Der Eremit aus der Grauen Zone

 

Sturmwind überall! Das Brausen schien von allen Seiten zu kommen, wurde immer stärker und donnerte gnadenlos auf Elena ein. Die befand sich im Auge des Sturmes und wurde in eine Schwindelerregende Höhe getragen. Entsetzliche Angst durchflutete ihren Körper und ihre Seele. Das Gefühl jeden Moment in ungeahnte Tiefen zu fallen. Da plötzlich stürze sie tatsächlich. Sie wollte schreien, doch versagte ihre Stimme. Es war, als ob ihr jemand mit aller Gewalt die Kehle zudrückte. Sie bekam  keine Luft mehr und drohte zu ersticken. Sie versuchte mit Armen und Beinen zu rudern, doch die schienen wie gelähmt. Sinnlos sich zu wehren. