Betül, die Zauberin

 

Erst wenige Tage war das neue Jahr alt. Akratasiens Bewohner waren erfüllt von einer tiefen Hoffnung auf baldige Veränderungen. Ein neues Zeitalter kündigte sich an, es schien zum Greifen nahe. Alles deutete darauf hin, dass Neidhardt in Bälde alle seine Funktionen und Ämter niederlegen um den Weg für eine tief greifende Umgestaltung des Landes frei zu machen. Die Revolution konnte nach langer Stagnation ihre Fortsetzung finden um das zu vollenden, weshalb sie ursprünglich gestartet war, die Befreiung aller Bewohner aus jedweder Knechtschaft. Einhergehen sollte damit auch die Wiedervereinigung der Akratasischen Föderation mit dem melancholanischen Reststaat.

Melancholaniens Existenz neigte sich dem Ende entgegen, in Zukunft würde es nur noch Akratasien geben. Ein freies und gerechtetes Akratasien.

Noch waren viele Fragen offen und harrten ihrer Beantwortung. Wer schien imstande dieses neue Staatsgebilde zu führen? Handelte es sich dabei überhaupt noch um einen Staat herkömmlicher Prägung, oder sollte hier etwas völlig Neues aus der Taufe gehoben werden? Undurchsichtig wie ein schottischer Nebel lag die Zukunft vor ihnen. Doch waren alle guter Zuversicht, dass es zu schaffen sei.

Es bestand Grund zu Hoffnung, dass die nun folgende Revolution einen friedlichen Verlauf nehmen könnte, ganz im Gegensatz zur vorangegangenen mit ihren zahlreichen Opfern.

Doch die Welt bestand nicht nur aus Melancholanien/Akratasien. In den übrigen Teilen sah es ausgesprochen düster aus.

Krisen, Katastrophen, Unruhen und gewaltsame Auseinandersetzungen bestimmten weltweit das Tagesgeschehen. Besonders betroffen waren die Menschen im Orient. Krieg, Terror, Vertreibungen ließen ganze Staatsgebilde in sich zusammenfallen. Gewaltige Flüchtlingsströme gossen sich in alle Richtungen, ganz besonders aber strebten diese nach Europa. Die Alte Welt drohte aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Niemand vermochte zu sagen, wie lange dieser Zustand noch währen sollte.

Melancholanien blieb, bis auf ganz wenige Ausnehmen, bisher noch verschont. Das war verständlich. Wer wollte schon freiwillig in solch einer mausgrauen Diktatur leben? Akratasien wurde nach wie vor durch die Außengrenzen abgeschottet, wenn auch die Grenzbefestigungen längst in die Geschichte eingegangen waren.

Irgendwann, in naher Zukunft, könnte sich aber auch die Akratasische Föderation mit diesen Problemen konfrontiert sehen.   

Dort, in Anarchonopolis und den anderen Gebieten der Föderation gab es Auseinandersetzungen ganz anderer Art, die sich im Vergleich zu den großen dramatischen Weltproblemen wie der reine Luxus ausnahmen.

Schon vor einiger  Zeit hatten die Polyamoristen mobil gemacht. Sie propagierten eine polyamore Lebensweise für alle Bewohner der Föderation. Ihr Anhang hielt sich jedoch in Grenzen. Neuerdings aber war es ihnen gelungen Alexandra, Kyra, Ronald und Folko als prominente Wortführer vor ihren Karren zu spannen. Verständlich! Funktionierte deren Viererbeziehung (zumindest im Augenblick) ausgezeichnet. Der Himmel hing so voller Geigen, dass ihnen der Sinn für die Realität abhanden gekommen war. Sie versuchten die Mitbewohner der Abtei von der Richtigkeit ihrer Argumente zu überzeugen und erwarteten, dass diese es ihnen gleich taten.

Doch Theorie und Praxis klafften  weit auseinander. Viel böses Blut wurde auf diesem Wege erzeugt. Paare, die bisher zufrieden mit sich selbst und ihrer Umgebung lebten, in Liebe und gegenseitigem Vertrauen verbunden, versuchten sich in polyamory und scheiterten jämmerlich. Trennungsschmerz und unüberbrückbare Differenzen waren die Folge. Am Ende gab es viel zu viele Verlierer auf der Suche nach neuem Lebensglück.

Das Zusammenleben in Anarchonopolis wurde auf eine harte Bewährungsprobe gestellt.

Elena stand all dem Treiben ratlos gegenüber. War sie doch selbst betroffen und konnte sich nicht entscheiden. Liebe und Treue bis in den Tod hatte sie ihrer Frau Madleen geschworen und die beiden galten als das unzertrennliche Traumpaar schlechthin, ein Beispiel für die gesamte Gemeinschaft. Doch seit kurzem hatte Elena eine Affäre mit Neidhardt und sie drohte innerlich daran zu zerbrechen, da sie keinen von beiden verletzen wollte.

Da gab es die Dreierbeziehung von Klaus, Gabriela und Kristin, dort knisterte es seit langem schon. Kein Aushängeschild für polyamory.

Sonias Ängste vergrößerten sich von Tag zu Tag. Panische Angst überkam sie bei der Vorstellung, dass es ihre Inga heimlich mit einer anderen Person trieb und sie dabei das Nachsehen hatte. Sonia würde polyamory nicht lange überleben.

Nicht viel anders erging es Eve, deren Gefährtin Chantal so etwas wie der Nabel der Welt geworden war.

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. 

Ein wichtiger Grundsatz der Gemeinschaft höhlte sich stetig weiter aus. Jenes Prinzip, das darin bestand, keine Verlierer zu produzieren. Polyamory aber schuf jede Menge Verlierer. Menschen die von einem zum anderen Tag zu Heimatlosen wurden.

Eine ernst zu nehmenden Gefahr für das Zusammenleben der ganzen Föderation, ballte sich einem Gewitter gleich, am Horizont zusammen.

Zum Glück gab es noch eine Person die es vermochte sich all derer an zunehmen, die ihren „Liebesberechtigungsschein“ verloren hatten. Colette war wie so oft die Trösterin in der Not. Wieder einmal oblag es ihr, den Feuerwehrmann zu spielen. Viele Tränen galt es zu trocknen und viele Brüche zu heilen. Alle Verlierer sammelten sich um Colette und wählten die Königin von Akratasien zu ihrer Fürsprecherin.

Doch Colette litt unter dieser Auseinandersetzung. Alexandra und Kyra waren ihre Schwestern und Freundinnen, mit denen sie sich in Liebe wie im Schmerz verbunden fühlte und auch zu Ronald und Folko hatte sie endlich ein gutes Verhältnis aufgebaut.

Sie hatte die Vier gern und wollte einer Auseinandersetzung mit ihnen unbedingt aus dem Wege gehen. Liebe und Harmonie waren es, wonach sie sich sehnte. Akratasiens Königin war eine Hochsensitve, der psychische Druck zog ihre Gesundheit in Mitleidenschaft, sie wurde krank. Krank an Leib und Seele.

Schon lange litt sie unter dem Umstand, dass sich die Dinge in Akratasien nicht so entwickelten wie ursprünglich vorgesehen. Zudem fühlte sie sich immer deutlicher eingeengt. Der sie um gebende Trubel machte ihr zu schaffen. Sie sehnte sich nach Ruhe und Stille, nach innerer Ausgeglichenheit und Sammlung, die es ihr ermöglichten sollten, sich mehr auf das Transzendente auszurichten. Das vermochte sie in Elenas WG im Konventsgebäude nicht mehr zu finden. Sie wünschte sich ein Refugium für sich allein und ihr Privileg als Königin, von dem sie ansonsten so gut wie keinen Gebrauch machte, gestattete ihr diesen Wunsch. Es gab Ausweichmöglichkeiten.

Die Mönche, die hier früher lebten, hatten einst den Beschluss gefasst, dass ein Teil ihrer Fraternität ein Leben in einer kontemplativ-eremitischen Weise praktizieren sollte. Zu diesem Zweck wurde am äußersten Zipfel des Abteigeländes eine Einsiedlerkolonie errichtet. Fern ab vom übrigen Klosteralltag sollten hier einige besonders Berufene ihr Leben als Eremiten gestalten.

Die kleine Kolonie erinnerte an eine Schrebergartensiedlung. Nur dass sie anstelle von durchblickenden Zäunen von Mauern umgeben waren, die eine weitgehende Abgeschiedenheit garantierten. Die Eremitagen in ihrem Inneren glichen im weitesten Sinne  geräumigen Bungalows, diese bestanden aus mehreren kleinen Räumen, ausgestattet mit einer spartanischen Einrichtung. Umgeben waren diese jeweils von einem kleinen Garten.

Insgesamt waren es zehn an der Zahl.

Über dem Portal zum Eingang prangte mit großen Lettern das Wort „Silence“. Stille, absolute Stille sollte hier eine möglichst intakte kontemplative Lebensweise garantieren.

Wie ein Keil ragte die Eremo, wie man die Siedlung im allgemeinen nannte, in den angrenzenden Wald, der sie wie ein grünes Band von drei Seiten umschloss, zusätzlich geschützt durch die hohe äußere Klostermauer.

Das Rauschen des Windes in den Zweigen, das Knacken von Ästen, das Aneinanderschlagen der Baumstämme und das Musizieren der verschiedenen, zahlreich vorhandenen Vogelarten waren schon fast die einzigen Geräusche, die von außen eindrangen.*

Für Colette ein Geschenk des Himmels.

Wie gut, dass die Gemeinschaft nach dem Erwerb der Abtei beschlossen hatte, die Kolonie einer gründliche Sanierung zu unterziehen.

Bisher hatte nur der alte Pater Liborius eine Eremitage bezogen, die anderen neun standen noch leer und warteten auf ihre Bewohner. Nun zog Colette hier ein. Zum Teil, denn ihr Zimmer im Konventsgebäude behielt sie auch weiterhin. Es war ein erhebliches Risiko mit diesem Lebensstil verbunden. Colettes Gesundheitszustand erlaubte eigentlich keine solche Form radikaler Abgeschiedenheit.   

War es nur die Hochsensibilität, die ihr in fortgesetztem Maße zu schaffen machte oder gab es da noch etwas anderes? Verbarg sich in ihr eine ernsthafte Krankheit? Wurde sie am Ende gar dement, jetzt schon mit gerade einmal Fünfzig? Die Schmerzen in Rücken, Nacken und Beinen waren zurückgekehrt. Oftmals schmerzte jeder Schritt, auch die kleinste Anstrengung bereitete ihr große Schwierigkeiten. Hinzu kamen Atemnot, Schwindel, extreme Müdigkeit. Es kam vor, dass sie während des Laufens einschlief. Antriebslosigkeit, das Gefühl, vollständig ausgebrannt zu sein. Die Depressionen meldeten sich wieder in aller Heftigkeit. Manchmal weinte Colette einfach so und konnte den Tränenfluss nicht beeinflussen.

Sie verschluckte sich ständig beim Essen und drohte mehrmals daran zu ersticken. Bei der kleinsten Aufregung überkam sie Panikattacken. Ihre Hände begannen zu zittern und das Sprechen fiel ihr in zunehmenden Maße schwer. Oft bekam sie kein Wort mehr über die Lippen. Mitunter stand sie vor dem Kleiderschrank und wusste nicht einmal mehr, wie sie sich ankleiden sollte. Ohne Haushaltshilfe bestand die ernsthafte Gefahr einer Verwahrlosung.

Hochsensibilität in seiner erschreckendsten Variante.

Dabei stand Colette in Anarchonopolis alles zur Verfügung, das ihr Überleben garantierte. Draußen in der Welt hatten die Hochsensitive ein schweres Los zu tragen. Unverständnis, Ablehnung, Ausgrenzung. Als psychisch krank, labil oder hysterisch abgestempelt, wurde sie dort nur all zu oft Opfer der Therapeuten. Die sezierten deren Seelen solange, bis von ihrer Persönlichkeit kaum noch etwas übrig blieb. Im Anschluss setzten sie die Mosaiksteinchen wieder zusammen und konstruierten die gestörte Persönlichkeit, die es unbedingt von der Außenwelt zu isolieren galt.

Von den ungeahnten Fähigkeiten der Sensitiven ahnte niemand etwas. Möglicherweise wollte dies auch keiner.

Denn die hatten es in sich.

Zeitgleich mit Colettes körperlichem Verfall setzte eine Entwicklung ungeheurer mentaler Fähigkeit ein. Sie festigte die Talente, die sie schon ihr eigen nennen konnte und etliche weitere gesellten sich hinzu.

Colette begann zu schreiben. Seitenweise, stapelweise philosophische Traktate und spirituelle Werke, hinzu Romane, Gedichte und dergleichen mehr. Immer deutlicher entwickelte sie sich zu  einer vollendeten Naturmystikerin. Sie drang in spirituelle Sphären vor, die selbst Elena zu diesem Zeitpunkt noch verschlossen blieben. Sie hatte den Eindruck, als verstehe sie auf einmal die Sprache der Tiere, der Pflanzen, der Mineralien. Sie verband sich mit ihnen, verschmolz zu einer Einheit. Fühlte sich als Teil eines großen Ganzen.

Hier draußen, in der Stille, in der wohltuenden Einsamkeit erwartete sie noch tiefere Erkenntnis und die Lösung bestehender Rätsel. Sie hoffte auf inneren Frieden, doch der wollte und wollte sich nicht einstellen. Der Schmerz in ihrem Herzen saß tief. Wer war sie denn schon? Eine Kundra. Ein Wesen zwischen den Geschlechtern. In der Welt außerhalb der schützenden Mauern eine Mischung aus Clown und Hure, verlacht, verachtet, gedemütigt und gequält. Nicht ernst genommen. Ausgestoßen in die Gosse. Hunanoider Müll. Hier drinnen hatte sie sich ihren Status erkämpft. Das hässliche Entlein von früher gab es nicht mehr. Sie war Colette, die Königin von Akratasien, die Menschen begegneten ihr mit Achtung und Respekt. Ihr Wort galt etwas in der Runde der Schwesternschaft, im Kabinett und in den zahlreichen Arbeitskreisen.

Trotzdem fühlte sie sich einsam. Diese Einsamkeit glaubte sie durch Distanz zu überwinden, baute eine Mauer um ihr Herz und zog sich zurück.

Colette für alle, Alle für Colette. Das war lange her. Die Schwestern hatten sie einst mit ihren sanften Händen geformt. Deren Zärtlichkeit und Wärme und die damit verbundene Liebe und Anerkennung hatten das Wesen geschaffen, das sie jetzt war, mit all den wundersamen Veränderungen an Leib und Seele.

Doch der „Colette-Bereitschaftsdienst“ funktionierte schon lange nicht mehr. Am Anfang, da kamen sie zu ihr, vor allem, wenn persönliches Leid den Ausschlag dazu gab. Sie fanden in Colette eine Trösterin, weinten sich in ihrem Schoße aus und genossen ihre Streicheleinheiten.  Doch eine nach der anderen zog sich zurück sobald deren persönliche Probleme gelöst und sich das Glück wieder einstellte. Ab jenem Moment war Colette einfach übrig.

Sie litt darunter, verstand es aber geschickt ihren Schmerz vor den anderen zu verbergen.

Hier draußen fühlte sie sich frei und allem enthoben. Ungeachtet dessen schritt ihre Krankheit voran. Colette befand sich in großer Gefahr. Sie bedurfte dringend einer helfenden Hand, brauchte einen Engel an ihrer Seite. Doch wer kam in Frage? Von so vielen Menschen umgeben, doch niemand schien imstande, zu ihr vorzudringen. Wo war der Retter? Wo die Retterin?

Die Hilfe nahte, doch sie kam nicht aus der Abtei, oder aus einem anderen Gebiet der Föderation, nicht einmal aus Melancholanien. Nein, aus einem fernen Land nahte die Erlösung.

 

Ein bereits seit langem erwarteter Besuch traf ein. Sheikh (Scheich) Abdul Said von der Sufi-Gemeinschaft kam der schon vor Zeiten ausgesprochen Einladung endlich nach und stattete Anarchonopolis einen Besuch ab. Herzlicher Empfang durch Elena und weitere Abteibewohner. Auch Pater Liborius war zugegen, gespannt auf den Dialog mit einem Vertreter der anderen großen monotheistischen Weltreligion, des Islam, zu dem sich die meisten Sufi zählten.

Doch eine Person blieb der Begrüßung fern, ausgerechnet jene, die den Kontakt zu der Sufi-Gemeinschaft vor Zeiten hergestellt, da sie selbst einige Zeit bei ihnen gelebte hatte, Colette. Das löste bei den Besuchern allgemeine Enttäuschung aus, denn gerade das Wiedersehen mit ihr bedeutete ihnen sehr viel.

Sheikh Abdul hatte sich seit seiner Begegnung mit Colette kaum verändert. Sein schwarzes Haar hatte er unter einem kunstvoll aus grünem Tuch gebundenen Turban verborgen. Sein langer schwarzer Mantel verbarg die typische Sufi-Kleidung die er erst im Kapitelsaal präsentierte. Weite schwarze Pluderhose, darüber eine weiße bis zum Hals geknöpfte Tunika, sowie eine weite ausladende Weste aus schwarzem Samt.

