Bataillone der Freiheit

                           

Der Regen hatte endlich aufgehört.

Große, glänzende Wolkenberge trieben langsam ostwärts, hatten ihre nasse Fracht entladen und überließen der Sonne als Siegerin das nun strahlend blaue Feld.

Die Sonne wurde immer stärker, zog die Feuchtigkeit aus dem durchweichten Boden und ließ dampfende Kringel aufsteigen.

Die Wetterprognosen prophezeiten einen baldigen Frühling mit steigenden Temperaturen, nach dem verregneten Februar ein goldener März? Dagmar konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sie sich darüber freuen oder lieber sorgen sollte.

Gutes Wetter konnte sich nur positiv auf das Geschäft auswirken. Es würde zahlreiche Wanderer und Kurzurlauber anlocken, die ihre Herberge aufsuchten, um dort zu übernachten.

Das schlechte Wetter der zurückliegenden Wochen bot hingegen eine gewisse Sicherheit für ihren konspirativen Zirkel, der hier sein Hauptquartier gefunden hatte.

Ebenso wie Elena hatte es auch Dagmar und ihr Gefolge aufs Land verschlagen. Das Gehöft, das ihr und dem militanten Flügel der Töchter der Freiheit nun als Unterschlupf diente, hatte sie, über einen Strohmann, schon vor Cassians Machtergreifung erworben. Es handelte sich dabei um ein ehemaliges Heim für behinderte Kinder, mit mehreren großen Gebäuden in gutem baulichem Zustand. Es hatte nur etwa ein halbes Jahr leer gestanden und benötigte nur geringfügige bauliche Erneuerungsmaßnahmen. Die Schwestern hatten das in den zurückliegenden Wochen selbst in die Hand genommen. Ein großes Gelände mit Park und Gartenanlagen umgeben von einem großen zusammenhängenden Waldstück. Gelegen am nördlichen Punkt eines kleinen Dörfchens, dessen gegenüberliegender Ortsausgang von der Dachterrasse des Hauptgebäudes mit bloßem Auge sichtbar war.

Getarnt hatten sie sich als queer-feministisches Wohn-und Arbeitsprojekt, dass einen Hotelbetrieb nebst Tagungs-und Seminarhaus führte. Seit etwa drei Wochen war es nun geöffnet und florierte schon ganz ordentlich. Hier wurden Wochenendseminare unterschiedlicher Gruppen abgehalten, aber auch Schulklassen und Jungendgruppen fanden hier preiswerte Unterkunft.

Ebenso suchten Einzelgäste hier nach Übernachtungsmöglichkeiten.

Doch im Schatten dieses harmlosen gastronomischen Projektes hatte sich eine militante Untergrundorganisation mit dem martialisch klingenden Namen>Batalione der Freiheit< formiert. Bestehend vor allem aus dem radikalen Flügel der Schwesternschaft, aber auch Neuzugängen vor allem von jungen Frauen und queeren Menschen, die sich mit der Abwicklung Akratasiens und dem wiedererstandenen Melancholanien nicht abfinden wollten.

Sie bereitete den bewaffneten Kampf gegen das verhasste Regime vor. Mit gezielten Terroranschlägen wollten sie die sich neu formierende Elite um Cassian herausfordern. Nach ihrer Ansicht würde diese mit überzogenen repressiven Maßnahmen antworten, dessen Folge wiederum einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung in Richtung revolutionäre Situation einleiten konnte.*

Cassians Regime befand sich noch in der Anfangsphase und wahrte weitgehend den demokratischen Schein. Auf diese Weise war es derzeit möglich solche Projekte frei und ohne Einschränkungen zu gestalten.    

Doch wie lange würde diese Phase anhalten?

Dagmar schritt über den großen Hof und bewegte sich auf die Eingangspforte zu. Dort hatte sich eine Gruppe von Schülern eingefunden, die heute hier als Gäste erwartet wurden.

Dagmar ging auf die Person zu die sie als Lehrerin ansah und begrüßte sie.

„Schön, dass ihr schon da seid. Wir haben euch bereits erwartet. Wie ich sehe, habt ihr gutes Wetter mitgebracht. Könnt ihr gut gebrauchen für eure geplanten Wanderungen.“

„Danke! Wo können wir uns anmelden? Wollte die Angesprochene wissen.

„Ihr geht einfach über den Hof, bis zur Terrasse, dann durch die Glastür, dort trefft ihr auf Julia, die wird euch alles sagen was ihr wissen müsst.“

Die Schar zog johlend von dannen.

Dagmar blickte  durch das Gittertor nach draußen und schaute nach recht, die kleine Anhöhe hinauf, so als fürchte sie noch ungebeten Gäste. Doch da war niemand zu sehen.

Nur wenige Autos passierten diese Straße, fast wie ein kleines Paradies in der hektischen Welt der Moderne.

Was eignete sich wohl besser zur Tarnung als eine Schar Kinder. Das Kalkül schien aufzugehen.

Dagmar ging wieder zurück und lief Merit über den Weg. Die junge Frau, war erst vor einiger Zeit zur Gruppe gestoßen und konnte den Beginn des bewaffneten Kampfes kaum erwarten. Schwarz-rote Punkerfrisur, Lederhose und Schnürstiefel, ihr bizarres Outfit lies schon auf ihre Innere Einstellung schließen.

„Haben wir heute Abend geheime Zusammenkunft?“ Wollte sie mit neugierigem Blick von Dagmar wissen.

„Richtig! Heute Abend! Aber bitte nicht so laut. Sonst ist es am Ende keine geheime Sache mehr.“

„Entschuldige! Hab nicht dran gedacht.“

„Nicht weiter wichtig, aber merk es dir für die Zukunft.“

Dagmar ging weiter, an der Terrasse angekommen warf sie einen kurzen Blick durch die Glastür. Julia war von der Gruppe Schüler umringt und gerade dabei etwas Ordnung in das Chaos zu bringen.

Sie erblickte Dagmar und nickte ihr kurz zu.

Auf dem Hof waren mehrere PKW geparkt, es befanden sich noch andere Gäste im Haus.

Es würde also nicht auffallen, wenn heute noch weitere Fahrzeuge dazu kamen. Denn eine ganze Reihe von Angehörigen des neuen Bundes lebte noch außerhalb und kam nur zu bestimmten Anlässen auf das Gelände.

Dagmars Blick richtete sich auf das Dach des Seminarhauses. Auf dem oberen Balkon hatten sie eine schwarz-violette Fahre aufgezogen, die langsam mit dem leichten Wind schwang.

Die Farben das Anarchafeminismus. Gleich daneben eine Regenbogenfahne.

Akratasiens Fahne blieb im Schrank, die war seit Cassians Machtübernahme verboten und sie wollten nicht unnötig provozieren.

Wie lange durften die anderen dort noch wehen? Wann würde Cassians auch solche Zeichen und Symbole verbieten? Das konnte im Moment niemand mit Gewissheit sagen.

Eine gespannte Stimmung. Doch hier auf dem Lande inmitten eines etwa 120-Seelen Dorfes bekam man noch relativ wenig von all dem mit.

Die für den Abend geplante Zusammenkunft war die erste ihrer Art. Es sollten weitgehende Beschlüsse gefasst werden, was den anstehenden Kampf betraf. Dagmar war sich der Gefahr durchaus bewusst. Cassians Geheimdienst hatte mit Sicherheit längst von der Existenz dieser Untergrundorganisation Wind bekommen.

Gedankenverloren betrat sie das Hauptgebäude und eile die große Treppe hinauf. Im ersten und zweiten Stock waren die Besucherzimmer untergebracht. Darüber, im dritten Stock befand sich die WG der Dauerbewohner. Sie lebten hier zu neunt und bildeten so den inneren Zirkel des Bundes. Die weiteren Angehörigen, insgesamt etwa zwei dutzend, lebten verstreut in der Umgebung.

Eine Handvoll nur, die den Kampf mit Cassians neuer Elite auf zu nehmen gedachte. Doch Dagmar lies sich davon nicht verunsichern, voller Enthusiasmus beharrte sie darauf, dass sich ihr bald bedeutend mehr anschließen würden, nachdem sie den Kampf aufgenommen und erste Erfolge verzeichnen konnten.

Sie betrat ihr Zimmer und ging zum Fenster, wo sich ein  guter Blick auf den Innenhof bot.

Nach einer Weile nahm sie an ihren Schreibtisch Platz.

Dort hatte sie zwei Porträtbilder platziert, eines von Colette und eines von Elena. Wie gebannt starrte sie auf die beiden Personen vor ihrem Auge. Wenn sie nach außen auch stets bekundete, dass sie ihr nichts mehr bedeuteten, hing sie im Inneren doch nach wie vor an ihnen und an den alten,  längst vergangenen Zeiten.

Es klopfte, blitzschnelle versteckte sie Elenas Bildnis in einer Schublade.

Ilka betrat das Zimmer.

Die Mitbewohnerin, etwa Mitte 30 mit blauen Augen und Dunkelblonden zu zwei Dicken Zöpfen geflochtenem Haar, gehörte schon in Anarchonopolis zu ihren emsigsten Parteigängerinnen.

„Guten Morgen Dagmar. Geht alles klar heute Abend? Ich bin noch mal die Liste durchgegangen. Glaubst du, dass auch wirklich alle erscheinen?“

„Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Ich hoffe es. Aber es liegt im Ermessen jeder einzelnen. Für uns ist das eine gute Gelegenheit auszukundschaften, welche von ihnen es wirklich ernst meint.“

Erwiderte Dagmar selbstsicher.

„Wir haben volles Haus! Glaubst du es wäre besser gewesen, die Leute kommen zu lassen wenn wir gerade keine Gäste haben, sie womöglich hier übernachten zu lassen?“

„Auf keinen Fall“, wehrte Dagmar ab. „Ganz im Gegenteil. Je mehr Leute sich im Haus aufhalten, desto unauffälliger. Glaub mir, ich habe alles gut  genau durchdacht. Ich bin zu allem entschlossen. Ich hoffe die anderen sind es auch. Große Worte machen kann jeder, aber Taten? Da hab ich so meine Zweifel.“

„Ich bin bereit! Auf mich kannst du dich jederzeit verlassen. Ich folge dir wohin auch immer.“

Bekundeten Ilka voller Enthusiasmus.

„Klar! Und dreimal krähte der Hahn.“

„Wie meinst du das?“

„So wie ich es sage! Abwarten! Wenn es erst gefährlich wird, werden wir sehen, wer Durchstehvermögen besitzt.“

Gab Dagmar zu verstehen.

„Du hast ein Bildnis von Colette bei dir? Wie mag es ihr und den anderen gehen? Hast du eigentlich Kontakt zu ihnen?“

„Nein! Im Moment nicht. Die Königin hat es vorgezogen zu schweigen. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich, das wir den Anfang machen. Doch da kann sie lange warten. Wie es denen im Moment geht, soll im Moment nicht unsere Sorge sein. Wir haben unser Leben, sie haben das Ihre.“

Entgegnete Dagmar in ihrer forschen Art.

