Auferstehung

 

„Sag mal Colette, was hat es eigentlich mit dieser Göttin auf sich, ich meine, was wollte Kovacs damit ausdrücken, dass er immer wieder davon sprach? Ich nahm an er sei Anarchist?“ wollte Lukas wissen, nachdem sich die kleine Gemeinschaft zu einer Ruhepause niedergelassen hatte.

Mitte April war es inzwischen, nach einer sehr unangenehm empfundenen Rückkehr des Winters verwöhnte der Frühlingsmonatmonat die Menschen Melancholaniens endlich wieder mit Wärme und Sonnenschein. Colette war seit Tagen dabei, alle anderen immer wieder anzuspornen, die Gärten und Parkanlagen für den bevorstehende Sommer herzurichten. Da gab es entsprechend viel zu tun. Tatkräftig wurde sie dabei von Lukas unterstützt, zu dem sie sich immer stärker hingezogen fühlte. Ohne seinen zärtlichen Beistand wäre Colette in den letzten Wochen zusammengebrochen.

Nach getaner Arbeit schmeckte das Picknick besonders gut.

„Hm, da stellst du aber eine philosophische Frage, die ich kaum zwischen Tür und Angel beantworten kann.“

„Wie solltest du auch? Das ist schon schwere Kost, die uns Kovacs hinterlassen hat. Ich kann noch immer nicht verstehen, warum er ausgerechnet dir seine Ideen an vertraut hat. Hier gibt es einige, die bedeutend geeigneter dafür wären. Man muss schon ein echter Philosoph sein, um in die Materie vorzudringen.“ warf Gabriela ein, die keine Gelegenheit ausließ, um Colette vor anderen herabzuwürdigen. Gabriela dachte noch immer in den alten Klassenkategorien und für die Geisteswissenschaften, die schönen Künste etc. waren ausschließlich die akademisch geschulten Privo vorgesehen. Alle anderen galten als ungebildet und daher unwürdig, sich mit solchen Dingen auch nur zu beschäftigen. Und eine Kundra war die Unwürdigste unter den Unwürdigen.

„Ich weiß, das du mir das nicht zutraust, nichts desto weniger hat Kovacs mich damit vertraut und ich denke, er hat sich was dabei gedacht.“ konterte Colette und manövrierte Gabriela für eine kurze Weile aus.

„Das denke ich auch und Colette hat in der Tat bewiesen, das sie dessen fähig ist.“ stärkte ihr Pater Liborius den Rücken.

„Aber dann sag doch einfach einer, was es damit auf sich hat. Ich möchte verstehen, ich möchte lernen, deshalb bin ich hier.“ brachte sich Lukas wieder in Erinnerung.

„Ich will es versuchen, Lukas, ich will es einfach versuchen. Die Göttin, so meinte unser unvergessener Freund und Wegbegleiter, ist ein Prinzip, eine ewige Ordnung, ein Zustand, eine Leitlinie, wie immer wir es auch nennen möchten.

Jeder Mensch sieht mit anderen Augen, jeder Mensch glaubt auch auf seine ihm eigene Art und Weise.“

„Oder er glaubt an gar nichts!“ unterbrach Klaus Colettes Deutungsversuchen.

„Es gibt Leute, die vor geben, an nichts zu glauben. Doch in Wirklichkeit gibt es so etwas nicht. Kein Mensch glaubt an überhaupt nichts, auch der überzeugteste Atheist hat irgendwelche Ideale, Ideen, Vorstellungswelten, an denen er sich orientiert. Wäre dem nicht so, unsere Welt verfiele einem reinen Materialismus, nur noch dem Kosten-Nutzenfaktor verpflichtet. Unser altes verflossenes Melancholanien ist dafür ein besonders negatives Beispiel.“

„Für die Christen ist Gott das oberste Prinzip, an dem sie sich orientieren. ´Sie glauben an dessen Liebe zu allen Menschen, ja, zu allen Geschöpfen. Ihm können sie sich an vertrauen in jeder Lebenslage, in guten wie in schlechten Tagen. Da ist einfach einer, der ihnen zuhört, der versteht, der auch antwortet, wenn man denn in der Lage ist, seine Sprache zu verstehen.“ brachte Pater Liborius seinen Standpunkt vor.

„Ja, das ist eine von vielen möglichen  Betrachtungsweisen.“ stimmte Colette zu, doch bevor sie weitersprechen konnte, fiel ihr Gabriela ins Wort.

„Ach, wäre doch Elena wieder bei klarem Verstand. Die konnte Kovacs Ausführungen am deutlichsten folgen. Die hätte uns mit wenigen Worten seine Philosophie nahegebracht, so dass es auch jeder hätte verstehen können.“

„Aber das tut  Colette gerade und ich meine, sie versteht es auf geschickte Weise uns mit Kovacs Ideen vertraut zu machen, für eine Kundra ist sie außerordentlich begabt.“ versuchte Pater Liborius zu vermitteln.

„Sie versucht es zumindest.“ Gabriela konnte sich einfach nicht geschlagen geben.

„Ja, auch Kundras sind zuweilen in der Lage, logisch zu denken. Deren Gehirne ticken übrigens so wie jene der übrigen menschlichen Wesen, Kovacs erkannte das schon frühzeitig.“

„Aber wir schweifen immer deutlicher vom Thema ab. Also, da haben wir einen Gott, da haben wir auf der anderen Seite eine Göttin. Was gibt es noch? Finden wir noch weitere Begriffe oder Definitionen?“ wollte Lukas wissen.

„Es ist die Kraft die von solchen Begriffen ausgeht, auf die kommt es an.Auch  Kommunisten oder  Anarchisten glauben,  wenn sie eine solche Behauptung auch vehement von sich weisen. Sie glauben an eine bessere, gerechtere Welt.  Dafür wollen sie kämpfen, arbeiten, wollen ihr ganzes Leben der Schaffung dieser neuen Welt widmen. Die Christen, die Moslems, alle Religiösen glauben an eine Art von Paradies, das kommen wird, an das Reich Gottes, wie auch immer sie es benennen. Du wirst mir sicher zustimmen, dass es hier doch gravierende Ähnlichkeiten gibt.“

„Na das ist mir dann doch ein wenig zu weit hergeholt, Theorie, nichts als Theorie!“

Gelangweilt erhob sich Klaus und verließ die Runde, Gabriela tat es ihm gleich. Das hatte zur Folge, dass sich nun endlich ein sachliches Gespräch entwickeln konnte.

„Natürlich sind  das Theorien, aber es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die Geschichte angefüllt ist von solchen Beispielen. Immer wieder haben Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten versucht, für Gerechtigkeit zu kämpfen, für Frieden, Harmonie und Verständnis.  Sie gaben diesem Kampf verschiedene Namen, meinten aber doch im Grunde ähnliches.“ führte Colette weiter aus.

„Also, wenn ich das recht verstanden habe, sind also das Reich Gottes wie es die Christen anstreben und die Klassenlose Gesellschaft, das Ziel der Kommunisten also, ein und dasselbe?“ versuchte Lukas weiter in Erfahrung zu bringen.

„Das ist meine persönliche Meinung und es war auch jene von Kovacs. Aber du siehst, selbst hier in unserer kleinen Gemeinschaft gehen die Meinungen darüber weit auseinander.“ gab Colette zu bedenken.

„Ja gut! Wenn die Menschen so denken, dann dürfte es doch gar nicht so schwierig sein, diesen Zustand der Harmonie zu erreichen. Warum tut sich die Menschheit damit so schwer?

Oder, anders gefragt, auf welche Weise kommen wir dorthin?“

Lukas Frage traf ins Schwarze.

„Also unter uns Christen gibt es dafür eine eigene Bezeichnung. Wir nennen es Nächstenliebe. Sie ist der Grundpfeiler unseres Glaubens. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn uns das gelingt, dürfte der Weg zur Harmonie leicht zu erreichen sein.“ erwiderte Pater Liborius.

„Und was die Christen Nächstenliebe nennen, bezeichnen die Kommunisten als Solidarität, die Anarchisten prägten die Bezeichnung gegenseitige Hilfe. Verschiedene Begriffe, gleicher Inhalt. Das ist es, was uns Kovacs sagen wollte, leider kann er uns nicht mehr persönlich dazu anleiten. Statt dessen müssen wir den Weg ohne seine Begleitung finden.“ bedauerte Colette.

„Wir könnten es schaffen, wenn wir all unser Wissen beisteuern. Jeder nach seinen Fähigkeiten und Erfahrungen. Ich könnte eine Menge dazu beisteuern. Mein Glaube bietet schon viel Brauchbares. Damit könnten wir den Pfad in die Zukunft beschreiten. Ich bin bereit, meine Erkenntnisse einzubringen.“ bot der Pater an.

„Schade, dass wir nur so wenig sind. Und ohne Elena? Ich bin mir nicht sicher ob wir ohne ihr Charisma sehr weit kommen? Trotzdem bin  ich bereit, weiter daran zu arbeiten, so es denn gewünscht wird und da bin ich mir nicht so sicher. Eine vollkommen neue Philosophie, eine Erkenntnis, die aus verschiedenen Quellen schöpft und daraus die Antworten für die Bedürfnisse der neuen Zeit ableitet.“ In Colettes Augen glänzte die Euphorie, während sie diese Worte sprach, doch gleichzeitig bahnte sich die Resignation ihren Weg, denn in der Tat, mit wem sollte sie den Weg beschreiten? Nicht einmal bei Gabriela vermochte sie dadurch Begeisterung hervorzurufen.

„Also, ich bin dabei!“ bekannte Lukas mit jugendlichem Überschwang. „Ich unterstütze dich, Colette, mit allem, was mir zur Verfügung steht.“ Sanft legte er seinen Arm um ihre Schultern.

„Das weiß ich und ich bin glücklich über diesen Umstand. Wenigstens einer, der versucht, mich zu verstehen, naja und auf unseren alten Pater können wir auch setzen.“

Pater Liborius signalisierte nickend seine Zustimmung.

„Diese Göttin, von der Kovacs sprach, ich denke, wir dürfen sie uns nicht allzu plastisch vorstellen, als Person oder so. Es ist eine Metapher, eine Umschreibung für einen Zustand, für eine Vollendung. Eine Vollendung, die aber andererseits eine Rückkehr zum Urzustand der Menschheit bedeutet.“ klärte Colette weiter auf.

„Eine Rückkehr zum Urzustand der Menschheit? Das heißt, wir sollen uns in Felle hüllen wie die Urmenschen, in Erdhöhlen leben und uns mit dem Faustkeil bewaffnen? Oder wie soll ich das verstehen?“ Entsetzte sich Lukas.

„Nein Lukas, so ist das natürlich nicht gemeint! Wir brauchen die Errungenschaften der Zivilisation keineswegs über den Haufen werfen.

Ich erinnere mich dieser Frage, sie wurde Kovacs des Öfteren gestellt, damals als unser Kreis ganz jung war und wir noch in der Siedlung am See lebten. Niemand möchte in die Steinzeit zurück. Aber wir können uns der alten Tugenden erinnern. Kovacs war der Ansicht, dass die Menschen in den prähistorischen Zeitepochen nur überleben konnten, weil sie ein sensibles Gemeinschaftsgefühl entwickelten, das ihnen ständig suggerierte zusammen zuarbeiten zum Wohle aller. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jede nach ihren Neigungen. Ausschließen konnte sich keiner, alle wurden gebraucht. Deshalb war den Menschen auch jedwede Form künstlicher Hierarchien fremd, die hätten das Gemeinschaftsgefüge aus dem Gleichgewicht gebracht. Es gilt, diesen verschollenen Schatz der Menschheit ausfindig zu machen und ihn mit neuem Leben zu erfüllen.“

„Und diesen Geist also nennt ihr Göttin, wenn ich recht verstanden habe?“ wollte Lukas wissen.

„Kovacs nannte ihn so! Wir, die wir versuchen, seinem Beispiel zu folgen, tun uns ein wenig schwer damit. Wir alle müssen uns langsam darauf zuantasten.“ entgegnete Colette.

„Kovacs wollte aber nicht etwa so etwas wie ne neue Religion ins Leben rufen, oder wie darf ich mir das vorstellen?“

„Aber nein, nie im Leben. Zu keinem Zeitpunkt. Er wollte vereinen und nicht spalten. Ein neue Religion würde die Spaltung unter den Menschen nur noch weiter vertiefen, so wie es die bereits existierenden seit Jahrhunderten tun.“ glaubte Colette zu wissen.

„Na, das ist Ansichtssache. Hierbei kann ich dir nicht folgen, Colette. Sicher, es wurde viel Missbrauch getrieben, mit den Religionen, mit allen Religionen, meine eigene in begriffen, aber du darfst nicht das Positive vergessen, das sie bewirkten.“ widersprach Pater Liborius.

„Das will ich doch gar nicht. Denn genau das ist doch der springende Punkt. Wie heißt es so schön. `Prüfet alles, das Gute behaltet!`“

„Das ist von Paulus und der gehörte meiner Religion an:“ warf der Pater ein-

„Nun, genau genommen war er Jude, aber das wollen wir jetzt nicht weiter erörtern. Wir schälen das Gute aus allem heraus und übernehmen es in die neue Philosophie, das schlechte wandert in den Müllschlucker!“ schlug Colette vor.

„Und du meinst, dass das so einfach funktioniert? Machst du es dir  nicht ein wenig zu einfach.“ zweifelte Lukas weiter.

„Einfach ist gar nichts, es kommt auf den Versuch an. Nicht immer gleich die Flinte ins Korn werfen, wenn der Erfolg sich nicht sofort einstellt. Und Rückschläge gibt es viele, wir erleben im Moment einen  ausgesprochen schmerzhaften. Neidhardts Diktatur ist alles andere als die Erfüllung von Kovacs Ideen, mag Neidhardt es auch noch so viele Male betonen.“

„Und solange Colette ihm jeden Dienstag die Meinung geigt, wird er das sicher nicht so schnell vergessen!“ vermutete Lukas.

„Da wäre ich mir nicht so sicher...“ Pater Liborius kam nicht mehr dazu seine Ansicht weiter zu erläutern, denn Leanders Bruder Andre trat zu der kleinen Runde.

„Colette, kannst du mal kommen. Vor der Eingangspforte liegt ein junges Mädchen, völlig erschöpft. Als ich sie ansprach, sagte sie immer nur deinen Namen. Deshalb bin ich gleich zu dir gekommen.“

Wie von der Tarantel gestochen fuhr Colette in die Höhe.

„Kim? Das kann nur Kim sein!“ Sie stürmte zum Hauptportal, Lukas kam ihr unaufgefordert nach, ohne sie jedoch einzuholen.

Colette stürzte sich auf den leblos scheinenden Körper, der da vor ihr lag, und das kalte Grauen packte sie, als sie tatsächlich Kim darin erblickte.

„Kim, Kleines, mein Kleines. Was ist mit dir? Wie bist du hierher gekommen?“

In der Aufregung gebraucht man oft Worte ohne Sinn, denn Kim war offensichtlich ohne Bewusstsein und konnte Colettes Stimme gar nicht wahrnehmen.

„Sie ist bewusstlos Colette! Sie hört dich nicht!“ versuchte  Lukas aufzuklären.

„Sollten wir sie nicht erst mal ins Haus bringen?“ schaltete sich  Andre ein.

Colette hielt Kim einfach nur im Arm und wog sie wie einen Säugling hin und her.

„Wie? Was? Ach ja, natürlich!“ gab die Angesprochene verwirrt zur Antwort.

Colette versuchte Kim vom Boden aufzuheben. Kim war nicht schwer, ein Federgewicht sozusagen, trotzdem bereitete es Colette Schwierigkeiten und sie stöhnte dabei.

„Schaffst du`s Colette? Komm, lass mich dir helfen!“ bot sich Lukas sofort an.

„Geht schon! Geht schon! Ich schaffe es! Das ist mein Job!“ lehnte Colette freundlich aber bestimmend ab.

Doch als sie sich gemeinsam mit Kim aufgerichtet hatte, wurde ihr schwindelig und sie taumelte.

Geistesgegenwärtig sprang Lukas hinzu und verhinderte dass beide erneut zu Boden stürzten.

Gemeinsam brachten sie Kim ins Konventsgebäude.

Da der Aufzug wieder mal defekt war, mussten sie die große Treppe nach oben steigen.

Colette war völlig außer Atem, als sie in Kims Zimmer ankamen, war kaum noch im Stande zu sprechen, doch mit eiserner Disziplin kämpfte sie gegen ihre Beschwerden an. Auf keinen Fall durfte sie Schwäche zeigen. Sonst trauten sie ihr am Ende nicht einmal mehr zu, für Kim zu sorgen und natürlich auch für Elena. Niemals durfte eine Kundra ihre Schwachstellen offenlegen.

Kim befand sich in einem bedauernswerten Zustand. Sie wirkte total heruntergekommen. Wie es schien, hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gegessen. Wie sie die Nächte verbrachte, blieb wohl noch für eine Zeit ein Geheimnis. Aber es war nicht schwer zu erraten dass sie im Freien genächtigt hatte.

Colette rang nach Luft, ihre Bronchien knisterten beim Inhalieren der Luft. Liebevoll wie eine Mutter ihre Tochter so packte sie Kim in die Kissen, sie dabei ständig streichelnd. Auch wenn es sie noch so anstrengte und die Schmerzen in ihr rumorten, es sollte ihr recht sein, denn ihre kleine Kim war wieder da. Sie würde ihre Liebste wieder auf die Beine bringen. Doch hatte sie damit gleich zwei Patienten zu versorgen.

„Wäre es nicht angebracht, einen Arzt zu holen? Wir sollten auf Nummer sicher gehen. Womöglich hat sie Wunden, die versorgt werden müssen?“ gab Lukas zu bedenken.

„Ich werde gleich nachsehen! Wunden versorgen kann ich gut, da bin ich geübt. Sollte es doch Komplikationen geben, können wir immer noch einen Arzt rufen. Sind eh nie zur Stelle, wenn man sie mal braucht. Wäre Elena gesund, dann bräuchten wir uns keinen Gedanken machen, da hätten wir die Ärztin im Haus. Aber es wird auch so gehen.“ meinte Colette, während sie sich mit dem Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn wischte.

„Dir geht es auch nicht gut! Du solltest dich nicht so überanstrengen. Nicht alles alleine machen. Hörst du! Sag, wenn etwas zu tun ist. Ich bin zur Stelle!“ versicherte Lukas noch einmal.

Colette schritt zum Fenster, öffnete es und atmete zweimal tief ein und aus,  dass es ihr für einen Moment wieder schwarz vor Augen wurde.

Dann erwiderte sie „Nun, ein paar Streicheleinheiten nach getaner Arbeit wären nicht schlecht, ich denke, die würden mir gut tun!“

„Die bekommst du auf jeden Fall!“

Lukas nährte sich ihr und schlang seinen rechten Arm um ihre Taille.

„Ich komme zu dir, wenn ich fertig bin. Jetzt lass mich einfach nur eine Weile mit Kim alleine. Ich muss das alles einfach erst mal verdauen.“ gab Colette zu verstehen. Verständnisvoll wie immer entfernte sich dieser, ohne weiter nach zu fragen.

„Kim, Kleines! Wo hast du dich denn nur wieder rumgetrieben? Verschwindet einfach so. Ist Monatelang weg und dann liegt sie vor der Pforte!“

Colette sprach mit Kim so, als sei diese imstande zu verstehen. Dann zog sie ihr die verdreckten Klamotten vom Leibe.

„Nur noch was für den Müll. Wann hast du denn das letzte Mal die Kleidung gewechselt? Mann, oh Mann!“

Dann begutachtete sie Kims Körper, der von Hautabschürfungen und blauen Flecken nur so übersät war. Aber schwerwiegendere Wunden konnte sie nicht erblicken. Ob Kim innere Verletzungen hatte, vermochte sie nicht zu sagen.

Kim atmete gleichmäßig und ohne Hast. Erst mal schlafen lassen, das schien im Moment das geeignete Mittel, später würde sie weitersehen.

Der Blick zur Uhr verriet, es war Zeit, wieder nach Elena zu sehen. Sie eilte die Treppe ins Obergeschoss hinauf und fand Elena beim Puppenspiel wie meist zu jener Zeit.

„Na, meine kleine Große, spielst du wieder schön? Ja, so ist es richtig, sich immer sinnvoll die Zeit vertreiben!“

„Zeit vertreiben!“ plapperte Elena wie ein Papagei die Worte nach.

„Vertreiben! Alle Vertreiben! Kovacs vertrieben, Leander vertrieben! Alle kaputt!“

Colette erschrak, als diese Worte an ihre Ohren drangen. Sie ließ sich zu Elena auf den Boden nieder.

„Elena, du weißt, wer Kovacs war und Leander? Du erinnerst dich? Kommt es wieder, das Gedächtnis?“

„Dächtnis! Dächtnis!“ Elena formte die Worte, ohne deren Bedeutung zu entziffern. Sie sprach in der letzten Zeit ohnehin Unverständiges, Seltsames, ja fast Unheimliches. Zum Beispiel Aradia.Colette hatte diesen Namen schon des Öfteren gehört vor allem in ihren eigenen Träumen und Visionen. Im Schlaf erzählte Elena wie ein Buch, da klang sie sogar erwachsen. Colette hörte ihre nächtlichen Ausführungen, nahm sie heimlich auf Tonband auf. Ein für die spätere Entwicklung der gesamten Gemeinschaft geradezu prophetisches Handeln. Aradia schien sie wohl im Traume zu besuchen. Es handelte sich dabei offensichtlich um eine reale Person. ein anderer Name gab ihr ein noch gewaltiges Rätsel auf. Archaviela, Anochaphila, nein es klang wie Anarchaphilia. Auch dieser Begriff war ihr nicht unbekannt. Tags darauf wälzte sie bändeweise Lexika, doch konnte dort nicht fündig werden. Niemand schien mit diesem Namen etwas an fangen zu können.

„Heute Nacht! Aradia kommt heute Nacht!“ kam es wie aus der Pistole geschossen.

„Elena, wer kommt heute Nacht? Aradia? Woher kennst du diesen Namen? Ist es nur ein Traum?“

Zart fuhr Colettes Zeigefinger über Elenas Stirn.

„Nein!!!“ Jetzt wurde Elena energisch.

„Aradia kommt! Ist schon da! Kommt heute Nacht ins Zimmer! Will Aradia sein! Aradia sein!“ Tränenbäche flossen aus ihren  Augen.

„Elena! Was ist denn nur in dich gefahren? Du bist ja völlig aus der Fassung!“

Colette schloss sie in ihre Arme. Doch nach einer Zeit entwand sich Elena deren Umarmung.

„Will Aradia sein! Muss Aradia sein!“ Wie ein Trotzkopf verzog Elena ihr Gesicht.

„Ist gut, Elena! Ist ja gut! Spiel weiter mit den Puppen! Aber versprich mir! Gib ihnen andere Namen, sonst jagen sie mir Angst ein. Ich lass dich allein! Muss eine Weile arbeiten: Komme wieder! Versprochen!“

Erschöpft ließ sich Colette am Schreibtisch nieder. Nun hieß es erneut sich durch die unbezahlten Rechnungen wühlen. Verzweiflung bahnte sich schon wieder ihren Weg. Woher sollte sie nur das Geld nehmen? Hier könnte nur noch ein Wunder helfen. An wen sollten sie sich wenden und um Hilfe ersuchen? An Neidhardt etwa? Nein, diesen Triumph würde sie ihm auf keinen Fall gönnen. Neidhardt? Colette schoss aus dem Sessel. War heute nicht Dienstag? Sie fühlte sich mies und elend, gerade mal gut genug zum fressen für die Geier und in dieser Verfassung sollte sie dem Diktator gegenüber treten? Doch der Blick auf den Kalender ließ sie beruhigt wieder Platz nehmen, es war erst Montag. Sie hoffte sich bis Morgen zu erholen.

Elena legte die Arme vor ihrer Brust zusammen und begann zu schaukeln, so als wiege sie einen Säugling. Was war das? Wusste Elena das sie ein Kind hatte? Bestand somit  Hoffnung das sie ihr Gedächtnis bald wieder fand?

Colette fand keine Antwort.

Jetzt einfach mal Pause machen! Zu Lukas gehen? Das würde ihr gut tun. Schließlich hatte er es ihr angeboten. Mal für ne halbe Stunde entspannen, das konnte schon die Spannung lösen. Ihre Nackenmuskeln waren hart wie Beton, sie war kaum noch imstande, das Genick zur Seite zu drehen.

Sie fand Lukas in guter Stimmung und sofort setzte er sein Angebot in die Tat um.

Es tat gut, für einen Moment in seinen Armen zu liegen und die zärtlichen Hände auf ihrem Körper zu spüren. Augenblicklich verschwanden die Schmerzen. Erstaunlich, welche Wirkung so ein paar einfache Berührungen entfalten können.

Doch kaum zehn Minuten währte die Freude. Gabriela stürmte ins Zimmer.

„Hätte ich mir denken können, dich auf diese Weise zu finden. Typisch, ihr Kundras habt nur das Eine im Kopf. Zu etwas anderem seit ihr  nicht in der Lage. Mal ne kleine Verantwortung übernehmen? Fehlanzeige! Während du dich hier vögeln lässt, streunt Elena auf dem Gelände herum. Zum Glück hat sie Pater Liborius noch rechtzeitig gesehen. Die wäre glatt abgehauen.  Muss ich mich denn um alles selber kümmern.

Zeige doch zur Abwechslung mal ein bisschen Verantwortungsbewusstsein!“ Sprachs und knallte die Tür von außen zu.

Die Standpauke saß. In Handumdrehen meldeten sich die Schmerzen zurück.

Wortlos kleidete sich Colette an und verschwand tief beschämt. Als erstes nach Elena sehen. Sie fand diese friedlich spielend in ihrem Zimmer, danach war Kim an der Reihe, auch die schlief noch immer wie ein Stein. Nun wartete der Schreibtisch wieder auf Colette und die unerledigten Probleme.

 

In der Nacht war nicht an Schlaf zu denken. Colette wachte lange bei Kim, bis diese zu sich kam um sich an ihrer Schulter auszuweinen. Nur schemenhaft offenbarte sich das ganze Ausmaß. Aber Colette war imstande zu begreifen, was Kim hatte durchstehen müssen. Wie vermutet war diese in den letzten Kriegstagen von marodierenden Freikorpsverbänden gekidnappt wurden. Wochenlang in einem Verließ eingesperrt, hatte sie die abscheulichsten Dinge über sich ergehen lassen müssen. Nach der endgültigen Niederlage des Blauen Ordens fiel sie in die Hände der neuen Sicherheitskräfte und die behandelten sie keinen Deut besser. Vor zwei Tagen wurde sie einfach auf freien Fuß gesetzt, als sich abzeichnete, dass sie von keinerlei Nutzen war.

So irrte sie auf der Straße herum und fand dann noch mit letzter Kraft den Weg zur alten Abtei.

Colette wog sie in den Armen, immer wieder zärtlich auf sie einredend.

 

Nachdem Kim endlich wieder eingeschlafen war, konnte sich auch Colette zurückziehen, so glaubte sie zumindest.

Als sie ihr Zimmer betrat, schlief Elena bereits in dem großen Doppelbett. Völlig erschlagen ließ sich auch Colette dort nieder und fiel bald in den in den Halbtod des Schlummers. So bekam sie nicht mit, was sich bald an ihrer Seite ereignete.

 

„Elena! Elena wo bist du?“ rief ihr eine Stimme aus dem Dunkel zu . Elena richtete sich auf.

„Ich bin hier! Wer bist du? Was willst du von mir?“

„Elena, es ist Zeit aufzuwachen. Du musst aufwachen, Elena!“

„Ich bin wach! Ich bin bei klarem Verstand!“

Elena blickte um sich. Wie kam sie hierher? Wie kam sie in das Zimmer? Colette lag neben ihr und atmete leise ein und aus. Warum befand sie sich nicht in ihrem eigenen Zimmer? Frage reihte sich an Frage.

Elena ließ ihre Beine aus dem Bett zum Boden gleiten, dann erhob sie sich. Langsamen Schrittes begab sie sich zum Fenster und warf eine Blick nach draußen. Es war Nacht, der Park erstrahlte im Glanze des Silbermondes, der wie eine Leuchte am Himmel thronte. Wie viel Uhr mochte es sein? Aber war das wichtig? Jetzt in diesem Moment?

Elena war erwacht. Der Verstand schien schlagartig ihre Seele zurückerobert. Einfach so, nach Monaten der Umnachtung. Doch wer hatte sie gerufen? Aus welcher Richtung kam die Stimme, die so eindringlich ihren Namen rief?

Elena musste es erkunden. Das Laufen fiel ihr schwer, sie taumelte, als sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, sich langsam nach draußen auf den Flur begab, dann die große Treppe hinabstieg, bis sie die Pforte erreichte.

„Komm zu mir, Tochter! Ich erwarte dich! Es ist Zeit vom Schlafe aufzustehen. Komm wieder zu dir. Setze fort, was du begonnen. Die Zeit ist reif. Eine Prüfung hast du überstanden, doch gib acht, weitere werden folgen. Dornenreich ist der Weg, der zur Freiheit führt. Lang, ist der Weg nach Anarchonopolis. Also, beginne ihn zu beschreiten!“

Woher kam die Stimme? Oder war sie lediglich einer Sinnestäuschung erlegen?

Elena setzte ihren Weg fort. Weiter immer weiter entfernte sie sich dabei vom Geländer der Abtei. Schließlich fand sie sich vor dem alten Sandsteinmassiv wieder. Ihr Platz! Der Ort, der ihr so ans Herz gewachsen.