Elena begrüßte die Gäste noch einmal in aller Form.

„Es ist mir eine große Freude, liebe Brüder und Schwestern der Sufi-Gemeinde, euch in unseren Mauern zu begrüßen. Lange währte unsere Einladung, nun habt ihr sie eingelöst. Wir alle sind gespannt auf gute Gespräche und womöglich viele neue Erkenntnisse. Ich begrüße euch in meiner Eigenschaft als Kanzlerin der Akratasischen Föderation aber auch als Mensch der einfach nur zuhören und lernen möchte.

Wir wünschen uns, dass sich in unseren Anschauungen möglichst viele Gemeinsamkeiten offenbaren.“

„Die Freude ist auf meiner Seite.“ erwiderte Sheikh Abdul die Begrüßung. „Viel Gutes konnten wir von dieser Gemeinschaft in Erfahrung bringen und wollten uns endlich von der Richtigkeit dieser Aussagen überzeugen. Mein erster Eindruck ist sehr positiv. Ich fühle mich hier sehr wohl und ich denke, meinen Begleitern geht es ebenso.“ Das halbe Dutzend, zumeist junge Männer und Frauen bekundeten Kopf nickend ihre Zustimmung.

„Aber ich vermisse unsere liebe Schwester Colette, die einige Zeit bei uns lebte und eure Gemeinschaft in der buntesten Farbe beschrieb und somit unsere Neugier weckte.“

„Leider ist Colette verhindert. Sie fühlt sich nicht gut heute und lässt sich entschuldigen. So bald als möglich wird sie euch persönlich begrüßen.“ meinte Elena. Das war gelogen. In Wirklichkeit hatte keiner eine Erklärung für Colettes Fernbleiben.

„Oh, das tut mir leid. Ich hoffe nichts Tragisches. Wir wünschen gute Besserung und hoffen Colette bald zu treffen.“ bekundete der Sheikh Abdul.

„Aber Pater Liborius ist da. Mit ihm habt ihr auch schon korrespondiert, er wird euch für alles Weitere zur Verfügung stehen. Keiner kennt die Klosteranlage so gut wie er. Einen besseren Fremdenführer gibt es nicht.“ fuhr Elena weiter fort.

„Es ist mir eine große Freude, eure Bekanntschaft zu machen. Ich brenne schon darauf, mehr über euren Orden in Erfahrung zu bringen. Theoretisch beschäftige ich mich seit langem damit. Aber alles aus erfahrenem Munde zu vernehmen, ist etwas ganz anderes.“ ließ Pater Liborius seine Neugier erkennen.

„Es freut mich, das zu hören. Gerne will ich auf alles eingehen. Der Segen Allahs sei über euch allen.“ Der Sheikh breitet seine Hände aus.

 

Das Gespräch wurde immer vertrauter. Eine junge Frau aus der Gruppe der Sufis begann sich langsam und von allen unbemerkt zu entfernen und ehe sie sich versah, befand sie sich im weiträumigen Kreuzgang der Abtei wieder. Die Begrüßungsrunde konnte noch viel Zeit in Anspruch nehmen und bis zum festlichen Abendessen war es noch weit. Keiner würde ihrer Abwesenheit allzu große Bedeutung beimessen. Betül bewegte in diesem Moment nur eine Frage: Wo konnte sie Colette finden?  Nur ihretwegen war sie mitgekommen und wollte nicht warten, bis diese ihr irgendwann einmal durch Zufall über den Weg lief. Der Ausgang aus dem Konventsgebäude war noch relativ leicht zu finden. Doch wie ging es draußen weiter? Für einen Besucher, der sich zum ersten Mal auf dem weiträumigen Gelände der Abtei bewegt, präsentierte sich diese mit ihren zahlreichen Wohnhäusern, Nebengelassen, Werkstätten, Gärten, Parks und weiteren Nutzflächen als kaum zu entwirrendes Labyrinth.

Das einzige, das Betül in Erfahrung bringen konnte, war, dass sich Colette wohl in der Eremo aufhielt, der Einsiedlerkolonie. Ein wichtiger Anhaltspunkt. Die junge Frau machte sich auf den Weg über das Klosterareal. Noch war es hell, aber die Sonne war bereits im Begriff sich ganz langsam auf den Horizont zu bewegen, um dann in ihr Wolkenbett zu steigen. Das Wetter war für Januar ganz annehmbar. In den letzten zwei Tagen hatte es keinen Neuschnee gegeben. Leichter Frost sorgte für harten begehbaren Boden. Die Wege waren geräumt, aber die Freiflächen von einer geschlossenen Schneedecke überzogen, diese reflektierte das das Licht. Betül würde also notfalls den Weg auch im Dunkel zurückfinden, sollte ihre Suche länger dauern.

Unterwegs musste sie sich mehrmals nach dem Weg erkundigen, der zur Eremo führte, zweimal lief sie in die falsche Richtung.

Trotz der dicken Daunensteppjacke fröstelte ihr. Sie zog deren weite Kapuze über den Kopf, den sie schon in ein farbiges Leinentuch gebunden hatte, so dass nur ihr Gesicht zum Vorschein kam. Ebenso wie man es von einer gläubigen Muslima erwartete. Kalte, aber trockene, klare Luft umhüllte sie. Betül atmete tief ein und aus. Immer weiter bewegte sie sich auf den sich vor ihr erstreckenden Wald zu. Die kahlen Laubbäume gaben den Blick frei auf das wuchtige Bergmassiv des Grauhaargebirges. Majestätisch ragten die Berge in die Höhe und ließen den Menschen davor klein und nichtig erscheinen. Betül war beeindruckt. Ach wie schade, dass nicht schon Frühling war. Dann erst, wenn hier alles grünte und blühte, konnte sich die echte Schönheit der Landschaft voll entfalten. Auch wenn es jetzt im Winter nicht danach aussah, bestand kein Zweifel daran, dass sich Colette ein Paradies zum Leben ausgesucht hatte.

Betül freute sich darauf, die Gegend zu erkunden.Der Entschluss zu dem sie sich durchgerungen stand. Sie wollte nicht wieder zurückkehren in die Heimat. Ganz gleich in welche. Sie hatte derer zwei. Sie war Türkin, wie die andern Sufis auch. In der Türkei geboren, hatte sie dort ihre Kindheit verlebt, bevor sie mit ihrer Familie nach Deutschland zog, um sich dort zu jener wunderschönen jungen Frau zu entwickeln. Strenge Muslime waren sie, der Glaube hatte ihr Leben von Kindheit an geprägt.

Die gelernte Krankenschwester hatte bis zum Schluss weiter in ihren Beruf als Rettungssanitäterin gearbeitet und konnte auf diese Weise ein profundes medizinisches Wissen erwerben.

Jetzt war sie in Akratasien, am Ziel ihrer Träume, und sie gedachte dort zu bleiben, wollte darum ersuchen in die Reihen  der „Töchtern der Akratie“ aufgenommen zu werden.

Die Chancen standen gut, schon ihres äußeren Erscheinungsbildes wegen. Betül die bezaubernde junge Frau, vergleichbar einer Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht. Es hatte den Anschein als habe sich ihre sinnliche Ausstrahlung in den zurückliegenden Monaten noch erheblich gesteigert. Ihre sportliche Figur verdankte sie dem Schwimmen, besaß inzwischen ein Zertifikat als Rettungsschwimmerin und würde die Riege der sportlich-athletischen Schwestern erweitern.

Ein wesentlicher Grund  für ihr Vorhaben sich in Anarchonopolis nieder zu lassen war jener Mensch, den sie in wenigen Augenblicken zu treffen hoffte.

Während sich die Sonne am Himmel als blutrote Scheibe endgültig aus dem Tag verabschiedete, hatte Betül die Ereomo gesichtet und bewegte sich zielstrebig darauf zu. Gleich würde der Wärme spendende Feuerball hinter dem gewaltigen Bergmassiv verschwinden und Dunkelheit sich über Anarchonopolis ergießen.

Sie erreichte die Eingangspforte zur Eremo. Die kleine rote Lampe, deren Flackern sie schon aus der Ferne wahrgenommen hatte, signalisierte die Anwesenheit mindestens eines seiner Bewohner und da sich Pater Liborius  bei der Begrüßungsrunde mit dem Sufi-Leuten eingefunden hatte und in Folge dessen nicht hier sein konnte, musste es sich dabei notgedrungen um Colette handeln, da es andere Bewohner noch nicht gab.

Betül betätigte den Klingelknopf, doch es folgte keine Reaktion, auch als sie diesen Vorgang wiederholte, tat sich nichts. Sie drückt die Türklinke und bemerkt erst jetzt, dass gar nicht abgeschlossen war, durchschritt die Pforte und befand sich auf dem Hauptweg. Die Sonne hatte sich zur Ruhe gebettet, düsteres, vom Schnee reflektiertes Licht sorgte für eine geradezu mystisch anmutende Aura. Den Weg flankierten zehn Gärten. Je fünf Eingänge zu beiden Seiten.

Die Mauer war etwa zwei Meter hoch, zu hoch, um einen Blick nach innen zu erhaschen. Die erste Tür war verschlossen, ebenso die zweite. Betül arbeitete sich nach hinten durch, wurde bei der fünften schließlich fündig, trat ein und erblickte das Häuschen, durch dessen Fensterscheiben der Schein sanften Lichtes nach außen fiel. Betül schloss die Außentür und schritt auf das kleine zweistöckige Haus zu. Für das Zittern ihres Körpers war nicht nur die Kälte verantwortlich. Gleich würde sie Colette wieder sehen und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie deren Reaktion ausfiel. Kalter Schauer lief ihr über den Rücken. In der warmen Jahreszeit konnte man hier sicher phantastisch leben. Aber jetzt? Im Winter? Bei dieser Kälte? Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und trat ein.

Ihre Befürchtung was die Kälte betraf erwies sich als gegenstandslos, denn wohlige Wärme schwappte ihr entgegen, ausgehend von dem Ofen in der Mitte des Raumes, dessen Wummern und Knacken ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit auslöste.

Da saß sie, Colette hatte ihr, am Schreibtisch sitzend, den Rücken zugewandt, offensichtlich so vertieft in ihre Sache, dass sie den Eindringling gar nicht wahr genommen hatte.

Betül räusperte sich etwas verlegen. Instinktiv fuhr Colette herum und blickte stumm auf den Besuch.

„Be… Betül? Das … das kann nicht sein! Träume ich? Nein, du bist es wirklich! Wie … wie kommst du hierher? Wie hast du mich gefunden? Ich verstehe nicht!“ stammelte Colette fassungslos und völlig überrascht.

„Hallo Colette! Ich bin mit den Sufi-Leuten hier! Vor etwa einer Stunde sind wir eingetroffen. Wieso weißt du davon nichts? Von dir ging doch die Einladung aus.“ antwortete die Angesprochene nicht weniger überrascht als Colette. „Wir haben uns schon gewundert, dass du nicht bei der Begrüßung  warst.“

„Ja! Ja natürlich! Euer Besuch! Aber warum weiß ich nicht… Ich rechnete erst morgen oder übermorgen mit euch. Warum ist mir das entfallen?“ Colette drückte die Handfläche der rechten Hand an ihre Stirn und schloss für einen Moment die Augen.

„Ich… ich konnte es nicht erwarten, dich wieder zu sehen. Deshalb habe ich mich heimlich verdrückt. Ich hoffe, die anderen sehen es mir nach. Du seiest krank, hieß es. Ich begann mir Sorgen zu machen.“ fuhr Betül fort, zog einen Stuhl heran und nahm an Colettes Seite Platz.

„Krank? Ja, so könnte man es auch nennen. Das ist wohl der rechte Ausdruck. Ich bin krank, ja. Ich habe es vollkommen vergessen, dass ihr heute eintrefft. Einfach so vergessen.

Ich merke mir gar nichts mehr. Mein Kurzzeitgedächtnis ist löchrig wie ein Schweizer Käse.

Ich kann dir zwar genau Bericht darüber erstatten, was ich vor dreißig Jahren um diese Zeit tat, aber was gestern war? Ausgelöscht! Einfach weg! Ich kann mich überhaupt nicht mehr auf eine Sache konzentrieren.“

Jetzt bemerkte Betül auch die Traurigkeit in Colettes Augen. Sie sah nicht gut aus, machte einen verwirrten Eindruck. Das wollte so ganz und gar nicht zu den Beschreibungen passen, die im allgemeinen über Colette im Umlauf waren. Darin wurde von einem gewaltigen positiven Charisma berichtet, das von ihr ausging und alle in den Bann zog. Colette, die geheimnisumwitterte Chimäre. Sowohl Mann als auch Frau, beides zugleich und keines von beiden. Ein Wesen, das sich völlig außerhalb geltender Normen, außerhalb der Zeit, ja selbst außerhalb jeglicher Logik zu bewegen schien.  

„Ich freue mich dich wieder zu sehen. Auch ich war sehr gespannt darauf. Du siehst gut aus. Schön und sinnlich wie ehedem. Ich hoffe dir gefällt unser Domizil. Hattest du schon Gelegenheit, etwas zu erkunden.“ versuchte Colette vom Thema abzulenken.

„Also, der erste Eindruck ist überwältigend. Die ganze Klosteranlage und nicht zuletzt die bizarre Umgebung hier. Dieses Gebirge. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich kann es kaum erwarten, mich in den Folgetagen näher umzusehen. Schade, dass noch Winter ist. Aber der nächste Frühling kommt bestimmt.“ tat Betül ihre Begeisterung kund.

„Ja, der Frühling! Auch ich sehne mich nach Wärme, nach Sonne und nach gutem Wetter. Frühling im Lande, vielleicht auch Frühling in meiner Seele.“ Ohne es zu wollen hatte Colette den Bogen wieder zum Kernthema geschwungen. Als sie es bemerkte, war es zu spät umzukehren.

„Dir geht es nicht gut, Colette. Ich möchte dir so gerne helfen. Wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll.“ bot Betül an.

„Davon solltest du Abstand nehmen. Ich bin alles andere als eine gute Gesellschafterin. In letzter Zeit geht es nur noch bergab. Da ist etwas in mir, das mich immer tiefer zieht.

Sieh dich nicht um hier. Die Unordnung muss entsetzlich auf dich wirken. Aber ich habe keine Kraft mehr, nicht einmal zum Aufräumen.“ gestand Colette.

Betül nahm den Raum genauer in Augenschein. In der Tat, aufgeräumt wurde hier schon seit Tagen nicht mehr. Papiere verteilten sich quer über das Zimmer und Kleidungstücke befanden sich an allen Ecken. Versifft konnte man das aber noch nicht nennen.

„Ich möchte Ordnung schaffen, aber es gelingt mir nicht. Ich bin nicht einmal imstande, den Papierkorb zu leeren. Seid Tagen quillt der über. Dabei brauche ich den Müll in dieser Jahreszeit nur in den Ofen zu stecken. Aber ich schaffe es nicht. Die kleinste Anstrengung bereitet mir Mühe und Schmerzen.“

Betül betrachtete Colettes Hände.

„Wie lange geht das schon? Ich meine, dass dir die Hände zittern?“

„Keine Ahnung!  Hab nicht weiter drauf geachtet. Ich denke, schon eine ganze Weile.

Es sind nicht nur die Hände. Der ganze Körper spielt verrückt. Vor allem diese Krämpfe. Eine unkontrollierte Bewegung und es verkrampft sich. Krämpfe in den Waden, aber besonders schmerzhaft sind die in den Oberschenkeln. Hustenschauer, Atemnot, das Gefühl ersticken zu müssen. Und dann diese Müdigkeit. Ich habe den Kopf voller Einfälle und möchte sie aufs Papier bringen, aber die Müdigkeit hindert mich bei meiner Arbeit, ständig muss ich unterbrechen um mich auszuruhen. Ich hoffte, dass es hier draußen besser wird. Aber bisher konnte ich keine deutliche Änderung verzeichnen.“

„Das ist auch nicht der richtige Ort für dich. Im Frühling und Sommer. Da kann ich mir vorstellen, dass es hier angenehm zu leben ist. Aber es ist Winter. In dieser Jahreszeit sollte man hier nicht wohnen.“ meinte Betül besorgt.

„Die Mönche haben auch ganzjährig hier gelebt. Pater Liborius tut es noch immer. Ich kann es auch.“

„Aber du bist kein Mönch, Colette. Du brauchst Wärme. Du brauchst helfende Hände. Wer macht denn  Feuer für dich? Kommt jemand aus der Abtei, um dich zu unterstützen?“

„Feuer mache ich mir selber! Das wäre noch schöner, wenn ich mich bemuttern lassen müsste, als wäre ich senil.“

„Und in der Nacht erlischt der Ofen und du schläfst in der Eiseskälte. Das ist nicht gut. Du brauchst jemanden, der dir zur Hand geht. Einen, der dir die Lasten von den Schultern nimmt.“ entgegnete Betül.

„Ich will niemanden sehen. Ich bin geflohen von dort unten. Natürlich sind alle freundlich zu mir und achten mich. Aber ich will nicht dass mich jemand in diesem Zustand sieht. Ich brauche kein Mitleid, ich brauche…“ Colette machte eine Pause, doch ehe sie weiter sprechen konnte, fiel Betül ihr ins Wort.

„Du brauchst Liebe, du brauchst Zärtlichkeit und echte Zuwendung. Das ist es, was dir wirklich fehlt. Du sehnst dich nach Wärme und sie stellen dir die Heizung an.“

Colette musste schmunzeln.

„Das hast du sehr gut formuliert. Verstehst du nun weshalb ich mir das Feuer im Ofen lieber selber mache?“

„Ich verstehe es nicht! Es hieß, du seist so etwas wie der Mittelpunkt der Abtei. Überall spricht man von deiner wundersamen Veränderung. Dass du mit vielen Persönlichkeiten in der Welt Kontakt hast. Und die Schwestern würden dich auf Händen tragen.“ wunderte sich Betül.

„Du hast dich gut informiert, wie ich sehe. So war das einmal. Ist aber schon eine Weile her. Für kurze Zeit schien es, die Welt habe sich mit mir versöhnt und im Grunde ist sie das auch heute noch. Aber hier in Anarchonopolis und auch in den übrigen Teilen der Föderation ist schon lange nicht mehr Gold, was glänzt. Egoismus und Selbstverliebtheit hielten hier schon vor Zeiten Einzug und drohen die Kommune in Beliebigkeit zu ersticken.“

„Ich versteh noch immer nicht! Ihr sollt, wie man sagt, doch den totalen Gegenentwurf zu jedweder Form von Egoismus und elitärem Denken gefunden haben und danach leben. Was glaubst du, warum mich euer Leben so in seinen Bann zieht, weshalb ich beschloss, hierher zu kommen.“

In Betüls Kopf schwirrten die Fragen durcheinander wie ein Bienenschwarm.

„Wir hatten eine Idee, damals vor so langer Zeit, als wir noch in unserer kleinen Siedlung am Stausee lebten. Als unser großer Dichter Kovacs noch unter uns weilte und uns den Traum einer neuen Welt lehrte. Träume, so viel Träume. Wir wähnten uns imstande sie zu leben. Aber es kam anders. Ich geh davon aus, dass du die Geschichte unseres Landes kennst und ich dir keinen Vortrag halten muss?“

„Ich kenne sie gut! Ich konnte mich in der Ferne mit jeder kleinen Einzelheit vertraut machen.“ antwortete Betül während sie sich weiter im Raum umblickte. Irgendwie schien das alles hier nicht recht zu Colette zu passen. Andererseits war sie durchaus so etwas wie eine geborene Eremitin.

„Also gut!“ fuhr Colette weiter fort. „Der Gegenentwurf hatte von Anfang an seine Tücken.

Der äußere Druck, die ganze Situation nach dem Bürgerkrieg, die Krisen, die Grenze. All das führte dazu, dass vieles zu improvisiert und viel zu wenig durchdacht gehandhabt wurde. Sicherlich begünstigte die isolierte Lage einige Entwicklungen im Positiven. Aber vieles wurde auch versäumt. Das fällt uns nun auf die Füße.

Egalitär wollten wir sein. Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Gerechtigkeit für alle. Vor allem wollten wir für all jene einen Ort bereiten, die anderswo aus allen Rastern fallen. Wollten etwas herrichten für die  Abgehängten der Gesellschaft. Es sollte überhaupt keine Verlierer mehr geben, so lautete unsere Devise. Eine Weile ging es gut und alle zogen an einem Strang. Aber die Zeit brachte es mit sich, das sich elitäres Denken wiederbelebte und die Köpfe vieler in die Irre leitete. Freiheit? Ja, vor allem für sich selbst. Und die anderen? Wen interessiert das schon. Selbstverwirklichung? Die ist  durchaus positiv zu werten. Aber dann für alle und nicht nur für einen Teil und der Rest bleibt mit leeren Händen auf der Strecke.

Jede Selbstverwirklichung endet in purem Egoismus wenn sie nicht gesteuert wird.

Das hatte zur Folge, dass sich hier seit geraumer Zeit viele, vor allem jene, die es sich leisten können, ein kleines Miniuniversum bauen, ohne dabei auf die Gemeinschaft zu achten.“

„Das hört sich alles sehr ernüchternd an! Um nicht zu sagen deprimierend.“ Resignation sprach aus Betüls Stimme.

„Und deshalb habe ich mich auf den Weg hierher gemacht. Nur um zu erfahren, dass alles reine Illusion ist?“

„Nein Betül, nicht für dich! Das wollte ich nicht sagen. Du wirst hier deinen Weg finden, davon bin ich überzeugt.“

„Und warum?“

"Blick in den Spiegel und die Antwort wirst du finden. Ein Mensch mit so einem hübschen Gesicht, so einer tollen sinnlichen Ausstrahlung braucht sich nicht hinten anzustellen um auf die Brotkrumen zu warten, die andere vom Tisch fallen lassen.

Weit werden die Türen sich vor dir öffnen, du brauchst nicht einmal um Einlass zu ersuchen. Vielmehr werden dich die anderen bitten, auf Knien bitten, sie mit deiner Anwesenheit zu beglücken. Für die Schönen, die Hübschen, für die Sinnlichen und Geschmeidigen findet sich immer eine Lösung. Du wirst gar nicht verstehen, warum hier Kritik von Nöten ist, weil die hündische Schmeichelei bald auch deine Wahrnehmung trüben wird. Nämlich jene, dass es auch noch andere gibt, die weniger hübsch, weniger geschmeidig, weniger sinnlich wirken. Die stehen draußen vor der Tür und niemand bittet sie einzutreten, sie fallen durch die Gesichtskontrolle noch ehe sie es bemerkt. Aber sie haben sich ihr Gesicht nicht ausgesucht. Jeder Mensch hat ein Recht auf Liebe und Zuwendung, so steht es in unserer Präambel. Worte, schöne Worte. Inzwischen sind sie reine Makulatur.“

Betül senkte den Kopf, sie war nicht im Stande, etwas zu entgegnen. Von dieser Seite hatte sie es noch gar nicht betrachtet.

„Ich verstehe! Du rechnest dich zu den Verlierern, weil du glaubst, nicht zu den Begünstigten zu gehören. Aber du bist die Königin, dir gebührt Achtung und Wertschätzung. Dein Wort sollte etwas gelten. Warum beugst du dich der Ungerechtigkeit anstatt ihr mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten?“ empörte sie sich dann.

„Ach, die Königin! Eine Ikone bin ich, nein, ein Maskottchen, das man bei sich trägt. Diese Titel zählen hier ohnehin nichts. Wir streben die Akratie an. Das ist dir doch bewusst?“

„Ja sicher! Aber zunächst gilt es zu kämpfen. Warum tut Elena nichts und die Schwestern, wieso räumen die nicht auf, sprechen ein Machtwort, hauen mit der Faust auf dem Tisch...“ entrüstete sich Betül weiter.

„So ist das mit der Akratie. Alles soll im Plenum, möglichst im Konsens entschieden werden. Hierarchien abbauen oder gar nicht erst entstehen lassen. Doch das funktioniert nicht. Leute mit elitärer Einstellung versuchen hier zu dominieren und stellen alles auf den Kopf. Die Diktatur von unten, verstehst du?“

Nickend signalisierte Betül ihre Zustimmung.

Plötzlich wurde Colette immer leidenschaftlicher, Zornesfalten bildeten sich auf ihrer Stirn und ihr Gesicht wurde hart wie ein Kieselstein.

„Sie haben alles zerstört, diese bürgerlichen Ignoranten, die sich hier schon seit geraumer Zeit in Scharen niederlassen. Leute mit viel Geld, Leute mit Titeln, Besserwisser und Klugscheißer.

Leider sind wir auf das Geld das sie mit bringen angewiesen, es füllt die klammen Kassen der Abtei und auch deren Wissen kommt uns zu Gute. Doch dafür erwarten sie Privilegien. Sie führen ein Leben in Müßiggang und Luxus, widmen sich den schöne Künsten, während die armen Schweine, die mit leeren Händen zu uns kommen und nur ihre Arbeitskraft ein zu bringen haben nichts als schuften dürfen. Und dann diese Polyamorymisten. Du glaubst nicht, wie die sich hier aufführen. Diese graumelierten Don Juans kreuzen hier mit ihren Harems auf, lassen sich von blutjungen Mädchen bedienen wie die Paschas und fühlen sich dazu berufen uns Vorträge darüber halten wie wir unser Leben zu gestalten hätten.

Verdammt noch mal und dafür habe ich meinen Kopf hingehalten. Damals als die Schwesternschaft am Boden lag, die Abtei sich leerte und auszusterben drohte. Ich habe mich prügeln lassen von Neidhardts Gorillas, treten und bespucken. Und für was? Für das hier? Was war ich doch für eine Närrin. Ich hätte mich von Neidhardts Palastwache über den Haufen schießen lassen sollen, dann wäre mir das alles erspart geblieben.“ **

Colette schritt zum Ofen, öffnete die Tür und warf einen Holzscheit in die Flammen, dann griff sie zum Schürhaken und stocherte wie von Sinnen in der Glut, so dass sich ein Funkenregen nach außen ergoß.

„Anarchonopolis ist nichts weiter als ein Haufen Scheiße!“

Mit voller Wucht schleuderte sie den Schürhaken gegen die Wand, dieser landete  krachend an einem Fenstersims und ging im Anschluss laut scheppernd zu Boden.

Instinktiv zog Betül den Kopf ein.

Colette spürte einen stechenden Schmerz im Nacken und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, dann stütze sie sich auf den Tisch und sackte auf dessen Platte.

„Ich kann nicht mehr! Mir wird speiübel. Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen möchte.“ ***

Betül, noch immer halb benommen, eilte zu ihr und umarmte Colette. Sanft strich sie mit der Handfläche durch ihr ergrautes Haar, dabei ihre Lippen auf deren Wagen setzend. Ihr Zauber bannte Colettes Schmerz.

In diesem Augenblick löste sich der Krampf in deren Seele und ihren Muskeln und eine Woge positiver Gefühlen flossen durch jede Zelle ihres Körper.

Tränen flossen, doch das war gut, denn sie spülten ihre Wut von der Seele wie ein reinigender Bach.

„Verzeih mir, ich wollte dich nicht erschrecken. Es wollte einfach raus. Weißt du, ich war schon immer eine Verliererin, von Anbeginn meines Lebens. Eine Ausgestoßene, eine Scheißkundra eben. Das ist nicht wieder gut zu machen.“

„Nein das bist du nicht! Du bist ein Diamant, ungeschliffen, die richtige Form und du bist zu Großen berufen!“ versuchte Betül zu beruhigen.

„Paß auf! Ich war acht Jahre alt. In der Straße, wo ich wohnte gab es nur gleichaltrige Mädchen zum spielen. Ich hatte viele Freundinnen, eine richtige Mädchengang. Ich fühlte mich dort geborgen und pudelwohl. Doch meine Eltern sahen es nicht gern. Eines Tages nahm mich mein Vater bei der Hand und schleifte mich mit Brachialgewalt auf einen Kinderspielplatz voll mit lärmenden Jungen etwa meines Alters, er schubste mich vor sich her und bedeutete mir unaufhörlich das ich gefälligst mit denen zu spielen hätte. Ich verstand nicht weshalb, es waren doch Jungen, was sollte ich unter ihnen? Die erkannten den Außenseiter in mir, fielen über mich her, schlugen und traten mich, auch ins Gesicht, auch in die Genitalien. Sie lehrten mich, was sie vom mir hielten und sie lehrten mich, was ich von mir selbst zu halten hatte. Und mein Vater? Der stand daneben und lachte. Ja, mein Sohn, so ergeht es jedem, der nicht weiß, wo sein Platz im Leben ist. Verstehst du? In diesem Moment war meine Kindheit vorbei. Ich hatte nie eine und schon gar keine Jugend.

Die Pubertät wurde zum Trauma.“

Colette erhob sich und schritt in die Mitte des Zimmers und erhob die Arme.

„Und da höre ich sie, da unten, wie sie reden und sie sich selbst bemitleiden, wie sie jammern auf ganz hohem Niveau.“

Colette preßte die Handflächen wie bei einer Gebetshandlung zusammen und blickt zur Decke.

„Wir armen Polyamoristen, wir werden ja sooooooooo diskriminiert und angefeindet aufgrund unserer Lebensweise, die Welt versteht uns nicht und all dieses blabla. Ihr verdammten Eckenpinkler, nicht den Hauch einer Ahnung habt ihr davon was Diskriminierung tatsächlich bedeutet. Lebt doch mal eine Woche wie eine Scheißkundra und ihr werdet euch in die Hosen machen.“

Wieder drohte Colette sich zu verkrampfen. Betül nähert sich ihr und schloss sie erneut in ihre Arme. Dann nahm sie Colettes Kopf in beide Handflächen und sprach zu ihr.

„Ich war ebenfalls acht Jahre, vielleicht auch neun, egal. In der alten Heimat in Anatolien, ein kleines Dorf, in der Mitte ein großer Platz. Dort spielte ich mit lauter Jungen meines Alters. Mein Vater kam des Weges und richtete zornig seinen Blick auf mich, er greift meinen Arm so dass ich vor Schmerz laut aufschrie, zieht mich über den Platz, verpasste mir zwei Ohrfeigen. Dann hält er mir einen Vortrag darüber, wie sich ein muslimisches Mädchen, aus dem einmal in eine muslimische Ehefrau werden soll, zu benehmen hat. Dass es sich nicht schickt, mit Jungen zu spielen, dass ich zu  Männern in Ehrfurcht und Demut aufblicken solle. Das ich mich auf ein Leben als züchtige, treu sorgende, dienende, niemals hinterfragende und allzeit verfügbare muslimische Ehefrau vorbereiten muss und lauter solcher Dinge, die mir verdeutlichen, wo mein Platz im Leben ist. Verdammt noch mal, ich will keine züchtige, treu sorgende, dienende, niemals hinterfragende und allzeit verfügbare muslimische Ehefrau werden, die ihren Gatten als gottgleiches Wesen zu verehren hat. Mir wird speiübel, ich könnte kotzen, wenn ich daran denke, was mich erwartet. Ich möchte frei sein, frei wie der Wind, der mein Haar zerzaust. Ich möchte ihn spüren auf der Haut, im Haar den Wind. Aber ganzkörperverhüllt kann ich das nicht. Verstehst du was sich sagen will!“ Betüls Tonfall steigerte sich bis auch sie im Schreien endete.

Wortlos blicken sie einander an, dann machte Colette einen zaghaften Versuch, Betül an sich zu ziehen. Schließlich ließ sich diese in deren Arme fallen.

Eng umschlungen standen sie da, der Zeit und ihrer Umwelt enthoben. Augenblicke verrannen, Minuten, oder waren es Stunden, Tage, Wochen? Die Tränen der einen benetzten die Wangen der anderen. In diesem Augenblick hatten sich zwei gefunden, zwei, die, wie es schien, seit Ewigkeiten einander versprochen waren, doch nie den Weg zu ihrer Entsprechung fanden. Zwei unterschiedliche Kulturen, zwei Generationen und noch vieles andere trennte sie, doch sie hatten sich wieder, das allein zählte im Augenblick.

Betül löste sich sanft von Colette und drückte ihre Stirn gegen Colettes eigene. Dann verabreichte sie ihr einen Kuss.

„Ich lass dich jetzt allein, ich denke es ist besser, wenn ich gehe. Wir beide müssen erst zu uns finden. Wir sehen uns morgen! Ich komme. Ich freue mich auf dich...“

Betül griff nach Colettes Händen und drückte die ganz fest. Die erwiderte den Druck. Noch ein Lächeln zum Abschied, dann verschwand Betül. Sie verstand es ausgezeichnet, zu wissen, wann es an der Zeit war ein Gespräch zu beenden. Weitere Worte könnten jetzt nur zerstörend wirken. Colette brauchte Zeit um alles zu verarbeiten und sie selbst nicht minder.

Akratasiens Königin ließ sich auf den alten Ledersessel fallen, der seinen Platz direkt neben dem kleinen Fenster gefunden hatte.

Was war das eben? Sie schien wie benommen und kam erst jetzt, da Betül gegangen war wieder richtig zur Besinnung. Sie hatte die Beherrschung verloren und war ausgerastet. Noch nie war ihr dergleichen passiert, ihr die stets darauf bedacht, ihre Gefühle möglichst unter Kontrolle zu halten. Keinem anderen Menschen hatte sich Colette bisher in einer solch direkten Art offenbart, niemanden, nicht einmal Elena, der sie ansonsten alles an vertraute.

Warum also tat sie es bei Betül, einer außen stehenden Person, die sie nur flüchtig von früher kannte. Einer jungen Frau aus einer anderen Kultur, halb so alt wie sie selbst?

Da gab es ein unsichtbares Band tiefen Vertrauens, ein Gefühl des Geborgenseins, des Friedens, der Grenzen überschreitenden Liebe.