„Was hast du da für Papiere unter dem Arm?“

„Nur ein paar Bilanzen und Rechnungen. Du solltest sie durchsehen, wenn du Zeit hast. Es sind auch ein paar Unterschriften fällig.“ Ilka legte den Stapel auf den Schreibtisch.

„Ja, ich muss mich erst mit dem Gedanken anfreunden Unternehmerin zu sein. Ist nicht einfach. Wäre ich früher nie auf die Idee gekommen. Ich sehe sie mir später an. Den Vormittag brauche ich noch um zu denken und das kann ich am besten in der Natur.“

„Eine typische Tochter der Freiheit. Genau wie Colette und Elena, die holten sich ihre Inspiration auch im Freien.“ Glaubte Ilka die Schwester erinnern zu müssen.

„So? Meinst du? Naja, dann bin ich ja in bester Gesellschaft.“

Dagmar erhob sich.

„Die Sonne hat schon mächtig an Kraft gewonnen. Den Mantel kann ich getrost im Schrank lassen.“

Sie griff nach ihrer schwarzen Baskenmütze und platzierte diese kunstvoll auf ihrer blonden Lockenpracht.

Gemeinsam mit Ilka verließ sie den Raum und begab sich ein Stockwerk tiefer.

Ihr Outfit verriet bereits die Kämpferin. Zwei Pullover übereinander, darüber eine schicke Lederweste, die in der Taille mit einem Gürtel gerafft wurde. Bluejeans und schwarze Schnürlederstiefel.

Nun fehlten nur noch der Patronengürtel und eine entsprechende Pistole. Doch die würden wohl noch eine Weile im Verborgenen bleiben.

Sie drehte eine Runde durchs Haus und führe dabei mehrere kleine Gespräche am Rand bevor sie sich wieder auf den Hof begab.

Dann schritt sie zielstrebig auf den Wald zu, der das Gelände weiträumig umgab und dessen Inneres viele Schlupfwinkel verbarg. Genau das Richtige für die geplanten Unternehmungen.

Die blattlosen Bäume gestatteten eine gute Sicht. Dagmar nahm den kürzesten Weg und befand sich bald an dem alten Wasserrad wieder, dass sich quietschend in dem kleinen Bachlauf bewegte.

Hier stoppte sie, holte ihren Tabakbeutel hervor und drehte sich eine Zigarette.

Sie hatte erst kürzlich wieder mit dem Rauchen angefangen, warum vermochte sie nicht mit Sicherheit zu sagen. Wahrscheinlich, weil es etwas beruhigte.

Sie war in der Tat nervös und schritt eine Weile auf und ab.

Es war also soweit. Die Zeit den Kampf zu beginnen stand unmittelbar bevor. Es lies sich nicht mehr vertagen. Würden sie weiterhin zögern, bestand die Gefahr, den Mut vollständig zu verlieren.

Ihren Blick richtete sie  auf das Wasserrad  das sich mit seinen langsamen Umdrehungen gleichmäßig fortbewegte, doch immer auf der Stelle blieb. Ruhe umgab sie von alle Seiten, nur eine Elster schnatterte in der Ferne.

Dagmar blickte noch einmal nach allen Seiten, um sicherzustellen, dass sie auch ja niemand im Blick hatte, dann versuchte sie sich zu konzentrieren.
Schon seit geraumer Zeit beschäftigte sie sich mit Elenas Meditationspraxis. Natürlich nur im Verborgenen. Nie würde sie dass einer anderen Person gegenüber offenbaren. Immerhin galt sie als schärfste Kritikerin, jenes Mystizismus, der in der Schwesternschaft gepflegt wurde. All das widersprach ihrer Meinung nach der reinen Lehre des Anarchismus, der jede Form von Religion oder Spiritualität ablehnte.

Sie gaben vor in der Tradition von Kovacs zu stehen. Elena, Colette und die anderen hätten diese verraten, so ihre gängige Meinung. Dabei ließen sie völlig außer Acht, das gerade Kovacs ein tief spiritueller Mensch war.

Aber irgendetwas schien  dran zu sein von dem Gerede von geheimen Kräften, die im Innersten eines jeden Menschen ruhten und die man nur anzuzapfen brauchte.

Dagmars Neugier kannte keine Grenzen und schon mehrfach hatte sie sich darin versucht, doch  bisher stets vergeblich.

Auch heute wollte es nicht gelingen, so sehr sie sich auch bemühte. Ihr fehlte einfach der richtige Draht in die verborgenen Sphären.

Nach einer Weile stieß sie einen Seufzer aus und lies frustriert die Arme sinken.

„Dann eben nicht! Ich werde es niemals erreichen! Wozu auch? Ist doch eh alles Unfug!“

Bahnte sich die Enttäuschung ihren Weg nach draußen.

Sie atmete noch einmal tief ein und aus, dann begab sie sich ein Stück weiter in den Wald, lief noch eine Weile ziellos durch die Gegend bevor sie sich auf den Rückweg machte.

 

Die Zusammenkunft wurde in einem der erst notdürftig wieder hergerichteten Nebengebäude abgehalten. Tief versteckt auf dem Gelände, etwas tiefer im Wald gelegen und von der Straßenseite nicht einzusehen.

Ein großer Raum im Erdgeschoss,  kürzlich mit Stühlen und Tischen bestückt.

Die neun Dauerbewohnerinnen hatten sich eingefunden, doch von den andern, den Vertreterinnen des äußeren Zirkels keine Spur.

„Wollen wir starten? So wie es aussieht werden wir wohl unter uns bleiben!“ Schlug Julia vor und man konnte ihren Frust deutlich heraus hören.

„Nein, wir warten. Es ist noch Zeit.“ Lehnte Dagmar ab und blickte auf ihre Armbanduhr. Die zeigte fünf vor 20 Uhr.

Noch fünf Minuten  Zeit.

Doch die verging recht schnell.

Dagmar versuchte den Blicken der andern auszuweichen, was ihr aber kaum gelang.

Sie musste eine Entscheidung treffen.

Sie wollte gerade ansetzen etwas zu sagen als sie Schritte vor dem Haus bemerkte.

Endlich erschienen zwei aus dem äußeren Kreis.

Catta eine hübsche etwas fülligere Endzwanzigerin ,mit tiefblauen Augen und langen schwarzen Haaren und Linda, in gleichen Alter, etwa aber rank und schlank wie eine Tanne und mit Kurzhaarschnitt.

„Oh, sind wir zu spät?“ wollte letztere wissen.

„Nein, seid ihr nicht! Ihr seid vielmehr die ersten. Wärt ihr nicht gekommen, hätten wir gar nicht anzufangen brauchen.“ Klärte Sunna auf, die auch zum engeren Kreis gehörte.

Wortlos platzierten sich die beiden Neuankömmlinge und warteten ab was sich im Laufe des Abends noch ereignen würde.

Wieder verstrichen Minuten.

Dagmar konnte und wollte nicht länger warten.

„Gut, ich denke, es macht kaum noch Sinn länger zu warten. Wir fangen einfach an. Habt ihr alle eure Handys ausgeschaltet?“ Dagmar blickte in die Runde und erntete Kopfnicken.

„ Es ist enttäuschend, aber wir müssen es akzeptieren. Je kleiner unser Kreis, desto gefahrvoller die Aktionen, denn sie ruhen dann auf wenig Schultern…“

Doch sie kam nicht zum Weitersprechen, denn eine weitere Person erschien.

„Entschuldigung! Ich habe mich verspätet. Habe ich schon viel verpasst?“ Wollte Cyndi wissen. Eine zierlich wirkende junge Frau mit dickem blonden Zopf und  einer starken Brille auf der Nase.

„Du hast gar nichts verpasst. Setz dich einfach hin und höre zu.“ Begrüßte  sie Dagmar lustlos.

„Also wo war ich. Ja richtig. Je mehr Leute wir zu rekrutieren verstehen, desto sicherer wird unser Kampf. Leider haben es auch viele Schwestern, die früher zu unserem radikalen Flügel gehörten, vorgezogen abzutauchen oder ganz offiziell Wortbruch zu begehen indem sie mit Colette und den andern gegangen sind. Wir sind also gezwungen, mit dem kärglichen Rest von Standhaften, ganz neu zu beginnen. In Laufe der Zeit haben sich einige bei uns gemeldet und bekundeten ihr Interesse. Doch Theorie und Praxis klaffen weit auseinander.  Wenn es darum geht sich zu bekennen, kneifen doch immer wieder die meisten, wie wir ja heute schmerzlich erfahren müssen.“

„Ich glaube wir dürfen uns am Anfang nicht entmutigen lassen. Du musst bedenken in welche Gefahr sich Leute begeben, die mit uns sympathisieren. Cassians Spitzel lauern überall. Jeder Zeit kann die Falle zuschnappen. Die haben inzwischen Fahndungsbilder ins Netz gesetzt.“

Warf Roberta ein. Sie gehörte zwar schon länger zum inneren Kreis, war aber für ihre zögerliche Art bekannt.

„Danke dass du mich daran erinnerst. Ich hätte es doch um ein Haar vergessen. In Gefahr sind wir alle. Jede, die sich unserem Bündnis anschließt, ist sich dessen bewusst. Wir können nur…“

Die Tür wurde aufgerissen und drei weitere Personen betraten den Raum.

„Es wäre doch besser gewesen bis 20.30Uhr zu warten, Dagmar. Die Leute benötigen eben Zeit um von außerhalb anzureisen.“ Warf Julia ein.

„Ich hasse Unpünktlichkeit! Verdammt nochmal! Bedenkt was geschieht, wenn wir uns in einer Aktion befinden und die Leute gammeln oder verpassen ihren Part. Nicht auszudenken.

Das kann doch wohl nicht war sein?“

„Ich stimme Dagmar zu! Das ist auch meine Meinung. Wir können uns keine Unzuverlässigkeiten leisten.“  Meldete sich Merit zu Wort.

In diesem Augenblick trafen zwei weitere ein.

„Na gut, wenn das so weiter geht können wir noch hoffen gegen 22 Uhr vollzählig zu sein.“ Reagierte Dagmar äußerst ärgerlich.

Die anderen blickten nur stumm vor sich hin. Die Stimmung war gereizt. Ein Knistern lag in der Luft.

Wieder wurde die Tür aufgerissen und vier weitere traten ein. Bald hatte sich der Raum gefüllt.

„Mach doch einfach weiter Dagmar. Wer jetzt noch nicht da ist, ist selbst schuld.“

Schlug Ilka vor.

„Es geht einfach nicht so weiter Leute. Wenn wir ein eingespieltes Team werden wollen, müssen wir Disziplin erkennen lassen. Es kann nicht einfach jede machen was sie will, dann brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Für heute, gut, für das erste Mal will ich noch ein Auge zudrücken. Aber so etwas passiert mir nicht noch einmal.“

Ließ Dagmar erneut ihren Unmut erkennen.