Colette schreckte nach oben, ihr Blick fiel auf die Leere neben ihr.

„Elena!“ Wohin war sie entschwunden?

Hastig warf sich Colette ein paar Kleider über und eilte aus dem Zimmer.

Was sollte sie tun? Die anderen wecken? Damit sie wieder eine Standpauke erhielt für ihre Unfähigkeit, auf Elena acht zu geben? Nein, hier musste sie alleine durch. Sie schien einer Eingebung zu folgen, als sie sich ins Freie begab und genau den Weg einschlug, den Elena zuvor gegangen.

Schlussendlich trafen sie am Felsmassiv aufeinander.

„Elena, was machst du hier? Warum bist du nicht im Bett geblieben?“

„Ich hörte eine Stimme! Jemand rief nach mir. Aber ich konnte niemand finden. Du musst erwachen, so lautete die Anweisung und dass ich meinen Auftrag fortsetzen soll. Gott weiß, was dahinter steckt! Ich ging einfach drauf zu. Ich weiß nicht wie ich hierher gekommen bin!“

„Elena, wie du sprichst. Du bist.... du bist wieder bei klarem Verstand?“

„Natürlich! Warum fragst du? Was ist geschehen? Wie komme ich überhaupt in dein Zimmer? Hast du mich dorthin gebracht? Wenn ja, warum?“

„Das ist eine sehr lange Geschichte! Wir werden darüber sprechen. Morgen, wenn der Tag sich voll entfaltet hat. Es ist mitten in der Nacht. Wir sollten uns wieder schlafen legen!“ schlug Colette vor. Sie war müde und ihr fröstelte.

„Schlafen? Ich sehne mich nicht nach Schlaf! Ich hab genug geschlafen in der letzten Zeit. So zumindest kommt es mir vor. Und ich vermute, ich habe auch sehr viel verschlafen!“

Eine Feststellung, die nicht ganz von der Hand zu weisen war.

„Du bist wieder ganz die Alte! Ach, bin ich froh. Ich dachte schon, ich würde diesen Tag nie mehr erleben. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Das wird alle im Übermaß mit Freude erfüllen. Nun kann es wohl nur noch besser werden.“ begeisterte sich Colette.

„Besser? War es denn schlecht? Sag, was ist geschehen? Wo steckt eigentlich Leander?“

Beim hören des namens zuckte Colette zusammen.

Konnte sich Elena nicht erinnern? Wenn ja, wäre es fatal.

Elena grübelte und man konnte ihren inneren Krampf nachempfinden, als es ihr dämmerte.

„Leander ist... Leander ist nicht mehr am Leben? Stimmt das?“

Colette bildete Worte, doch die stockten auf ihren Lippen, langsam, nur ganz langsam signalisierte sie nickend ihr Ja.

Elena blickte zu Boden, nun kam es alles wieder hoch. Vor ihren Augen zeichnete sich das Grauen der Erinnerung.

„Wie viel Zeit ist vergangen?“ wollte sie nun wissen.

„Viel Zeit! Einige Monate! Dein Kind ist schon tüchtig gewachsen!“

„Mein Kind? Tessa! Wo... wo ist sie?“

„Bei Gabriela und Klaus, die haben sich vor allem ihrer angenommen, aber auch Leanders Eltern kümmern sich.“

Elena nickte nur. Es bedurfte keiner weiteren Worte mehr. Langsam schritt sie auf Colette zu, griff nach deren Händen und drückte sie ganz fest.

„Der Mond scheint hell in dieser Nacht! Ich kenne nicht die Stimme die mich rief, aber ich bin mir sicher, dass sie mir etwas ganz Besonderes sagen wollte. Ich bin müde, Colette, du hast recht, ich muss mich niederlegen. Ich werde das alles erst bearbeiten müssen, die Tage,  die Wochen, fürchte ich.“

Langsam schritten sie Arm in Arm den Berg hinab, den sie vorher genommen.

Colette begleitet Elena noch auf ihr eigenes Zimmer, bette sie sanft in die Kissen und wünschte gute Nacht, bevor sie sich selbst zurückziehen konnte. Es war vorbei, der ersehnte Nachtschlaf blieb aus. Zu aufgewühlt, um abzuschalten.

 

Es versteht sich von selbst, dass es Grund zur Freude in der Gemeinschaft gab. Die Tatsache, dass Elena aus ihrer Umnachtung erwacht und sich ihrer alten Fähigkeiten erfreuen durfte, löste einen gewaltigen Hoffnungsschub aus. Kim war zurückgekehrt und befand sich auf dem Weg der Besserung.

Wenn das kein Grund zum Feiern war.

Für Colette bedeutet das alles zunächst erst einmal eine gewaltige Steigerung das Stresspotentials.

Kim musste noch ein Zeitlang das Bett hüten, bis sie wieder vollständig gesundete.

Auch Elena fühlte sich noch sehr schwach und musste langsam auf das Leben vorbereitet werden.

Die Tatsache, dass Colette nicht ständig von einem zum anderen Zimmer hin und her wirbeln wollte, brachte sie auf eine simple Idee.

Sie packte einfach beide zusammen. In Elenas großzügigem Doppelbett war ausreichend Platz. Kim fühlte sich an der Seite ihrer „Großen Schwester“ pudelwohl. Es war eine Freude, die beiden beim Herumalbern  zu betrachten, das förderte beider Gesundungsprozess erheblich und entlastete Colette.

„Also deine Idee, Kim zu mir unter die Decke zu stecken, war genial. Sie ist eine ausgezeichnete Waffe gegen jede Art von Depressionen.“ bedankte sich Elena für den originellen Einfall.

„Wie ich sehe, versteht ihr euch gut. Na, dann dürfte es ja nicht mehr lange dauern bis ihr das Bett verlassen könnt.“ stellte Colette fest.

„Ooch, Schade!“ kam es aus beider Mund.

„Das gefällt euch! Auf der faulen Haut liegen und euch bedienen lassen, die gute alte Colette ist ja immer zur Stelle. Nee, nee, sobald es euch besser geht, heißt es auf und ab ins pralle Leben.“ scherzte Colette.

„Zu Befehl, Frau General!“ Elena und Kim salutierten.

 

Für eine Weile war Erholung angesagt. Durchatmen, Kräfte sammeln. Die hatten alle bitter nötig, denn die Probleme, die auf der Gemeinschaft lasteten, waren erdrückend und wenn nicht bald ein Wunder geschah, drohte irgendwann der Einsturz.

Elena gelang es zunächst geschickt, den Schmerz zu verdrängen, der auf ihrer Seele lastete. Die geistige Umnachtung hatte sie davor bewahrt, sich den Tatsachen zu stellen. Leanders Tod, Kovacs Tod und noch weiterer nicht mehr existierender Personen.

Nun würde sie die Realität einholen und sich ihrer bemächtigen. Wie sollte sie damit fertig werden?

Endlich konnte sie sich mit Tessa beschäftigen, das gab ihr Trost und konnte sie zunächst noch mit dem Leben versöhnen. Wenn sie die Kleine in den Armen hielt, keimte in ihr die Erkenntnis, dass es einen Grund zum Weiterleben gab.

Um sich noch mehr abzulenken faste Elena den Entschluss, wieder aktiv ins Leben einzutreten, indem sie sich den Problemen, die sich wie ein Schutthaufen aufbäumten, zu stellen versuchte.

Sie musste sich zudem der Tatsache stellen, dass sie in einem völlig veränderten Land erwacht war.

Der revolutionäre Frühling war nur noch ein Hauch am Horizont. Immer mehr wichen die neu erworbenen Freiheiten der Repression, degenerierte der Staat zur Diktatur.

Neidhardt erfuhr schnell von Elenas Gesundung und versuchte dies geschickt für sich zu nutzen, indem er ihr anbot, sich ein politisches Amt ihrer Wahl auszusuchen. Mit ihr an seiner Seite, so dachte er, konnte er sich der Sympathie weiter Teile der Bevölkerung sicher sein.

Doch da irrte er sich gewaltig. Elena verspürte nicht die geringste Neigung, sich noch einmal in den Vordergrund zu stellen und lehnte jegliche politische Betätigung kategorisch ab.

Sie wollte die alte Abtei erhalten, damit all jene, die hier Zuflucht gefunden hatten, ihr Zuhause behielten, das war schon alles. Zudem gedachte sie ihr Hilfsprojekt erneut zu starten, wollte wieder als Ärztin tätig werden. Dort erwartete sie eine gewaltige Aufgabe und der gedachte sie sich mit Hingabe zu widmen.

Die Politik hatte sie hinter sich lassen. Das war Schnee von gestern Die Schwesternschaft war auseinandergebrochen und existierte in Elenas Augen nicht nicht mehr. Colette musste dies schmerzlich zur Kenntnis nehmen, immer dann, wenn sie darauf zu sprechen kam. Sie fühlte sich den alten Idealen verpflichtet und wollte den Traum nicht einfach wie ein abgelegtes Kleidungsstück entsorgen.

Doch bei Elena biss sie auf Granit.

Überhaupt fühlte sich Colette in zunehmenden Maße ins Abseits gedrängt, seit Elena wieder imstande war ihre Aufgabe voll zu erfüllen. Colette hatte ihre Aufgabe erfüllt, man bedurfte ihrer nicht mehr.

Als sie sich eines Morgens wie seit Monaten gewohnt an ihren Schreibtisch setzen wollte, hatte sich Elena dort platziert.

„Lieb von dir, Colette, dass du mich unterstützen willst. Aber ich brauche dich nicht. Du hast mich gut vertreten, dafür gebührt dir Dank.  Aber ich bin imstande, mich allein hindurch zu wühlen. Es wird höchste Eisenbahn, in dieser Richtung etwas zu unternehmen. Aber das ist meine Aufgabe. Du hast dir ne Pause verdient. Mach dir eine schöne Zeit. Tue einfach, das was dir Spaß macht. Spanne aus, gönne dir mal was.“

„Aber Elena, ich tue das seit Monaten, konnte mich gut einarbeiten in letzter Zeit. Ich denke, wir können das gemeinsam machen. Du solltest dich am Anfang nicht gleich so belasten.“ versuchte Colette sie umzustimmen.

„Colette, ich weiß am besten, was ich mir zumuten kann. Ich schaffe das alleine. Ich arbeite lieber für mich allein. Ich brauche die  Zeit, um zu überlegen. Lass mich jetzt allein. Ich habe viel aufzuholen:“

Diese Ausladung hatte es in sich. Was sollte Colette jetzt tun? Diese Arbeit war ihr Leben, es bestimmte ihren Tagesablauf über Monate hinweg, gab ihr Halt und Kraft und trotz der Schwierigkeiten machte es ihr Spaß. Wie sollte sie die Zeit totschlagen?

Wortlos entfernte sie sich, doch Elena rief sie noch einmal zurück.

„Ach, Colette. Die Sache mit deinem Auftritt im Parlament. Ich denke, du solltest dort nicht mehr hin gehen. Ich bin der Ansicht, wir dürfen Neidhardt nicht unnötig provozieren. Das kann uns nur zum Schaden gereichen.“

„Aber ich denke, wir sollten doch!“ wagte Colette zu widersprechen. „Neidhardt gebärdet sich als Diktator, als Tyrann, der die Revolution ab absurdum führt. Wir müssen ihn damit konfrontieren immer wieder, ihn vor aller Welt bloßstellen. Es ist unsere Aufgabe, Kovacs Ideen wach zu halten.“

„Nein, das ist es nicht! Die Revolution ist vorbei. Sie ist tot, das ist wahr, aber wir können es nicht ändern. Ich habe mit Politik nichts mehr am Hut. Ich ziehe mich zurück, ich habe genug gebüßt für meine Naivität. Du solltest dich auch zurückziehen. Du wirst dort nicht mehr hin gehen! Haben wir uns richtig verstanden?“

„Damit machst du mich arbeitslos, auf einen Schlag!“

„Ach, wie ich dich kenne, wirst du das überleben. Warum gehst du nicht in deinen alten Beruf zurück? Du hast doch mal als Gauklerin gearbeitet. Ich denke, ist nicht das Schlechteste. Du kannst natürlich hier wohnen bleiben, so wie alle anderen auch.“

„Aha, so ist das also! Und in deinem Hilfsprojekt, dort kannst du mich wohl auch nicht mehr gebrauchen?“

„Ich bin zu der Einsicht gelangt, das du dort deplatziert bist, es ist einfach nicht das richtige für dich. Viel zu anstrengend, denk an deinen Rücken, kann ich dir nicht mehr zumuten. Du bist eine Kundra, für mich ist das kein Problem, aber du musst an die Leute denken, die hier kommen werden. Ich kann nicht garantieren, dass dich alle akzeptieren, du weißt doch wie manche Leute sind. Mach einfach erst mal Urlaub, solange du magst.“

Wie ein geprügelter Hund verließ Colette das Büro. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, nun konnte er gehen. Leute wie Colette sind stets gut genug, um in Krisenzeiten den Kopf hinhalten, wenn niemand zur Verfügung steht und andere sich um jedwede Verantwortung drücken.  Kaum dass die Krise überstanden, kann sie keiner mehr gebrauchen.

Tränenbäche entströmten ihren Augen, als sie sich auf ihr Zimmer zurückzog, um zu überlegen wie sie den Tag über die Runden bringen sollte. Von einem auf den anderen Augenblick überflüssig, sie konnte es nicht fassen. Warum nur tat Elena ihr das an, Elena, die noch vor wenigen Tagen wie ein Kleinkind an ihrer Brust lag.

Colette zog sich zurück, ging spazieren, zum Glück setzte bald der Sommer ein, viel Gelegenheit die Zeit draußen zu verbringen Aber was aber  sollte sie im Herbst tun, wenn sich Melancholie bleischwer auf die Gemüter senkt und das Schmuddelwetter einen Gang nach draußen außerordentlich erschwert?

Was hatte sie nur falsch gemacht? Welchen Grund konnte es dafür geben, dass sie auf derartige Weise an die Seite geschoben wurde?

Einen Tag wollte sie warten. Morgen würde sie zu Elena gehen, um noch mal in Ruhe mit ihr zu reden. Es galt als wahrscheinlich, dass ihr Elena sagen würde, dass es reine Einbildung war. Um Gotteswillen, Colette, niemand hegt Groll gegen dich, alle haben dich lieb. Aber Colette, würde sie ihr sagen. Du stehst unter Anspannung, deshalb kommt dir das so vor. Du bist eine Kundra und Kundras neigen halt nun mal zu überzogenen Reaktion, da haben alle doch soooo ein großes Verständnis für.

So oder so konnte ein Gespräch verlaufen. Doch Colette gedachte das Risiko auf sich nehmen.

 

Das Wetter hatte umgeschlagen, als sich Colette am Morgen des Folgetages erhob und ihr Blick aus dem Fenster signalisierte ihr nur allzu deutlich, dass der Sommer erst mal Pause machte.

So trübe wie dieser  verregnete Morgen Ende Mai sah es auch in ihrem Herzen aus, als sie sich auf den Weg zu Elena machte. Doch auf halben Wege spürte sie eine Veränderung in ihrem Bewusstsein. Stärke, Kraft? Mit Entschlossenheit auf treten, sich nichts gefallen lassen, auf dem Standpunkt beharren. Genau! So würde sie handeln.

Doch als sie vor der Tür zum Büroraum zum Stehen kam, der bis vor wenigen Tagen noch der Ihre war, vernahm sie Stimmen. Unbemerkt lugte sie durch den Türschlitz.

Gabriela hatte sich neben Elena platziert.

„Ach, ich kann gar nicht genug betonen, wie wundervoll es ist, dass du wieder voll einsatzfähig bist Elena. Hier ist wirklich alles drunter und drüber gegangen während deiner Abwesenheit. Zeit, den Saustall aufzuräumen, den Colette hinterlassen hat. Sieh dir das alles an, ist das nicht fürchterlich.“ Gabriela kramte in den Papieren rum.

„Einfach alles auf den Haufen geschmissen und liegen lassen, typisch. Andere könne sich jetzt mit dem Mist auseinandersetzen.“

„In der Tat. Ich muss mich erst mal durchkämpfen. Ich verstehe auch nicht was, Colette bewogen hat, so liederlich zu handeln. Ist doch sonst nicht ihre Art. Na gut, wir wollen gnädig mit ihr sein. Sie ist eine Kundra und die ticken nun mal anders.“ gab Elena zu verstehen.

Jedes ihrer Worte traf Colette wie ein Geschoss ins Herz. Es verletzte ihre Seele auf abscheuliche Weise. Warum zog Elena sie nicht zu Rate? Colette hatte sich ein System geschaffen, um die Papiere zu ordnen, etwas ungewöhnlich sicher, aber es half ihr bei der Bewältigung der Probleme. Eine einzige Frage genügte. Hilfst du mir, Colette? Doch diese Frage brachte Elena nicht über ihre Lippen.  

„Ja, diese Kundras ticken anders. Da hast du recht gesprochen. Ich werde mich nie in ihre Lage versetzen können. Verantwortungsvolle Arbeit ist ihre Sache nicht. Rumkaspern und rumhuren, das können die. Dafür kann man sie gebrauchen, mehr aber auch nicht. Ich werde dir helfen, alles in Ordnung zu bringen.“ bot Gabriela überschwänglich an.

„Lieb von dir! Kann ich gut gebrauchen. Wann du Zeit hast, ich richte mich dann ganz nach dir.“

Es tat einfach nur weh, unendlich weh. Gabrielas Hilfe nahm sie also entgegen.

Was in aller Welt hatte sie falsch gemacht?

Colette hielt es nicht mehr aus, einfach nur weg. Sie flüchtete in den Park, um den Tränen erst mal freien Lauf zu lassen. Es musste raus, sonst drohte sie daran zu ersticken.

Ausgegrenzt, abgeschoben in die Einsamkeit. Man benötigte sie nicht mehr,  einfach nur überflüssig. Was konnte es ändern, wen sie jetzt zu Elena ging um mit ihr zu reden? Gar nichts! Die hatten sich festgelegt, daran war nicht zu rütteln.

Zu wem konnte sie gehen? Zu Pater Liborius?

Aber liebes Kind, du bist doch ein Geschöpf Gottes, der hat dich doch  so lieb. Das ist doch erst mal das Wichtigste, würde sie zu hören bekommen und dass sie sich einfach nur selber lieben sollte, das würde doch mit Sicherheit helfen. Nein, auf diesen Schwachsinn konnte sie gut verzichten.

Kim wollte sie auf keinen Fall damit belasten. Aber zum Glück gab es Lukas, der im rechten Moment in ihr Leben trat, um ihr beizustehen.Ihm konnte sie sich an vertrauen und in seinen Armen Trost und Verständnis finden.

Als die Tränen in den Augen getrocknet waren, begab sie sich auf den Weg.

Voller Hoffnung öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer. Doch was sie nun zu sehen bekam, lies ihre letzte Hoffnung wie Eis in der Sahara schmelzen.

Lukas lag Arm in Arm mit Kim auf seiner Liege und die beiden waren intensiv mit einander beschäftigt.

„Ach, du bist es Colette. Hab dich gar nicht kommen sehen. War einfach zu beschäftigt.“

„Das ist nicht zu übersehen!“ entfuhr es Colette, die kaum noch imstande, war die rechten Worte zu finden.

„Colette, ich wollte dir noch mal sagen, wie sehr ich dir danke, dass du mich hierher gebracht hast.“

Lukas näherte sich ihr und drückte ihre Hand.

„Kim und ich haben uns unsterblich in einander verliebt. Ich finde gar keine Worte, es zu beschreiben. Wir schweben im siebten Himmel. Du wirst sicher verstehen, dass ich für andere erst mal wenig Zeit erübrigen kann. Mit uns! Nun mit dem Kuscheln, es hat Spaß gemacht. War toll, aber hier mit Kim, das ist schon was anderes. Sowas hab ich noch nie erlebt, verstehst du? Nicht traurig sein. Wir bleiben auf jeden Fall gute Freunde. Mit dir zu quatschen und zu philosophieren ist immer wieder toll und das werden wir auch weiter tun.“ Sanft strich er über ihren Kopf.

Colette zog sich zurück.

„Aber Colette? Was ist mit dir? Warum so zurückweisend?“

„Colette, der Typ hier ist Spitze! Dass du den hierher gebracht hast, war genial. Auch ich kann dir nur tausendmal dafür danken. Ich bin gerade dabei, aus allen Wolken zu fallen. Ich war noch nie mit einem Mann zusammen. Danke für alles, was du für mich getan hast. Du warst wie eine Mutter zu mir und das wirst du auch bleiben.“ schaltet sich nun auch noch Kim ein.

„Dann wünsche ich euch viel Glück!“ Zu mehr war Colette nicht mehr imstande und verließ augenblicklich das Zimmer.

Eine Welt begann innerhalb weniger Augenblicke vollständig in sich zusammenzustürzen. Betrogen zu werden von all den Menschen, die dem Herzen am nächsten stehen, ist mehr als ein Menschenleben erträgt.

Colette wollte zu Kovacs, doch der war nicht mehr da. Nicht einmal sein Grab konnte sie besuchen, um sich dort auszuweinen, denn selbst den Toten hatten sie ihr genommen.

Es war ihre Bestimmung an seiner Seite zu sterben und sie war dieser Bestimmung nicht gefolgt, dafür wurde sie nun zur Verantwortung gezogen auf härteste und grausamste Weise die man sich vorstellen konnte.

Sie lief auf ihr Zimmer und kramte in den Schubladen bis sie ein scharfes Messer fand.

Sie hielt es an die Pulsader der linken Hand. Jetzt ein Ende machen, Kovacs in die Ewigkeit folgen, Ruhe finden ein für allemal. Nicht eine Stunde wollte sie noch länger in diesem Leben bleiben. In einem Leben, das sie abgeschrieben hatte.

Doch sie zögerte. Allen, die ihr wehgetan hatten, würde sie damit nur einen Gefallen tun.

Warf sie jetzt ihr Leben weg, machte sie alles zunichte. Vor allem Neidhardt würde triumphieren, sollte er davon erfahren und diesem Triumph wollte sie ihm auf keinen Fall gönnen.