Colette verspürte, wie sich der Krampf in ihrem Inneren zu lösen begann. Betül hatte ihren ersten Zauber bewirkt. Weitere würden folgen.

 

Hastig steuerte die junge Türkin das vor ihr liegende Konventsgebäude an. Dank des hellen Schnees konnte sie den Weg sicher finden. Auch ihre Seele völlig aufgewühlt. Sie hoffte darauf, dass die anderen es nicht bemerkten, sie hatte keine Lust, sich jetzt, nach all dem was ihr widerfahren war, auch noch erklären zu müssen.

Sie fror und war erleichtert die wärmenden Hallen des Konventsgebäudes betreten zu können.Dann hauchte sie in ihre kalten Hände und eilte durch den langen von Säulen flankierten Flur. Wo nur befand sich der Kapitelsaal? Ein Labyrinth, diese endlosen, mit einander verschlungenen Gänge. Noch ein paarmal in die falsche Richtung, endlich vernahm sie Stimmengewirr. Folgte dem und befand sich vor dem Eingang zum Kapitelsaal wieder. Aufbruchsstimmung, die Gesprächsrunde war vorüber. Gerade noch rechtzeitig gekommen. Nun sollte sich ein festliches Essen im Refektorium anschließen. Niemand hatte ihre Abwesenheit bemerkt.

Das Essen würde also ohne Colette stattfinden, mit ihrem Erscheinen rechnete keiner mehr.

Betül nahm zwischen den anderen Platz. Elenas Blick haftete kurz auf ihr. Noch war die junge Orientalin eine Unbekannte. Das sollte sich sehr bald ändern.

 

„Und du bist dir ganz sicher, dass es sich dabei um die Parkinsonsche Krankheit handelt.“ erkundigte sich Elena am Morgen darauf, als sich Betül in deren Büro im Erdgeschoss des Konventsgebäudes eingefunden hatte. Kaltes Entsetzen spiegelte sich auf ihren Augen.

„Ich vermute es zumindest. Es deutet einiges darauf hin. Ich kann mich irren, das hoffe ich. Es können auch die Nerven sein. Aber das Zittern der Hände und Arme, die Verkrampfungen, von der Colette spricht. Ich weiß es nicht. Eines steht fest, Colette ist sehr krank, weit mehr, als sie zu zugeben bereit ist.“ entgegnete Betül.

Elena schluckte und Tränen traten in ihre Augen, sie hielt sich beide Handflächen vor dem Mund, stand auf und ging zum Fenster.

„Nein! Nein! Nicht Colette! Bitte nimm mir nicht Colette! Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!“ murmelte Elena mehr zu sich selbst, als dass es für andere bestimmt wäre.

Nach einer Weile hatte sie die Fassung wieder erlangt und setzte sich an ihren Schreibtisch. Doch die geröteten Augen verrieten eine deutliche Sprache.

„Es geht dir sehr nahe? Du hast sie gern, nicht wahr?"

"Pfoooohhhnn!" Schnäuzte Elena geräuschvoll in ihr Schnupftuch.

„Das kann man gar nicht in Worte fassen, was Colette für mich, nein, für uns alle hier bedeutet. Ich … ich muss das erst mal verarbeiten.“ 

„Natürlich weiß Colette nicht, dass ich dir berichte. Sie würde das, so wie ich sie einschätze, niemals gut heißen. Sie möchte ihre zahlreichen Leiden so weit als möglich vor den anderen verbergen und wie ich sehe, ist ihr das gelungen.“ stellte Betül zu ihrer Verwunderung fest.

„Ja. Das ist ihr gelungen. Du findest mich vollkommen fassungslos.“ Hastig atmete Elena ein und aus.

„Ruhe bewahren. Erst mal Ruhe bewahren und überlegen. Zunächst einmal hast du dich völlig korrekt verhalten, es war richtig dass du gekommen bist um mich zu informieren, dafür hast du einiges gut bei uns allen. Wir müssen überlegen was…“

Elena machte eine Pause, bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

„Madleeeeen!“

„Was ist denn? Warum schreist du so?“ rief ihr die Angesprochene entgegen, die sich gerade in der kleinen Teeküche zu schaffen machte.

„Komm her, Madleen! Komm!“

Madleen gehorchte und blickte mit gespannter Mine auf ihre Gefährtin.

„Stell dir vor, Colette ist krank und wir wissen von nichts. Es geht ihr nicht gut und wir bemerken es nicht einmal. Eine Außenstehende muss von weit her anreisen und uns mit der Nase darauf stoßen.“ Elena wies mit der Hand auf Betül.

Dann erhob sie sich und begann wie ein Tiger im Käfig auf und ab zu laufen.

„Das ist unverzeihlich! Das ist schämenswert. Colette ist unsere Königin. Ohne Colette würden wir heute nicht hier sitzen. Wir haben versagt, alle miteinander. Aber mich trifft die größte Schuld. Ich bin ihre Kanzlerin und vor allem Ärztin, ich hätte es sehen müssen. Wie konnte mir so etwas passieren?“

Madleen hielt Elena auf.

„Elena, beruhige dich! Du bist ja vollkommen aus dem Häuschen! Was ist denn geschehen? Kann mich mal einer aufklären? Colette? Die hat sich doch auf eigenen Wunsch von uns abgesondert und hält sich nur noch in der Eremo auf. Woher sollen wir dann wissen, wie es mit ihr steht?“

„Indem wir zu ihr gehen und uns erkundigen.“ Elena fuchtelte energisch mit den Armen in der Luft herum. „Keine hat es getan. Weder du noch ich oder die anderen. Ach Betül, dich schickt der Himmel. Was hat sie denn gesagt? Machte sie irgendwelche Andeutungen was ihr besonders fehlt?“

„Wärme, Zuneigung, Zärtlichkeit! Das hat sie nicht direkt ausgesprochen. Doch das braucht sie gar nicht. Man merkt es sofort, wenn man in ihre  Augen blickt. Zudem leidet sie unter den Entwicklungen hier in Anarchonopolis, das hat sie mir nun wieder auf sehr drastische Weise zu verstehen gegeben. Colette ist eine Hochsensitive. Sie hat ein extrem hoch entwickeltes Gerechtigkeitsempfinden. Ist das nicht intakt, leidet ihre Gesundheit in erheblichem Maße. Sie zieht Krankheiten an, wie ein Magnet die Eisenspäne.“

Die Erklärung leuchtet  ein. Wut überkam sie. Wut über den Umstand, dass ihr diese Erkenntnis nicht von selbst gekommen war.

Auf leisen Sohlen verdrückte sich Madleen wieder in die Teeküche , sie kannte ihre Frau zu gut, um zu wissen, dass man jetzt nicht gut mit ihr streiten konnte.

Resigniert nahm Elena wieder Platz.

„Natürlich! Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich blicke auch auf einige erhebliche Fehlentwicklungen in Anarchonopolis. Ich werde eingreifen, schon bald, bevor es zu spät ist. Doch das kann warten, wichtig ist, dass wir Colette wieder aufbauen und ihr geben, worauf sie einen Anspruch hat. Natürlich, alle sind zu ihr gegangen, als es ihnen schlecht ging, heulten ihr die Ohren voll, ließen sich von ihr trösten und streicheln. Doch kaum hatten sich deren Probleme gelöst, vergaßen sie Colette ganz schnell. Chantal, um nur ein Beispiel zu nennen. Weil ihre Liebste Eve aufgrund der Grenzbefestigung nicht zu ihr dringen konnte lief sie voller Verzweiflung zu Colette, solange bis diese Kopf und Kragen riskierte, zu Neidhardt ging, alles in Bewegung setzte, dass die beiden zusammenkommen. Nun sind die wieder vereint, schaukeln sich auf Wolke 7 und Colette ist vergessen. Ich könnte dir noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele aufzählen, aber ich tue es nicht, denn mich trifft die größte Schuld. Ich sollte mit gutem Beispiel voran gehen und…

Madleeeeeen!“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“ Madleen stürmte aus der Küche.

„Sag mal, wann hast du das letzte Mal mit Colette geschlafen?“

„Häh? Mit … mit Colette geschlafen? Warum willst du das wissen? Ist das so wichtig?“

„Es ist sogar sehr wichtig!“

„Lass mich überlegen! Das war…. Hm, äh das war vor? Ich weiß es nicht. Ist schon ne Weile her, schätze ich!“

„Sicher! Die Antwort habe ich erwartet! Ich mache dir keinen Vorwurf Liebling, denn mich trifft, wie gesagt, die größte Schuld. Wir müssen etwas tun  und zwar sofort. Setzt dich zu uns, Madleen und leg das Geschirrtuch weg, das macht mich nervös. Betül, wann soll euer Dhikr stattfinden?“

„Morgen Abend! Sheikh Abdul hat sich zur Meditation zurückgezogen, um sich gut vorzubereiten.“ antwortete die Angesprochene.

„Gut, das ist sehr gut! Haben wir Termine heute Abend?“

„Ja, der Arbeitskreis Landschaftspflege hat dich zu einem Vortrage eingeladen, du sollst …“

„Absagen, Madleen! Das hat Zeit!“

„OK, wenn du es sagst!“

 „Dann haben wir heute Abend Luft. Wie wärs mit einem großen Colette-Verwöhnabend? Macht ihr mit?“

„Natürlich! Ist doch keine Frage!“ erklärte sich Madleen sofort bereit.

„Ja, gern! Aber ich müsste selbstverständlich wissen, was ich dort zu tun habe.“ stimmte auch Betül dem Vorschlag zu.

„Sehr schön, Betül! Wir drei, das ist vollstimmig. Bei der Gelegenheit können wir uns näher kennen lernen. Passt auf, als erstes kochen wir was Gutes. Lass mich überlegen, Ja richtig! Zipfelmützen, das ist Colettes Leibgericht!“ schlug Elena vor.

„Zipfelmützen?“ Betül konnte sich darunter nicht viel vorstellen.

„Das sind mit Schweinehack gefüllt Gemüsepaprika, dazu gibt es Reis. Als Nachtisch Vanilleeis mit Schlagsahne und heißen Himbeeren, das mag sie besonders gern.“

„Schweinehack, nun für mich ist das nicht sehr geeignet.“ erinnerte die Muslima an ihre Speisegebote.

„Oh, ich vergaß. Nun, wir können auch Rinderhack nehmen.“ schlug Elena vor.

„Ich denke ihr seid Vegetarier?“ stellte Betül mit Verwunderung fest.

„Wir arbeiten dran. Vegan erscheint uns zu radikal. Aber vegetarisch wollen wir schon leben, aber wir setzen uns nicht unter Druck. Im Moment haben wir alle möglichen Esskulturen. Vegan, vegetarisch, Rohkost, Trennkost, Koscher, dann kommt eben jetzt noch die muslimische Küche hinzu. Ist nicht immer ganz einfach.“

„Das hast du schön gesagt. Ist noch harmlos ausgedrückt!“ stöhnte Madleen.

„Gut! Aber zurück zu Colette. Nach dem Essen geht es in den Whirlpool, dort verwöhnen wir unsere Königin mit einem heißen Lavendelbad. Im Anschluss Massage. Wir beginnen ganz korrekt mit richtiger Physiotherapie, dann geht es langsam ins Kuscheln und streicheln über, bis Colette in unseren Armen einschläft. Na? Was haltet ihr davon?“

„Hört sich gut an! Ich denke, das ist genau das, was Colette am dringendsten bedarf. Ich bin dabei.“  bot Betül nochmals an.

„Wäre nur noch die Frage zu klären, wie wir es anstellen, sie aus ihrer Eremo zu locken. Könnte sein, dass das gar nicht so einfach ist.“ gab Madleen zu bedenken.

„Hm, mir wird schon etwas einfallen, keine Sorge. Also, dann haltet euch bereit, ich zähle auf euch. Ich bin mir sicher, es wird ein toller Abend.“ meinte Elena.

Betül verabschiedete sich aus der Runde und ließ die beiden mit sich allein.

„Ich hoffe nur, dass es wirklich nichts Erstes ist. Ich muss Colette dazu bewegen sich gleich morgen von mir untersuchen zu lassen. Ich muss wieder gutmachen, was ich versäumte.“ klagte sich Elena erneut an.

„Du hast eben deinen Kopf überall. Du kannst nicht für jeden den Engel spielen. Niemand wird dich deshalb anklagen.“ versuchte Madleen die Sache herunterzuspielen.

„Aber für Colette gibt es Ausnahmen. Sie ist unsere Königin! Wir sind es ihr schuldig. Ich werde kämpfen, mit allem, was mir zur Verfügung steht. Es gibt drei Menschen, deren Verlust mich bis ins Mark treffen würde. Der eine bist du, die zweite meine kleine Tessa und die dritte ist Colette. Ohne euch wäre mein Leben nicht mehr lebenswert.“

 

Elena gelang es nach langer Überredungskunst Colette nach unten in die angenehm warme WG-Wohnung zu locken. Als diese frierend und unter Schmerzen eintraf, dampfte das Essen bereits auf den Tellern und der Duft regte ihren Appetit an.

Die Überraschung war gelungen. Alle sechs ließen es sich schmecken. Die kleine Tessa war selbstverständlich auch dabei und Kristin, die sich im Anschluss wieder um die Kleine kümmern würde. Ein schon fast zum Alltag gehörendes Ritual, denn die beiden Mamas würden wieder mal über Nacht mit anderen Dingen beschäftigt sein.

 

Nach dem erholsamen Bad genoss die kranke Königin, auf dem Bauch liegend, die sechs zärtlichen Hände auf ihrem nackten Körper. Elena bette Colettes Kopf in ihrem Schoß und strich mit sanften Bewegungen durch Colettes Haar, über den Nacken die Schulterblätter hinunter bis zu ihren Lenden, während sich Madleen und Betül weiter unten, je zur Rechten und zur Linken platzierten um Colettes Beine mit geschickten Griffen  zu entkrampften. Gekonnt verstand es Betül den Ischiasnerv in Colettes linkem Oberschenkel zu lösen und verschaffte ihr wohltuende Linderung.

Colette honorierte alles mit einem zufriedenen Knurren.

„Na, meine Große, wie geht es dir? Fühlst du dich schon ein wenig besser?“ hauchte Elena der Patientin sanft ins Ohr.

„Hmmmm, wie auf den Schwingen der Engel. Das ist gut! Das ist wirklich gut. Da habt ihr euch was Schönes ausgedacht.“ bedankte sich Colette mit schläfrig klingender Stimme.

„Für Colette nur das Beste! Warum bist du nicht zu mir gekommen? Wir wollen doch alles mit einander teilen, die Freude, aber auch den Schmerz. Ich hatte  keine Ahnung, dass es dir so schlecht ging.“

„Ach, ich will nicht, dass du oder die anderen euch zusätzlich belastet. Ihr habt den Kopf voll mit allem möglichen, vor allem du. So lange es geht, will ich niemanden zur Last fallen.“

„Unsinn! Du fällst niemanden zur Last. Mir schon gar nicht. Für dich hab ich immer Zeit.

Gleich morgen früh kommst du zu mir, dann machen wir einen richtigen Gesundheitscheck, mit allem, was dazugehört.“ forderte Elena mit Nachdruck.

„Ja, ich denke, es wird wohl das Beste sein.“ bestätigte Colette nun.

„Du musst mich einfach darauf stoßen, große Schwester. Es stimmt! Ich habe viel um die Ohren, deshalb vergesse ich eben auch vieles. Tritt mir auf die Füße, gib mir eine Klaps auf den Po wenn es wieder vorkommt. Du bist jederzeit dazu berechtigt.“

„Ich werde mich erinnern. Es geht aber nicht nur um mich. Du kannst dir denken, warum ich so leide?“

Elena nickte wortlos.

„Wir müssen die Schwachen schützen, die Randexistenzen aufrichten, die bedürfen besonderer Fürsorge. Ein elitärer Ungeist macht sich breit in Anarchonopolis. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir haben unseren Kampf nicht geführt damit sich schon wieder ein Kreis von Müßiggängern hier niederlässt, ständig bestrebt alles zu dominieren. Und die Polybeziehungen dürfen nicht zum Maß aller Dinge werden. Denkt an jene, die sich nach Liebe sehnen und daneben stehen. Das stiftet Unfrieden. Wir müssen gegensteuern, solange uns noch die Zeit dafür bleibt.“

„Ich weiß, ich weiß. Ich mache mir doch auch Gedanken. Ich habe zugesehen und zu viel durchgehen lassen. Ich war der Meinung, der Freiheit ihren Lauf zu lassen, doch das war ein Irrtum. Freiheit ist wie ein wildes Pferd, erst wenn es gezügelt wurde, entfaltet es echte Schönheit. Wie brauchen einfach bessere Regeln.“ stimmte Elena dem zu.