„Ich kann mir nicht helfen, aber du sprichst schon so wie Elena. Ja, deine ganze Art aufzutreten erinnert stark an sie und ihre Führungsrolle, die es doch eigentlich gar nicht geben sollte.“ Erinnerte sich Carmen. Sie war eine der länger gedienten Schwestern und schon zur Gemeinschaft gestoßen, als diese gerade in die Abtei umgezogen war. Auch sie hatte es nicht vermocht in den damaligen inneren Kreis vorzudringen.

„Ja richtig! Ich habe Elena stets für deren anmaßende Art kritisiert. Sie hat sich an die Spitze gesetzt, die es nach unserem Verständnis gar nicht geben sollte. Wir alle die wir hier versammelt sind, wollten an die alten Ideale anknüpfen. Doch ich habe hinzulernen können, die letzten Wochen und Monate. Wir müssen situationistisch denken lernen. Die Situation heute ist eine ganze andere. Wir leben hier in einer Art Untergrund und können unsere geplanten Aktionen nur erfolgreich führen, wenn es uns gelingt eine straffe Leitung zu installieren.“

Sie vermied bewusst die Bezeichnung Führung und ersetzte sie durch die etwas harmlos klingende Bezeichnung Leitung.

Trotzdem erntete sie damit zunächst gemischte Gefühle bei den anderen Anwesenden.

„Ich verstehe! Die derzeitige Lage zwingt uns zum Umdenken. Ich kann dich darin unterstützen. Wir müssen uns straff organisieren….“

Stimmte Julia zu, wurde aber von Merit unterbrochen.

„Und den Weg des Anarchismus verlassen, wenn ich recht verstehe?“

„Nein!“ Unsere Ideen bleiben die Gleichen unsere Ziele ebenso! Nur die Art wie wir dorthin gelangen wird sich ändern.“ Fügte Julia hinzu.

„Genauso ist es. Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Ich hoffe, ihr versteht das? Oder ist eine unter euch, anderer Meinung.“ Wollte Dagmar wissen.

Die anderen blickten sich etwas unsicher um, doch schienen allen schon in diesem Augenblick zu dämmern, dass es wohl keine Alternative gab.

„Ich frage mich nur warum wir der Schwesternschaft überhaupt den Rücken kehrten und nicht gleich bei denen geblieben sind. Wir hätten uns einiges ersparen können.“ Wunderte sich Laura. Mit ihren 40 Jahren war sie eine der ältesten unter den Versammelten und gehörte ebenfalls schon lange zu den Töchtern der Freiheit.

„Ich kann dir den Unterschied genau erklären. Wir haben uns zum Kampf entschlossen. Wir wollen etwas tun, wenn auch unsere Lage im Moment nicht sehr rosig scheint. Die Mehrheit der Töchter hat sich hingegen für die Flucht entschieden und feige das Feld geräumt. Wir können und wollen uns nicht mir ihnen gleichsetzen.“

Gab Dagmar unmissverständlich zu verstehen.

„Dagmar will damit zum Ausdruck bringen, dass wir hier im Lande ausharren und die Fahne Akratasiens hochhalten, aller Gefahr zum Trotz. Die anderen gefallen sich darin uns aus der Ferne kluge Ratschläge zu erteilen, womöglich sogar für unser Tun zu kritisieren.“ Stimmte Julia zu.

„Versteht ihr? Unser kleiner Haufen hier ist die wahrhaftige Schwesternschaft. Wir stehen in der Tradition der Urkommune und nicht die anderen, so sehr sie das auch immerfort betonen.

Gut, Colette nehme ich mal raus. Sie hat sich als gute Leitfigur erwiesen, aber sie ist durch Alter und Krankheit geschwächt und von den Meinungen der anderen abhängig. Unsere Starsisters wie Alexandra und Chantal haben sich im Exil gut eingelebt und füllen bereits die Titelseiten der Boulevardpresse. Sollte mich nicht wundern, wenn Alexandra bald wieder eine seichte Soapopera dreht.

Elena hat sich aus der Verantwortung gestohlen und die Töchter im Stich gelassen. Von Madleen dieser Verräterin will ich gar nicht erst sprechen.

Es liegt an uns die Lücken zu füllen und genau das werden wir tun.“

Dagmar wuchs von Augenblick zu Augenblick mehr in ihrer Stellung. In ihren Augen glühte  kalter Hass.

„Hmmm, das leuchte ein. Das leuchtet wirklich ein! Was aber könnten wir tun, hier, in unserer konkreten Situation.“ Wollte Merit wissen.

„Du hast von Aktionen gesprochen. Von Aktionen des Kampfes. Wie können wir uns das vorstellen. Welcher Methoden werden wir uns bedienen?“ Setzte Carmen nach.

„Das zu klären sind wir hier! Es geht darum ein Meinungsbild zu erstellen. Wie weit eine jede von euch zu gehen bereit ist.“ Klärte Julia auf.

„Wenn du von Kampfaktionen sprichst meinst du sicherlich, dass wir auch bereit sein sollten, gewaltsam gegen das Regime um Cassian vorzugehen. So wie wir es ja bereits getan haben in der Zeit vor seiner Machtergreifung. Ich erinnere an dein spektakuläres Attentat auf seine Person.“ Glaubte Laura zu wissen.

„Uns bleibt keine andere Wahl, wir werden von der herrschenden Elite dazu gezwungen. Es wird einige gezielte Aktionen geben. Damit werden wir einen Bekanntheitsgrad erlangen und erreichen, dass wir ernst genommen werden. Scharfe Reden halten kann jeder, aber wirklich kämpfen, ist ein anderes Paar Schuhe.“

Im Raum, der sich in der Zwischenzeit weiter gefüllt hatte und jetzt etwa 30 Personen zählte, bahnte sich Unmut seinen Weg. Nicht alle schienen den Enthusiasmus zu teilen.

„Und du glaubst, dass das der einzige Weg ist den wir einschlagen können?“

Wagte Catta die Stille zu durchbrechen.

„Nicht der Einzige, aber der im Moment Wichtigste. Wir werden nach Möglichkeit an mehren Fronten kämpfen.“

„Wie darf ich mir das vorstellen?“ Erkundigte sich Merit.

„Wir bilden offiziell eine neue politische Partei, das heißt natürlich nur solange das noch möglich ist.  Im Moment gibt es keine Verbote, für eine Weile ist Cassian noch gezwungen sich an demokratische Spielregeln zu halten. Deshalb müssen wir schnell handeln und in der Öffentlichkeit auftreten. Eine legale oppositionelle Kraft. Das wird uns auch helfen mehr Symphatisanten zu finden. Im Geheimen aber werden wir zeitgleich eine militärische  Untergrundorganisation bilden. Alles muss so diszipliniert wie nur möglich erfolgen.“

Wieder erfüllte Schweigen den Raum, alle waren sich wohl der Tragweite bewusst. Damit hatte ihnen Dagmar unmissverständlich den Weg gewiesen. Nun lag es bei jeder Einzelnen sich darauf einzulassen oder sich noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen.

„Ich hoffe ihr habt verstanden, um was es uns geht.“ Legte Julia nach.

„Keine von euch ist gezwungen sich uns anzuschließen. Wenn ihr Bedenken oder Angst habt, ist das keine Schande. Doch entscheidet schnell, wenn möglich noch heute. Wer von euch aussteigen will? Bitte! Dort ist die Tür!“

Julia wies mit dem Finger auf die Eingangstür.

„Kommen wir denn da lebendig raus?“ Meinte Cyndi. Das war natürlich ironisch gemeint und löste Heiterkeit bei den anderen aus.

„Das werden wir sehen! Nein! Spaß beiseite. Ihr habt nichts zu befürchten. Wir vertrauen auf eure Loyalität, auch wenn ihr nicht dabei seid.“

Gab Julia weiter zu verstehen.

  „Also gesetzt den Fall wir entscheiden uns mitzumachen. Wie kann ich mir das konkret vorstellen? Ich meine was kommt da auf uns zu? Ich gehörte ja bisher nicht zur Schwesternschaft und wohne derzeit auch noch außerhalb. Auf welche Veränderungen muss ich mich einstellen? Wie weit wird sich mein Leben verändern?“

Lautete Lindas Frage und sie hatte damit ausgesprochen was wohl viele im Moment bewegte.

„Es wird sich eine ganze Menge ändern. Wohnen werdet ihr vorläufig dort wo ihr jetzt seid. Später zieht ihr nacheinander alle mit zu uns auf den Hof. Platz haben wir genügend. Eure Ausbildung beginnt aber schon in den Folgetagen.“ Begann Dagmar aufzuklären.

„Und welche Ausbildung schwebt dir da vor?“ Hakte Catta nach.

„Theoretische wie praktische. Alles in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Theoriebildung, das heißt politische Schulung begleitet von Kampfausbildung.“

„Du meinst damit Geländeübungen, Schießtraining und so weiter?“ Erkundigte sich Linda zaghaft.

„Genau das! Wichtig ist, dass wir uns gut vorbereiten bevor wir in Aktion treten.“

„Na, dann wissen wir ja schon mal uns blüht!“ Seufzte Merit.

„Ach was, das hört sich schlimmer an als es in Wirklichkeit ist. Ich denke wir werden auch ne Menge Spaß dabeihaben.“ Versuchte Julia zu beschwichtigen.

„Wollen wir`s hoffen! Aber wenn ich mir alles genau überlege. Mit den ursprünglichen Zielen der Schwesternschaft hat das alles nur noch sehr wenig zu tun. Mich erinnert das alles eher an einen ganz anderen revolutionären Geheimbund der Vergangenheit.“ Erinnerte sich Laura.

Verhaltenes Schweigen. Keine wollte darauf eingehen, auch nicht Dagmar, aber Laura hatte den wunden Punkt angesprochen und alle konnten nachvollziehen, von welchen Bund sie gesprochen hatte.

Es waren Neidhardts Radikal-Revolutionäre nach denen sie sich ausrichteten.

Deren Struktur stand Pate und nicht jene der Töchter der Freiheit.

Die Ähnlichkeit war frappierend, wenn es natürlich auf der anderen Seite Unterschiede gab.

Neidhardt und seine Mitstreiter kämpften gegen ein noch halbwegs demokratisch aufgebautes Staatswesen, während Cassian ganz offen eine Diktatur im Sinne hatte.

Neidhardt rekrutierte ausschließlich Männer, weigerte sich vehement Frauen in seine Kampftruppe aufzunehmen. Hier war es genau umgedreht. Die Frage ob auch CiS-Männer**

In das Bündnis aufgenommen werden sollten blieb zunächst unbeantwortet. Die Entscheidung wurde auf ein folgendes Treffen vertagt.

Dagmar strebte ganz offen ein FLINT**-Projekt an. Ihr radikaler Queer-Feminismus lies ein anders Denken gar nicht zu.

Aber es ging kein Weg daran vorbei, dass sie ihren Kampf mit ähnlichen Methoden zu führen gedachten, wie es die Radikal-Revolutionäre vor noch gar nicht allzu langer Zeit getan hatten.