Sie ließ das Messer zu Boden fallen. Hier bleiben konnte sie aber auch nicht. Allein der Gedanke, Lukas und Kim jeden Tag in Liebe vereint betrachten zu müssen, war so entsetzlich, dass sie nicht einmal daran denken mochte. Sie war eine Heimatlos von einem zum anderen Augenblick. Wo konnte sie hin. Wer würde ihr ein neues Zuhause bieten?

Der Schmerz in der Brust wurde unerträglich, sie drohte zu kollabieren, Atemnot. Sie lief zum Fenster, um die Lungen mit frischem Sauerstoff zu versorgen. Doch ihr Blick fiel auf Lukas, der Arm in Arm mit Kim des Weges kam. Tränen entluden sich erneut, noch heftiger, noch schmerzhafter denn zuvor. Ihre Kim, ihre kleine Kim.

Nur weg hier, einfach nur weg, egal wohin, es war ihr gleich . Und wenn sie zu Neidhardt ging, sich ihm vor die Füße warf, um ihm ihre Loyalität zu bekunden?  Eine Idee? Nicht auszuschließen, dass er sich ihr wohlwollend gegenüber präsentieren würde. Eines konnte man Neidhardt nicht absprechen. Er war ein Ehrenmann. Wenn sich einer aus echter Reue vor ihm verneigte, war er geneigt zu vergeben und zu vergessen. Sie würde Kovacs verraten und all das was ihr etwas bedeutete, am meisten die Freiheit, die sie so sehr liebte. Doch sie tat es aus großer Not. Wer könnte es ihr verübeln?

Geld hatte sie keines mehr, ihre letzte Ersparnisse hatte sie in dieses Projekt gesteckt, das ihr doch so am Herzen lag. Sie war völlig mittellos, eine Bettlerin.

Eines konnte sie auf keinen Fall, dessen war sie sich zu hundert Prozent sicher,weiter hier ausharren.

 

 

Erst zwei Tage nach dem Ereignis erinnerte sich Elena, dass sie Colette vermisste. Sie war ihr nicht wie üblich im Refektorium begegnet und auch sonst nicht über den Weg gelaufen.

Ging es ihr nicht gut? Einfach mal nach dem Rechten sehen. Sie klopfte an ihr Zimmer, doch als von drinnen keine Reaktion erfolgte, öffnete sie einfach die Tür. Alles leer, Colette war nicht anwesend.

Auf ihrem Schreibtisch fand sie einen Brief. Mit zittrigen Händen hob sie diesen auf und las den Inhalt der sie bis ins Mark erschütterte.

 

„Liebste Elena!

Abschied ist ein scharfes Schert, das oft so tief ins Herz dir fährt. Ich habe euch verlassen und ich werde nie wieder kommen. Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr. Ich bin hier überflüssig, das ist mir auf schmerzhafte Weise ins Bewusst sein gerückt. Ich bin wahrlich keine Heldin. Ich habe nur versucht, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Während deiner Krankheit habe ich mich bemüht, alles zu erhalten, so gut es eben ging. Natürlich sind mir dabei Fehler unterlaufen, selbstverständlich habe ich immer wieder überreagiert. Aber meine Nerven lagen des öfteren blank und ich sehnte mich nach Hilfe und Unterstützung. Ich wollte doch immer nur das Beste, aber es gelang mir offensichtlich nicht. Aber ich tat es gern und würde es immer wieder tun. Ich bereue nichts! Aber ich kann nicht bei euch bleiben. Ich kann nie zu euch gehören, immer war ich der Fremdkörper in euren Reihen. Umgeben von weiblicher Schönheit, blieb ich doch nur das hässliche Entlein. Ich bin eine Kundra und werde bis zu meinem Lebensende eine bleiben. Niemand wird mich von diesem Körper befreien. Wenn ihr nach außen auch freundlich tatet mit euren Toleranzgehabe. Täuschen konntet ihr mich nicht. Ich spürte, wie ihr euch heimlich über mich lustig machtet. Zuvorderst war ich für euch nur die Kundra, dann kam lange Zeit nichts, dann war ich für euch der Clown, dann kam wieder lange Zeit nichts. Ganz zum Schluss erst durfte ich auch mal ein Mensch sein.

Ich bin ein Wesen wie ihr. In meinem Inneren wünsche auch ich mir nur ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig Liebe, einfach ernst genommen werden und auf Augenhöhe mit euch diskutieren, ihr habt es mir nicht gewährt. Ich bin und bleibe Außenseiterin, die ewige Kundra. 

Sag, verlange ich zuviel? Ist mein Wunsch, von euch ernst genommen zu werden, so unerhört? Ich bin ein Mensch, Elena, als nichts anderes möchte ich behandelt werden.

Ihr habt mich getötet, habt in den tiefsten Abgrund mich gestoßen. Hättet ihr mit einer Pistole eine Kugel auf mich abgefeuert, ich würde es vergeben, ja ich könnte euch sogar noch danken, denn damit wäre ich von einem Leben befreit, das nicht das nie das meine war. Ich könnte Ruhe und Frieden finden, so wie all jene, die wir verloren haben. Aber nein, nicht einmal das habt ihr mir gegönnt. Lächerlich gemacht zu werden und zudem ausgegrenzt, das ist schlimmer als der Tod. Somit tötet ihr mich jeden Tag aufs Neue.

Nicht nur du bist vom langen Schlaf, erwacht Elena. Auch ich bin es. Auch mir haben sich erst in den letzten Tagen die Augen geöffnet. Lange Zeit bin ich der Wahrheit aus dem Weg gegangen, nun musste ich erkennen, welche Närrin ich doch war.

Ich wollte nur ein Mensch wie jeder andere sein. Doch ich blieb immer nur das eine und das werde ich immer für euch sein: EINE WITZFIGUR!“

„Neiiiiiiiiiiiiiiiiin!“ Elenas Schrei durchdrang das ganze Haus und brachte das Gemäuer zum Zittern.

Elena begann am ganzen Körper zu zittern und der Atem drohte ihr zu versagen.

Sie rannte ans Fenster ,öffnete es und schrie wie besessen in die Weite.

 

„Colette, liebste Colette. Verzeih mir! Verzeih mir bitte. Komm wieder zurück  Du darfst mich nicht verlassen. Du bist mir doch die Liebste von allen. Was habe ich getan?  Ohne dich kann ich nicht leben. Bitte komm doch zurück und alles wird wieder gut! Ich verspreche es dir bei allem was mir lieb und teuer ist.

Bitte, bitte, bitte komm zurück!“

Gabriela kam ins Zimmer gestürmt.

„Mein Gott, Elena, was ist denn in dich gefahren?“

„Hier lies! Lies es! Colette hat uns verlassen. Sie ist auf und davon. Und du fragst, warum ich schreie?“

„Klar, sieht ihr ähnlich! Jetzt wo es brenzlig wird, einfach abhauen und uns ihren Scheißhaufen hinterlassen, so habe ich es gern.“

Elena fauchte wie eine Furie.

„Halt den Mund! Lass mich in Ruhe! Verschwinde aus meinen Augen! Du bist schuld! Du hast sie mir entfremdet! Du hast ihr weh getan! Und ich habe es nicht verhindert. Ich werde mir das nie verzeihen!"

Danach stürmte sie aus dem Zimmer und betrat ihr eigenes, warf sich auf das Bett und schluchzte wie ein kleines Mädchen.

Einen Rückfall würde es nicht geben. Elena blieb bei klarem Verstand. Doch nun kamen die Depressionen, so schlimm und so entsetzlich, dass sich Elena jeden Tag sehnlichst wünschte, nie aus ihrer Umnachtung erwacht zu sein.