„Und Gerechtigkeit, immer wieder Gerechtigkeit. Ich denke manchmal, wäre doch nur Kovacs noch am Leben, um uns von Zeit zu Zeit gründlich die Leviten zu lesen.“

„Du wirst seine Lehre weiter in Ehren halten. Es war kein Zufall, dass er dich auserwählte sein Vermächtnis zu hüten. Dich und nicht etwa mich. Er wusste, was er an dir hatte. Du bist die Prophetin, die Mahnerin in der Wüste, die immer wieder aufsteht, um unsere Bestimmung wach zu halten. Du bist die Visionärin, die nach vorne schaut. Was bin ich dagegen? Die große Managerin und sonst gar nichts.“ gab Elena zu verstehen.

„Sei es weiter, aber vergiss dabei nicht, an dich selbst zu denken. An dich und an deine Liebe.“ Colette richtet ihren Blick auf Madleen, die es ihr mit einem sanften Lächeln dankte.

„Auch das werde ich beherzigen. Du hast recht, Colette, du hast ja so recht mit jedem Wort das über deine Lippen kommt. Wir müssen weiter zusammenstehen, du und ich. Nur gemeinsam sind wir stark und können das Schiff durch diese schwere Zeit steuern. Wir brauchen dich, Colette, heute dringender denn je“

„Ich werde es versuchen, Elena! Ich werde es versuchen! Aber niemand lebt länger, als seine Bestimmung zulässt.“

Colettes Mahnung halten in Elenas Ohren. Auch Betül hatte sehr genau zugehört. Da sprach eine Prophetin. Einmal mehr fühlte sie sich bestätigt in ihrem Vorhaben, hier in Anarchonopolis ein neues Leben zu beginnen, wollte als Matrosin einsteigen, um die beiden Kapitäninnen dabei zu unterstützen, das schwer manövrierbare Akratasien sicher durch den Sturm zu geleiten.

„Hast du Lust auf einen ordentlichen Frühjahrsputz, Colette? Sobald ich ein wenig Zeit erübrigen kann, werden wir vieles ändern. Leider ist es nach wie vor zu früh für eine vollendete Akratie. Die meisten Menschen sind einfach noch nicht reif für ein solches Leben. Es bedarf also nach wie vor einer Art Elite, um sie immer deutlicher in diese Richtung zu stoßen.  Wir kommen nicht umhin, richtig gehende Schutzschilde zu installieren, um die Schwachen und die Abgehängten zu schützen, sonst wird die angestrebte Freiheit wieder nur zum Selbstläufer für einige Wenige.

Aber ich brauche dich für diesen Kampf, dich vor allem und deshalb musst du wieder gesund werden.“ redete Elena Colette weiter ins Gewissen.

Als die Massage beendet war, verabschiedeten sich alle von Colette, die heute in ihrem Zimmer in der WG schlief. Schweren Herzens nahm auch Betül Abschied. Gerne wäre sie bei ihrer neuen Königin geblieben, doch schien es dafür noch zu früh. Sie kleidete sich an und verschwand dann in den Gängen der Abtei, dabei lange vor sich hin sinnierend. Schön warm war es, während sich draußen frostige Kälte ihre Wege bahnte. Wie gut, dass Colette hier sicher schlief und nicht wieder in die Eremo zurückkehrte.

Die junge Schönheit eilte weiter durch den Korridor, bis sie den Gästetrakt gefunden hatte. Sie teilte sich ein Zimmer mit einer Schwester aus dem Sufi-Orden. Die schlief bereits tief und fest als Betül den Raum betrat, weshalb sie kein Licht machte und versuchte sich so geräuscharm wie nur möglich auszukleiden. Gedanken, immer wieder diese vielen Gedanken. Wie würde es weitergehen? Der Abschied von ihrer Gemeinde würde ihr nicht leicht fallen. Doch konnte sie auf diese Weise eine Neue gewinnen. Würden die Schwestern von Anarchonopolis sie überhaupt wollen und akzeptieren? Sie hatte Elena noch gar nicht darauf angesprochen. Hier bestand dringender Nachohlebedarf.

 

Als Colette am Morgen erwachte, fühlte sie sich erstaunlich gut, der Verwöhnabend hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Sie blieb seit langem wieder einmal länger im Bett und entspannte sich. Langsam schritt sie in den jungen Tag. Es bestand kein Grund zur Hektik, sie hatte Zeit in Fülle. Auch den heutigen Tag wollte sie zurückgezogen in der Eremo verbringen, sie verspürte keine Sehnsucht nach Gesellschaft, auch wenn ihr die unerwartete Begegnung mit Betül gut bekommen war. Sie freute sich auf ihre Klause und ihren Schreibtisch. Viele neue Gedanken wollten in Worte gekleidet werden.

In aller Ruhe nahm sie ihr Frühstück, das Madleen bereitgestellt hatte, ein, studierte dabei sorgfältig einige der Zeitungen, die jeden Tag in Fülle eintrafen.

 

Es war schon gegen Mittags als Colette gemächlichen Schrittes über das Abteigelände in Richtung nördlicher Ausgang schlenderte. Was das Wetter betraf, so kündigte sich ein Umschwung an, die schönen sonnigen Wintertage der letzten Woche drohten einer neuen Schneefront Platz zu machen, die von Norden her nahte. Sollte sie lieber in die WG im Konventsgebäude zurückkehren?

Die dortige Zentralheizung sorgte für andauernd wohlige Wärme, während ihre erste Tätigkeit in der Eremo darin zu bestehen hatte, den Ofen anzuheizen. Sie beschloss weiter zu gehen wie geplant. Sie war warm eingepackt und der Ofen heizte üblicherweise gut. Schon eine halbe Stunde nach Entfachen des Feuers erfüllte die Wärme das ganze Haus. Die eigenartige Architektur der Eremitage machte das möglich. Es gab in dem ganzen zweistöckigen Gebäude keine Türen, mit Ausnahme der Kellerluke die zur Werkstatt und dem Holzlager führte.

Ansonsten bestand das kleine Haus eigentlich nur aus einem einzigen Raum, unterteilt in verschiedene Teilbereiche. Weitgehend unverändert von den Mönchen übernommen, gab es vor Colettes Einzug Renovierungsarbeiten wie etwa den Einbau einer modernen Nasszelle, ausgestattet mit einer Warmwassertherme,  die gleich neben der Eingangstür eingerichtet wurden.  Eine Wasserleitung wurde verlegt, schließlich erfolgte die Elektrifizierung. Im Frühjahr wollte man auch eine Heizung installieren.  Im Obergeschoss hatte man den altertümlichen Schlafalkoven entfernt, stattdessen konnte Colette nun die Vorzüge eines bequemen Doppelbettes genießen, das dadurch aber fast den ganzen Raum ausfüllte. Ihr Schlafgemach war über eine schmale Treppe zu erreichen. Daneben befand sich die kleine Kapelle, die Colette für ihre Meditationen nutzte. Im Untergeschoss ein Wohn-und Arbeitsraum, recht groß aber verwinkelt. Die Klause war erfüllt von einer geheimnisvollen Aura. Colettes Schreibtisch thronte in der Mitte. Einen festen Stand hatte er bis heute nicht gefunden, da ihn die Königin alle paar Tage versetzte. Unordnung hatte sich verfestigt. Colette litt sehr unter dieser Tatsache doch war es ihr bisher nicht gelungen gründlich aufzuräumen.

„Ich muss Ordnung schaffen! Ich muss mich dazu durchringen! Ich darf nicht weiter verwahrlosen!“ murmelte sie auf der Wegstrecke ständig vor sich hin.

Noch war sie schmerzfrei, doch das konnte sich beständig ändern. Vor allem die anfängliche Kälte würde ihr zusetzen.

Als sie ein wenig erschöpft die Eremo erreicht hatte und ihr Häuschen betrat, traute sie ihren Augen nicht. Was war hier geschehen? Nicht nur die angenehme Wärme wirkte ausgesprochen positiv auf ihre Emotionen. Sie kniff die Augen zusammen, nein, es war keine Fata Morgana. Alles tipptopp aufgeräumt. Keine Papiere oder Kleidungsstücke mehr auf dem Boden, statt dessen fein säuberlich verstaut. Der Schreibtisch sauber und korrekt hergerichtet, jeder Bleistift befand sich exakt auf dem dafür bestimmten Platz. So mochte sie es. Hatten sich hier über Nacht die Heinzelmännchen betätigt? Colette schritt durch den Raum und auf ihrem Gesicht bildete sich ein zufriedenes Lächeln.

„Hallo? Ist jemand hier?“ rief sie in den Raum, doch es antwortete keiner.

„Huhu! Wo seid ihr?“

Die Tür wurde von außen geöffnet und Betül trat ein.

„Guten Morgen, Colette! Nein guten Tag muss ich schon sagen! Ich erwartete dich früher, deshalb hatte ich es eilig damit, alles auf Vordermann zu bringen“

„Hast du hier aufgeräumt?“

„Ja, es kam einfach über mich. Freust du dich?“ gestand Betül.

„Aber sicher! So hat es hier schon lange nicht mehr ausgesehen. Ich danke dir! Aber du bist doch unser Gast. Du solltest deinen Aufenthalt nutzen um dich zu erholen, dich umzusehen und nicht um zu arbeiten.“ entgegnete Colette, während sie erneut ihren Blick über den Raum gleiten ließ.

„Hat Elena dich angewiesen, das zu tun?“

„Nein, Elena weiß nichts von alledem. Ich habe es gern getan. Ich wollte dir damit zeigen, wie sehr ich dich verehre!“

„Das brauchst du nicht, ich glaube dir auch so.“

Betül blickte verlegen zu Boden und fuhr fort:

„Verehrung ist nicht das einzige Gefühl, das ich dir entgegenbringe!“

„Sondern?“

„Ich liebe dich, Colette!“ Das Geständnis überraschte Colette nicht.

„Auch das ist mir nicht entgangen. Ich spürte es schon, als sich unsere Blicke gestern das erste Mal kreuzten. Ich glaube dir. Du musst es nicht durch Taten zu beweisen versuchen. Trotzdem freue ich mich natürlich über die aufgeräumte Wohnung.“

„Also bist du nicht geschockt! Da bin ich beruhigt!“

Colette zog den Stuhl unter ihren Schreibtisch hervor und setzte sich.

„Das bin ich schon, nur falle ich nicht gleich aus allen Wolken, obgleich ich es müsste. Ich verstehe mich im Moment selber nicht genau. Es ist so, als ob man sich in den Finger schneidet, in den ersten Momenten spürt man keinen Schmerz aufgrund des Schocks. Später aber stellt er sich doch noch ein, oftmals heftiger denn je.“ versuchte Colette zu erklären.

„Ich liebe dich, ich tat es eigentlich schon damals, als du in unserer Gemeinschaft lebtest. Aber zu jener Zeit war ich noch unsicher. Seit gestern weiß ich es zu 100 Prozent.“

„Du darfst mich nicht lieben!“

„Aber warum?“ tiefe Enttäuschung zeichnete Betüls Gesicht. 

„Weil es so unwahrscheinlich ist, dass es nicht wahr sein kann. Betül, du bist 25, ich habe die 50 überschritten. zudem bin ich eine Kundra und hoch sensitiv, ferner mit einer Reihe körperlicher Gebrechen gesegnet und ich könnte womöglich bald den Verstand verlieren. Es kann nicht sein. Begreife es. Ich müsste lügen, würde ich jetzt sagen, dass ich deine Gefühle nicht erwidere, ich tue es und von Augenblick zu Augenblick brennt es heißer in meinen Adern. Da ist ja das Schlimme. Beende es, bevor es zu spät ist.“

„Aber warum? Warum denn?“ Tränen bildeten sich in den Augen der jungen Frau.

„Nicht weinen. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich möchte dich nur vor einem ganz großen Fehler bewahren.“ sprach Colette und auch ihre Stimme begann in ein leichtes Schluchzen zu münden.

„Vor wem läufst du davon? Du kannst mir nichts vormachen! Eine Sensitive kann man nicht belügen. Du bist wunderschön, sinnlich und voller Liebreiz. Gibt es da niemand anderen?“

„Nein!“

„Nein? Das glaube ich dir nicht!“

Betrübt starrte die Angesprochene zu Boden und gab es schließlich zu.

„Doch!“

Sie lief zum Tisch an der vorderen Wand und begann in ihrem Rucksack zu kramen. Als sie fündig wurde, kam sie zurück und streckte Colette ein Bild entgegen. Das Porträt eines jungen, ausgesprochen gut aussehenden Mannes Ende zwanzig, Anfang dreißig mit der typischen orientalischen Ausstrahlung.

„Das ist Yussuf. Mein Verlobter. Wir sind uns versprochen, seit ich 11 Jahre alt war. Längst sollten wir verheiratet sein. Doch ich verstand es stets, die Sache hinauszuzögern. Das ist einer der Gründe, warum ich mich den Sufis anschloss. Meine Familie war davon ganz und gar nicht begeistert, noch viel weniger damit, dass ich  hierher gekommen bin.“

„Hmm, sieht nicht übel aus, könnte mir auch gefallen.“ erwiderte Colette während sie weiter wie gebannt auf das Bild starrte.

„Sicher sieht er gut aus und reich ist er zudem auch noch.“

„Wie verhält er sich dir gegenüber. Behandelt er dich gut?“

„Absolut korrekt! Überhäuft mich mit Geschenken Ich bin inzwischen stolze Besitzerin eines Ferienhauses in Antalya und vieler anderer Dinge.“ antwortete Betül zu Colettes Erstaunen.

„Also fassen wir zusammen: Er ist jung, ich vermute auch gesund, sieht gut aus, ist reich und behandelt dich gut. Und das willst du alles aufgeben, nur um dich um eine alternde Kundra zu kümmern? Das kann unmöglich dein Ernst sein. Bedenke, welche Perspektiven du über Bord wirfst.“ gab Colette zu bedenken.

„Ja, jetzt behandelt er mich gut. Noch bin ich nicht seine Frau. Und dann? Er ist streng gläubiger Muslim und stockkonservativ. Auf mich wartet der goldene Käfig. Er will mich, daran besteht kein Zweifel, aber er will mich ganz für sich allein. Zu sagen habe ich dann rein gar nichts mehr. Jede Entscheidung muss ich von ihm absegnen lassen und er...er verlangt nach der Eheschließung die Ganzkörperverhüllung.“ offenbarte Betül unter Tränen

„Ganzkörperverhüllung? Eine Burka?“

„Ja.! Zumindest darf ich nur die Augenpartie unverhüllt lassen. Mein Gewand sollte günstigstenfalls tiefschwarz sein, auch im Sommer.“

„Das ist in der Tat starker Tobak. Dann hast du sicher die rechte Entscheidung getroffen, um deinen eigenen Weg zu gehen. Du bist frei, niemand hat das Recht einen anderen Menschen zu besitzen.“ stimmte Colette in dieser Hinsicht zu.

„Ich möchte hier bleiben. Ich habe heute in aller Frühe mit Elena gesprochen und um Aufnahme in die Schwesternschaft gebeten. Sie hat nichts dagegen einzuwenden und mir Hoffnung gemacht, dass die anderen ebenfalls zustimmen.“

„Das werden sie. Das werden sie mit Freuden. Du brauchst zwei Fürsprecherinnen, die für dich bürgen, eine hast du schon, ich bin bereit. Es ist nicht vorteilhaft, Elena als zweite Person zu benennen, die gibt sich der Form halber stets neutral. Aber mit Sicherheit ist Madleen dazu bereit oder eine andere aus dem inneren Kreis. Ich werde mich darum kümmern.“ bot Colette an.

Betül stürzte auf Colette zu und fiel ihr um den Hals.

„Danke! Ich danke dir! Mir fällt ein Stein vom Herzen, ach was rede ich, ein ganzes Gebirge. Du glaubst nicht, wie ich mich auf das neue Leben freue.“ Betül schmiegte sich eng an ihre Angebetete, Colette genoss es sichtlich.

„Da hast du dir eine wunderbare Gemeinschaft ausgesucht. Die Töchter der Akratie sind so etwas wie der exklusivste Frauenbund der Welt. Gäbe es eine Entsprechung, fällt mir da nur das Kardinalskollegium im Vatikan ein. Aber im Vergleich zu diesem aristokratisch anmutenden Club älterer, unverheirateter Männer, geht es hier ausgesprochen salopp und erfrischend zu.“

„Ich sehe es deutlich vor mir. Ich fühle mich wohl bei euch. Schon als ich hier eintraf, wusste ich, das kann meine neue Heimat werden. Dann möchte ich dir dienen, für dich da sein, mich bemühen, dir jeden Wunsch von den Augen abzulesen.“ begeisterte sich die junge Frau weiter.

„Hoppla, da hast du etwas falsch verstanden. Die Schwestern sind ein egalitärer Bund, es gibt hier keine Dienerinnen. Alle sind gleichwertig, sollten es zumindest sein, im Moment gibt es sicher noch Defizite, aber die gedenken wir nach und nach auszugleichen. Wir wollen keine Hierarchie. Auch wenn man mich Königin nennt, bin ich eine Gleiche unter Gleichen.“ versuchte Colette ihr zu verdeutlichen.

