglichen Probleme, die sich in der zurückliegenden Zeit angestaut hatten, zu reden. Begonnen von Haushaltsfragen bis hin zu verwaltungstechnischen Angelegenheit der Abtei, die ihrer Beantwortung harrten.
Elena wollte nicht darauf eingehen und unterbreitete den Vorschlag, alles aufzuschieben. Doch Madleen ließ nicht locker.
Bald mündete die Auseinandersetzung in ein lautes Wortgefecht, bei dem die Vorwürfe nur so durch den Raum wirbelten.
In einem Moment des Kontrollverlustes rutschte Elena die Hand aus und sie verpasste ihrer Frau eine saftige Ohrfeige. Kaum hatte sie die Tat begannen, reute es ihr bitter. Sie hatte ein Wesen geschlagen, das ihr das liebste auf der Welt war. Doch es war geschehen, es ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Für Madleen war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Wortlos und tief gedemütigt verließ sie noch am gleichen Abend die gemeinsame Wohnung und quartierte sich in der Gärtnerei bei ihrem Bruder Björn und ihrer Schwägerin Valeria ein.
Elena blieb mit Tochter Tessa zurück. Ihre kleine Welt des Friedens, der Harmonie und der Verständigung begann wie ein Kartenhaus in sich zusammen zu fallen. Leere, Dunkel, das Gefühl absoluter Verlassenheit. Der Sturz in ein schwarzes Loch, dessen Abgrund sich nicht lokalisieren ließ.
Elena unternahm zunächst nichts, um die Geliebte zurück zu erobern. Sie glaubte, dass eine vorübergehende Trennung durchaus sinnvoll verlaufen konnte, beiden Partnern den nötigen Abstand bot, in sich zu gehen und über alles in Ruhe nach zu denken.
Tessa litt besonders unter dem Verlust ihrer Mama Madleen und macht ihrer Mutter deshalb die bittersten Vorwürfe. Schlussendlich drohte sie sogar damit, ebenfalls in die Gärtnerei zu Madleen zu ziehen. Elena entschied in dieser Hinsicht der Tochter die freie Entscheidung zu lassen. Zwang würde alles nur verschlimmern.
Madleens Mutter Annett weilte schon seit geraumer Zeit wieder in Anarchonopolis und wähnte sich dazu berufen eine Schlichterrolle zu übernehmen. Mehrfach forderte sie Elena auf sich mit ihrer Frau an einen Tisch zu setzen und zu reden. Doch die kam der Aufforderung nicht nach. Sackgasse! Ein Ausweg ungewiss.
Anettes forsche Art mit der Problematik umzugehen, verschlimmerte die Spannung nur noch.
Die einzige die wirklich hätte helfen können, stand nicht zur Verfügung, aufgrund der Tatsache dass sie sich derzeit ebenfalls im freien Fall befand. Colette hatte mit ganz ähnlichen Problemen zu kämpfen, auch wenn sich diese zunächst in einem durch und durch positiven, angenehmen Gewand präsentierten.
Später würde sie sich die allergrößten Vorwürfe machen, dass sie die kleine Schwester in ihrer großen Not allein gelassen hatte.
Schuld daran war ein Wesen, das eines Tages in Anarchonopolis auftauchte und das Herz der Königin im Sturm eroberte. Es nannte sich Androgyna. Ursprünglich männlich, hatte es eine ähnliche Metamorphose durchlaufen wie Colette selbst.
Das perfekte Androgyn. Ein Hingucker, der alle Blicke auf sich zog, wenn es nur den Raum betrat. Die vollkommenste Symbiose von männlich und weiblich in einer Person, die Colette je zu Gesicht bekommen hatte.
Gesichtszüge, Figur, Haltung, Gang erinnerten eindeutig an eine Frau. Androgyna bewegte sich mit einer Anmut, die jedem Betrachter die Sprache verschlug. Da war nichts gekünstelt, gestelzt oder vertranst. Natürliche Sinnlichkeit ohne aufgesetzte Fassade.
Beim Betrachten des Gesichtes schwankte der Beobachter ständig zwischen feminin und androgyn. Schwarze lockige Haare, die fein geschliffene Gesichtszüge rahmten. Maskuline Elemente suchte man vergeblich, trotzdem schienen sie sich auf eine unsichtbare Weise beständig in Erinnerung zu rufen. Die schwarz gerahmte Brille verlieh dem Gesicht einen deutlichen intellektuellen Touch.
Die Kleidung weiblich, doch mit einigen männlichen Elementen garniert, ließ einen kreativen Geist erkennen, der sich beständig fort entwickelte. Genauso wie es Colette ebenfalls zu tun pflegte.
Androgyna wirkte auf den ersten Blick unterkühlt, abgehoben und unnahbar, doch dabei schien es sich vor allem um eine Schutzmaßname zu handeln. Die war für Leute ihrer Art durchaus geboten. Die Welt konnte nicht gut sein für eine wie sie. Suchte sie deshalb Schutz auf dem Gelände von Anarchonopolis? Die Tore öffneten sich weit, um sie willkommen zu heißen.
Wie eine Königin durchschritt Androgyna die Pforte der Basilika und bewegte sich eleganten Schrittes auf den Chorraum zu, hielt in einigen Metern Entfernung an und blickte zu Colette, die dort auf ihrem „Thronsessel“ Platz genommen hatte, die gestiefelten Beine auf einem Plüschhocker liegend und dabei eifrig Akten studierte. Auf dem Anrichtetisch neben ihr dampfte eine Tasse mit heißem Kakao, den ihr Betül vor wenigen Augenblicken zubereitet hatte. Instinktiv griff ihre rechte Hand danach und führte sie Tasse zum Mund.
Colette verzog das Gesicht, offensichtlich war das Getränk noch zu heiß um es zu genießen, dabei fiel ihr Blick auf die Person, die vor ihr Stellung bezogen hatte.
Die Königin presste kurz die Augenlider zusammen, weil sie zunächst annahm, einer Sinnestäuschung zu erliegen.
„Und mit wem habe ich die Ehre? Ich habe gar nicht bemerkt, wie du hier rein gekommen bist!“
„Ich bin Androgyna. Ich grüße die Königin von Akratasien. Ich bin gekommen, dir meine Dienste anzubieten.“ Erwiderte die Angesprochene, dann trat sie ein paar Schritte auf Colette zu, nahm deren rechte Hand und küsste diese. Die Königin fühlte sich wie elektrisiert.
„Willkommen! Sei Willkommen in unserem Reich der Freiheit, der Solidarität und der Kreativität. Und um was für Dienste handelt es sich, wen die Frage gestattet ist?“
„Hmm, das kommt ganz darauf an was für spezielle Bedürfnisse du hast. Ich denke von mir sagen zu können, dass ich vielseitig begabt bin. Möchtest du etwas Künstlerisches? Damit kann ich dienen. Ich singe, ich tanze, ich schreibe und komponiere. Ich laufe auch schon mal über ein Hochseil und springe durch einen Feuerring. Ich spreche mehrere Sprachen, ich kann Computerprogramme erstellen.
Wenn es um die alltäglichen Angelegenheiten geht, bin ich imstande ebenfalls mitzuhalten. Kochen tue ich ganz passabel, so zumindest die Meinung derer, die meine Kochkunst schon zu schmecken bekamen.
Wenn es ganz spezielle Fertigkeiten sind, auch damit kann ich dienen, wenn du dir vorstellen kannst, was ich damit sagen will.“
Colette schmunzelte und in Gedanken malte sie sich bereits aus, wie es sich wohl anfühlen musste, von diesem Wesen verführt zu werden.
„Ich kann mir denken, auf was du hinaus willst. Aber sag. Bist du ein non-binary-Wesen? Oder als was verortest du dich? Mit welchem Pronomen soll ich dich ansprechen?“
„Nun, ich bin auf diesem Gebiet flexibel. Männlich und Weiblich, alles zugleich und keines von beiden. Ich sitze zwischen allen Stühlen. Die bipolare Geschlechterzuweisung halte ich für antiquiert und überholt. Ständig bin ich dabei, Neues zu entwerfen und nach meinen Gutdünken auszuleben. Wenn du eine Definition willst, würde wohl am ehesten die Zuweisung trans-weiblich/nicht-binär zutreffen. Aber auch das ist nur eine vorübergehende Variante. Sieh in mir eine Frau oder ein non-binary Wesen, ich kann beides akzeptieren. Nur eines bin ich mit Sicherheit nicht, männlich.“
„Bravo! Eine gute Antwort. Genau nach meinem Geschmack. Ich charakterisiere mich ebenso. Schwester, lass dich umarmen!“ Colette erhob sich und schloss die Gleichgesinnte in die Arme. Dann hielt sie noch eine Weile deren Hände.
„Komm! Komm und setzte dich zu mir! Hier an meine Seite.“ Colette wies auf einen Stuhl direkt neben ihren Sessel.
„Oder nein! Ich habe eine viel bessere Idee. Wir gehen hinauf in meine Wohnung. Da haben wir es gemütlicher und wärmer. Meine Frau Betül ist zu dieser Zeit mit unserer Tochter Aischa unterwegs. Du wirst sie später kennen lernen. Für etwa eine Stunde sind wir ungestört.“ Bot die Königin überschwänglich an.
„Ja gerne! Die Einladung nehme ich dankend an!“ Erwiderte Androgyna.
Die beiden machten sich unverzüglich auf den Weg.
„Colette! Du hast deinen Gehstock vergessen!“ Rief ihr Kim nach, die an einem der Schreibtische Platz nenommen hatte.
„Oh! Habe ich gar nicht bemerkt. Ach, es geht auch so. Ich muss eh lernen, wieder ohne zurecht zu kommen.“
„Die Königin von Akratasien kann sich gerne auf meine Dienste verlassen.“ Meinte Androgyna und hob ihren rechten Arm leicht an, so dass sich Colette dort einhaken konnte.
„Ahm... Kim! Kannst du Betül in Kenntnis setzen, dass wir Besuch haben, auch zum Mittagessen?“
„Tue ich, Colette! Bis dann!“
Akratasiens Königin machte sich gemeinsam mit ihrer Besucherin auf den Weg in die Wohnung.
„Betül, bist du schon da?“ Versicherte sich Colette nach Betreten der Wohnräume.
„Sie ist noch unterwegs. Gemeinsam mit unserer Aischa besucht sie viele Leute, oft verplaudert sie sich dabei. Keine Ursache, ich befinde mich zu dieser Tageszeit üblicherweise in der Basilika, wie du dich bereits überzeugen konntest. Aber setz dich doch! Mach es dir bequem.“
Androgyna kam der Bitte umgehend nach.
„Du hast deine Frau sehr lieb!“ Stellte die Besucherin fest.
„Sie ist ein Juwel! Das Beste, das mir im Leben je begegnet ist. Ohne sie wäre ich jetzt Colette, die Eremitin, die sich vor der Welt verborgen hält und kaum noch menschlichen Kontakten nachkäme.“
Androgyna schlug leger die Beine übereinander. Eine Geste der Einladung, zu welchem Zweck auch immer.
„Interessante Garderobe, die du trägst. Sehr geschmackvoll und kreativ. Steht dir ausgezeichnet.“Meinte Colette, so als habe sie bereits den Gesprächsfaden verloren.