Ein erneuter Beweis für die Tatsache, dass Geschichte niemals linear verläuft, sondern stattdessen einen Kreislauf bildet von sich stetig wiederholenden Geschehnissen.

Unaufgearbeitete Geschichte neigt dazu sich zu wiederholen.      

 

In der Zwischenzeit hatte sich längst die Dunkelheit über die Landschaft gebreitet, doch der volle Mond schimmerte wie eine gerundete Flussperle, die sich in einem Netz aus Zweigen verfangen hatte und goss sein helles, Silber glänzendes Licht über die Landschaft, so dass die Teilnehmenden der Zusammenkunft nach deren Ende ihren Weg auch ohne Taschenlampen sicher zurückfanden.

Es war zwar schon Frühling, doch die Nächte waren nach wie vor empfindlich kühl.

Dagmar hüllte sich in ihren Wollumhang, den sie vorsorglich mitgenommen hatte und trat ins Freie. Julia folgte ihr.

„Na sehr ergiebig war die Zusammenkunft nicht gerade, aber ein Anfang ist gesetzt. Nun können wir nur hoffen, dass die Leute am Ball bleiben.“ Meinte Julia.

„Es ist zu früh für eine Prognose. Ich bin mir da keineswegs sicher. Es sollte mich nicht wundern, wenn in den Folgetagen eine Absage nach der anderen eintrifft und wir uns am Ende nur auf die Kerntruppe verlassen können. Gut die Hälfte ist ja gar nicht erst erschienen.“

Wiegelte Dagmar ab.

„Ach sie doch nicht immer gleich so schwarz. Ist eben keine leichte Entscheidung. Aller Anfang ist schwer. Du wirst sehen, nach einer gewissen Zeit werden sich uns immer mehr anschließen. Vor allem dann, nachdem die Propaganda ihre Wirkung entfaltet.“

„Ich hoffe du hast Recht damit! Ich hoffe es sehr!“

Unter dererlei Gesprächen erreichten sie das Hauptgebäude. Dort herrschte noch reger Betreib, alles zugunsten einer wirksamen Tarnung.

Dagmars Pessimismus war nicht von der Hand zu weisen. Sie redete zwar immer wieder von der großen Anhängerschaft, die sich angeblich in der Zwischenzeit  formiert hatte, doch sie wusste es besser. Hier tat sich ein weiterer Unterschied zu Neidhardt und seinen Mannen auf.  Zwar stellte auch seine Bewegung eine Minderheit dar, doch gelang es ihm im Laufe Jahre seinen Einfluss auszuweiten und in der Bevölkerung Fuß zu fassen.

Dagmars Anhängerschaft war nur ein versprengter Haufen der ganz von vorn beginnen musste.

Was ihr fehlte war vor allem Zeit. Zeit, die dem frühen Neidhardt in ausreichendem Maße zur Verfügung stand.

Alles musste im Zeitraffer geschehen. Eine gute und sichere Vorbereitung sah ganz anders aus. Hier nahm das Dilemma  seinen Anfang.

 

Schon zwei Tag später begannen die Übungen. Das stabile Hoch, dass seit etwa einer Woche das Wetter bestimmte machte es ihnen zumindest leicht, die Stimmung zu heben. Bei Sonnenschein und angenehm frühlingshaften Temperaturen fällt es leicht den Tag im Freien zu verbringen und sogar Spaß daran zu haben.

Die Sonne stand strahlend am blauen Himmel, als sich die Gruppe im Laufe des Vormittags auf den Weg in Richtung Wald begab.

Sie befanden sich inmitten eins Naturreservates. Hier trieb niemand mit Sägen Kosmetik. Die Bäume durften in Würde altern und sterben.

An den noch blattlosen Zweigen bildeten sich schon die ersten dicken Knospen und ließen die Strahlen der Sonne weitgehend ungehindert auf den Boden gleiten und erwärmte die Luft schon bald. Das Innere des Waldes war in dieser Jahreszeit gut sichtbar und daher wirkungsvoll zu erkunden. Ideale Bedingungen für ihr Vorhaben.

Nach einer Weile hatten sie eine kleine Lichtung erreicht.

Dagmar setzte ihren Rucksack ab und stemmte ihre Fäuste gegen die Hüfte.

„Also, ich hoffe ihr habt euch ausreichend mit Proviant und Wasser eingedeckt. Wir machen eine kurze Rast, nutzt sie gut, dann danach sind eure Kräfte gefragt. Wir werden den ganzen Tag hier im Freien verbringen. Ihr seid in dieser Zeit ganz auf euch gestellt. So könnte es sich zum Beispiel abspielen, wenn wir nach einer erfolgten Aktion von den Sicherheitskräften aufgespürt werden und uns verstecken müssen.“

„Mehr nicht? Hmm, das ist ja nicht sehr schwer. Kommt einem Spaziergang gleich, würde ich sagen.“ Glaubte Catta zu wissen.

„Ich würde mich nicht zu früh freuen, meine Liebe. Ihr werdet ständig auf den Beinen sein und müsst euch bewegen, euch im Unterholz verstecken, die Umgebung erkunden und so weiter und so fort. Am Anfang mag das noch ganz lustig sein. Doch wenn ihr erst mal ein paar Stunden permanent in Bewegung seid, wird euch das furchtbar stauchen, davon bin ich überzeugt. Ihr werdet auch einige Überraschungen erleben. Seit also stets gewappnet.“

Nach etwa einer viertel Stunde begann sich die Gemeinschaft laut juchzend in alle Winde zu zerstreuen.

Das Waldgebiet ersteckte sich über viele Kilometer bis zum Horizont. Es bestand die Gefahr sich zu verlaufen, wenn man sich nicht genug auskannte.

Dagmar wartete noch eine Weile bis auch die letzte aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, bevor auch sie sich in die Büsche schlug.   

Sie hatte es nicht eilig, schlenderte eher als dass sie wanderte. Sie hatte weit reichende Praxis was den Geländekampf betraf und war den anderen dadurch im Vorteil

Es handelte sich bei denen vor allem um die Neulinge, die noch so gut wie keine Erfahrung in Kampfeinsätzen hatten.

Dagmar bewegte sich weiter auf das Innere des Waldes zu und nahm wieder Kurs auf das Wasserrad. Die Rufe der andern wurden immer leiser, bis sie schließlich ganz verstummten.

Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, was sie immer wieder zu diesem Ort führte.

Eine geheime Kraft, würden Elena oder Colette sagen. Sie selbst glaubte nicht an sowas, oder etwa doch?

Seit Colette, Elena und auch die anderen des Inneren Kreis sich mit solchen Dingen beschäftigten, lies auch Dagmar die Neugier nicht mehr los. Sie hatte sich grundlegend mit der Historie beschäftigt und unterstützte die Theorie von der Existenz eines frühgeschichtlichen Anazonenstaates. Sie konnte sich in allen Aussagen wiederfinden. Soweit so gut, aber sein Bewusstsein so zu schulen, dass eine Zeitreise in diese Mythologische Vergangenheit gelingen konnte, ob während des Nachtschlafes oder auch willentlich herbeigeführt, wollte nicht so recht in ihrem logisch-rationalen Verstand Fuß fassen.

Aber es musste etwas dran sein. Die konnten sich das alles doch nicht einfach nur ausgedacht haben?

Somit startete sie immer wieder Versuche ihr Bewusstsein in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Das Rad wogte langsam und gleichmäßig in dem kleinen Bach und beförderte seine nasse Fracht im immerwährenden Rhythmus nach oben und wieder in die gegensätzliche Richtung.

Betrachtete man diesen Vorgang in voller Konzentration, so konnte der Geist durchaus in eine meditative Stimmung gleiten.

Dagmar nahm auf einer alten Holzbank Platz, die sich genau gegenüber befand. Sie lauschte den Vögeln, die ihre morgendlichen Grüße an den neuen Tag zwitscherten, danach kramte sie  ihren Tabakbeutel hervor und begann sich wieder einen Joint zu drehen. Sie verband damit die Hoffnung sicherer den erhofften Schwebezustand zu erreichen.

Mehrmals inhalierte sie stark und langsam begannen sich die Konturen ihrer Umwelt zu verändern.

Nachdem sie aufgeraucht hatte blickte sie wieder wie gebannt auf das Rad, doch der erwünschte Effekt wollte sich wohl auch heute nicht einstellen.

Sie war einfach zu unkonzentriert. In bestimmten Abständen drehte sie ihren Kopf in verschiedene Richtungen, um sicherzustellen, dass sie niemand beobachtete.

Die rationale Dagmar auf dem Weg nach Avalon? Das wäre peinlich.

Sie ballte die Fäuste und schlug sich auf die Oberschenkel.

„Verdammt! Ich schaffe es nicht! Aber warum? Ich bin nicht weniger begabt als Elena. Nein, ich bin ihr überlegen. Elena ist nicht mehr da, womöglich ist sie tatsächlich tot. Ich bin ihre Nachfolgerin. Nur ich bin dazu imstande ihr Werk fortzusetzen.“

Die innere Verkrampfung verstärkte sich nur noch umso mehr. Aber gerade hier lag ihr wesentlicher Fehler. Sie war nicht imstande loszulassen. Zu sehr wurde sie von der Aktion in Anspruch genommen, als dass sie sich hätte fallen lassen können.  Sie hatte stets eine unerschütterliche Selbstsicherheit besessen, aber eine Elena war sie eben doch nicht.

So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihr nicht das Wasser reichen.

Schmerzhaft drang diese Erkenntnis in ihr Bewusstsein.

Schließlich gab sie resigniert auf, lehnte sich zurück blickte zum Himmel und schaute den dahinziehenden Wolken nach, atmete dreimal tief durch und wollte sich gerade erheben.

Plötzlich begann ihre Seele in einem nebelhaften Strudel zu versinken.

Eine wachsende Kälte legte sich auf ihre Brust, ihr Wille, ihr ansonsten so unbändiger Wille, war auf einmal so unbeweglich wie ein Fels.

Sie rang nach Atem, dass gelang ihr aber nur unter Aufbringung aller Kraftreserven.

Es kam ihr so vor als verlöre sie auf einmal jegliches Zeitgefühl.

Ihr Geist begann sich langsam aber stetig von ihrem Körper loszulösen und schwebte einem unbekannten Ziel entgegen.

Vor ihr erstreckte sich ein weiter, unendlicher Ozean in dessen Fluten sie versank. Das Rauschen in ihren Ohren wurde immer heftiger, bis es plötzlich verstummte.

Sie befand sich in jener frühzeitlichen Siedlung wieder, über die die anderen immer in den glühensten Farben geschwärmt hatten.

Sie hatte eine konkrete Gestalt angenommen. Eine große Kriegerin mit kräftigen Muskeln, die sich auf die vor ihr liegenden Gebäude zubewegte, deren Mauern in das Gold der untergehenden Sonne getaucht waren.