„Ich habe davon gehört. Es ist eine faszinierende Vorstellung, euer Freiheitsgedanke. Ich werde viel lernen müssen, ich, die bisher strengen Hierarchien unterworfen war. Aber mit deiner Hilfe werde ich es schaffen, du wirst meine neue Meisterin, so wie es bisher Sheikh Abdul war.“

Colette wollte etwas erwidern, ließ es aber. Betül würde, wie viele andere auch, langsam in die neue Gemeinschaft hineinwachsen. Wenn sie in ihr eine Meisterin sehen wollte, dann musste man ihr fürs erste diesen Glauben lassen.

„Ich liebe dich, Colette, ich liebe dich so sehr. Ich kann es immer nur wiederholen.“

Nun sah sich Colette genötigt, erneut einzuschreiten, obgleich das Gehörte in ihren Ohren wie eine wundersame Ballade klang.

„Wir lieben uns alle, wir alle sind Schwestern hier und ich werde dich wie eine Schwester lieben, so wie ich es bei den anderen tue.“

Natürlich, das auch! Aber du weißt, wie ich das meine.  Versteh doch, ich empfinde für dich weit mehr als für eine Schwester. Ich möchte deine Gefährtin sein, mit dir durchs Leben gehen, an deiner Seite stehen, in guten wie in schlechten Tagen.“

Colette befreite sich äußerst ungern aus Betül Umarmung und blickte ihr in die Augen.

„Hör mir gut zu. Auch wenn es dir Schmerzen bereitet. Ich sagte dir ebenfalls bereits vorhin, dass es nicht möglich ist. Wir können kein Paar werden! Lass es mich erklären.

Im Moment ist alles neu, noch zieht dich mein Silberhaar in den Bann. Es könnte  mit uns durchaus eine Weile funktionieren. Doch der Tag wird kommen, da sich unsere Liebe einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt sieht, just in dem Moment, wenn er kommt, um dich mir weg zu nehmen.“

„Wer???“

„Der Märchenprinz! Du wirst ihn treffen über kurz oder lang und dein Herz wird unversehens in Flammen stehen. Es könnte sich natürlich auch um eine Frau handeln, das Geschlecht ist nicht von Belang. Bleiben wir der Einfachheit einfach mal bei einem Mann.

Du wirst dich neu verlieben und das mit einer Heftigkeit, dass es dir die Sprache verschlägt. Du stellst auf einmal fest, dass du jung bist und noch so vieles tun möchtest, all jene Dinge, die du mit mir nie unternehmen könntest. Jung und Jung passt eben doch viel besser zueinander, wirst du dir sagen. Vielleicht begnügst du dich eine Weile mit kleinen Seitensprüngen, doch eines Tages wird dich auch  das nicht mehr befriedigen und du wirst mehr verlangen, denn die neue Liebe schmeckt  so süß wie reife Trauben, ab diesem Moment beginnst du mir weh zu tun. Selbstverständlich tust du das nicht vorsätzlich. Du suchst nach Vorwänden mir zu erklären, wie es um dich steht und dass deine Liebe zu mir immer mehr erkaltet.

Liebe Colette, ich muss dir etwas gestehen. Ich habe mich verliebt, er ist ein so netter und süßer Typ, es ist so toll mit ihm und ich kann nicht mehr ohne seine Liebe leben. Ich werde nicht mehr wie bisher mit dir zusammen sein. Aber natürlich bleiben wir gaaaaanz gute Freunde. Das ist Unsinn, man kann nicht mit jemanden befreundet sein, den man auf solch innige Weise liebt und dabei zusehen, wie er sich mit einer anderen Person vergnügt. Ich weiß dass unsere Polyamorytheoretiker da anderer Meinung sind, doch den Beweis dafür sind sie bisher schuldig geblieben.

Tief treibst du das scharfe Schwert in mein Herz und die Verwundung wird verheerend sein. Ich bin eine Sensitive, es könnte den Tod für mich bedeuten.“

„Niemals!“ unterbrach Betül plötzlich Colettes Redefluss. „Ich könnte dich nie verletzen! Ich will dich und keinen anderen. Ich schwöre es im Namen des Propheten und allem, was mir heilig ist. Was kann ich denn noch tun, um dich zu überzeugen.“

„Sag niemals nie und leiste vor allem keinen Eid, du könntest es bitter bereuen, dann wenn die Zeit der Entscheidung naht.“

Betül begann zu weinen, Colette versuchte sie so gut es eben ging zu trösten. Strich langsam durch deren samtweiches, pechschwarzes Haar.

„Warum tust du das, Colette? Warum musst du mit solchen Reden alles zerstören? Ich hab mich so auf die Begegnung gefreut. Aber die Auseinandersetzung gestern und heute deren Fortsetzung machen alles kaputt. Schon damals war ich in dich verliebt, als du eine Zeitlang in unserer Gemeinschaft lebtest und immer so traurig warst. Deine Heimat hattest du verloren, mittellos und krank, so kamst du bei uns an. Du fühltest dich als Randexistenz, von deinen besten Freunden verraten und verkauft.

Und heute? Du bist Königin von Akratasien, zudem eine anerkannte Philosophin und Mystikerin. Von dir geht eine spirituelle Kraft aus, wie ich sie noch bei keinem Menschen erlebte. Hübsche junge Männer gibt es wie Sand am Meer, ebensolche hübschen Frauen, aber es gibt nur eine Colette von Akratasien.“

„Betül, ich glaube dir! Ich weiß, dass du mich nicht narren willst. Gerade darin liegt das Problem. Sieh mal, ich habe diese Lebensform als Einsiedlerin frei gewählt, weil sie mir am ehesten entspricht. Ich lebe allein, von allem abgeschirmt, trotzdem werde ich von einer wunderbaren Gemeinschaft getragen und versorgt. Etwas Besseres gibt es nicht. Die Mauer dort draußen schützt mich ebenso wie jene, die ich um mein Herz errichtete. Ich fand mich damit ab, dass auf mich nirgendwo eine echte große Liebe wartet. Niemals habe ich mich in meinem Leben besser gefühlt.“

„Ach nein? Und was war das gestern? Da hatte ich aber einen ganz anderen Eindruck. Du bist nicht aufrichtig, Colette. Schade! Gestern kamst du mit deiner Offenbarung der Wahrheit ein ganzes Stück weit näher. Du glaubst das Problem zu lösen, indem du es negierst! Du willst niemanden mehr an dich lassen? Da werde eben eine Einsiedlerin! Verdammt noch mal, als ob das eine das andere ausschließt! Dann werde glücklich in der Einsamkeit!“

Weinend verließ die junge Frau die Hütte, mit lautem Knall flog die Tür ins Schloss. Ihr lautes Schluchzen konnte Colette selbst noch aus der Ferne hören.

Dann stützte sie die Ellenbogen auf die Tischplatte und vergrub ihr Gesicht in den Handflächen.

Auch sie begann zu weinen. Es war bereits zu spät. Längst war ihr Herz verwundet. Diese junge Frau verkörperte alles, wonach sich Colette in ihrem tiefsten Inneren sehnte und nie bekommen hatte. Schon lange verheilt geglaubte Wunden brachen auf und schmerzten fürchterlich. Betül war der Mensch, dessen sie so dringend bedurfte. Geliebte, Gefährtin, Tochter, Schülerin, Fürsorgerin, Mitarbeiterin an ihrem Werk, das alles konnte sie sein und die Liste ließe sich beliebig erweitern.

Eine brennende Versuchung, wie konnte sich Colette all dem entziehen? Wollte sie das überhaupt? Zwei Seelen kämpften hart in ihrer Brust, die der spirituellen Eremitin, allem weltlichen enthoben, einsam, aber frei wie der Wind und unverwundbar. Und die andere Seite der sich nach Liebe und Zärtlichkeit Sehnenden, sich auf ein Abenteuer Einlassende und somit zutiefst verwundbar und gefährdet.

 

Betül zog sich auf ihr Zimmer zurück und verbrachte weite Teile des Nachmittags heulend in ihrem Bett. Am Abend sollte das Dhikr stattfinden, die Sufi-Meditation mit Rezitationen, Musik und Derwischtanz. Um sich abzulenken, beteiligte sie sich an der Vorbereitung, indem sie in der Küche half, das Festessen herzurichten.

Ursprünglich wollte man die Andacht in der Basilika abhalten, ein muslimisches Ritual in einer ehemals christlichen Kirche, das hatte etwas. Doch aufgrund der frostigen Temperaturen wurde der Entschluss gefasst, in den großen Meditationsraum im Obergeschoss des Konventsgebäudes auszuweichen.

 

Eine mystische Aura von besonderer Dichte senkte sich auf all jene, die sich im Meditationsraum eingefunden hatten. Es bestand kein Zweifel, dass sich hier gleich etwas Besonderes ereignen würde. Letzte Vorbereitungen liefen. Um 19 Uhr hätte das Dhikr beginnen sollen, nun war es schon viertel nach. Zeit spielte hier nicht die entscheidende Rolle. Junge Sufi-Männer und Frauen schritten durch die Reihen der am Boden sitzenden Besucher und reichten Gläser mit dampfendem Cay, dem traditionellen würzigen, stark gesüßten türkischen Tee.

Dann betrat Sheikh Abdul den Raum und wurde von einem halben Dutzend junger Sufi-Männer ehrerbietig begrüßt indem er den schwarzen Fes des Meisters empfing und sich auf den Kopf setzte, dann geleitet man ihn auf seinen Platz in der Mitte am Boden auf einem Lammfell sitzend und den hölzernen Gehstock in den Händen haltend. Einige traten vor, um ihn auf traditionelle Weise zu begrüßen. Das linke Bein nach hinten streckend und das rechte an den Körper pressend, dabei die rechte Hand des Sheikh küssend.

Die Teilnehmer hatten sich im Kreis um den Sheikh platziert, die Männer in einem inneren, die Frauen in einem äußeren. Elena und die Schwestern hatten dieser patriarchalen Sitte zugestimmt, obgleich sie sich im totalen Widerspruch zu ihrer radikal-feministischen Gesinnung befand. Einige Schwestern fanden das unerhört und blieben aus Protest dem Ritual fern. Doch Elena wollte mit dieser Geste ihren Respekt bekunden.  

Dann kehrte endlich Ruhe ein, Zeit einer kurzen stillen Sammlung.

Viele bewegte nur eine Frage: Würde Colette erscheinen? Bisher war sie noch nicht eingetroffen und die meisten zweifelten daran, ob sie überhaupt noch kommen würde.

Der Sheikh war gerade im Begriff die Hände auszubreiten um mit einem Gebet die Zeremonie zu eröffnen, als Colette in den Raum schritt. Alle Augen richteten sich auf Akratasiens großes Mysterium. Ein sanftes Stöhnen der Erleichterung war aus verschiedenen Ecken zu vernehmen.

Bekleidet war Akratasiens Königin mit einem langen Kleid aus schwarzem Samt, das ihr bis etwa einer Handbreit über die Knöchel reichte. Um die Taille eine pinkfarbene Schärpe  mit einer tiefgrünen Kristallbrosche. Über der rechten Schulter wallte eine purpurrote Toga quer über ihre Brust. Auf dem Kopf ein dunkelgrünes Tuch wie einen Turban nach hinten gebunden. Alle Farben der akratasische Flagge in ihrer Kleidung vereint. Eine Goldene Kette mit einem Anhänger in der Form des berühmten Labyrinthes von Chartre baumelte an ihrem Hals Sie ging barfuß, war zudem auffällig aber nicht übertrieben geschminkt. Ihr markanter Silberschmuck an Fingen Hand-und Fußgelenken ließ deutlich die Königin erkennen, die sie hier zu repräsentieren gedachte

Vor Sheikh Abdul angekommen wollte sie diesem mit der Kniebeuge ihre Ehre erweisen, doch er hinderte sie daran, indem er sich von seinem Platz erhob und Colettes Hände ergriff.

„Nein! Die Königin von Akratasien soll nicht vor mir knien. Ich begrüße dich, Colette, ich habe dich schon vermisst. Man sagt, du seiest krank. Ich hoffe, dir geht es wieder besser?“

„Ich begrüße dich, Sheikh Abdul. Ich freue mich, dich endlich wieder zu sehen. Mir geht es gut. Viel besser. Das verdanke ich vor allem einem Menschen der mir heute die Augen geöffnet hat.“

Betül, die im hinteren Bereich Platz genommen hatte, da sie zu dem Ensemble der Musiker

gehörte und die Bendir schlagen sollte, traten Freudentränen in die Augen.

„Bitte Colette, nimm Platz, hier zu meiner Seite.“ bot der Sheikh an.

Colette blickt in die Runde und sah die Frauen weit außerhalb des inneren Kreises.

„Ich danke dir, Sheikh Abdul, das ist eine große Ehre für mich. Aber ich muss ablehnen.

Um dich haben sich nur Männer versammelt. Mein Platz ist bei meinen Schwestern. Dieses Privileg würde mich über sie erheben, aber bei uns gibt es so etwas nicht.“ lehnte Colette ab.

„Aber du bist eine Königin und wir wollen dich auf diese Weise unsere Wertschätzung bekunden.“ meinte der Sheikh.

„Hier in Anarchonopolis gilt Egalität in allen Belangen, wir alle sind gleich. Ich sehe hier im vorderen Bereich nur Männer. Warum verbannen die Muslime ihre Frauen an den Rand, hinter Vorhänge, unter Schleier und Kopftücher. Fürchten sie deren Kraft? Ich glaubte die Sufis vertreten hier eine andere Meinung und achten ihre Frauen und Kundras. Sollte ich mich geirrt haben? Dieser Raum, in dem wir uns befinden, ist erfüllt von der Energie freier Frauen, Mädchen und Kundras. Diese Energie gedenken wir nach draußen zu tragen, in jeden Winkel dieser Welt.“

Sheikh Abdul schwieg. War er beleidigt? Hatte Colette für einen Eklat gesorgt?

Elena senkte geschockt den Kopf. Was würde nun folgen? So war Colette, anarchistisch, unberechenbar, immer für eine Überraschung gut. Niemand außer ihr würde es wagen, auf diese Weise mit einer fremdartigen Sitte ins Gericht zu gehen. Aber sie hatte recht getan. Anarchonopolis war ein Hort der Freiheit und der Egalität, frei von jeder patriarchaler Überheblichkeit.

„Hmm, ich denke ... wir können eine Ausnahme machen. Wir Sufis achten jede Religion, jede Spiritualität, jede Mentalität. Ihr Männer, macht doch Platz. Ihr Frauen kommt dafür nach vorne. Vermischt euch, bildet eine Einheit. Ja, vor Allah sind alle gleich.“

Unruhe entstand in der Halle, es setzte ein Plätzetausch ein, auch Elena und die sie begleitenden Schwestern rückten weiter ins Zentrum. Nun ließ sich Colette zur Rechten des Sheikh nieder. Betül strahlte über das ganze Gesicht und zwinkerte Colette  mit ihrem bezaubernden Lächeln zu.

Dann begannen die Rezitationen mit der Anrufung des Gnädigen und Barmherzigen.

„Bismilah ir rahman ir rahim, Bismilah ir rahman ir rahim.... in ständiger Wiederholung viele Male dazu wurden die Trommeln geschlagen. Betüls Händen glitten sanft über das Instrument mit dem straff gespannten Leder.

Nach einer Zeit wechselte man in die Bitte um Vergebung.

„Estrach firulang...estrach firulang ... auch hier in einem ganze bestimmten Rhythmus. Die Menschen begannen sich zu bewegen, viele ließen ihre Körper leicht hin und her baumeln.

Unterbrochen immer wieder durch Gebete und Einzelrezitationen des Sheikh.

Schließlich näherte man sich dem Höhepunkt.

La illah al il allah, la illah al il allah, la illah al il allah. Es gibt keinen Gott außer Allah.

Erst ganz langsam vorgetragen dann immer schneller immer lauter.

Zwei außerordentlich hübsche junge Männer, gekleidet in die traditionelle Derwischtracht erhoben sich, verbeugten sich lange und tief vor dem Sheikh, dann begannen sie sich im Kreis zu drehen. Der berühmte Derwischtanz. Die langen weißen Röcke ihrer Tracht begannen durch das Drehen die Form einer Glocke anzunehmen. Den Kopf, bedeckt mit dem hohen traditionellen Filzhut, neigten sie nach links unten in Richtung des Herzens. Den rechten Arm nach oben gestreckt, den linken seitlich nach unten vom Körper abgespreizt. Absolute Konzentration war hier Voraussetzung um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, stattdessen die gewünschte Trance zu erreichen.  Die Trommelschläge ertönten weiter im Takt, immer schneller ließ Betül ihre zarten Hände über das Leder gleiten und schließlich begann ein Mann im Hintergrund auf der Nai, der orientalischen Rohrflöte zu spielen.

Immer tiefer glitten alle in eine kollektive Trance, eine Zeit lang allem irdischen entzogen.

Überirdische Welten begannen sich über ihren Köpfen zu drehen und senkten sich wie unsichtbare Energiefelder auf die Versammlung herab.

Niemand vermochte die zu enträtseln.