„Danke! Mein Stil weißt gewisse Ähnlichkeiten zu deinem Outfit auf. Findest du nicht auch?“ Stellte Androgyna fest.
„Ja! Jetzt da du es sagst, sehe ich es. Eine bemerkenswert Ähnlichkeit sogar.“
In der Tat. Androgyna war eine stilechte Kopie der Akratasischen Königin. Fast zu perfekt. Wollte sie am Ende ihr Vorbild überflügeln?
Eine schwarze Sphinx.
Die schwarzen Schnürstiefel reichten ihr bis zu den Knien, darüber ein Schwarzer Lederrock, schwarzes Sweatshirt, dazu eine ebenso farbige Lederweste, lediglich das lange geschlossene Halstuch hatte eine violette Farbe. Der bis zu den Knöcheln reichende Ledermantel war anthrazitfarbig. Die Baskenmütze weinrot.
Silberschmuck an allen erkennbaren Stellen rundete das Bild. Ringe zierten fast alle Finger, die Nägel dezent in der Farbe reifer dunkler Kirschen lackiert. Die Farbe ihrer Lippen passte sich dem entsprechend an.
„Was glaubst du, wen ich mit diesem Outfit imitiere?“ Holte Androgynas Frage die Königin aus ihrem Tagtraum.
„Mich?"
„Wen sollte eine Transfrau oder ein Non-Binary-Wesen sonst kopieren, wenn nicht die Königin von Akratasien? Du bist ein lebendes Kultobjekt, überall auf der Welt. Dein Vorbildcharakter bestimmt weitgehend das Denken. Mein Vorhaben, dich persönlich kennen zu lernen, schlummert schon lange in mir. Nun konnte ich es endlich realisieren. Ich bin erleichtert und glücklich, endlich in deiner Nähe zu sein.“
Colette schmunzelte ihr Gegenüber an. Nervosität bemächtigte sich ihrer. Tagtäglich begegneten ihr Dutzende von Menschen, aus dem In- und Ausland, ohne dass sie dabei den Halt verlor. Warum gerade bei ihr? Unsicherheit überflügelte Colette.
„Möchtest du nur für kurze Zeit unsere Gastfreundschaft genießen oder hast du an einen längeren Aufenthalt gedacht?“
„Jetzt da ich die Schwelle zum Heiligtum überschritten habe, möchte ich am liebsten für immer meine Zelte aufschlagen. Hier, an der Seite meiner Königin, um ihr zu dienen.“
Aber der Platz an meiner Seite ist bereits vergeben. Hörte sich Colette sagen, doch sie brachte diese Worte nicht über ihre Lippen.
„Hmm, nun ja, dann lass uns überlegen, wie wir deine Fähigkeiten zum allgemeinen Nutzen einzusetzen vermögen. Es gibt sicher eine ganze Menge, was du für unsere Gemeinschaft tun kannst, auch wenn mir spontan nichts spezielles einfallen will. Aber ich bin sicher, dass die Zeit die Frage beantworten kann.“ Versuchte Colette das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Ich bin dafür bestimmt, dir zu dienen. Ich bin eine Sensitive, so wie du selbst. Es ist mir möglich in die Herzen der Menschen zu blicken, ich kann deren Gedanken, Gefühle und Empfindungen spüren. Ich besitze die Fähigkeit in die Zukunft zu blicken, Zusammenhänge zu deuten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Eine prophetische Gabe. Lass uns unsere Kräfte vereinen und bündeln. Gemeinsam sind wir noch stärker und können segensreich für die Menschheit wirken. Das können wir aber nur wenn wir in räumlicher Nähe zusammen wirken. Als Hinterbänklerin bin ich kaum von Nutzen.“
Ein knallharte Überzeugung und ein eindeutiges Angebot. Colette musste einen Gang zurückschalten. Hier schien sich etwas anzubahnen, dessen Wirkung sie nicht ein zu schätzen vermochte.
„Aber das wollen viele! Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht Angebote dieser Art bekomme. Alle möchten in meine oder Elenas Nähe, aus ganz unterschiedlichen Beweggründen. Wäre ich immer darauf eingegangen, würde der Platz schon lange nicht mehr ausreichen. Ich möchte gerecht handeln und niemanden bevorzugen. Das wirst du sicherlich verstehen. Ansonsten würde ich den militanten Anarchisten die Munition liefern. Die werfen mir ohnehin schon seit geraumer Zeit vor, dass ich eine neue Hierarchie installiere. Wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich mir eingestehen, dass sie damit gar nicht einmal so falsch liegen.
Es müsste also schon etwas außergewöhnliches sein, dass dich auszeichnet und dich von allen anderen unterscheidet.“
Androgyna erhob sich langsam von ihrem Platz.
„Wenn dich meine Worte nicht überzeugen, komme ich nicht umhin meine Besonderheit frei zu legen.“
Den Mantel hatte sie bereits abgelegt. Nun begann sie ihre Stiefel aufzuschnüren.
„Ja, zieh die Stiefel aus. Ich glaube wir haben auch noch ein paar Hausschuhe für dich.“
Bot Colette an, so als habe sie die Absicht ihres Gastes noch immer nicht erkannt. Pantoffeln benötigte Androgyna in diesem Moment der Selbstdarstellung mit Sicherheit nicht.
Nach den Stiefeln entledigte sie sich ihrer Baumwollstrumpfhose. Elegante Füße kamen dabei zum Vorschein. Sinnlich, wenn auch für zu groß für eien Frau. Verziert mit Stilsicherer Pediküre, Zehenringen und Fußkettchen.
Weste, Sweatshirt und Halstuch landeten auf dem Boden. Dann streifte sie den BH über ihren Kopf. Kleine weiche weibliche Brüste wurden sichtbar.
Als letztes fiel der Slip. Was würde dahinter offenbar? Die pralle Männlichkeit war noch in seiner natürlichen Form vorhanden.
Die Hüften entsprechend schmal wie bei einem Mann, der ganze Körper sportlich-athletisch gebaut und von kräftigen Muskeln durchzogen.
„Da bist du sprachlos, Colette von Akratasien. Ich gehe sicher recht in der Annahme, dass außer uns beiden niemand hier auf dem Gelände der Abtei so einen Körper vorzuweisen hat.
Wir sind Unikate. Von der gleichen Art. Unsere Körper machen uns zu Schwestern besonderer Art. Keine andere Schwester kommt dem gleich, steht sie dir auch noch so nahe.“
Die Königin war kaum in der Lage zu antworten und betrachtete akribisch genau dass vor ihr stehende Gesamtkunstwerk. Sie konnte sich kaum satt daran sehen. Begierde keimte in ihr auf, jetzt, sofort, auf der Stelle. Das Verlangen drohte sie zu verschlingen.
Das kam einbem Blick in den Spiegel gleich. Androgyna war ein genaues Abbild ihrer selbst, nur eben 20 Jahre jünger und in der Blüte ihrer Jahre.
Zeitgleich wurde sie von Angst erfüllt. Betül konnte jeden Moment eintreffen. Was dann?
Hier in der gemeinsamen Wohnung eine Nebenbuhlerin nehmen? Das würde ihr Verhältnis auf absehbare Zeit beeinträchtigen.
„Du hast gewonnen. Du findet mich sprachlos, Schwester. Du kannst dich wieder anziehen.
Ich möchte nicht dass Betül dich so vorfindet, die findet solche Dinge üblicherweise gar nicht komisch. Ich möchte, dass ihr euch auf ganz konventionelle Art begegnet. Zum Beispiel bei einem gemeinsamen Essen.“
Androgyna kam der Bitte ohne Zögern nach und begann sich anzukleiden. Langsam, zu langsam für Colettes Empfinden. Nervös blickte sie ständig auf die alte Standuhr an der Wand gegenüber. Jeden Moment konnte sich die Tür öffnen.
Endlich geschafft! Androgyna hatte wieder Platz genommen und schlug lässig die Beine übereinander, als aus dem Nachbarzimmer die vertraute Stimme zu vernehmen war.
„Huhu, bist du zu Hause?“
Colette schwang sich aus ihrem Sessel und hastet zur Tür hinaus.
„Hallo mein Liebling.“ Sie nahm ihre Frau in die Arme und badete diese in einer Flut von Küssen, ganz so, als müsse sie an diesem Morgen ihre Liebe auf ganz spezielle Art unter Beweis stellen.
„Hey, du bist aber gut drauf. Das freut mich. Aber wie kommt es, dass du schon hier oben bist? Sprechzeit schon zu Ende?“
„Jaja, hab früher Schluss gemacht. Nicht viel los heute.“ Colette tänzelte nervös von einem Bein auf das andere.
„Äh, ja äh! Ich hab einen Gast mitgebracht. Ich hoffe es stört dich nicht?“
„Warum sollte es das? Du bist die Königin von Akratasien. Wir haben sehr häufig Gäste an unserer Tafel. Daran habe ich mich mit der Zeit gewöhnt.“ Betüls Antwort klang zufrieden stellend.
„Dadadada!“ meldete Aischa ihren Anspruch nach Aufmerksamkeit an.
Betül drückte Colette die gemeinsame Tochter in die Arme.
„Nun dann möchte ich unseren Gast begrüßen. Wer ist es denn? Jemand den ich kenne?“
„Äh ja äh, ich meine... nein!“
Schon hatte die Königingattin das Nachbarzimmer betreten.
Spontan erhob sich Androgyna.
„Ich grüße die Gattin von Akratasiens Königin!“ Sie griff nach Betüls Händen und küsste diese.
„Du bist noch viel schöner als auf all den Bildern, die man überall zu sehen bekommt.“
„Hey, danke! Ich grüße dich auch! Mit wem habe ich denn die Ehre?“
Schmunzelte Betül.
„Ich bin Androgyna. Geboren in Deutschland. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Spanier.“
„Androgyna? Was für ein seltsamer Name. Liege ich falsch wenn ich annehme, das du dir diesen selber zugelegt hast?“ Wollte Betül wissen.
„Da liegst du vollkommen richtig! Mein ursprünglicher Vorname ist ohne Belang. Er passt nicht zu mir. Nicht zu meiner wahren Identität. Es ist immer praktisch, wenn du dir den Namen selber wählen kannst. Androgyna mag ungewöhnlich klingen, aber er drückt mein Lebensgefühl in besonderer Weise aus.“
„Das ist gut! Sei herzlich willkommen. Du bleibst doch zum Essen, oder?“
„Ja, natürlich!“
Colette staunte nicht schlecht darüber, wie gut die beiden mit einander aus zu kommen schienen.
„Dadadada!“ machte sich Aischa wieder bemerkbar.
„Das ist unser Töchterchen Aischa. Komm kleine Prinzessin von Akratasien, sag unserem Gast Guten Tag.“
Colette hielt die Tochter fast wie ein Schutzschild.
Mit großen Augen blickte das Kind auf das ungewöhnliche Wesen gegenüber.
Dann begann sie ungeduldig mit den Ärmchen und Beinchen zu rudern, so dass Colette sie nur mit Mühe halten konnte.
„Gib her! Ich mache das schon.“ Betül nahm die Tochter wieder zu sich.
„Setzt euch doch! Ihr habt euch sicher viel zu erzählen. Kim und Denise müssten jeden Augenblick eintreffen. Dann werden wir gemeinsam das Essen bereiten.“ gab Betül zu verstehen.