Sie machte die Feststellung dass sie nicht allein war. In ihrer Begleitung befanden sich etwa ein halbes Dutzend Kriegerinnen in markanter Aufmachung.

Sie erklommen die Leitern an der Außenmauer und begaben sich scharfen Schrittes über den Dächern ihrem Ziel entgegen.

„Aradia! Aradia bist du zu Hause?“ Rief Alfura durch die halb geöffnete Dachluke.

„Ich bin hier! Was willst du Alfura?“ Klang es nach einer Weile aus der Dunkelheit nach oben.

„Mit dir reden! Es ist dringend!“ Alfura beugte ihren Kopf nach unten, um in den großen Raum blicken zu können.

„Also gut! Komm runter! Du allein! Deine Begleiterinnen bleiben wo sie sind!“ Lautete Aradias deutliche Weisung.

„Ihr habt es gehört! Wartet hier auf mich! Offensichtlich fürchtet sich die Königin vor euch.“

Die sechs Kriegerinnen ließen sich auf dem Dach nieder und harrten der Dinge, die im Laufe der Unterredung noch geschehen konnten.

Alfura stieg die Stufen der Leiter hinab. Unten angekommen schritt ihr Aradia entgegen.

und nahm Stellung an.  Ihre Blicke kreuzten sich. Alfuras Augen waren zwei Schlitze, aus denen Aradia die kalte Wut entgegenblickte. Das rot-braue Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern.

Eigentlich eine sehr schöne Frau, doch der Hass hatte sich in ihre Seele gefressen, so dass ihre Aura fast nur noch negativ auf andere wirkte.

Von hinten trat Kasuba an Aradia, postierte sich neben ihr uns umfasste instinktiv mit der rechten Hand den Dolch an ihrem Gürtel.

`Du bist nicht allein, meine Königin, ich bin da, ich werde an deiner Seite stehen und mit dir kämpfen, wenn es von Nöten sein sollte. `

Signalisierte sie Aradia in Gedanken. Seit Inannas Tod lebte Kasuba nun mit Aradia zusammen. Sie waren inzwischen ein Paar geworden, bereit den kurzen Lebensabschnitt der ihnen noch vergönnt war, voll auszukosten. Ihr Leben gestaltete sich unkompliziert und direkt. Sie lebten jeden Tag in dem Bewusstsein, das es ihr letzter sein könnte.

„Also Alfura was willst du? Ich höre!“

„Inanna ist tot! Die große Königin ist zu den Sternen aufgefahren und blickt zu uns herab. Ob sie dabei Freude empfindet? Ich glaube nicht!“

„Unsere Königin hat dir eine Frage gestellt, sie erwartet eine klare Antwort und kein Herumreden. Also sag was du willst oder geh wieder!“ Entgegnete Kasuba.

„Oh, die Königin braucht jetzt schon eine Fürsprecherin, wie interessant! Aber du hast Recht, ich will zur Sache kommen. Die feindlichen Heere haben schon lange begonnen sich zu sammeln. Sie rüsten auf und es werden immer mehr. Ich habe sie gesehen, jenseits des großen Flusses.“

„Du erzählst mir nichts Neues. Ich bin im Bilde. Ich habe mich erst gestern davon überzeugen können.“ Brach ihr Aradia das Wort ab.

„Dann frage ich dich, warum wir nicht kämpfen? Weshalb verharren die Kriegerinnen hier im Nichtstun? Meine Gefolgschaft und ich sind der Ansicht, dass es Zeit zum Kämpfen ist. Wir sollten nicht noch länger warten.“ Wollte Alfura wissen. Obwohl sie leise sprach, lauerte eine trockene Wut hinter ihren Worten.

„Hast du es so eilig? So eilig mit dem Sterben? Wenn wir sie jetzt angreifen ist das unser Untergang. Als erfahrene Kriegerin sollte dir das bewusst sein. Wir sind seit ein paar Tagen von den anderen Siedlungen abgeschnitten. Die dortigen Kriegerinnen sind auf dem Weg hierher. Aber solange sie noch nicht eingetroffen sind macht es keinen Sinn einen Ausbruch zu riskieren. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen noch eine Weile ausharren.“

Doch Alfura wollte sich damit nicht zufrieden geben. Eine steile Zornesfalte trat auf ihre Stirn.

„Das sind doch Ausreden. Wir sind durchaus in der Lage den Kampf jetzt schon zu beginnen. Als Überraschungsangriff. Angreifen, zuschlagen, zurückziehen, so wie wir es immer getan haben, nach Amazonenart.“

Du willst nicht kämpfen, du kannst es nicht mehr. Du bist nicht mehr in der Lage uns zu führen. Oder bist du einfach nur feige?“

Kasuba zog den Dolch und hielt ihn Alfura bedrohlich nahe vors Gesicht.

„Niemand nennt meine Königin Feigling. Schon gar nicht in diesem Haus. Du bist Gast hier.

Nimm das sofort zurück oder verschwinde auf der Stelle.“

Die Situation drohte zu eskalieren.

„Eines unserer Prinzipien scheinst du vergessen Kasuba. Keine Schwester, darf einer anderen gegenüber eine scharfe Waffe ziehen. Ehernes Gesetzt. Inanna hat es hochgehalten. Bei euch scheint das nicht mehr zu gelten?“ Die Worte auf Alfuras Zunge waren wie stechende Wespen.

„Ich habe es nicht vergessen! Du hast es nötig uns Verfehlungen vorzuhalten, dabei bist es doch du, die stets und ständig unsere Gesetze bricht. Keine Schwester darf allein, oder im Verbund mit anderen auf eigene Faust handeln. Das scheinst du völlig außer Acht zu lassen, hielt ihr nun Kasuba entgegen.

„Ich dulde keinen Streit in meinem Haus. Schweigt! Schweigt alle beide! Also, du bist hierher gekommen um mich herauszufordern. Das ist der wahre Grund. Das tust du andauernd. Ich betone es aber noch einmal. Ich werde mich nicht darauf einlassen und das ist mein letztes Wort. Nenne mich Feigling, es ist mir gleich. Wir stehen am Abgrund, das ist eine Tatsache, die wir anerkennen müssen. Die Göttin hat uns offensichtlich verlassen, unaufhörlich schreiten wir dem Abgrund entgegen. Ich sehe keinen Grund unseren Untergang noch zu beschleunigen. Wenn wir unsere Kräfte spalten tun wir aber gerade das.“

Versuchte Aradia nochmal zu ermahnen. Doch Alfuras Sinn war verstockt. Sie konnte und wollte diese Tatsache nicht akzeptieren. Bitter schmeckte der Kelch dieser Erkenntnis. Hier prallten unüberbrückbare Gegensätze aufeinander.

„Untergang? Was soll das Gerede vom nahenden Untergang? Wir sind noch immer stark und können die Feinde bezwingen. Wenn wir nur wollen. Aber darin liegt das Problem. Du willst nicht mehr. Du hast deinen Lebenssinn verloren, Aradia. Der ist mit Leylas und Innanas Tod im Schattenreich versunken. Ich verstehe deinen Schmerz. Du hast keine Kraft mehr weiterzukämpfen. Gut, wenn dem so ist, solltest du deinen Platz als Königin räumen und dich an einen sicheren Ort begeben. Jede Schwester hätte Verständnis für eine solche Entscheidung. Es sollte dann umgehend eine neue Königin gewählt werden, oder zwei, so wie es unser Gesetzt vorschreibt.“

Alfuras Vorschlag war zu tiefst verletzend, auch wenn er durchaus gut gemeint war. Ihre Worte waren scharf und hingen bleischwer in der Luft.

„Ich denke es ist nicht schwer zu erraten, wie die zukünftige Königin heißen soll. Alfura nehme ich mal an.“ Durchschaute Kasuba diesen Vorschlag gleich.

„Zum Beispiel! Ja, ich hätte die Fähigkeit. Ich habe es immer wieder unter Beweis gestellt. Aber es gibt außer mir noch viele andere, die ebenfalls mit Geschicklichkeit, Kraft und Verstand regieren könnten.“

„Und an wen hättest du da gedacht?“ Lautete Aradias Frage.

Nun sah sich Alfura in Bedrängnis. Sie konnte aber der Frage nicht ausweichen.

„Ajana wäre geeignet, ebenso Daraya, selbst Ayse käme in Frage…“

„Ach rede doch keinen Unsinn. Alles Schwestern, die Aradia treu ergeben sind. Die würde sich eher in ihr Schwert stürzen, als die Königin zu verraten. Das sollte dir eigentlich bewusst sein. Nein, dieser Vorschlag ist für unsere Königin unannehmbar.“ Lehnte Kasuba erneut mit aller Schärfe ab.

„Vielleich lässt du die Königin mal selbst das Wort ergreifen!“

„Das will ich gerne Tun. Du willst dass ich zur Verräterin an meinen Schwestern werde und feige das Feld räume, damit du womöglich allein den Ruhm für dich einstreichen kannst.

Es kommt nicht in Frage. Ich bleibe auf meinem Platz. Kämpfen und überleben, oder kämpfen und untergehen. Etwas anderes gibt es für mich nicht. Tue was du willst, aber tue es bald, solange du die Kraft dafür noch aufbringen kannst. Ich habe versucht mit dir zu reden, aber es macht keinen Sinn. Ich werde dich nicht aufhalten. Am Ende ist es für uns alle eh zu spät.“

Aradias Wort klangen wie ein Schlusswort und so waren sie wohl auch gemeint. Das Tischtuch war zerschnitten. Der Bruch offensichtlich.

„Gut, dann trennen sich unsere Wege. Ich werde die Siedlung umgehend verlassen, ich und meine Gefolgsleute.“

Ohne weitere Worte wandte sich Alfura um und stieg die Leiter nach oben.

„Der Segen der Göttin sei bei dir und allen anderen, auch wenn ich es nicht gutheiße was du tust.“ Doch Aradias Worte verhallten ungehört, denn Alfura war bereits außer Reichweite.

Eine wachsende Kälte legte sich auf Aradias Brust. Ihr Wille, ihr unbändiger Wille war inzwischen unbeweglich wie ein Fels.

Niedergeschlagen lies sie sich auf einem geschnitzten Baumstamm nieder, der als Bank diente

Alfuras Gefährtinnen warteten schon voller Ungeduld auf die Rückkehr ihrer Anführerin.

„Und was hat sie gesagt? Ist die Königin zum Kampf entschlossen?“ wollte Coventa wissen.

Die schlanke aber muskulöse Kriegerin, die sich ihr Haar bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte des Kopfes kahlrasiert hatte, war seit Kurzen Alfuras rechte Hand.

„Das könnt ihr euch wohl denken. Nichts! Sie bleibt weiter dabei. Es wird keinen Ausfall geben.“

„Sie hat abgelehnt?“

„Was dachtest du denn. Hattest du im ernst etwas anders erwartet. Das ist nicht mehr jene Aradia, die wir einst so liebten und achteten. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Mit ihr können wir nicht rechnen.“ Erboste sich Alfura.