Nun hielt es Colette nicht mehr an ihrem Platz, sie erhob sich, schritt in die Menge, neigte ihr Haupt vor dem Sheikh ,dann begann auch sie sich zu drehen. Instinktiv nahmen sie die beiden Derwische in ihre Mitte. Colette drehte und drehte sich, bis die Welt um sie herum in einem nebligen Schleier versank und sie die Gestalten nur noch schemenhaft erkennen konnte.

Elena sorgte sich.

„Pass auf, Colette, sei vorsichtig mit der Drehung. Es könnte dich aus dem Gleichgewicht bringen.“ sprach sie zu den Schwestern in ihrer Nähe.

„Sagt mal, was haltet ihr von Betül, sieht sie nicht hinreißend aus?“ fuhr sie fort.

„Ja, sie ist sehr schön und sinnlich.“ bestätigte Gabriela, die zur Elenas Linken saß.

„Sie hat um Aufnahmen in die Schwesternschaft nachgesucht. Ich habe vorläufig zugestimmt, bis das Plenum entscheidet. Ich hoffe, es ist in eurem Sinne.“

„Ja, sicher! Die passt gut zu uns. Dann wird unsere Truppe noch bunter. So eine orientalische Blume hat uns noch gefehlt. Eine richtige Prinzessin“ meinte Chantal, die sich direkt hinter Elena platziert hatte.

„Colette ist ihr von früher bekannt. Die beiden scheinen sich sehr gut zu verstehen. Wäre Betül nicht die ideale Gefährtin für Colette? Ja, eine Prinzessin für eine Königin.“

Nach einer unendlich scheinenden Zeit endete der Drehtanz, Colette taumelte als sie abrupt mit der Drehung stoppte, doch die beiden Derwische stützen sie, auch Betül lies alles fallen und stürzte  zu Colette um sie aufzufangen, dann verneigten sich alle  vor dem Sheikh und die Rezitation glitt in den nächsten Abschnitt. Colette leerte einen Becher Wasser, aber außer dem Durst schien sie keinen Schaden genommen.

Nach etwa anderthalb Stunden neigte sich die Meditation ihrem Ende entgegen. Zum Schluss gab es einen Kreistanz für alle. Sie reichten sich die Hände und begann im Kreis zu tanzen. Betül kämpfte sich durch die dichtgedrängte Masse um Colettes Hand zu ergattern.

Schließlich beendete ein kurzes gesprochenes Gebet das Dhikr.

Kurze Pause, Sammlung, Erholung.       

Die Leute nahmen ihre Plätze wieder ein, es folgte das Sohbet, eine Ansprache, oder Predigt des Sheikh, wie immer man es zu nennen gedachte.

Betül ließ sich neben Colette auf dem Boden nieder griff nach deren Hand, schmiegte sich eng an die Freundin. Sanft legte Colette ihren linken Arm um deren Schulter.

Sheikh Abdul begann derweil zu sprechen.

Das zentrale Thema der Sufi stand auch hier im Vordergrund. Die Überwindung des falschen Egos, das uns dem inneren Selbst entfremdet.

„Möglichkeiten, ein guter Mensch zu werden gibt es mehr als genug!“ Begann der Sheikh seine Ansprache.

„Wir müssen nur aufmerksam durch das Leben gehen, um zu der Erkenntnis zu gelangen: Es kommt nicht auf die Religion an, der du angehörst oder auch nicht, denn jede ist gleich richtig und gleich wahr und selbst wenn du keine hast, bist du in der Lage, Erlösung zu erlangen. Bist du Muslim, werde ein besserer Muslim, bist du Jude, werde ein besserer Jude, bist du Christ, werde ein besserer Christ, bist du Buddhist, werde ein besserer Buddhist, bist du Atheist werde ein besserer Mensch. Blicke tiefer, prüfe sorgfältig, laufe nicht jedem Modetrend hinterher. Brauche ich dies, brauche ich das, wenn ja, warum? Was bedeuten mir zum Beispiel materieller Besitz oder Statusdenken. Tue etwas Gutes und du wirst den Lohn dafür erhalten, ganz gleich, ob in diesem oder im nächsten Leben.“

Viele Aussagen deckten sich mit den Anschauungen, die ihnen der Dichter Kovacs auf den Weg gegeben hatte und nach dem sie zu leben gedachten.

„Es ist dein falsches Ego, das dir den Weg ins wahre Leben versperrt. Ständig redet es dir ein dass du noch nicht genug erworben hast. Es bringt dich ab vom Weg, der zur Erkenntnis führt. Du hast die Wahl, folgst du dem Ego, das dir ständig suggeriert, dass du etwas besonders bist, berechtigt sich über andere zu erheben, auf andere herabzusehen, der ja angeblich alles aus eigener Leistung vollbracht hat und daher einen Anspruch hat auf mehr, auf Privilegien, auf Geld, auf Titel und was es sonst noch gibt.

Oder du hörst auf die Stimme der Weisheit, die sagt oft Dinge, die sich für den ersten Moment gar nicht gut anhören. Das du eigentlich ein Nichts, ein Niemand bist. Eigene Leistung?  Was nützen sie dir, wenn du tot bist und andere sich an dem bereichern, das du hinterlassen hast. Die heilige Weisheit ist der Weg, der zum Leben führt. Aber du bist zu schwach, den Pfad alleine zu beschreiten, du brauchst Helfer, es sind die Heiligen, die Avatare, die es in beachtlicher Zahl auf der Welt gibt. Höre ihren Rat, lass dich von ihnen unterweisen, dann kannst du den Weg finden.“

Elena erinnerte sich. Es konnte sich nur um die natürlichen Autoritäten handeln, von denen Kovacs gesprochen hatte und die nicht im Widerspruch zur Akratie standen. Autoritäten, stark genug, der Versuchung nach Privilegien zu widerstehen.

Der Sheikh fuhr noch einen Weile fort mit seinen Erläuterungen. Im Grunde war alles so einfach.

Nach einer Weile brach er ab.

„Genug der Worte aus meinem Mund. Lassen wir doch einfach einen solchen Avatar zu Worte kommen. Ich habe seit meinem Eintreffen hier gleich mehrere kennenlernen dürfen. Nie hätte ich das für möglich erachtet. Wir befinden uns auf einem heiligen Ort. Von ihm geht eine Kraft aus, die ich selten in so geballter Kraft erleben durfte und ich bin ein weitgereister Mann.“

Sheikh Abdul erhob sich von seinem bequemen Sessel, von dem er seine Predigt gehalten hatte.

„Nimm Platz, Colette! Aus dir spricht reine Weisheit, du bist dir deiner enormen Kräfte nur noch nicht im vollem Umfange bewusst.“

Akratasiens Königin richtete sich auf und ließ sich auf dem Sessel nieder. Schweigen erfüllte den ganzen Saal.

„Was soll ich sagen? Was wollt ihr hören? Ich war nie eine gute Rednerin! Es fällt mir außerordentlich schwer vor einer Versammlung zu sprechen, so wie es vielen Sensitiven geht, weshalb man sie für introvertiert,  nicht selten psychisch krank oder gar behindert hält.“

„Die Weisen dieser Welt sind selten Schwätzer, Colette. Vielen erging es ähnlich wie dir.

Die Kunst liegt darin, in wenigen Worten eine große, verständliche Botschaft zu verkünden.“ lud Sheikh Abdul weiter ein.

„Meine Botschaft an euch alle, an Akratasien, an Europa, an die ganze Welt: Lasst uns in Frieden  leben. Lasst uns miteinander auskommen. Hört auf zu kämpfen, legt die Waffen nieder. Fügt keinem anderen Schaden zu. Doch bevor wir uns aufmachen, die Welt zu verbessern, müssen wir unser eigenes Herz reinigen. Wenn du glücklich bist, denke daran, in deiner Nähe könnte einer leben, den das Glück verlassen hat. Wirklich glücklich ist nur jener, der sein Glück zu teilen versteht. Solange es auch nur einen Unglücklichen gibt, existiert kein wahres Glück in einer Gemeinschaft.

Lasst uns unser falsches Ego überwinden, weise gesprochen, Sheikh Abdul. Doch wie erkennen wir, dass es sich tatsächlich um ein falsches Ego handelt? Blicken wir über den Tellerrand, werfen wir einen Blick hinaus in die Welt. Krieg, Zerstörung, Hunger, Elend, Flucht und Vertreibung. Die Welt wird heimgesucht von Männern, die ihrem falschen Ego folgen. Doch versuchen sie uns glauben zu machen, dass sie im Dienste ihres Gottes handeln. Ein Auswuchs der in jeder Religion verborgen schlummert, zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten.

Die Religionen dieser Welt, geschaffen von Männern für Männer. Frauen spielten in den meisten keine Rolle, oder wenn sie es einmal kurzzeitig taten, wurden sie schnell zur Seite gedrängt gedrängt, verleumdet, gedemütigt, tot geschwiegen. Männliche Theologen bastelten sich ihre Religion nach Maß, auf dass sie in ihrem Sinne funktionierten. Ihr Religionsführer tretet ins Glied zurück und wenn auch nur für eine Weile. Folgt dem Beispiel von Anarchonoplis und Akratasien. Lasst die Frauen  die Verantwortung tragen.

Eine Garantie gibt es nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass sich die Welt ab jenem Augenblick bedeutend friedlicher präsentiert. Schlechter können sie aber auf keinen Falle handeln.“

Wie gebannt hingen die Zuhörer an Colettes Lippen. Das was sie da von sich gab, war reine Logik, einfache schnörkellose Logik, zu einfach, um sie zu verstehen. Alle Philosophie gebündelt in ein paar wenige einfache Worte.

„Ich bin eine Kundra. Ein Wesen zwischen den Geschlechtern. Ich vereine männliches und weibliches Prinzip in einem. Wir Kundras könnten der Welt soviel geben, wenn man uns denn ließe. Doch die Menschen fürchten sich vor uns, deshalb stoßen sie uns in die Gosse, den Schweinen zum Fraße, machen uns zu Clowns oder Huren. Sie ertragen unsere Friedensbotschaft nicht, meiden unsere Gesellschaft, weil ihnen die Furcht ins Gesicht geschrieben steht.

Es gab eine Zeit, lange vor dem Beginn der Geschichte, da zählte das Wort einer Kundra, damals konnten wir noch ein greifen ins Geschehen. In jener Zeit war die Mystik noch nicht verseucht vom patriarchalen Virus. Lasst uns aufbrechen und wieder dorthin gelangen. Akratasien ist die Heimstätte dieser neuen, alten Philosophie. Von hier aus senden wir ihre Botschaft in die ganze Welt.“

Schweigen, andächtiges Schweigen, doch dann begannen zwei Hände zu klatschen und immer mehr schlossen sich ihnen an. Dann mündete alles in tosenden Beifall.

Sheikh Abdul stand auf und erhob den Arm um Schweigen zu gebieten.

„Der Prophet weissagte kurz vor seinem Tod: In der Endzeit wird meine Religion, ja überhaupt jede wirkliche Spiritualität, auf den Händen der Frauen getragen.

Viele sind der Meinung dass sie bevorstehe, die Endzeit, jene Periode, in der sich alles neu ordnet. 

Colette, du bist eine Berufene. Du hast uns die Augen für das Wesentliche geöffnet. Hiermit erkläre ich dich Kraft meines Amtes zur Sufi-Meisterin.“

Er erhob seinen hölzernen Gehstock und senkte ihn herab und drückte die Spitze gegen Colettes Herz, ein Zeichen, dass die göttliche Energie fließen konnte. Damit war Colette eine Eingeweihte.

„Ab diesem Augenblick bist du eine Sheikha,  auch so etwas gibt es, leider ist es uns mit der Zeit verlorengegangen. In Zukunft soll es wieder mehr weibliche Sheikhs geben. Du bist autorisiert zu lehren und zu predigen, zu schreiben, zu heilen und Zeremonien zu leiten. Tue es ganz nach deiner eigenen Berufung und spiritueller Ausrichtung. Sufi ist nicht an eine bestimmte Religion gebunden. Sufi steht über allen Religionen, ist der Urgrund aller wirklichen Religion. Etwas, das uns dorthin zurückbringt, wo wir vor Jahrtausenden aufgebrochen.“

„Die größte spirituelle Quelle finde ich in der Natur, dort entspringt wirkliche Offenbarung!“ bekannte Colette.

„So ist es Colette! Das heilige Buch der Natur ist die einzige Schrift, die den Leser wirklich erleuchten kann. Alle Religionen haben ihre heiligen Schriften, in allen findet sich die gleiche Wahrheit. Doch im unverfälschten Buch der Natur finden alle ein lebendiges und vollkommenes Vorbild. Das Gesetz des inneren Lebens lehrt: Alle Schriften sind neben dem Buch der Natur wie ein Teich neben dem Ozean. Dringe nun tiefer ein in den universellen Ozean der Weisheit!“

Damit hatte wohl niemand gerechnet. Colette am allerwenigsten. Die Begeisterung war groß in den Reihen der Schwestern. Aber sie ließen Colette in Ruhe ihre neue Anerkennung innerlich verarbeiten, stürmten nicht etwa mit Glückwünschen oder dergleichen auf sie ein.

Im Anschluss fanden sich die Muslime unter ihnen zusammen um das traditionelle Abendgebet zu verrichten.

 

Schließlich war es an der Zeit das Festessen einzunehmen. Gegessen wurde auf dem Boden sitzend. In langen Reihen. Betül half beim Auftafeln, dem Einschenken von Tee oder Wasser und was es sonst noch an Diensten zu verrichten galt. Endlich konnte sie sich wieder an Colettes Seite niederlassen. Sie vermochte kaum zu reden, so ergriffen war sie noch immer von dem gerade Geschehenen

Es folgten Gespräche in heiterer Atmosphäre, ein Stimmengewirr füllte den ganzen Saal.

Wie lange konnte das Colette noch aushalten? Nachdem die traditionelle Süßspeise und der starke Mocca eingenommen waren, verabschiedete sie sich und verließ die Versammlung ohne  Worte. Betül war derweil mit dem Abwasch in der Küche nebenan beschäftigt. Als sie wieder in die Menge eintauchte, konnte sie Colette nicht mehr finden.

Verzweifelt blickte sie mehrfach über die Köpfe und reckte sich dabei, so dass es auffiel.

Madleen trat zu ihr.

„Wenn du Colette suchst, die ist schon gegangen!“

„Gegangen? Sie hat mir gar nichts gesagt.“ Enttäuschung klang aus den Worten.

„Mach dir deswegen keine Gedanken. Colette tut das immer, das ist nicht böse gemeint. Das hängt wohl mit ihrer Hochsensibilität zusammen. Sie verabschiedet sich nie, bevor sie geht.“

klärte Madleen auf.

„Aber ich wollte sie unbedingt noch einmal sprechen.“

„Hm, ich denke das lässt sich einrichten. Colette schläft heute Nacht bei uns in ihrem Zimmer in der WG. Wenn du magst, kannst du auch bei uns schlafen.“

„Wirklich?“

„Natürlich! Mach dir keine Gedanken, geh zu ihr, sie erwartet dich schon. Vertraue mir! Auf Colette musst du zugehen, die kommt nie von alleine.“

Betül zögerte. Unsicherheit hatte sich ihrer bemächtigt.

„Na geh schon! Los! Glaub mir, sie freut sich auf deinen Besuch.“

Madleen schob Betül sanft vor sich her der Treppe entgegen, die in das untere Stockwerk führte, wo sich die Wohnräume der WG befanden.

Die rang sich durch zur Tat und begab sich eilends in das Stockwerk darunter.

Vor der Tür hielt sie inne. Ihr Herz klopfte. Nach kurzem Verharren trat sie ein, durchschritt die Wohnung und hielt abermals vor Colettes Zimmer an, preßte ihr Ohr gegen die Tür. Kein Laut drang nach außen, schlief sie etwa schon?

Zaghaft öffnete sie die Tür und lugte durch den Schlitz. Colette lag seitlich auf dem Bett die Beine angewinkelt, hatte sie sich in die Schlafdecke eingemummelt, so dass nur der Kopf zu sehen war. 

Betül betrachtet sie kurz, dann wollte sie die Tür wieder hinter sich schließen um sich zu entfernen.

„Bleib doch! Ich schlafe nicht! Ich glaube nicht, dass mir das heute Nacht überhaupt gelingen mag, nach all der Aufregung. Komm, setz dich zu mir, wenn du magst!“

Colette rutschte zur Seite. Das Doppelbett bot viel Platz.

Sichtlich erleichtert kam Betül der Einladung nach und lies sich auf der Bettkante nieder.

„Ja, nun bin ich also auch noch eine Sheikha!“

„Ja, das bist du und was für eine. Sheikh Abdul hat recht damit getan. Ein Grund mehr für mich, an deiner Seite zu bleiben. Nun wird es viel einfacher für mich, da ich mich dir als Murid anschließen darf, als Schülerin.“

„Aber was könnte ich dich noch lehren?“

„Alles! Heute habe ich gesehen, wer du wirklich bist. Und vor allem wirst du mich lehren, dich zu lieben.“ meinte Betül, während sie mit ihrer rechten Hand ganz sanft über Colettes Haar und die Wangen strich.

„Ich kann dich wohl nicht mehr davon abbringen?“

„Nein, niemals!“

„Gut, dann sage ich einfach, ich will es. Ich habe dich sehr lieb.“

Überglücklich fiel ihr Betül um den Hals.

„Ich habe es gewusst! Du wirst mich eines Tages lieben. Ich will alles für dich tun. Wenn ich nur bei dir sein kann. Ich verspreche dir Treue, Treue bis in den Tod.

Wie geht es dir gesundheitlich? Hast du Schmerzen im Rücken oder den Beinen?"

"Die halten sich in Grenzen!"

"Und sonst? Atembeschwerden? Ist die Nase frei? Ist dir schwindelig? Hast du Bauchweh oder berückt dich sonst etwas?" Sorgte sich die neue Schülerin in ehrlicher Anteilnahme.

"Wenn du bei mir bist beginne ich am ganzen Körper zu gesunden. ich habe meine Retterin gefunden."

Sie umarmten und küßten sich wie wild, zerzausten einander die Haare. Nach einer Weile erhob sich Betül und begann sich zu entkleiden.  

„Du bist einfach nur wunderschön!“ entfuhr es Colette beim Anblick von Betüls makellos erscheinenden Körper.

Die huschte schnell unter die Decke und begann Colette von ihrem Nachthemd zu befreien.

Zum ersten Mal war es ihr vergönnt Colette nackt in Augenschein zu nehmen und dieses einzigartige Mischwesen aus der Nähe betrachten.

„Ich habe noch nie einen solchen Körper gesehen. Du bist einmalig. Du bist nicht von dieser Welt“

Mit Armen und Beinen umschlang sie die neue Gefährtin und drückte diese fest an sich. Auf ihren Brüsten fühlte sie Colettes Tränen. Durfte sie so dominierend handeln, sie, die wesentlich jüngere Schülerin? Ja sie durfte, nein sie musste es, wenn sie tatsächlich eine Beziehung anstrebte, denn das Wesen dass sie in den Armen hielt, hatte sich auf einem harten, entbehrungsreichen Weg voller Dornen und Schmerzen das Recht auf Passivität bitter erkämpfen müssen.

Langsam glitten ihre Hände über Colettes Leib. Betül konnte es sich gar nicht satt fühlen und ließ keine Stelle aus.

Colette spürte, wie sich die Verkrampfung löste, wie die Schmerzen Stück für Stück aus ihrem Körper wichen. Dieser warme geschmeidige Körper war die beste Medizin der Welt.

Betül griff Colette zwischen die Beine, dort wo sie noch männlich war, dann begann sie ihre neue Geliebte langsam zu stimulieren und versuchte Colettes Männlichkeit langsam in sich eindringen zu lassen. Nie in ihrem Leben war Colette so weit vorgedrungen. Die Vereinigung blieb ihr stets versagt. Doch jetzt war auf einmal alles anders. Sie spürte, wie ihr Körper langsam mit jenem von Betül verschmolz, sie bildeten eine Einheit. Beide stöhnten auf. Die heilige Hochzeit war vollzogen. Es schien, als hätten sie Jahrtausende auf diesem Moment gewartet. Zwei Seelen, nach langer Wanderschaft endlich wieder vereint. Zwei verschiedene Kulturen, unterschiedliche Religionen, zwei Generationen. Die Barriere war genommen, vor allem für Colette. Fünfzig Jahre musste sie werden, um zum ersten Mal dieses Gefühl der Vereinigung auszukosten, sie, die angeblich sexuell nicht zu gebrauchende.

Sie, eine Frau, hatte eine andere Frau penetriert. Gab es so etwas? Die Natur hatte es etwas dergleichen nicht vorgesehen, trotzdem war es geschehen. Colette hatte endlich ihre Erlöserin gefunden. Betül, einem Gralsritter gleich, der seinen Gralskönig und von seinem Leiden befreit.

Akratasiens Königin hatte die letzte Stufe ihres Initiationsweges beschritten. Nun war er frei, der Weg in Richtung vollendete Meisterin.

Doch selbst jetzt noch nagte der Zweifel an ihr. Hatte sie das am Ende alles nur geträumt, wie sie es schon so oft erleben musste? Es war real, das stand fest. 

Wie würde es weitergehen? Gab es ein Morgen? Würde für Colette mit dem morgigen Tag eine neue Zeit beginnen? Liebe und Treue bis in den Tod hatte Betül geschworen. Galt das auch in zehn Jahren, dann, wenn sie noch älter und noch gebrechlicher wäre?

Colette verwarf all diese Gedanken. Greif zu, Colette, schien ihr eine Stimme zuzurufen.

Heut ist heut, morgen ist weit, so das alte Sprichwort. Denke nicht an das, was morgen ist. Lebe den Augenblick und koste ihn bis zur Neige aus. Schon möglich, dass ein neues Leben vor dir liegt, ebenso aber kann in Kürze  alles schon Geschichte sein. Doch zerbrich dir heute nicht den Kopf darüber. Genieße, sauge sie tief ein, die Süße der Erotik, dann kannst du lange davon zehren. Im Moment zählt allein die Gegenwart.

 

Noch immer ineinander verschlungen erwachten sie am Morgen. Langsam, nur ganz langsam ließen sie den neuen Tag in ihr Bewusstsein dringen.

Colette richtete sich auf, bewegte den Kopf in langsamer Kreisbewegung, sie war schmerzfrei und fühlte sich frisch. Mit der Handfläche fuhr sie sanft über Betüls volle Brüste, die stöhnte auf, rekelte sich und streckte die Arme nach oben aus. Dann öffnete sie die Augen.

„Guten Morgen, meine Schöne!“ begrüßte sie Colette im Flüsterton.

Draußen war es noch dunkel, fahl kündigte sich der Tag an und vor dem Fenster heulte ein kalter Wind.

„Wie spät ist es denn?“ wollte Betül wissen.

„Etwa kurz vor halb acht!“ antwortete Colette, nachdem sie den Radiowecker inspiziert hatte.

„Willst du schon aufstehen?“

„Am liebsten möchte ich den ganzen Tag mir dir unter der Decke liegen.“

„Gute Idee! Dann komm doch wieder zurück!“ Mit einem sanften Ruck zog Betül Colette auf das Bett zurück

„Wir haben viel Zeit! Ich zumindest. Ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht?“ erkundigte sich Colette.

„Mir läuft nichts weg heute!“ gab Betül zur Antwort und schloss Colette tief in ihre Arme.

„Das hat mir gut getan! Du hast mich wunderbar getragen diese Nacht. Nun bin ich endgültig verwundet. Ein Zurück gibt es nicht mehr, Betül. Du bist die Siegerin, aber ich fühle mich deshalb keineswegs als Verliererin.“

„Hm, so hatte ich es mir vorgestellt. Und nun? Was wünscht meine Königin? Kleine Muskelauflockerung am Morgen?“

„Da sag ich nicht nein!“

Betül begann Colettes Nackenmuskulatur über dem Lendenwirbel zu massieren. Mit sanften Strichen löste sie Verspannungen und bewegte zwischendurch den Kopf langsam von links nach rechts und umgekehrt.

„So lass ich es mir gefallen. Da könnt‘ ich mich glatt dran gewöhnen.“ bekannte Colette.

„Kein Problem! Ruf mich und ich bin für dich da; so wie der Jinn aus der Flasche.“

„Ich muss mich erst ganz langsam an den Gedanken gewöhnen. Ich kann es immer noch nicht fassen. Und du hast es dir auch wirklich gut überlegt?“ bohrte Colette schon wieder, nach wie vor im Zweifel gefangen.

Betül schlang die Arme um Colettes Schultern und zog sie an sich.

„Wenn ich mir im Leben jemals sicher war, dann in diese Angelegenheit. Und nach dem Erlebnis von gestern Abend  bin ich vollends überzeugt. Ich liebe dich! Und ich möchte mein Leben mit dir teilen. Das allein würde schon genügen. Aber da gibt es noch etwas…“

Betül machte eine Kunstpause.

„Ich weiß nicht, ob die Vermutung. die ich in mir trage, zu ketzerisch klingt, um sie mit jemandem zu teilen, oder ob ich sie lieber für mich behalte.“

„Du machst mich neugierig. Also wenn schon, denn schon!“ ließ Colette ihre Neugierde durchblicken.

„Eine der wichtigsten Lehren der Sufis beruht auf der Legende von Al-Mahdi. **** Das bedeutet in eurer Sprache etwa „der Erwartete“. Irgendwann, so heißt es, beginne auf der Welt ein „Goldenes Zeitalter“. Al-Mahdi würde erscheinen und es errichten. Zuvor aber müssten die Menschen durch ein extremes Tal der Tränen schreiten, durch eine Zeit epochaler Veränderungen und Umbrüche. Kriege, Terror, Zerstörung, Zusammenbrüche ganzer Staaten, gewaltige Fluchtbewegungen überall auf der Welt. Hinzu kommen ökologische Supergaus mit katastrophalen Auswirkungen.“ erläuterte Betül und begann dabei wieder Colettes Nacken zu streicheln.

„Hört sich nicht sehr erbaulich an. Erinnert mich fatal an die Zeit, in der wir heute leben.“

„Richtig! Und in diese Zeit soll nach alten Quellen und Überlieferungen der Mahdi geboren werden. Wie, in welchem Land, auf welche Art und Weise geht darin nicht hervor. Er könnte sich also überall manifestieren. Warum also nicht hier in Anarchonopolis? Wo könnte man auf der Welt eine vergleichbar günstige Umgebung finden für das Wirken eines Friedensbringers?“

„Du meinst hier??? In Akratasien??“ Colette schien aus allen Wolken zu fallen.

„Ja, hier! Warum nicht? Als ich vor ein paar Tagen dieses Gelände betrat, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Ein Empfinden totaler Zufriedenheit, des Geborgenseins. Ein Gefühl,  etwas lange Verlorenes wieder gefunden zu haben.“ fuhr Betül weiter fort.

„Du meinst so eine Art von dejavu-Erlebnis?“

„Genauso nennt man das wohl. Es kam mir vor, als wäre ich nach einer unendlich langen Reise wieder nach Hause zurückkehren.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Es geht dabei um dich und deine Berufung. Du gehörst hierher. Es ist deine Heimat, das war sie schon immer. Nun hast du sie gefunden und kannst deiner Bestimmung folgen.“ glaubte Colette zu wissen.

„Ja, und meiner Vorsehung, dem Mahdi, zu dienen.“

„Aber warum sollte der Mahdi ausgerechnet hier zur Welt kommen. In Melancholanien oder Akratasien gibt es kaum Muslime, ich denke, deren Prozentzahl liegt bei etwa Null Komma Null…“

„Du hast nicht richtig zugehört, Colette“ fiel ihr Betül ins Wort.

„Es ist keine muslimische Legende, sondern Sufi-Verheißung. Du erinnerst dich Sheikh Abduls Worte?. Sufi steht über den Religionen. Es war schon immer, bevor es die heutigen Religionen überhaupt gab und es wird noch sein, wenn sie lange nicht mehr existent sind. Daher kann der Mahdi überall seiner Bestimmung nachkommen. Ganz gleich welcher Religion er an gehört oder nicht. Ich glaube, er ist schon da. Ich bin mir nicht ganz sicher, Elena oder du, einer von euch ist Al-Mahdi.“

Colette, die gerade an einem Glas Wasser nippte, verschluckte sich, so dass ihr Betül kräftig den Rücken klopfen musste. 

„Betül, mit so etwas macht man keine Scherze! Ich und der Mahdi? Na, da hört doch alles auf.

Das glaubst du doch nicht wirklich? Ich bin eine Kundra, vergiss das nicht! Ich habe es gar nicht gern, wenn man mich DER Mahdi nennt und Elena ist eine Frau…“

Wieder hinderte Betül Colette am Weitersprechen.

„Aber darin liegt doch die eigentliche Sprengkraft. Ich glaube, der Mahdi ist entweder eine Frau oder eine Kundra. Männliche Mahdis gab es in der Geschichte mehr als genug und sie brachten bisher meist Unheil und Krieg. Die allumfassende Friedensbotschaft könnte daher im günstigsten Falle von einem weiblichen Mahdi verkündet werden. Die Zeit ist reif. Wann, wenn nicht jetzt und hier?“

„Betül, Betül. Du steigerst dich da in etwas hinein. Bedenke, wo wir uns befinden. Hier ist Akratasien. Die Menschen hier fühlen sich vor allem dem anarchistischen Denken verpflichtet.

Sie wollen eine Welt ohne Hierarchien, ohne staatliche Bevormundung. Eine Welt der Freiheit, der Gleichheit, der Geschwisterlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit. Es soll überhaupt keine bestimmenden Dogmen oder Ideologien mehr geben. Jeder soll ein erfülltes Leben führen dürfen, je nach Fähigkeiten und Neigungen leben und arbeiten können.

Das war immer unser Ziel.“

„Wunderbar! Phantastisch! Genau so eine Welt könnte der Mahdi bringen. Du musst zugeben, wie ähnlich diese Bestrebungen klingen. Euer Prophet Kovacs, predigte er nicht auch in diesem Sinne?“

Colette musste sich geschlagen geben. Kovacs Ideen ähnelten diesen Verheißungen auf verblüffende Weise.

„Das entbehrt nicht einer gewissen Logik, ich denke, du hast es erfasst. Im Gegensatz zu vielen anderen hier. Es gibt nicht wenige die sich an spirituellen Dingen jeglicher Art reiben. Vielen sind sowohl Elenas als auch meine mystische Orientierung ein Graus. Die beharren auf der Formel Anarchismus gleich Atheismus. Eine These die in Wirklichkeit schon lange überholt ist. Die Menschen werden nicht automatisch besser wenn es keine Religion mehr gibt. Das blutige 20 Jahrhundert und seine menschenverachtenden Ideologien liefert den schlagenden Beweis.

Immer deutlicher orientieren wir uns an der alten matriarchalen Urreligion, von der alle weiteren Entwicklungen in der Geschichte ihren Ausgang nahmen… Matriarchale Spiritualität plus Anarchismus, so könnte man am ehesten unser Programm beschreiben. Wenn Sufi dafür ein weiterer Begriff ist, um so besser.

Aber Elena als Mahdi? Hm!   Könnte ich mir durchaus noch vorstellen, auch wenn sie solche Zuweisungen ebenso vehement zurückweisen wird. Aber ich? Nein, ich bin keine Verheißung. Ich bin nur Colette.“

„Wir wissen es nicht! Ich kann mich irren, sicher! Aber ich glaube fest daran. Möglicherweise seid ihr es sogar alle beide? Auch so etwas ist möglich. Im Moment können wir uns nur der Tatsache sicher sein, wer der Mahdi ganz bestimmt nicht ist. Der Anführer einer Terrormiliz, der vorgibt, im Namen seines Gottes Menschen wie Vieh abschlachtet und Terror und Gewalt in alle Erdteile trägt.

Welch heilende Wirkung aber hätte ein Mahdi, der so denkt, lebt, handelt wie eine Colette.

Wenn ich in deine Augen sehe, erblicke ich die Kraft von Al-Mahdi.“

 

Als Reaktion auf die zahlreichen Fehlentwicklungen in der Föderation fasste das Kabinett folgenden Beschluss:

In Zukunft wurde eine allgemeine Regelarbeitszeit von 4 Stunden pro Tag für alle erwachsenen Personen von 18-60 Jahren eingeführt. Der bisher bestehende Grundsatz – Geld oder Arbeitskraft – wurde gestrichen. Alle, die sich in Akratasien niederlassen wollten, hatte sich der neuen Regelung zu fügen. Finanziell drohte somit ein großes Loch, denn die Wohlhabenden konnten ihr Geld von nun an behalten. Somit aber kam man der angestrebten Egalität ein bedeutendes Stück näher. Wer über Geldreserven verfügte, konnte diese freiwillig der Gemeinschaft zur Verfügung stellen.

Als Reaktion darauf verließen einige das Land, es waren aber weitaus weniger als zunächst befürchtet. Natürlich galt diese Regelarbeitszeit nicht im Falle von Krankheit oder der Erziehung von Kindern, oder wenn man einer Aufgabe von besonderer Wichtigkeit nachzukommen hatte.

Die Polyamoryfrage konnte nicht gelöst werden und wurde nach heftigen Debatten wieder vertagt.

Colettes Ansehen aber wuchs durch ihren neuen Status weiter an.

Die Weltanschauungsfrage rückte immer näher in den Mittelpunkt der Diskussion und sollte das Geschehen in Zukunft maßgeblich bestimmen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

*  Vorlage ist die Eremo di Camaldoli in der Toskana

 

** Siehe Kapitel 1 Teil 2 Die Schattenkönigin

 

*** Originalzitat Max Liebermann, Maler, anlässlich Hitlers Machtergreifung

 

**** Fast alle Sufi-Orden erwarten einen Mahdi, nach Ansicht der Ahmadiyya-Bewegung ist er schon gekommen