„Sag mal Androgyna, wo bist du eigentlich untergebracht?“ Wollte Betül wissen, nachdem die Tischgemeinschaft das Mittagessen beendet hatte und die Runde bei einem Kaffee ausklingen ließ.
„Hm, im Moment noch nirgendwo. Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.
Keine Ahnung! Ich weiß nicht mal an, wen ich mich in dieser Hinsicht wenden muss.“
„Wie? Du weißt nicht wo du wohnen wirst? Das ist aber komisch. Hey Colette, unsere Besucherin weiß nicht wo sie schlafen soll. Was ist denn mit dir? Du hast kaum ein Wort gesagt. So kenne ich dich überhaupt nicht. Fühlst du dich nicht wohl?“ Forschte Betül nach.
„Wie...wie? Ach was. Es geht schon. Keine Sorge. Einfach in Gedanken versunken. Du kennst das doch inzwischen. Der Körper ist anwesend, der Geist in anderen Sphären unterwegs.“ Versuchte sich Colette zu rechtfertigen.
„Dann komm schleunigst zurück. Die reale Welt benötigt deinen Rat. Da fällt mir ein, dass gerade erst gestern ein Zimmer im Haus frei geworden ist. Genau ein Stockwerk unter uns. Das wäre doch was, oder?“ Schlug Betül vor.
Colette war wie vom Schlag getroffen und ihre Hände begannen zu zittern, so dass sie die Kaffeetasse unter lautem Klirren absetzen musste. Die Versuchung hier im Haus? In unmittelbarer Nähe? Nein! Das war unmöglich! Doch wie sollte sie sich verständlich machen?
Normalerweise koordiniert Madleen die Wohnungsangelegenheiten. Aber die ist zur Zeit außer Haus. Elena will ich auf keinen Fall damit belasten. Wer kommt da noch in Frage?“
Überlegte Betül.
„Eigentlich Chantal, aber die ist mit anderen Dingen beschäftigt. Das Kind müsste in den nächsten Tagen kommen.“ Erinnerte sich Kim. „Aber ich glaube dass ich es auch regeln kann.“
„Das ist lieb von dir, Kim. Dann wäre ja alles geklärt. Du kannst Androgyna das Zimmer gleich im Anschluss zeigen. Nein, quatsch. Das solltest du machen, meine liebe.“ Betül blickte auf Colette.
„Ich? Jaja, ach so! Natürlich! Ja, klar mache ich das!“ Stotterte die Überraschte.
Kim und Denise räumten das Geschirr ab. Colette machte sich mit Androgyna auf den Weg in die darunter liegende Etage des Konventsgebäudes. Vorher nutze sie die Gelegenheit um ihren Gast noch etwas im Haus herum zu führen und mit allen Wichtigen vertraut zu machen.
Das Zimmer war gemütlich hergerichtet.
„Dann komm erst mal richtig an. Wir werden sicher bald die Gelegenheit haben, uns näher kennen zu lernen.“ Gab Colette zu verstehen, nachdem sie Androgyna in das Zimmer geleitet hatte.
„Das wünsche ich mir sehr! Das Zimmer ist schon mal in Ordnung. So praktisch, so nahe am Geschehen. Da brauchst du keine großen Entfernungen zurück zu legen, wenn du zu mir kommst. Du kommst doch? Heute nacht oder Morgen? Die Tür steht dir jederzeit offen?“
„Wie meinst du das?“
„So wie ich es sage! Ich bin deine Sklavin, verfüge über mich, wann immer dir danach ist und es wird mir eine Freude sein.“ Androgynas Einladung schmeckte süß wie Honig, doch galt es diesen zunächst aus einem Bau stechender Wespen zu holen.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll? Du hast meine Frau soeben kennen gelernt und ich bemerkte sofort dass sie dir auch gefällt. Warum sollte ich diese wunderbare Beziehung aufs Spiel setzen? Nur um einem Windei nach zu jagen? Du begehrst mich, in Ordnung. Ich begehre dich auch. Gut, nun ist es raus ...“
Noch bevor Colette weiter sprechen konnte zog Androgyna sie ins Zimmer und schloss eilends die Tür hinter sich.
„Dann wäre doch alles gesagt. Warum glaubst du mich abwehren zu müssen, Königin von Akratasien?“
Androgyna nahm Colettes Kopf in beide Handflächen, dann presste sie ihre Lippen auf deren Mund. Die Königin war außerstande, sich zu wehren und ließ es geschehen.
„Du bist wie ich und ich bin wie du! Wir sind von einem Schlag. Es gibt auf dieser bipolaren Welt nur wenige unserer Art. Wir gehören zusammen! Wir sind ein Geist. Laß uns auch ein Fleisch werden.“
Colette entwand sich der Umarmung und hastete zur Tür hinaus.
„Dann eben nicht. Nicht heute! Aber keine Sorge, du wirst wieder kommen, Königin. Das Feuer brennt in deinen Adern und beginnt dich langsam zu verzehren. Der Versuch, es zu löschen ist vergebens. Du willst mich, gesteh es dir ein!“ sprach Androgyna zu sich selbst.
Sie hatte die erste Hürde genommen. Nach nur kurzer Zeit war es ihr gelungen das Interesse der Königin zu gewinnen. Sie lebte in deren unmittelbarer Nähe, das war weitaus mehr als sie ursprünglich erhofft hatte.
„Ich bin verflucht!!!“ Schrie Colette, streckte dabei beide Arme mit geballten Fäusten in die Höhe und rannte sie wie ein gefangener Tiger in der Eremitage auf und ab.
Es war nicht ihre eigene Einsiedelei, sondern jene in der Nachbarschaft, in der Pater Liborius wohnte. Da sie Elena nicht auch noch mit ihren eigenen Angelegenheiten behelligen wollte, hatte sie sich kurz entschlossen den Pater auf zu suchen, in der Hoffnung auf dessen weisen Rat.
„Es ist verrückt! Es ist einfach nur verrückt! Das ist ja schlimmer als in einem Dreigroschenroman. Mein ganzes Leben war ich auf der Suche nach ein wenig Liebe, Zärtlichkeit und Akzeptanz. Doch blieb mein Suchen über Jahre, nein Jahrzehnte hinweg ohne nennenswerten Erfolg. Innerlich wie äußerlich begann ich zu verwelken wie eine Herbstrose im November. Glaubte ich mal einen Treffer gelandet zu haben, war es entweder nur von ganz kurzer Dauer oder ich wurde auf gemeine, hinterhältige Art zur Närrin gemacht.
Das Leben hatte jeglichen Reiz verloren. Ich wurde zur einsamen Wanderin in der dunklen Nacht der Vereinsamung.
Dann stieß ich zu Elena und unserer Gemeinschaft, damals noch in der Kolonie am Stausee. Ab diesem Zeitpunkt wurde es langsam besser. Doch selbst dort war ich nicht vor Rückschlägen gefeit. Am Anfang ganz auf die Rolle der Zuschauerin festgelegt, durfte ich zusehen, wie andere in ihrem Glück badeten, während ich daneben stand und vor Sehnsucht fast verblutete. Ich musste hart um Anerkennung kämpfen, bis ich am Ende meiner Kräfte war und zu resignieren begann.
Zu diesem Zeitpunkt trat Betül in mein Leben. Sie wurde zu meiner Erlöserin und gab meinem Leben endlich einen Sinn. Auf einmal wurde alles anders. Ein Schwall positiver Energien ergriff von mir Besitz. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr ausgeschlossen und abgehängt, konnte mitreden und mitfühlen, hatte Teil an jenem Zustand den man Leben nennt.
Betül ist eine Perle, eine Prinzessin aus 1001 Nacht. Mit Aischa machte sie mir schließlich das größte Geschenk meines Lebens. Perfektes Glück, auch wenn über allem die Angst wie ein Damoklesschwert baumelte. Die Angst davor, dass ein anderer sie mir eines Tages weg- nehmen könnte
Und nun? Es ist genau umgedreht. In mein Leben tritt eine Person, die alles zu zerstören droht, all das kleine Glück, an dem ich so mühevoll zu bauen hatte. Androgyna ist die Fleisch gewordene Herausforderung. Sie ist wie ich. Wie kaum eine andere ist sie in der Lage sich in meine Situation hinein zu versetzen, Freude und Schmerz gleichermaßen mit mir zu teilen. Und sie ist Sinnlichkeit pur. Mit ihr möchte ich das Leben teilen. Doch ich kann es nicht, ich darf es nicht. Es kann nicht sein. Niemals. Ich muss ihr widerstehen!“
„Ja, dann tue es doch einfach! Lass ab von ihr! Was ist daran so schwierig?“ Wunderte sich der Pater.
„Wie??? Sag mir wie? Ich kann es nicht. Mir sträuben sich alle Haare gleichzeitig. Androgyna zieht mich an wie der Magnet die Eisenspäne.“
„Wenn ich mich recht entsinne hat die Gemeinschaft die Freie Liebe propagiert. Warum machst du dir also Gedanken. Sieh auf all jene, die in Mehrfachbeziehungen leben und wie es bei denen funktioniert.“ Lautete Liborius erstaunliche Antwort.
„Häh, na jetzt bin ich platt. Das sagst ausgerechnet du? Der Vertreter einer Religion, die solchem Denken und Handeln diametral entgegen steht? Das musst du mir näher erklären.“
Colette kam aus dem Staunen nicht heraus.
„Was könnte ich dir sonst raten? Ich lebe nicht erst seit gestern hier. In der Zeit, da ich mein Leben mit eurer Gemeinschaft teile, habe ich einiges hinzugelernt. Ich gebe zu, dass es am Anfang ganz schön schwierig für mich war, all euer Handeln nach zu vollziehen. Doch mit der Zeit begannen sich meine Augen zu öffnen und ich blickte tiefer. Ich sah die große Bedeutung hinter all dem, was ihr tut. So auch in Hinsicht auf diese sonderbare polyamory Theorie.
Ich habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht. Der könnte in etwa so klingen:
Um einer Versuchung zu widerstehen, müsste ich diese erst einmal durchleben, ausleben.
Ich kann nur auf das verzichten, was ich es kennen gelernt habe.“
„Du gibst mir solch einen Rat? Du, in deiner Eigenschaft als Geistlicher? Das ist in der Tat sonderbar. Ihr christlichen Seelsorger seid doch sonst so eifrig dabei, den Menschen ihren Sündenkatalog um die Ohren zu hauen und ihnen permanent Schuldgefühle einzureden, auch dort wo keine zu finden ist. Ich bin schuldig! Ich bekenne mich dazu. Schuldig des Verrates an einem Menschen, der mir lieb und teuer ist.“
„Aber wieso denn? Du hast doch noch gar nichts unternommen in dieser Hinsicht! Es gibt keinen Grund für dich Schuldgefühlen zu erliegen.“ Lehnte der Pater ab.
„Das stimmt nicht ganz! Wie heißt es doch so treffend? Gesündigt in Gedanken, Worten und Werken. In Gedanken liege ich seit geraumer Zeit schon bei Androgyna, folglich bin ich ebenso schuldig, als wenn es schon geschehen wäre.“
„Das sind Haarspaltereien! Ich gebe zu, dass in früheren Zeiten von Seiten meiner Kirche so gedacht wurde, mit verheerenden Folgen für die Menschen. Aber nur weil etwas über Jahrhunderte hinweg praktiziert wurde, muss es noch lange nicht richtig sein. Schon seit geraumer Zeit habe ich Abstand davon genommen. Du hast nichts getan, dessen du dich schämen müsstest.
Wenn du es dennoch tust, und davon gehe ich aus, liegt es in deinem Ermessen, wie weit du zu gehen gedenkst.“
„Schade! Ich wähnte mich bei dir an der richtigen Adresse, was meine Sorgen betreffen. Nun bin ich ebenso schlau wie vorher.“ Bedauerte Colette.
„Es tut mir leid! Aber ich fühle mich außerstande, dir einen anderen Rat zu erteilen. Du bist ein erwachsener Mensch, ein Mensch mit Verantwortung für ein ganzes Land, eine Königin. Die Leute blicken auf zu dir. Auch das spielt eine nicht ganz unwichtige Rolle in dieser Angelegenheit.“ Glaubte Liborius zu wissen.
„Danke, dass du mich daran erinnerst. Damit hast du meinen Schuldgefühlen weitere Nahrung zugefügt. Ich verschwende hier wirklich nur meine Zeit. Ich bin einmal mehr im Leben die Looserin. Ich sehe den Weg ganz deutlich vor mir. Am Ende werde ich sie alle beide verlieren, Betül und Androgyna. Dann kann ich mich wohl nur noch als Reklusin* in meiner Eremitage einmauern lassen.“ Bedauerte sich Colette weiter.
„Wenn du meinst dass du damit ein Problem löst, nur zu!“
„Musst du unbedingt alles ins Lächerliche ziehen? Ich leide. Ich leide Höllenqualen. Ich fühle mich innerlich zerrissen. Du hast Recht, wenn du mich an meine Verantwortung erinnerst. In unserem Lande geht etwas vor, das ich nicht zu deuten vermag. Ich müsste jetzt ganz konzentriert bei der Sache sein. Stattdessen schlage ich mich wie ein Teenager mit Beziehungsproblemen herum.“
„Dann tue es doch! Ich verstehe dich nicht, Colette! Du bist doch sonst nicht so emotional geladen. Ich habe dich stets als gefestigte Person erlebt, die sehr genau wusste, was sie wollte und nicht lange zögerte, es auch in die Tat umzusetzen. Und aus der Bahn hat es dich mehr als einmal geworfen. Trotz alledem hast du es immer wieder geschafft, aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen. Deine derzeitigen Anfechtungen sind harmlos im Vergleich zu jenen, die dir in der Vergangenheit zu schaffen machten. Im Moment bist du einfach nur dabei, auf sehr hohem Niveau zu jammern.“
„Womöglich magst du damit Rechzt haben. Keiner kann mir dabei helfen. Jetzt heißt es zur Besinnung kommen und das sollte ich nicht auf die lange Bank schieben. Du kannst dich glücklich schätzen, dass dir solche Probleme in deinem Leben erspart geblieben sind. In der letzten Zeit ertappe ich mich immer häufiger dabei, dass ich dich um deine Gabe auf alles zu verzichten, beneide. Du hast zwar die Freude nicht schmecken dürfen, dafür bleibt dir aber auch der Schmerz erspart.“
Colette verabschiedete sich und ließ den Pater allein. Die sonst so weitsichtige Königin unterlag einem schweren Irrtum, wenn sie davon ausging, dass Pater Liborius, all dem Leidenschaftlichen enthoben, unangefochten seinen spirituellen Weg gehen konnte.
In Wirklichkeit befand er sich gerade in einer ganz ähnlichen Situation, doch davon ahnte zu dieser Zeit noch keiner etwas.
Am gleichen Abend fand in der Kulturfabrik ein musikalischer Event statt. Einige besonders Kreative aus den Reihen der queeren Neubürger hatten geladen, um ihre Künste darzubieten.
Von Seiten der Alteingesessenen standen Eve und Kim auf der Bühne und boten den Zuschauern ihren unvergleichlichen Punk. Kyra hätte diesem Spektakel gerne beigewohnt, doch die befand sich unmittelbar vor ihrer Niederkunft und musste, ebenso wie Chantal, jederzeit damit rechnen, dass sich der Nachwuchs einstellte.
Dafür beteiligte sich Androgyna an der Show. Zum ersten Mal konnte sich Colette ein Bild von deren Talenten überzeugen. Die schien in vielen musikalischen Genres zu hause. Ihr Repertoire reichte von Edith Piaf über Joan Baez bis Suzie Quatro. Die Garderobe passte sie dem entsprechenden Musikstil an. In Windeseile wechselte sie zwischen den Auftritten die Kleidung, ließ dabei sie ihrer Phantasie freien Lauf. Ganz gleich, wie sie auch daher kam, sie machte in jeder Gewandung eine gute Figur und sah einfach nur bezaubernd aus. Es hatte den Anschein als sei geradezu darauf aus, den anderen Beteiligten die Schau zu stehlen.
Colette hatte die Veranstaltung mit ein paar Worten eröffnet und dann in der ersten Reihe Platz genommen. Sehr zu ihrer Freude gesellte sich wenig später Elena zu ihr. Colette griff nach deren Hand und drückte sie sanft. `Ich bin bei dir, kleine Schwester! Ich lasse dich in deinem Kummer nicht allein! Auch wenn ich im Moment nicht ganz bei der Sache bin.` Signalisierte sie ihr im Geiste.
Betül hatte sich in Begleitung von Kristin mit der kleinen Aischa etwas weiter hinten platziert.
Im Körper der Königin tanzten die Glückshormone Rock en Roll, so sehr wurde sie von der Begeisterung erfaßt. Immer dann, wenn Androgyna die Gitarre würgte, hielt es Colette kaum noch auf ihrem Platz
Plötzlich verstummt die Musik und die androgyne Lady ergriff das Wort.
„Ich möchte mich im Namen aller anderen noch einmal dafür bedanken, dass wir heute unsere Künste darbieten konnten. Mir persönlich hat es außerordentliche Freude bereitet, für euch zu singen. Ich grüße ganz besonders dich, Colette von Akratasien, Königin der queeren Herzen, Mutter aller transgender und non-binary- Communitys, überall auf der Welt. Ich möchte dich darum bitten, zu mir auf die Bühne zu kommen. Mache mir die Freude gemeinsam mit dir ein Lied zu singen. Non, je ne regrette rien** von Edith Piaf. Es ist unser Lied. Wir haben nichts zu bereuen. So wie unser Leben verlief, war es gut und richtig. Wir sind niemand Rechenschaft schuldig. Wir brauchen uns dafür nicht zu schämen. Hätten wir noch einmal die Wahl, würden wir beide ebenso handeln. So mancher bedrückender Situation mussten wir uns stellen. Stets sind wir gestärkt aus den Prüfungen hervorgegangen. Diamanten entstehen nun mal nur unter Druck. Ich weiß nicht, ob ich schon einer bin. Das vermag ich nicht zu beurteilen. Doch eines weiß ich ganz gewiss, Colette, die Königin von Akratasien ist ein Edelstein von ganz besonderem Wert.“
Der Königin schossen beim Hören dieser Worte sofort die Tränen in die Augen, der Kanzlerin an ihrer Seite erging es nicht viel anders.
Schnell erhob sich Colette und kam Androgynas Bitte nach. Oben angekommen fielen sich beide in die Arme, was vom Publikum mit frenetischem Beifall honoriert wurde. Das Lied war nicht durch Zufall gewählt. Während ihrer aktiven Zeit als Sängerin gehörte es zu Colettes Standardrepertoire. Sofort meldeten sich die Erinnerungen.
Kurze Zeit später wurde die Melodie vom Band eingespielt, dann begannen beide fast synchron mit ihrem Gesang. Im Saal entstand eine fast andächtige Stimmung. Es schien, als sei der legendäre Spatz von Paris noch einmal auferstanden, so perfekt kam der Gesang rüber.
Colette fiel auf, dass Betül und Kristin schon gegangen waren. Somit konnten die beiden die denkwürdige Szene nicht miterleben. Das hatte allerdings nichts mit Colette zu tun. Der Abend war weit fortgeschritten und es wurden schon etliche Zugaben angehängt. Betül hatte angekündigt früher zu gehen, da sie Aischa zu Bett bringen musste. Im Anschluss war sie wohl noch mit Kristin verabredet.
Ganz zum Schluss tanzten Colette und Androgyna noch auf der Bühne, der Beifall wollte nicht enden. Schließlich verharrten beide lange Zeit in einer innigen Umarmung.
„Komm zu mir heute nacht, Colette. Lass mich nicht allein, nicht nach diesem Erlebnis.“ Flüsterte Androgyna ins Ohr der Königin.
Colette sah sich außer Stande diese Bitte auszuschlagen. Sie hatte keine Energie mehr für eine widerständige Haltung. Das Siegel war gebrochen. Nun musste sie die Tür zum unbekannten Paradies durchschreiten.
Es dauerte noch eine ganze Weile bis sich der Saal leerte. Wo war Elena? Colettes Blick schweifte durch den Raum, aber sie konnte die kleine Schwester nicht entdecken.
Wie ging es ihr jetzt? Wo verbrachte sie die Nacht? Hoffentlich nicht allein, hörte Colette sich innerlich flehen. Doch dann hatte sie nur noch Augen für die Ebenbürtige an ihrer Seite.
Hand in Hand rannten sie laut kichernd durch den Klosterpark in froher Erwartung auf das Liebesnest im Konventsgebäude. Ihren Gehstock hatte die Königin auch an diesem Abend zu Hause gelassen. Beide befanden sich im Rausch der Sinne. Ihre Umgebung nahmen sie, wenn überhaupt, nur noch schemenhaft zur Kenntnis. Die Treppe hinauf, den Korridor entlang, die bläulichen Nachtlichter spendeten eine märchenhafte Kulisse.
Im Zimmer angekommen begannen sie wie wild einander die Kleider vom Leibe zu reißen, ob etwas dabei kaputt ging war ihnen in diesem Augenblick völlig gleich.
Ihre nackten Körper fielen in eine stürmische Umarmung. Sie zerzausten einander die Haare und begrabschten sich vom Kopf bis zu den Füßen, wild, voller ungezügelter Begierde. Heiße Küsse, lecken, schmecken, saugen, blasen. Sie ließen sich auf das Bett fallen, Arme und Beine ineinander verschlungen, sie schienen zu einer Einheit zu verschmelzen. Männlich harte Erregung zwischen ihren Schenkeln sprudelte wie ein Vulkan die heiße Lava des Genusses auf den schweißnassen Körper ihres Gegenübers.
Schon lange hatte Colette beim Liebesakt nicht mehr diese süße Härte verspürt. War sie zwischenzeitlich wieder zum Mann mutiert? Es gab in ihrem Leben schon einige Male Sex mit Männern, doch blieb sie dabei stets der weiche weibliche Part. Hier war es völlig anders.
Ständig war sie bestrebt die führende Rolle zu übernehmen, ein Wunsch, der ihr nicht einmal bei Betül überkam. Stattdessen genoss sie es geradezu, sich von ihrer Frau dominieren zu lassen.
Androgyna war das absolute Novum. Man brauchte nicht lange zu forschen, um den Grund dafür zu erahnen. Sie war Colettes Ebenbild, sie erblickte in ihrem Gegenüber ihr inneres Wesen. Noch nie hatte Colette Sex mit einer ihres Schlages. Der erste wahrhaft gleichgeschlechtliche Kontakt in ihrem Leben. In diesem Augenblick hatte die Königin eine weitere Schwelle zu einem neuen Erkenntnisgrad überschritten, wie schon so oft in ihrem Leben. Und jedes Mal war sie davon ausgegangen, dass sie den höchsten Punkt genommen hatte. Doch stets wartete am Ende doch noch eine Steigerung, der Entwicklung waren keine Grenzen gesetzt.
„Lieb mich, meine Königin! Nimm mich! Ich bin dein Eigentum! Mache mit mir, was du willst! Aber tue es!“ Vernahm Colette Androgynas Stimme. Erst jetzt bemerkte sie dass diese einen männlich-dunklen Klang hatte. Männliche Laute aus einem sinnlich-weiblichen Mund.
Nach einer ganzen Weile des Ruhens spürte Colette das Wallen einer neuen Energie in ihrem Inneren.
Nun war sie tatsächlich bereit Androgyna zu ihrer Liebesdienerin zu machen. Sie drehte sie auf den Rücken und verabreichte ihr mit der flachen Hand zahlreiche Schläge auf den Po.
Androgyna schien das zu gefallen, ihr lautes wollüstiges Stöhnen gab dies unverkennbar zu verstehen.
Erst jetzt entdeckte Colette ein Bondageseil auf dem Boden. Wer hatte das wohl dort deponiert?
Sie hob es auf, dann drehte sie Androgyna wieder auf den Rücken, streckte deren Arme weit nach hinten und fesselte diese an das Bettgestell. Nicht einmal im Traum wäre sie imstande derartiges mit Betül zu tun. Ihre Frau, die gute Seele an ihrer Seite, Mutter ihrer Tochter, Gefährtin und Betreuerin war ihr heilig wie eine Ikone.
Androgynas Anblick löste hingegen einen unbekannten, bisher völlig brach liegenden Energiestrom in ihrem Bewusstsein aus. Sie mutierte zur Herrin, zur Herrscherin über ihren Untertan. Ihr radikaler Anarchismus verbot ihr gewöhnlich, sich solchen Gedanken hinzugeben. Eine Menschenseele, auf Harmonie und Verständigung ausgerichtet, ist üblicherweise völlig außerstande der Herrschsucht, in welcher Form auch immer, freien Lauf zu lassen. Doch auf einmal lichtete sich der Schleier und gestattete einen Blick in die Weite. Colette erblickte Neuland. Sie fühlte sich gleichsam wie Kolumbus, nachdem dieser seinen Fuß erstmalig auf amerikanischen Boden gesetzt hatte. Doch im Gegensatz zu diesem war ihr sofort bewusst, dass es sich um einen unentdeckten Kontinent handelte.
Sie setzte sich auf ihre gefesselte Gespielin und begann diese zunächst mit sanften Berührungen einzudecken, nach einer gewissen Zeit wurden diese immer heftiger und auch derber. Androgynas Mund entströmten Laute, die Zufriedenheit und Hingabe bekundeten.
Alles hatte seine Ordnung. Es geschah in beiderseitigem Einvernehmen.
Die Passive konnte sich jederzeit dem Zugriff entziehen. Es gab weder Zwang noch Druck.
Tiefe vertrauensvolle Hingabe bestimmte den Akt.
Stück für Stück schritt Colette kontinuierlich voran. Drang immer tiefer in das Mysterium der Macht, wurde schließlich ein Teil davon.
„Ich bin Inanna, Königin der Amazonen. Beschützerin der Kleinen und Hilflosen, die sich meiner Obhut anvertraut haben. Meine Schwachheit liegt tief verborgen auf dem Grund der Seele. Mit erhobenem Haupt schreite ich der Gefahr entgegen. Ich fürchte niemand. Der Gegner wird blass vor Angst, wenn er meiner ansichtig wird. Ich führe die Meinen zum Sieg. Zum Sieg über Tyrannei und Despotie, über Intoleranz und Ausgrenzung. Ich führe meine Schar ins Reich der Freiheit, in ein Land, in dem die Liebe heller leuchtet als der Sonnenschein.“
Entfuhr es ihr spontan.
Colette wurde zu Inanna. Nun wurde es offensichtlich. Androgyna berichtete ihr später, sie habe für wenige Augenblicke das Antlitz einer anderen angenommen.
Colette war dabei, ein weiteres Mal über sich hinaus zu wachsen.
Kraft und Stärke, Mut und Ausdauer, innere Ruhe und Festigkeit. Die Fähigkeit, den körperlichen Schmerz in die Schranken zu weisen und die Depression zu zerschmettern, bevor sich diese auf ihrer Seele niederlassen konnte.
Sie löste die Fesseln und richtete Androgyna auf, es folgte eine innige Umarmung. Ihre schweißnassen Körper klebten an einander. So verharrten sie ohne auf die Zeit zu achten.
Waren es Minuten, Stunden, eine Ewigkeit?
Die Jüngere erkannte die Bedeutung des Augenblicks, sanft fuhren deren Hände durch Colettes Haar.
„Ich kenne Inannas Geschichte, ich bin eine Eingeweihte, so wie du. Schon seit geraumer Zeit forsche ich in dieser Richtung. Ich weiß nicht, ob ich in der legenden umwobenen Zeit zu ihrer Schar gehörte. Ich möchte es herausfinden. Deshalb bin ich hier. Deshalb und um dir zu diesen. Du bist die wieder auferstandene Königin der Amazonen, daran besteht für mich nicht der geringste Zweifel.“
„Ich danke dir, dass du gekommen bist, Schwester. Gerade noch rechtzeitig, um mir bei zu stehen. Ich benötige deine Hilfe für den bevorstehenden Kampf.“ Erwiderte Colette. Dann ließen sie sich zurück in die Kissen fallen.
Beide waren im Moment zu erschöpft um eine komplizierten Konversation über die sich anbahnende Krise in Akratasien zu führen. Dafür stand ihnen in den Folgetagen noch ausreichend Zeit zur Verfügung.
Schweigen erfüllte den Raum, ein Schweigen das beide in eine tiefere Sphäre führte.
Das Erlebte noch einmal Revue passieren lassen.
Der Weg lag vor ihnen, doch er gabelte sich in verschiedene Richtungen. Welche würden sie auswählen? Wegweiser waren nicht vorhanden.
Nach einer Weile des stillen Genießens erhob sich Colette und durchwühlte ihre CD-Sammlung, stets griffbereit auf der Kommode liegend, um ihre Musikmeditationen durch zuführen.
Sie fand ein passendes Lied des androgynen britischen Sängers Boy George mit dem Titel" The Crying Game" und legte die CD in den Player. Was wäre wohl besser geeignet als die Stimme eines Seelenverwandten, um die beiden Liebenden in die Dimension der Unendlichkeit zu geleiten.
Die folgenden Tage waren erfüllt von Spannung. Colette und Androgyna verbrachten viel Zeit zusammen und lernten einander besser kennen. Doch gleichzeitig meldete sich immer heftiger das schlechte Gewissen in der Königin zu Wort. Immer dann, wenn sie mit Betül zusammen war.
Hatte ihre Frau etwas von dem Abenteuer mitbekommen? Es hatte zumindest den Anschein, denn sie druckste häufig herum, Colette bemerkte, dass es ihr nicht gut ging und dass sie heimlich weinte.
Das war voraussehbar, nun hatte sie den Salat. Sollte diese Beziehung in die Brüche gehen, schien die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Ohne Betül war Colette nicht einmal die Hälfte wert. Die junge schöne Frau an ihrer Seite war ein unersetzlicher Edelstein. Auch eine eventuelle Beziehung zu Androgyna würde daran nichts ändern.
Und schließlich gab es noch die gemeinsame Verantwortung für Töchterchen Aischa.
Der giftige Stachel Polyamory hatte nun auch Colette an der empfindlichsten Stelle getroffen.
Sie, die energische Kritikerin dieser Art von Mehrfachbeziehungen hatte sich nun selbst in deren Netz verfangen.
Lange her, da sie Elena heftige Vorhaltungen machte als diese ihre Beziehung zu Neidhardt offenbarte. Wegen eines solchen Typen setzt du deine Beziehung zu einer Frau wie Madleen aufs Spiel? Das kann nicht sein! Du bist verrückt geworden. So ihre Worte. Colette mochte Madleen sehr, deshalb konnte sie das damalige Techtelmechtel der kleinen Schwester überhaupt nicht nachvollziehen.
Mit einem Schlag befand sie sich in einer ähnlichen Situation und wusste nicht im Geringsten, wie sie sich verhalten sollte. Wie konnte es weiter gehen? Gerade jetzt, da sie die neue Kraft der Stärke in sich spürte, die ihr in der gemeinsamen Nacht mit Androgyna zuteil wurde.
Sie musste sich der Situation stellen und das Gespräch mit ihrer jungen Frau suchen.
Doch zögerte sie zunächst, das Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Muffige, verbrauchte Luft stieg Kasuba in die Nase während sie die Leiter hinunter stieg.
In wenigen Augenblicken würde sie Inanna, die erkrankte Amazonenkönigin kennen lernen. Lange hatte sie sich darauf vorbereitet, dem entsprechend erregt war sie. Wie würde Inanna reagieren?
Dunkelheit umhüllte sie von allen Seiten. Die Sonne erhob sich gerade am Horizont, noch drang nur wenig Licht ins Innere des Hauses, das die Königin allein bewohnte.
Seit Wochen hatte sie ihre Behausung nicht mehr verlassen und ließ auch keine der Schwestern in ihre Nähe. Essen und Trinkwasser wurde ihr über ein Seil nach unten gelassen.
Die offizielle Verlautbarung verhieß nichts Gutes. Inanna ginge es sehr schlecht und sie bereite sich auf den Tod vor. Sie wollte einfach nicht mehr. Sehnte sich nach Erlösung.
Nachdem sich Kasubas Augen an das Dunkel gewöhnt hatte, suchten diese akribisch genau den Boden ab. Schließlich entdeckte sie die Königin zusammengekauert in einer Ecke liegend. Ein leichtes Stöhnen entfuhr ihr bei jedem Atemzug.
Einen Moment verharrte die Besucherin in Stille, dann machte sich bemerkbar.
Erschrocken fuhr Inanna herum.
„Was willst du hier? Ich habe dich nicht gerufen! Ich hatte befohlen, dass mich niemand stören darf. Lasst mich allein! Wer…wer bist eigentlich? Ich habe dich noch nie gesehen!“
„Ich bin Kasuba und komme aus einem weit entfernten Land im Süden. Ich lebe schon seit geraumer Zeit in der Siedlung. Aradia hat mich bereits als Kämpferin akzeptiert. Du warst lange nicht mehr draußen, nicht wahr? Sonst wüsstest du, wer ich bin. Es hat sich einiges getan, seit du dich lebendig begraben ließest.“ Erwiderte die Angesprochene mit trotzig klingendem Unterton.
„Das geht dich gar nichts an. Was ich tue ist allein meine Sache. Verschwinde! Fort aus meinen Augen. Lass mich allein.“
„Ich denke nicht daran! Ich habe einen weiten gefahrvollen und beschwerlichen Weg hinter mir, nur um die legendäre Königin der Schwertschwestern kennen zu lernen. Ein schönes Willkommen ist das.“ Beschwerte sich Kasuba.
„Na und? Was interessiert es mich? Ich habe dich nicht eingeladen! Wenn du hier bist, dann mache dich nützlich. Aber nicht bei mir. Oben gibt es mehr als genug zu tun. Verschwinde! Ich brauche deine Hilfe nicht!“
Inanna senkte ihren Kopf und bette diesen wieder auf die Bastmatte unter ihr.
„Doch! Du brauchst mich! Es ist nicht gut dass der Mensch allein sei! Vor allem dann wenn es ihm schlecht geht und er dringend der Hilfe bedarf. Das sind eure Grundsätze, wenn ich dich daran erinnern darf.“ Entgegnete Kasuba.
„Was fällt dir ein? Willst du mich schulmeistern, mit den Regeln die ich selbst ersonnen? Dann kann ich sie auch wieder außer Kraft setzen.“
„Ach so einfach ist das wenn man Königin ist. Hast du nicht auch gesagt es sollen keine Privilegien mehr sein? Warum nimmst du sie dir gerade jetzt?“
„Weil ich mich auf meinen Tod vorbereite. Das ist alles, was mir geblieben ist. Ich habe keinen Nutzen mehr, nicht für die Schwestern, nicht für die Welt. Außerdem leide ich an großen Schmerzen. Ich kann nicht mehr. Ich möchte nicht mehr leben!“ Inanna begann leise zu weinen.
„Spricht so die unerschrockene Königin der Amazonen? Jene Kriegerin, vor der sich einst die Heere der Fürsten duckten, wenn sie nur ihren Namen hörten? Die beste Kämpferin aller Zeiten? Was ich sehe, ist lächerlich! Ich blicke auf einen Menschen, der sich aufgegeben hat.
Die Königin ist dabei vor dem Leben zu kapitulieren. Wenn dem so ist, und es sieht ganz danach aus, hast du nichts anderes verdient außer Dreck und Kakerlaken, in denen du dich suhlst. Sind sie dir auch gute Gefährten? Dann vermodere eben!“
Kasubas Worte schmerzten wie Schlangenbisse.
Erneut wandte sich die Königin um.
„Wer gibt dir das Recht, so mit mir zu reden. Wer bist du, dass du es wagst, mich auf so schäbige Art herab zu setzen? Ist es, weil du noch jung bist, gesund und voller Kraft und Lebensfreude. Ja, so einfach ist das, wenn man jung ist und das Leben sich in aller Vielfalt öffnet.“
„Du selber gabst mir die Worte in den Mund! Du hast den Schmutz gewählt, während draußen Licht und Leben auf dich warten. Du bist noch keine Greisin.“
„Da draußen ist nichts! Nichts und niemand! Das Leben hat mich aussortiert. Ich habe Schmerzen. Lass mich endlich allein mit meinem Leid. Wie soll ich denn nach draußen? Ich kann ja nicht einmal mehr laufen.“ Ein Sturzbach bitterer Tränen quoll aus den Augen der Königin.
Kasuba kniete sich auf dem Boden so dass sie sich auf Inannas Augenhöhe wieder fand.
„Doch! Du kannst es! Wenn du es wirklich willst, kannst du es schaffen. Richte dich auf. Erhebe dich aus dem Schmutz und der Erniedrigung. Stehe aufrecht, Königin der Amazonen, so wie du es dein Leben lang getan hast.“
„Dann hilf mir! Hilf mir auf die Beine! Wenn du ein Herz hast, dann reiche mir deine Hand
und zieh mich nach oben.“
„Ich könnte es! Aber ich will, dass du aus eigener Kraft auf die Beine kommst. Wenn du nicht gleich oben bist, dann werde ich auf dich pinkeln.“
Kasuba machte Anstalten, den Rock ihrer Tunika zu heben. Erschrocken rollte sich Inanna zur Seite.
„Das… das würdest du mir antun? Hast… hast du kein bisschen Erbarmen?“
„Nein! Es gibt kein Erbarmen für eine die sich aufgegeben hat!“
„Na warte! So hat mich noch keine bezeichnet. Dass sollst du mir büßen!“
Mit einem Schmerzschrei auf den Lippen gelang es Inanna, sich aus eigener Kraft vom Boden zu erheben.
Kasuba machte einen Schritt auf sie zu, dann sank sie vor ihr auf die Knie und umfasste die Taille der Königin.
„Du hast es geschafft, meine Königin! Du bist aus eigener Kraft auf die Beine gekommen. Es ist dir einmal gelungen, es wird dir wieder gelingen. Bitte verzeih mir all meine Worte. Ich habe dich provoziert, weil ich dich dazu bringen wollte. Nie wieder soll eine Beleidigung oder ein giftiges Wort über meine Lippen kommen. Das gelobe ich bei allem, was mir lieb und teuer ist. Ich bin deine Dienerin und ich möchte deine Schwester sein. Ich habe mit Aradia gesprochen und mit einigen anderen des inneren Kreises. Sie alle sind der Meinung, dass ich mich um dich kümmern könnte.“
Inanna schwankte und sie spürte den Schmerz, doch es war nicht wie sonst, wenn sie nach dem Aufrichten sofort zu Boden stürzte. Sie zog Kasuba an deren Händen nach oben.
„Eigenartig! Der Schmerz ist noch da, aber ich habe den Eindruck, dass er mich nicht mehr würdelos zu Boden drückt. Ich kann ihn ertragen und mit ihm leben. Das hast du vollbracht, das ist dein Werk. Kasuba sagst du ist dein Name. Deine Haut ist braun, du kommst aus dem Süden? Bist du ein Engel? Hat dich die Göttin gesandt?“
„So könnte man es betrachten! "
„Du bist wunderschön!“ Inanna strich der um einiges jüngeren durch die pechschwarze Lockenpracht.
„Du auch, Königin der Amazonen. Aber schmutzig bist du. Ich fürchte dieses Haus wurde schon lange nicht mehr geputzt. Das ist einer Königin nicht würdig. Ich möchte dich strahlen sehen. Ich war schon einige Male in der Grotte drüben im Berg, dort, wo die warmen Quellen fließen. Möchtest du mich dorthin begleiten? Ein Bad würde dich säubern und dir gut tun. Es ist heilendes Wasser. Es kommt direkt aus dem Schoss der Erde. Aus dem Schoss eurer Göttin.“ Schlug Kasuba vor.
Inanna drückte deren Hände.
„Das möchte ich gern. Doch fürchte ich, dass mir zu so einem Gang die Kräfte fehlen. Ich glaube, dass ich nicht einmal imstande bin, die Leiter zum Dach zu erklimmen.“
„Natürlich darfst du dich am Anfang nicht überanstrengen. Wir haben alles vorbereitet. Eine Trage steht bereit und einige besonders kräftige Schwestern erwarten dich draußen vor dem Tor um dich zur Grotte zu bringen.“
Plötzlich ließ jemand ein starkes Tau zur Dachluke hinunter. Gleich im Anschluss betrat Aradia die Leiter und kletterte ins Innere des Hauses. Unten angekommen fiel sie der älteren Schwester um den Hals.
„Zum ersten Mal seit Wochen, ja, Monaten darf ich wieder einen Hauch von Hoffnung schöpfen. Kasuba, wir alle stehen in deiner Schuld, du wirst meiner geliebten Schwester die Lebensfreude wiederbringen. Es wird deine einzige Aufgabe in unserer Gemeinschaft sein. Du wirst ihr voll und ganz zur Verfügung stehen.“
Auf dem Dach erschienen weitere Schwestern, hantierten herum und banden schließlich das Seil zu einer großen Schlaufe zusammen, so dass Inanna darin Platz nehmen konnte. Die Königin kam der Bitte wortlos nach und wurde nach oben gezogen. Dort angekommen von einer Frauschaft mit einer Tragbahre erwartet. Sie nahm darauf Platz und dann ging es über die Dächer der großen Hauptsiedlung.
Die Wärme der aufgehenden Sonne streichelte Inannas lichtentwöhnte Haut und verursachte ein Kribbeln. Zudem schmerzte es in den Augen. Doch schon nach kurzer Zeit hatte sie sich an den neuen Zustand gewöhnt und sie freute mit den anderen.
An der Außenmauer angekommen ließen die Schwestern die Tragbahre in Form einer feinmaschigen Hängematte mittels Seilwinden auf den Boden nieder. Dort wartete bereits der nächste Trupp Schwestern um die Königin in Richtung Grotte zu tragen. Es war nicht weit. In nur etwa 500 m begann der kleine Höhenzug, erst sanft ansteigend, nach einer Weile wurde es steiler. Schließlich übernahm die dritte Gruppe die kostbare Fracht, um sie die letzten Meter ins Innere des Berges zu bringen.
Eine starke Symbolik kennzeichnete die Szene. Sich getragen fühlen von einer Gemeinschaft, welche sich in ewiger Treue verbunden wusste. Wir sind bei dir! Wir lassen dich nicht fallen. Eng gestrickt ist das Netz der Liebe, das dir sicheren Halt bietet. Du bist unsere Königin, ohne dich wäre keine von uns hier. Du hast es verdient, dass unsere Hände dich tragen. Auch wenn du uns nicht mehr persönlich in den Kampf führen kannst. Im Geiste bleibst du stets bei uns. Du bist Königin für alle Zeit.
Im Inneren der Grotte angekommen legten sie die Hängematte sanft auf den bereits mit Schaffellen gepolsterten Boden.
Diese Geheimnisumwitterte Unterwelt mit ihrer mystischen Aura warf zahlreiche Fragen auf. War sie von Natur aus einfach da oder hatten Menschen dieses Labyrinth aus Gängen, Kammern, größeren wie kleineren Teichen und Wasserläufen, erschaffen? Die heißen Mineralquellen waren die Folge vulkanischer Aktivitäten. Bei dem Berg schien es sich eindeutig um einen einst ausgesprochen aktiven, in der Zwischenzeit jedoch erloschenen Vulkan zu handeln. Doch ganz tief, im Inneren der Erde, brodelte es noch immer. Das erhitzte Wasser, das nach oben stieg, förderte zahlreiche Mineralien zutage. Den meisten davon wurde heilende Wirkung zugesprochen. Eine konstante Temperatur von etwa 27°C sorgte für ideale Badebedingungen. Sämtliche Räumlichkeiten wurden auf diese Weise beheizt und warteten mit gleich bleibenden Temperaturen auf, ganz gleich, welche Wetterbedingungen auch außerhalb des Berges herrschten.
Die Schwestern waren zu der Ansicht gelangt, dass die Erbauer der Siedlung, jene im Dunkel der Geschichte verlorene egalitäre Hochkultur, auch die Grotte nach ihren Bedürfnissen bearbeitet hatten, um deren Energie zu nutzen.
Kasuba ließ sich neben Inanna nieder.
„Was meinst du? Sollten wir hier ein paar Tage verbringen? Es ist so schön hier, du könntest dich in Ruhe erholen und Kräfte sammeln. Die Schwestern werden täglich nach uns sehen und sich nach unseren Bedürfnissen erkundigen, uns mit Proviant und Trinkwasser versorgen. Sollte das Polster nicht ausreichen, könnte ich weitere Felle und Decken besorgen.“ Bot Kasuba spontan an.
Inanna blickte sich um und konnte ihren Blick kaum von den meisterhaften, einzig von der Natur geschaffenen Kunstwerken, die ihr in zahlreichen Farben und Facetten entgegenblickten und diesen Ort in ein Zauberland verwandelten, wenden.
„Oh ja! Das wäre wunderbar. Komisch, dass ich früher nie auf eine solche Idee kam.“
„Möchtest du gleich baden?“ Wollte Kasuba wissen.
„Ja, aber nur wenn du mich begleitest!“
„Selbstverständlich!“
Langsam begann Kasuba die Königin zu entkleiden, danach ging es in kleinen zaghaften Schritten in eines der Becken. Das Wasser dort war besonders eisenhaltig. Genau das richtige für Inannas zahlreiche Beschwerden. Gleichzeitig wurde sie gründlich gesäubert.
„Nun, dann walte deines Amtes, schöne Heilerin aus dem Süden.“
Inanna begann langsam mit den Armen und Beinen zu rudern. Das Becken bot genügend Platz für zwei Personen, man konnte sich vollständig ausstrecken und auf der Wasseroberfläche liegen.
Kasuba ließ die Königin in ihre Arme gleiten und bot ihr dadurch sicheren Schutz.
„Versuche jetzt, die Beine auszustrecken und langsam im Wasser zu treten. Ja, so ist es gut. Immer weiter, bis du an der Oberfläche bist. Bewegung und Wärme werden dir gut tun.“
„Sag mal Kasuba, hast du das ernst gemeint vorhin? Hättest du tatsächlich auf mich gepinkelt?“
Inannas Frage brachte die Heilerin in Verlegenheit.
„Natürlich nicht! Auf die Amazonenkönigin pinkeln? Das würde mir nie in den Sinn kommen. Ich wusste mir einfach keinen anderen Rat, um dich auf die Beine zu bringen. Andererseits war ich mir für einige Augenblicke gar nicht mehr so sicher. Ich möchte nicht mehr dran denken. Jetzt sind wir hier und das alleine zählt.“
Eine ganze Weile verharrten sie noch im Wasser.
Langsam aber sicher bemerkte Inanna, dass eine Besserung einsetzte. Das warme Wasser und Kasubas heilende Hände zogen die bohrenden Schmerzen aus ihrem Leib und ihrer geschundenen Seele. Das Leben begann erneut in ihr zu erwachen, wie der zarte Frühlingshauch nach einer langen eisigen Winternacht.
Ich will leben! Vernahm sie die Stimme aus ihrem Inneren. Ich bin noch nicht bereit für das Schattenreich der Toten. Ich habe noch wichtige Aufgaben zu erfüllen, bevor ich meine große Reise antrete. Lass mich diese noch erfüllen. Und lass mich noch eine kurze Weile diesen wunderbaren Engel an meiner Seite genießen. Du hast mir Kasuba geschenkt und ich danke dir von Herzen für diese letzte Gnade, große Göttin.
„Ich werde an deiner Seite sein und dich verwöhnen. Auf diese Weise können wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Während wir es uns gut gehen lassen, sind die anderen dabei, dein Haus gründlich zu säubern und neu herzurichten. Wenn wir in ein paar Tagen zurückkehren, wirst du es nicht wieder erkennen.“
„Da habt ihr euch aber einen schönen Plan ausgedacht, muss ich sagen. Na, mit Sicherheit steckt Aradia dahinter. Hat sie es also geschafft, mich noch einmal aus dem Totenreich zurück zu holen.“ Erwiderte Inanna.
„Dort gehörst du noch lange nicht hin.“
Nach einer Weile begaben sie sich aus dem Becken.
Die Heilerin wusch den Körper der Königin mit sauberem, klarem Wasser ab, dann trocknete sie diesen. Schließlich salbte sie ihn mit einem nach Lavendel duftenden Balsam, das sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatte.
„Wir geht es dir, meine Königin? Ist dir das Bad bekommen?“
„Ja gut! Sehr gut! Nur müde bin ich. Ich könnte auf der Stelle einschlafen.“ Erwiderte Inanna, auf dem Bauch liegend, während ihr Kasuba den Rücken salbte.
„Das ist normal nach so einem Bad und ein gutes Zeichen. Schlaf dich gesund. Ich wache bei dir und bin stets zur Stelle, wenn du mich brauchst. Übrigens ist eine Patrouille der Schwestern hier ganz in der Nähe. Sollten wir Hilfe benötigen, können wir sofort auf sie zurückgreifen.“
„Ja, das war Aradia. Sie denkt an alles. Meine kleine Schwester. Meine großartige Schwester, ich hätte keine bessere bekommen können, meine Aradia, meine… “
Inannas Stimme wurde immer schwerfälliger, bis sie schließlich langsam in einen heilsamen Schlummer glitt.
Colette erwachte mit einem fürchterlich schmerzhaften Wadenkrampf in ihrem linken Bein, so schlimm, dass sie laut aufschrie.
Blitzschnell fuhr Betül nach oben. Geistesgegenwärtig wie immer, war ihr sofort bewusst was geschehen war und welche Aufgabe ihr nun zukam.
„Rechtes oder Linkes!“ Kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Das Linke!“ Erwiderte Colette mit schmerzverzerrtem Gesicht und kaltem Schweiß auf der Stirn.
Betül griff nach dem Fußgelenk und stemmte es gegen ihren Bauch, mit einem gekonnten Druck löste sie den Krampf in Colettes Bein. Im Anschluss begann sie die Wadenmuskulatur mit festen, aber sanften Bewegungen zu massieren, so dass möglichst kein Muskelkater als Folgeerscheinung zurückblieb.
Colettes atmete erlöst auf und gab sich vertrauensvoll der Gefährtin hin.
So war sie, ihre Betül. Wissen, was zu tun ist, ohne langatmiges Hinterfragen. Auf die Frau an ihrer Seite konnte sich Colette zu 100 % verlassen.
Und ausgerechnet diesen Schatz hatte sie vor wenigen Tagen betrogen und war gerade in Begriff, es wieder zu tun.
Die Königin fühlte sich gemein und hinterhältig, so sehr, dass ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg.
Sie hütete noch eine Weile das Bett, dann quälte sie sich aus den Federn
Zaghaft versuchte sie sich aufzurichten. Der Schmerz in der Wade war noch präsent, jedoch bei weitem nicht so heftig, als es ohne Betüls Eingriff der Fall wäre. Sie schlürfte ins Badezimmer und blickte in den Spiegel.
„Hexe! Widerliche betrügerische Hexe! Ich möchte dir die Augen auskratzen, Colette von Akratasien für das, was du Betül angetan hast. Du bist im Begriff das Beste, das dir je im Leben über den Weg gelaufen ist, zu verraten.“
„Hast du etwas gesagt?“ Rief ihr Betül mit ihrer melodischen Stimme aus der Küche entgegen.
„Nein! Nein! Ich habe nur mit selbst geredet. Ich komme gleich rüber.“
Schnell die Morgentoilette, etwas frisieren, das Badekleid überstreifen.
und in die Küche humpeln.
Betül hatte bereits am Tisch Platz genommen. Aischa wartete in ihrem Kinderstuhl sitzend, auf ihr Frühstück. Als sie Colette erblickte formte sich ein Lächeln auf ihrem Mund. Vertraute Familie, ein kleines Paradies. Ein Leben lang hatte sich Colette danach geseht und es nie bekommen. Jetzt war sie durch ihre Unachtsamkeit im Begriff alles zu zerstören.
„Wie geht es deinem Bein? Noch immer Schmerzen?“ Erkundigte sich die Gefährtin.
„Ja, noch ein bisschen, aber es ist auszuhalten. Dank deiner Hilfe. Ach wenn ich dich nicht hätte!“
Die Königin nahm Platz und schenkte sich einen Kaffee ein. Unaufmerksam durch ihre Aufregung setzte sie die Tasse an den Mund und verbrannte sich daran.
„Hmmpff! Wie blöd von mir! Was mache ich denn für einen Scheiß!“
Sie blickte zu Betül herüber und erkannte sofort, dass sie geweint hatte. Sie wusste es! Sie war im Bilde über alles was geschehen. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Jetzt war der Augenblick gekommen sich zu offenbaren. Colette würde die Karten auf den Tisch legen und im Anschluss ihre Frau um Verzeihung bitten, in der Hoffnung auf Vergebung.
„Mein Liebling, ich glaube wir müssen reden. Da gibt es etwas zwischen uns, eine Spannung.
Ich kann es nicht länger ertragen. Es muss einfach raus!“
„Du hast Recht! Es muss auf den Tisch. Alles! Ich fühle schon seit Tagen, dass die Wahrheit als Licht will. Wir haben es geschworen, keine Geheimnisse voreinander.“
„Richtig! Deshalb möchte ich dir sagen dass…“
„ Ich…ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll, das was mich so tief quält.“ Unterbrach Betül.
„Ich…ich habe mit Kristin geschlafen. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, aber es ist passiert, einfach so.“
Colette wusste für einen Augenblick nicht was sie sagen sollte und blickte nur ungläubig im Zimmer herum.
„Dadadadadadada!“ Aischa ruderte mit den Ärmchen herum, so als schien sie zu begreifen dass ihre kleine heile Welt auf irgend eine Weise bedroht war.
„Ja, aber… ähm wie denn..., äh ich meine wann? Wann habt ihr es getan? Bei welcher Gelegenheit?“ Stotterte Colette nervös.
„Letzten Samstag! Nach dem Konzert. Nachdem wir Aischa in Denis Obhut gegeben haben sind Kristin und ich noch zum Tanzen gegangen. Du weißt doch, die Reggae-Night. Da wollten wir unbedingt hin. Es war ein schöner Abend, tolle Stimmung, gute Musik. Wir haben ausgelassen mit einander getanzt, ich hatte nur noch Augen für Kristin. Dann, auf dem Nachhauseweg haben wir uns geneckt und miteinander rumgealbert. Sie bat mich noch kurz zu ihr, in die Försterei. Gabriela und Klaus waren nicht anwesend, übers Wochenende verreist. Ich tat es. Kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, lagen wir uns in den Armen.
Schließlich landeten wir im Bett. Ohh, es war so schön, so himmlisch. Was für ein wunderbarer weicher Körper. Ich habe mich total verloren an Kristin.“ Betül begann zu weinen.
„Ich war doch noch nie mit einer Frau zusammen. Ich hatte keine Ahnung, wie schön das sein kann. Oh, ich schäme mich so. Ich liebe doch dich, dich und unsere Tochter. Ich habe euch alle beide verraten. Schande über mich, über mich und meinen Betrug. Möge Allah mir verzeihen!“
Colette hatte sich wieder gefasst und griff in Windeseile nach Betüls Händen.
„Nein! Betül nein! Es gibt keinen Grund für deine Selbstanklage. Du hast nichts getan, wessen du dich schämen müsstest. Ich bin überrascht ja, das bin ich in der Tat, aber nicht negativ. Es ist. Ich weiß nicht wie ich es sagen soll….“
„Ich danke dir, dass du mir verzeihen möchtest. Ich hatte darauf gehofft. Oh meine wunderbare Königin. Ich habe dir ewige Treue geschworen. Weißt du noch? Der Tag an dem ich dich um eines anderen wegen betrüge oder verlasse, soll der letzte meines Lebens sein, so meine eigenen Worte. Wegen eines Mannes, meinte ich damit. Ich hatte doch keine Ahnung, dass ich mich in eine andere Frau verlieben könnte.“ Erneut rollten die Tränen.
„Dadadadadaddada!“ Nun begann auch noch Aischa heftig zu weinen, etwas, das sie sonst sehr selten tat
„Nicht weinen, meine kleine Prinzessin, es ist alles in Ordnung. Deine Mamas lieben sich von Herzen und niemand vermag sie zu trennen. Nicht weinen, Betül. Ich sage es noch mal. Es gibt keinen Betrug. Pass auf! Hör mir zu! Das Gegenteil ist der Fall. Ich freue mich über die Tatsache, dass du und Kristin euch so nahe gekommen seid. Das ist wunderbar. Es ist genau dass, was ich erhoffte!“
„Ich….ich verstehe kein Wort! Wieso hast du das erhofft?“ Betül konnte der Aussage keinen Sinn entnehmen.
„Also! Erst mal Ruhe bewahren. Ich will es dir erklären! Doch wo fange ich an? Du kennst meine Ängste um uns und unsere Beziehung….“
„Ja, du fürchtest dich davor, verlassen zu werden. Zu recht, wie du siehst. Ich gab den Anstoß…“
„Nein Betül! Äh… das heißt ja, natürlich fürchte ich das noch immer, aber… Quatsch! Jetzt habe ich den Faden verloren. Nein! Pass auf! Ich fange noch mal von vorne an. Ich bin doppelt so alt wie du und krank. In letzter Zeit gab es ein paar besonders unangenehme Wahrheiten. Ich mache mir Gedanken, was geschieht wenn ich irgendwann nicht mehr bei euch sein werde, dann, wenn ich meinen Weg zu den Sternen genommen habe.“
Nun begann Betül erst recht zu weinen.
„Ich möchte das nicht hören! Du wirst noch lange leben, meine Königin. Viel Zeit werden wir miteinander verbringen und du wirst erleben, wie deine Tochter zu einer wunderschönen jungen Frau heranreift.“
„Das möchte ich von Herzen, aber niemand ist imstande, dem Rad des Schicksals in die Speichen zu greifen. Wir müssen stets bereit sein unser Leben in Allahs Hände zurück zu geben, wenn er uns dazu auffordert, dass sagt deine Religion.“ Erinnerte Colette ihre Frau an die unumstößliche Tatsache. Betül senkte betrübt ihr Haupt, denn sie war sich der Tatsache bewusst, dass es Colette die Wahrheit sprach.
„Also! Sollte es mich erwischen, möchte ich aus dieser Welt mit dem Bewusstsein gehen, dich und Aischa in guten Händen zu wissen. Ich habe lange überlegt, wer dafür in Frage käme und nun hat sich die Sache von ganz allein geklärt. Kristin ist die beste Wahl. Der Gedanke ist mir während meiner Zeit auf der Krankenstation gekommen, gemeinsam mit Gabriela, die von ähnlichen Sorgen heimgesucht wird. Sie macht sich Gedanken um Kristin. Auch Gabriela ist krank und fürchtet, nicht mehr lange zu leben. Kristin bedarf einer festen und sicheren Hand und es ist fraglich, ob Klaus in der Lage wäre, die zu bieten. Kristin braucht eine Frau an ihrer Seite, die ihr sicheren Halt vermitteln kann. Du bist dazu in der Lage. Du bist eine Sufi und charakterlich stark. Ihr beide werdet euch wunderbar ergänzen. Na, und Aischa wird sich mit Kristin glänzend verstehen.“
„Ich… ich verstehe nicht viel von diesen Dingen. Ich versuche zu lernen, schon seit jenen Tagen, als ich zu euch kam. Aber es fällt mir schwer. Ich bin eine Muslima, wie du treffend bemerktest. Ich komme aus einer anderen Kultur, mit anderen Wertigkeiten und Maßstäben. Dort gilt Treue noch etwas. Dort weiß eine Frau, welche Rolle sie zu übernehmen hat, wenn sie sich bindet.“
„Ja! Vor allem die Frau! Während die Herren der Schöpfung freies Feld haben. Das hat nichts mit Religion zu tun. Das ist einfach nur Besitzdenken. Hier ist es anders. Hier bist du frei, Betül. Frei, deine Gefühle zu zeigen und auszuleben. Wenn du es möchtest, dann beginne eine Beziehung zu Kristin. Geh mit ihr tanzen, amüsiere dich mit ihr, unternehmt etwas gemeinsam. Und nachts steht dir frei, dich zu ihr zu legen. Meinen Segen hast du, den Segen einer Königin und Sufi-Meisterin. Was willst du mehr?“
„Aber ich liebe doch dich, meine Königin. Ich werde niemals aufhören, dich zu lieben. Ich kann und will mich nicht gegen dich entscheiden.“ Betül fiel Colette um den Hals.
„Aber das tust du doch nicht! Du brauchst keine Entscheidung zu treffen. Ich weiß, es klingt kompliziert und ich muss gestehen, dass es sich dabei auch für mich um absolutes Neuland handelt. Im tiefsten Innersten meines Herzens war ich stets gegen Mehrfachbeziehungen.“
„Was hat dich dazu bewogen deine Einstellung zu ändern?“ Traf Betüls Frage den Kern der Sache.
Androgyna! So lautete die Antwort, doch brachte Colette diesen Namen nicht über ihre Lippen. Die Angelegenheit war schon brisant genug. Betül musste erst einmal mit ihren eigenen Problemen fertig werden, bevor sie sich der nächsten Herausforderung stellen konnte, nämlich der Tatasache, dass es da noch jemand gab.
„Polyamory, ein grässliches Wort, aber es findet sich kein treffenderes, kann funktionieren, wenn es auf einem allgemeinen Grundsatz basiert, der da besagt, dass es keinen Verlierer geben darf. Was mich betrifft, mich fühle mich nicht als Verliererin. Ich mag Kristin sehr und es wird mir gut tun, euch beide zusammen zu sehen.“ Das stimmte zwar tatsächlich, doch war es nur die halbe Erklärung. Androgyna stand zur Verfügung, wenn Betül und Kristin sich liebten. Wäre dem nicht so, hätte Colette mit größter Wahrscheinlichkeit verletzlicher reagiert.
„Wenn du meinst!“
„Ich meine. Wir müssen vor allem darüber reden. Lade Kristin ein, verbring hier eine Nacht mit ihr.“
„Das würde dich nicht verletzen?“
„Nein! Das kannst du mir glauben!“ Kunststück, Colette brauchte sich in dieser Zeit nur ein Stockwerk tiefer zu begeben.
„Sicher gibt es noch andere Dinge zu beachten. Kristin hat ja bereits eine Beziehung zu zwei Personen. Menschen, die beide ihre Eltern sein könnten. Wir müssen reden, alle Betroffenen zusammen. Bei Klaus mache ich mir keine Gedanken. Der wird damit gut umgehen können und sogar noch Spaß daran finden. Das Problem heißt Gabriela. Dir ist bewusst, wie sehr sie an Kristin hängt?“
„Natürlich! Also habe ich durch mein Verhalten doch einen Menschen betrogen!“
Colette begann zu grübeln.
„Es mag so scheinen, aber dem ist nicht so. Überlass Gabriela mir. Ich werde mit ihr reden, ganz ruhig und sachlich. Sie wird es verstehen und gut heißen. Davon bin ich überzeugt. Alles wird gut. Mache dir keine Gedanken.“
Betül lehnte sich erleichtert zurück. Colettes Art, mit den Dingen umzugehen, befremdete sie nach wie vor, doch begann sie langsam damit, sich darauf einzulassen. Sie fühlte sich ein Stück weit befreit. Sie würde Kristin wieder aufsuchen, zu sehr war ihr Herz getroffen, als dass sie ihr zu widerstehen vermochte. Das nächste Mal konnte ihr das schlechte Gewissen nicht die Freude verderben.
„Ich muss mich unbedingt um Elena kümmern. Verdammt, was bin ich doch für eine Egoistin. Die kleine Schwester leidet Höllenqualen und ich steh nicht zur Verfügung um ihre Tränen zu trocknen.“
Lenkte Colette vom Thema ab, sehr zu Betüls Erleichterung.
„Noch immer keine Versöhnung mit Madleen in Aussicht.“ Erwiderte Betül.
„Nein! Das kann noch dauern. Zwei starke Charaktere, ach was rede ich. Verdammte Sturköpfe sind das. Gut, dass Elena in dieser Situation wenigstens nicht alleine ist. Chantal und Eve haben sofort angeboten, gemeinsam mit ihr und Tessa eine WG zu bilden. Chantal hat nie aufgehört, Elena zu lieben, na, und für Eve ist sie das große Idol schlechthin. Die werden gut miteinander harmonieren. Zumal Chantals Niederkunft bevorsteht und dadurch ohnehin alle abgelenkt werden.“
„Was meinst du? Sollte ich mal versuchen, mit Madleen zu reden? Ich versteh mich ganz gut mit ihr?“ Bot Betül an.
„Gute Idee! Tue das! Schaden kann es auf keinen Fall. Auch der kleinste Strohhalm kann dazu beitragen, die beiden wieder zusammen zu bringen. Elena und Madleen getrennt? Das geht gar nicht!“
Steine rollten von beider Herzen. Vorerst schien das Problem gebannt. Im Stockwerk unter ihnen wartete Androgyna. In Colettes Adern brodelte das Blut heiß wie ein Lavastrom, doch würde sie heute unter keinen Umständen zu ihr gehen. Ein voller Terminkalender mit vielen Events erleichterte ihr diesen Vorsatz. Die knappe freie Zeit, die noch vom Tage blieb gehörte ihrer Familie.
Die Königin hatte alle Zeit der Welt. Morgen vielleicht? Wie wäre es mit morgen? Oder übermorgen, oder…..
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* Inklusen (auch Reklusen genannt) waren Angehörige eines Mönchsklosters, sie ließen sich zu einem von Gebet und Askese geprägten Leben in einem Inklusium einschließen oder gar einmauern. Der Abt versiegelte die Zelle, dort blieben sie bis zu ihrem Lebensende
** Frankreichs berühmteste und beliebteste Sängerin Edith Piaf (1915-1963) wird in der
gesamten queer-community verehrt, für Transidente und Transgender hat sie
besondere Bedeutung, non, je ne regrette rien gilt vielen von ihnen als eine Art Hymne
Non, je ne regrette rien deutsche Übersetzung:
Nein, gar nichts
Nein, ich bedaure nichts
Nicht das Gute, das mir widerfahren ist
Nicht das Schlechte, es ist mir egal
Nein, gar nichts
Nein, ich bedaure nichts
Ich habe bezahlt, weggefegt, vergessen
Ich habe mit der Vergangenheit abgeschlossen
Mit meiner Erinnerung habe ich verbrannt
Meine Sorgen, meine Freuden
Ich brauche sie nicht mehr
Weggefegt meine Liebschaften
Und all ihr Gejammer, weggefegt für immer
Ich beginne bei Null
Nein, gar nichts
Denn mein Leben, mein Glück
Beginnt heute mit dir
*** Boy George (bürgerlich George Alan O`Dowd geb. 1961) Sänger der legendären 80ger
Jahre Kult-Band Culture Club gilt bis heute als Inbegriff des perfekten Androgyn