„Ach, und was sollen wir jetzt tun?“ erkundigte sich Tiriki. Die noch sehr junge, etwas schlaksig wirkende Frau mit dem dicken blonden Zopf, hatte sich erst kürzlich der Gruppe angeschlossen und hoffte inständig das, es nicht zu einer Spaltung kam.

„Dann sind wir auf uns gestellt. So wie wir es von Anfang an fürchteten.“ Glaubte Coventa zu wissen.

„Genau so ist es! Wir werden allein kämpfen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Es kommt drauf an wie viele Schwestern wir noch überzeugen können sich uns anzuschließen.

Ich denke es gibt eine Menge die ähnlich denken wie wir.“

„Sollen gleich aufbrechen, oder noch eine Weile hier warten?“ Sprach Tiriki mit Angst in der Stimme

„Los kommt weg hier! Wir machen uns auf in die Waldsiedlung. Dort werden wir warten und noch mal genau über alles beraten.“ Befahl Alfura und die anderen folgten ihr über die Dächer, während sich die Sonne am Horizont in ein goldgelbes Glühen auflöste.

Durch die Dachluke fiel das letzte Tageslicht in Aradias kargen Wohnraum.

In ihren Augen glänzten die Tränen der Verzweiflung.

„Mach dir keine Vorwürfe. Alfura hat sich entschieden. Sie hat es so gewollt. Dich trifft keine Schuld, wenn sie scheitern. Und das werden sie. Es besteht nicht die geringste Aussicht auf Erfolg.“ Versuchte Kasuba die Königin zu trösten.

„Alfura ja, aber die anderen stehen unter ihren Einfluss. Da sind unter anderen die ganz Jungen dabei, noch halbe Kinder. Mädchen eben, unerfahren aber voller Schwärmerei.

Für sie bin ich sehr wohl verantwortlich.

Alfula hat Recht, ich tauge nicht mehr zur Königin. Inanna`s Tod hat mich bis ins Mark getroffen. Ohne ihren Rat bin ich nur eine leere Hülle ohne Seele.“

„Das darfst du dir nicht einreden. Du musst jetzt stark sein und einen kühlen Kopf behalten, das ist das Wichtigste.“

Kasuba nahm neben Aradias Platz, legte ihren Arm um sie und zog sie zu sich. Die Königin übergab sich ganz der Fürsorge der  neuen Gefährtin.

 

Währenddessen jagten die Abtrünnigen mit ihren Pferden auf und davon, auf ihren Lippen  furchterregendes Kriegsgeschrei. Sie schienen wie von Sinnen. Niemand vermochte sie noch aufzuhalten. Die Gefahr, der sie entgegeneilten, wischten sie einfach beiseite. Das Ende des Amazonenstaates war damit nur noch eine Frage der Zeit.

 

Dagmar rutsche von der Bank auf der sie saß und landete unsanft auf dem Boden.

„Autsch! Verdammt!“

Langsam drangen die schemenhaften Umrisse der realen Welt wieder in ihr Bewusstsein.

Ihr war schwindelig und auch etwas übel. Sie kniff mehrmals die Augen zusammen und atmete tief durch.

Erst jetzt begann es bei ihr zu dämmern. Sie war tatsächlich auf den Flügeln der Phantasie in eine andere Dimension gereist.

„Ich war dort! Ich habe es geschafft. Ich war im legendären Amazonenreich!“

Sie versuchte sich zu erinnern, was jetzt zu tun sei. Absolute Konzentration! Die Erinnerungen würden schon bald in einen undurchdringlichen Nebel münden.

„Also, was habe ich gesehen?“

Schritt für Schritt lies sie die Bilder an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Langsam festigte sich der Blick und sie erinnerte sich, bruchstückhaft zwar, aber das Wesentliche glaubte sie eingefangen zu haben.

„Ich muss diese Alfura gewesen sein. Sie hat mit Aradia gestritten, so wie ich des Öfteren mit Elena. Aradia war geschwächt. Sie konnte oder wollte nicht mehr kämpfen. Alfura hat die Initiative ergriffen, Ja, richtig. Sie wird den Kampf weiterführen.“

Dagmar versuchte sich aufzurichten und taumelte dabei. So sehr dass sie sich zunächst wieder setzen musste.

„Ganz ruhig! Jetzt nur nicht den Kopf verlieren! Ich bin zurück! Die Realität hat mich wieder!“

Sie lehnte sich zurück und lies den Kopf nach hinten fallen. Kein Laut war zu hören, bis auf das Rauschen des Windes und das Gurgeln des vorbeifließenden Wassers.

Noch einen Augenblick verweilen. Sie hatte es nicht eilig, die anderen würden gut ohne sie zurechtkommen. Julia hatte das Kommando des Tages.

Wieder versuchte sie aufzustehen und diesmal gelang es ihr sogar. Langsam machte sie ich auf den Weg.

„Das ist ein Ding! Es ist mir gelungen! Es ist mir tatsächlich gelungen!“

Dagmar glaubte den Schlüssel zum Ziel gefunden. Doch was die Deutung des Traumes betraf schien sie nicht sonderlich begabt. Der Traum brach im entscheidenden Moment ab. Alfuras Kriegerinnen waren ausgezogen. Doch wie ging danach es weiter? Sie rannten bzw ritten in ihr Verderben. Dagmar blendete das schlichtweg aus. Bewusst oder unbewusst?

Sie war in solchen Dingen nicht geschult und das war gefährlich.

 Prophetische Visionen in den Händen von Unerfahrenen, das kam einer scharfen Handgranate gleich, die man einem kleinen Kind zu spielen  in die Hände gibt.

 

Während Dagmars Zeitreise ging der bisher harmlose Spaziergang für die Neuanwärterinnen in eine harte Wirklichkeit über.

Plötzlich tauchten von allen Seiten Polizisten in Kampfmontur und mit gezogenen Pistolen vor ihnen auf und eröffneten die Jagd. Sie trieben die Unerfahrenen immer tiefer in den Wald.

„Stehenbleiben oder ich schieße.“ Die Worte drangen tief in Cattas Bewusstsein und verursachten eine Panik. Sie rannte wie um ihr Leben zwischen den Bäumen hindurch und holte sich an den entgegenschlagenden Ästen so manche Schramme.

Die Sekunden kamen ihr wie Stunden vor. Endlich gelang es ihr eine Wanderhütte zu erreichen, betrat diese und duckte sich dort ab. Doch nach einer kurzen Weile kam sie zu der Erkenntnis, dass dies wohl ein ausgesprochen dummer Einfall war, es war damit zu rechnen, dass sie hier wohl am ehesten vermutet wurde. Sie rannte nach draußen und stieß dort mit

Cyndi zusammen, die gerade des Weges kam. Auch sie war schon deutlich außer Atem.

„Gott sei Dank!  Ich dachte ich bin einsam und allein auf der Flur. Hasst du die Polizisten gesehen? Wo komme die denn plötzlich alle her?“

„Keine Ahnung? Die müssen Wind bekommen haben von unserer Gruppe. Verdammte Scheiße. Hätte ich mich nur nicht darauf eingelassen. Das habe ich nun von meiner Neugier.“

Erwiderte Catta hektisch.

„Ich glaube wir müssen hier weg. Die scheinen ganz in der Nähe zu sein, wenn ich mich nicht irre.“ Schlug Cyndi vor, dabei ständig nervös nach allen Seiten blickend.

„Du irrst dich mit Sicherheit nicht, los komm!“

Die beiden eilten davon.

Es ging einen Abhang hinunter, dabei wären sie beinahe ins Rutschen gekommen.

Plötzlich stoppten beide. Eine fast unnatürliche Stille legte sich über das Land. Beide hielten vor Angst den Atem an. Sie lauschten auf das Rauschen des Windes in den zusammenschlagenden Zweigen, während die Sonne ihre langsame Bahn am blauen Himmel zog, der sich nur mit ein paar Schönwetterwolken schmückte.

„Ich glaube die sind weg! Haben uns wohl verloren?“ Glaubte Catta zu wissen.

„Na hoffen wir`s! Ich habe keine Lust die nächsten Tage in einer Polizeiwache zu verbringen, hätte mir gerade noch gefehlt.“

Langsam setzten sie ihren Weg fort. Unter ihren Füßen knackten abgefallene Zweige, so dass sie immer wieder aufschreckten.

Hoch oben ließ sich ein Adler im Wind treiben und stieß immer wieder seine gurrenden Rufe aus.

„Hör mal, ich glaube da kommt jemand!“ Catta hielt Cyndi am Ärmel fest.

Angsterfüllt kauerten sie sich hinter eine Hecke, wagte aus Furcht kaum zu atmen. Plötzlich stand auf einmal Merit vor ihnen, kaum weniger erschreckt als die beiden.

„Du bist das also. Mensch hast du uns einen Schrecken eingejagt. Ich denke mal auch du hast die Polizisten auf den Fersen?“ erkundigte sich Cyndi.

„Bin denen gerade noch entkommen. Habt ihr eine Erklärung wo die auf einmal alle herkommen?“ Gab die Angesprochenen zur Antwort.

„Nicht die Bohne! Ich fürchte, die sind uns schon seid geraumer Zeit auf der Schliche. Das musste ja so kommen. Die haben die Gemeinschaft auf dem Kieker sage ich euch. Wenn wir jetzt zum Seminarhaus zurückgehen, warten die bereits auf uns und dann klicken die Handschellen.“ Glaubte Catta zu wissen.

„Na mal doch nicht gleich den Teufel an die Wand. Irgendetwas ist faul an der Sache. Wenn ich nur wüsste was: Kommt lasst uns gehen.“ Erwiderte Merit und die andern folgten bereitwillig und widerspruchslos.

Lange schritten sie wortlos nebeneinander her. Der Wald wurde lichter und lichter, bis er sich ganz in der Weite verlor. Sie fanden sich auf einer großen ausladenden Wiese wieder.

„Wo sind wir hier?“ Wollte Merit wissen. „Kennt sich eine von euch in der Gegend aus? Ich komme von weit her, mir ist die Landschaft  völlig unbekannt.“

„Also, ehrlich gesagt! Ich war hier ebenfalls noch nie!“ Gestand Catta.

„Na prima! Haben wir uns auch noch verlaufen. Hat uns gerade noch gefehlt. Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass keine von euch einen Kompass mitgenommen hat?“ Seufzte Cyndi.

Die beiden andern schüttelten nur verlegen ihre Köpfe.

„Klar! War wohl auch nicht anders zu erwarten.“

„Und, was sollen wir jetzt machen?“ Stotterte Catta.

„Na weitergehen hat wohl keinen Zweck. Wir sollten einfach umkehren. Ist doch wohl die einzig gangbare Lösung.“ Schlug Merit vor.

„Und laufen dabei den Bullen in die Hände!“ Wehrte Catta ab.

„Ach was! Da müssen wir eben genau aufpassen. Seit doch nicht so ängstlich. Ihr habt wohl noch nie mit denen zu tun gehabt? Ich schon! Kenne mich da bestens aus.“ Gab Merit an.

„Na los, dann lass uns gehen. Ich hab auch nicht vor hier Wurzeln zu schlagen.“ Antwortete Cyndi. Im Anschluss begaben sich alle wieder in den Wald. Doch sie kamen nicht weit.

Sie waren kaum zwei Minuten gelaufen als sie um eine Ecke bogen und den Beamten genau in die Arme liefen.

„Hände hoch und keinen Schritt weiter.“ Hörten sie die Stimme.

„Haben wir euch als doch erwischt! Mitkommen, auf der Stelle.“ Lautete der Befehl. Vor ihnen hatten sich drei weibliche Polizisten in Kampfmontur postiert. Die Gesichter durch Sturmhauben unkenntlich gemacht und  die gezogenen Pistolen bedrohlich nach vorn gerichtet.

„ Na vielen dank Merit, für deine sichere Führung. Und was jetzt? Ich denke du kennst dich in solchen Situationen bestens aus?“ Schnaubte Catta vor Wut.

„Entschuldigt! Irren ist menschlich würde ich sagen!“ Versuchte sie sich kleinlaut herauszureden.

„Mund halten! Keine Zicken! Los Abmarsch aber sofort!“

Dann setzte sich der Tross in Bewegung.

„Ist euch das auch aufgefallen?“ Flüsterte Cyndi auf dem Weg.

„Was aufgefallen?“ Wollte Catta wissen.

„Ich kann mir nicht helfen, aber  ich glaube die Stimme der einen zu kennen. So als hätte ich sie erst kürzlich vernommen. Wenn ich nur wüsste in welchem Zusammenhang:“

„Ruhe! Hier wird nicht geredet!“ Hallte es hinter ihnen.

„Jaja, schon gut! Keine Panik!“

Die Wipfel über ihnen begannen sich rauschend zu wiegen. Es schien, als gerate der Wald in Zorn über diese Eindringlinge.

Die Umgebung schien auf einmal all ihren Reiz verloren. Nun war es eben kein Spiel mehr, sondern harte Realität. Dagmar hatte sie vorgewarnt. Aber dass es so schnell damit ernst werden konnte, damit hatte wohl keine gerechnet.

Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, die den drei wie eine halbe Ewigkeit erschien, erreichten sie eine alte Blockhütte. Davor hatten sich noch mehr Uniformierte versammelt.

Sie hielten kurz an, dann wurde ihnen befohlen in die Hütte einzutreten.

Drinnen waren bereits alle anderen versammelt, die sich am Vormittag auf den Weg gemacht hatten.

„Hey, willkommen im Club. Na, hat es euch also auch erwischt!“ Wurden die Neuankömmlinge von Linda begrüßt.

„Wartet ihr schon länger hier?“ Forschte Merit nach.

„Nee, sind auch erst vor etwa 10 min eingetroffen. War wohl ein klarer Schuss in den Ofen würde ich sagen!“

„Das kann man wohl sagen! Ich blöde Kuh, wie konnte ich mich nur auf sowas einlassen. Ich muss vollkommen den Verstand verloren haben.“ Klagte sich Linda selber an.

„Ich würde sagen, das haben wir alle. Naja, aus Schaden werden wir klug. Wenigstens etwas dazu gelernt.“ Stöhnte Catta.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.

„Los alle nach draußen kommen!“

„Na, wer könnt einer solchen freundlichen Einladung widerstehen?“

Wie die begossenen Pudel traten sie ins Freie.

Auf den Bäumen ringsum hatten sich ein paar Raben niedergelassen und krächzten um die Wette, ein Vorgang, der dem ohnehin schon gespannten Geschehen eine zusätzliche gespenstische Komponente verlieh.

„So, da seid ihr uns also in die Falle getappt. Aber es gehört sich so, dass wir uns bei euch erst mal vorstellen. Ihr sollt ja wissen mit wem ihr es zu tun habt.“ Sprach die Anführerin.

Dann zog sie ihre Sturmhaube vom Kopf.

Vor ihnen stand Julia und auf ein Zeichen enthüllten sich auch die Umstehenden. Die ganze WG hatte sich hier versammelt.

„Also wenn das sein Scherz sein soll. Ich finde das überhaupt nicht komisch.“ Beschwerte sich Linda lautstark.

Die anderen  signalisierten Kopf nickend ihre Zustimmung.

„Wir auch nicht. Da kannst du sicher sein. Wir auch nicht.“ Antwortet Julia und warf die Pistole, die sich noch in der Hand hielt auf den Boden.

„Könnt ihr uns mal erklären was dass alles soll?“ Forderte Catta auf.

„Klar! Das will ich gerne tun.“ Setzte Julia an.

„All das soll euch vor Augen führen wie gefährlich unser Leben in Zukunft wird. Mit solchen Dingen müsst ihr stets und ständig rechnen. Dabei ist das was wir heute gespielt haben noch harmlos im Gegensatz zudem was die Realität so mit sich bringt. Hinter jeder Ecke kann die Gefahr lauern. Wir wollten euch damit prüfen und feststellen ob ihr für solcherlei Aufgaben geeignet oder überfordert seid.“

„Und was ist deine Meinung, Julia? Sind wir geeignet oder nicht?“ Lautete Merits Frage.

„Hmm, ihr habt euch alle ein wenig dämlich angestellt. Aber naja für`s erste soll es uns genügen. Immerhin bedurfte es einer gewissen Zeit um eurer Habhaft zu werden, das ist schon mal ein Pluspunkt, würde ich sagen.“

„Na viele Dank auch! Also mir genügt das erst einmal!“ Zeterte Catta.

„Das heißt also mit anderen Worten, dass du gedenkst dich aus unserer Runde zu verabschieden?“ Mutmaßte Laura.

„Das wollte ich damit nicht sagen. Ich möchte schon bleiben. Ich meine nur, wir sollten solche Spielchen in Zukunft lassen und zum Wesentlichen kommen.“

„Sei ohne Sorge, das werden wir. Da kannst du Gift drauf nehmen. Eure richtige Ausbildung beginnt demnächst. Ich gehe mal davon aus, dass ihr euch dann nach solchen Spielchen sehen werdet.“ Julias Wort klangen bedrohlich. Doch sie tat recht damit, die Neulinge auf diese Weise zu schockieren.  Sie waren im Begriff hauchdünnes Eis zu betreten, mit der Gefahr stets und ständig einzubrechen.

„Ich sage es euch heute zum letzten Mal. Wer von euch die Hosen voll hat, letzte Möglichkeit sich zu verdrücken. Stimmt ihr hingegen heute zu ist eure Entscheidung endgültig. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.“

Alle Neulinge blickten sich eine Weile stumm und verlegen an. Doch keine wollte den anderen gegenüber ihre Schwäche offenbaren. Als Feigling vor den anderen zu erscheinen kam nicht in Frage.

„Ich bleibe! Wäre ja noch schöner, wenn ihr euren Spaß ohne mich hättet.“ Meldete sich Merit als erste.

„Ich auch! Wenn schon denn schon!“ Schloss sich Linda gleich an. Auch die anderen stimmten in den Reigen der Bekundungen ein. Catta war die letzte und tänzelte nervös auf den Füßen hin und her.

„Und was ist mit dir, meine Süße?“ Forderte Laura eine Entscheidung.

„Also, ich meine, ich habe, ich wollte… sagen dass ich…  Ach Quatsch, natürlich bin ich auch dabei. Ich werde euch nicht im Stich lassen.“

„Na dann ist doch alles klar! Somit ist es endgültig! Ihr gehört zu uns. Das muss gefeiert werden. Heute Abend, feierlicher Schwur am Lagerfeuer. Was haltet ihr davon.“ Gab Julia bekannt.

„Toll! Finde ich richtig cool! Da sind wir natürlich mit dabei!“ Begeisterte sich Merit.

„Sagt mal, wo ist denn Dagmar eigentlich? Fällt mir jetzt erst auf, dass sie nicht hier ist.“

Erinnerte sich Laura.

„Sie wollte heute Morgen allein sein und hat mir die Aufgabe übertragen. Ist nicht außergewöhnlich. Wir wollen doch keine Hierarchien aufbauen. Sie wird schon erscheinen, wenn es ihr nötig erscheint.“ Erwiderte Julia.

„Also dann auf nach Hause. Ich denke ihr kennt den Weg zurück!“

Nach einer Weile zerstreute sich die Ansammlung in den Tiefen des Waldes.

Ein leichter Wind war aufgekommen und seufzte leise in den Ästen. Doch es sah nicht nach einem Wetterumschwung aus. Gute Bedingungen für die anstrengenden Tag die noch folgen sollten.

 

Unterdessen war Dagmar vor dem Seminarhaus angekommen. Noch immer eingehüllt in eine Woge der Erinnerung an das Geschehen von eben. Krampfhaft war sie bestrebt den Traum wach zu halten. Das Erlebte war ungeheuerlich. Colette und Elena hatten also nicht die Unwahrheit gesagt. Sie selbst konnte es bezeugen. Doch vor wem? Welcher Person konnte sie sich anvertrauen? Die Königin war nicht greifbar, zu der sie hätte gehen können.

Die neu gewählte Gemeinschaft hier konnte sie schwerlich ins Vertrauen ziehen.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf, nach dieser Devise hatte sie bisher gelebt, sie und jene, die sich um sie geschart hatten.

Ein Zwiespalt den es zu überwinden galt, doch auf welche Weise?

Plötzlich blieb sie stehen, es schien als habe sie ein Blitz getroffen.

„Klar! Ich bin wie Elena! Das ist die Antwort! Das ist positiv zu bewerten. Die neue Elena braucht solche Fähigkeiten, um die alte zu ersetzen. Nur damit kommen wir zum Ziel.“ Sprach sie zu sich selbst. Gleich im Anschluss wieder den Kopf nach allen Seiten drehend, um sicher zu gehen, dass nicht belauscht wurde.

Sie beschleunigte ihren Schritt, urplötzlich schien sie es sehr eilig zu haben.

Es war ihr wichtig noch vor den anderen am Ziel zu sein, denn sie bedurfte jetzt dringend der Ruhe und Zurückgezogenheit. Auf keinen Fall  wollte sie mit überflüssigen Fragen überschüttet werden.

Im Seminarhaus angekommen, eilte sie die Treppe hinauf und begab sich schnurstracks auf ihr Zimmer.

Sie stellte sich vor den großen Spiegel, der immer an der Wand lehnte und betrachtete sich intensiv.

„Ich trete an deine Stelle Elena. Du hast uns im Stich gelassen. Ich werde deinen Platz einnehmen. Mit den neu gewonnen Fähigkeiten bin ich dir ebenbürtig. Ich bin du, es gibt kein zurück mehr. Weder für dich noch für mich.“

 

Die Nacht kam. Der Vollmond stieg am Himmel auf und erhob sich hoch über die Bäume.

Er übergoss das Land mit seinem Licht und tauchte es in einen geisterhaften Schimmer.

Genau die Atmosphäre für das Ritual der Neuaufnahme.

Auf der kleinen Lichtung, etwa 200 m oberhalb des Seminarhauses hatten sie ein großes Feuer entfacht.

Die Flammen loderten gen Himmel und versprühten Funken in alle Richtungen.

Das Feuer war weitgehend sichtbar. Doch niemand würde Verdacht schöpfen. Bei einem Haus, dass auch als Schullandheim diente gehörte ein Beisammen sein am Lagerfeuer zum Standartrepertoire.

Man würde dort halbwüchsige Jugendliche vermuten und sich nicht weiter dafür interessieren.

Die militanten Schwestern die sich hier einfanden waren weitgehend sicher.

Auch im Frühling waren die Nächte noch zum Teil empfindlich kühl. Das Feuer wärmte zwar von vorn, doch im Rücken haftete sich die Kälte fest, so dass sich die meisten Wolldecken  mitgebracht hatten.

Den Ablauf des Rituales hatte Dagmar, wie nicht anders zu erwarten von der Schwesternschaft übernommen. Natürlich mit weitgehenden Änderungen, so dass es nach ihren Vorstellungen ablaufen konnte.

Es war Punkt 21 Uhr als die Neulinge herangeführt wurden. Allen waren die Augen verbunden, so dass sie ganz auf die Führung der Eingeweihten angewiesen waren.

Mit einem Ruck wurden sie von den Binden befreite und blinzelten in die helle Flamme

„Ihr habt euch entschieden unseren geheimen Bund beizutreten. Mit dieser Zeremonie werdet ihr verpflichtet. Noch ist Zeit umzukehren. Ich frage euch deshalb ein allerletztes Mal. Seit ihr auch tatsächlich willig euch unserem Bund freiwillig und ohne Zwang anzuschließen?“

Wurden sie von Dagmar im Empfang genommen.

„Ja!“ Tönte es gleichzeitig aus allen Kehlen.

„Gut! Damit habt ihr eure Bereitschaft erklärt! Nun gibt es für euch kein Zurück mehr. Wir sind eine eingeschworene Schwesternschaft. Eine für alle, alle für eine, so unser Prinzip.

Dieser Bund übersteigt alles was es an Bindungen bisher für euch gab. Sie ist ab diesem Zeitpunkt eure Familie.

Seit ihr bereit all unsere Gesetze zu befolgen, den Befehlen zu gehorchen und wenn nötig mit eurem Leben dafür einzutreten?“

Eine nach der anderen trat nach vorn, hob die rechte Hand und sprach „Ja!“

„Damit habt ihr euch unter Zeugen verpflichtet!  Doch um sicher zu gehen werde ihr alles mit euren Blut besiegeln!“

Jede einzelne trat nach vorn, nahm eine kleine Nadel und piekste sich in den Zeigefinge, so dass ein Tropfen Blut zum Vorschein kam. Dann spritzten sie einen kleinen Tropfen direkt in die Flamme.

„Wir sind von nun an Blutschwestern. So wie es die alten legendären Schwestern der Vorzeit waren. Wir sind verbunden für alle Zeit, bis das der Tod uns scheidet.“

Nun folgte der skurillste Teil der Zeremonie.

„Entkleidet euch!“ Folgte die Anordnung, der auch alle, wenn auch mit einiger Scham folge leisteten.

Splitternackt nahem sie Aufstellung im Kreis um die Flamme, hoben die Arme weit nach oben und sprachen den Text den sie in Windeseile auswendig gelernt hatten.

„Wir sind Kämpferinnen der Batalione der Freiheit. Unser ganzes Leben und Handeln stellen wir in den Dienst der Schwesternschaft. Wir entsagen jeglichem Privatleben. Alles was wir besitzen gehört von dieser Stunde an der Gemeinschaft. Wir verpflichten uns zur absoluten Verschwiegenheit und werden mit Außenstehenden nicht über unseren Bund sprechen. Der Tag an dem wir dieses Versprechen brechen, soll der letzte unseres Lebens sein.

Wir leben, siegen und sterben für den Kampf für eine gerechte Welt. Cassian ist unser Todfeind, er und alle die ihm zur Seite stehen. Wir werden sein Regime zu Fall bringen. Das ist der Sinn unseres Daseins.

Akratasien wird wieder leben und es wird nie mehr untergehen. Das wollen wir, wenn nötig mit unserem Blut bezeugen.“

Nun traten von hinten erfahreneren Schwestern an die Gruppe und suchten sich eine der Neuen aus. legten von hinten ihre Hände um deren Taillen und zogen sie zu sich.

Sie sollten für die Einführungszeit als deren persönliche Kümmerin dienen und ihnen in allen Belangen mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Dann drehten sie die neuen Schwestern um und verabreichten ihnen den fünffachen Schwesternkuss. 

Die nackten Körper begannen trotz der Hitze des Feuers zu bibbern, einige konnte man deutliche mit den Zähnen klappern hören.

Dagmar erhob sich, schritt zu den neuen, umarmte und küsste sie auf ihre Art, wobei sie sich viel Zeit lies, denn sie schien diesen sinnlichen Akt zu genießen.

Als sie damit fertig waren wurden sie auch von den übrigen Anwesenden begrüßt und willkommen geheißen.

Schließlich warfen die Kümmerinnen ihren neu anvertrauten Schützlingen warme Decken über, mummelten sie darin ein und wärmten sie mit ihren Körpern.

Als Abschluss der Zeremonie bekamen sie dann symbolisch ihre Kampfausrüstung überreicht.

Darin enthalten auch ihre Kampfanzüge in die sie von ihren Kümmerinnen eingekleidet wurden.

Zum guten Schluss übereichte Dagmar jeder von ihnen eine schwarze Baskenmütze***, auf der ein schwarz-rosa-grüner Anstecker befestig war.

Die militanten Schwestern hatten der akratasischen Farbe rosa-grün noch die schwarze hinzugefügt. Damit wollten sie ihre unverbrüchliche Treue zum Anarchismus bekunden.

Es folgte nun der gemütliche Teil des Abends. Es wurden Lieder gesungen und sogar getanzt.

Alle waren froher Dinge und es wurde bei dieser Gelegenheit auch Alkohol getrunken, während der Mond langsam seine Bahn am nächtlichen Himmel zog und den Wald mit seinem silbernen Schein in eine atemberaubende Landschaft aus Licht und Schatten verzauberte.

Je weiter die Nacht voranschritt, desto stiller wurde es am Feuer. Bald konnten die Versammelten sogar das einsame Rufen einer Eule hören.

Die Flammen loderten auf, dann fielen die Scheite in einem Haufen Glut zusammen.

 

Schließlich kam die Zeit sich zurückzuziehen. Eine nach der anderen zog sich nach drinnen zurück. Das bedeutete, sie verschwanden paarweise, denn das Ritual war noch immer nicht ganz abgeschlossen.

Die Neuaufgenommenen Schwestern gingen zu ihren Kümmerinnen und verbrachten die Nacht gemeinsam.

Dagmar konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als sie durch den Flur an den Zimmer vorbei schritt und sie hinter den Türen ein entspanntes und zufriedenen Stöhnen und Wimmern vernahm. Sie gönnte dieses sinnliche Erlebnis den Neulingen, die einen harten Tag hinter sich gebracht hatten und denen weitere bevorstanden.  Besonders leidenschaftlich ging es bei Catta und ihrer Kümmerin Laura zu, die infolge dieses innigen Erlebnisses schon bald ein Paar wurden.

Dagmar verschwand allein auf ihr Zimmer. Sie hatte bewusst darauf verzichtet sich eine der Neuen im Besondern zu zuwenden.  Dabei hätte sie das leicht bewerkstelligen können. Immerhin entwickelte sie sich immer deutlicher zur Unangefochtenen Autorität der neuen Gemeinschaft.

Doch nach dem Erlebnis des Traumgeschehens war ihr nicht danach. Sie wollte einfach alles noch einmal in Ruhe Revue passieren lassen.

 

Etwa zwei Tage später ging die Ausbildung in die nächste Runde. Nun wurde es endgültig ernst. Geländeübungen waren angesagt. Schnelligkeit und Geschicklichkeit wurden eingeübt. Es gab natürlich auch Schießübungen auf dem eigens dafür eingerichteten Schießstand, weit im Inneren des Waldes. Es war im Allgemeinen als Jagdgebiet ausgewiesen, so dass die Schüsse nicht allzu sehr ins Gewicht fielen.

Dabei wurden die Neuen zum Teil hart rangenommen, dass brachte es mit sich das zumindest an Anfang so manche Träne floss. Wie gut, dass jede ihre Kümmerin hatte, in deren Armen sie sich ausweinen und neue Kräfte schöpfen konnte.

Die Tage vergingen und der Frühling schritt immer deutlicher vornan. Die Luft war erfüllt vom Gezwitscher der Singvögel und vom Duft süßer und würziger Kräuter.

Das brachte es mit sich, dass immer mehr Besucher das Gelände aufsuchten, um in dieser Abgeschiedenheit Ruhe und Einkehr zu finden. Dabei ging es manchmal auch etwas hektisch zu. Die Neulinge zogen nach und nach in die Wohngemeinschaft und begannen das volle Leben mit den anderen zu teilen. Dabei wurden sie auch in die alltäglichen Arbeiten im Hotelbetrieb einbezogen.

Die perfekte Tarnung, doch wie lange würde sie funktionieren?

Doch daran dachte im Moment keine.

 

 

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

 

 

*Die Strategie diverser Terrororganistionen wie der Roten Armee Fraktion (RAF) in Deutschland oder der Roten Brigaden in Italien bestand in den 70ger und 80ger Jahren darin die Staatsordnung durch gezielte Anschläge auf Personen oder Einrichtungen herauszufordern

Der Staat würde, so die gängige Meinung, mit starker Repression reagieren, was wiederrum in der Bevölkerung zu einem Umdenken in Richtung revolutionäre Situation führen sollte

Wie aus der Geschichte bekannt, ging diese Rechnung nicht auf, im Gegenteil.

Es kam zu einer verstärkten Repression, aber die Revolution blieb aus

Am Ende blieben nur dutzende sinnloser Opfer auf allen Seiten

 

 

** Cis-Männer, seit einigen Jahren in der queeren Szene Bezeichnung für biologische Männer (heterosexuelle, schwule oder bisexuelle) die sich auch im vollen Sinne als Männer begreifen und so leben

FLINT- (FrauenLesbenIntersexuelleNicht-BinäreTrans*) neue Bezeichnung für alle Personen die sich nicht als männlich definieren und nicht als Männer in der Öffentlichkeit auftreten

FLINT-Bereiche sind nicht selten für CiS- Männer tabu. Das könnte als Diskriminierung aufgefasst werden. Ist es aber nicht. Es handelt sich um einen wichtigen Schutzraum für tatsächlich noch immer Ausgegrenzte vor allem Mehrfachdiskriminierte

 

*** schwarze Baskenmütze und ein paar schwarze Lederhandschuhe sind das Erkennungszeichen in den Reihen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA)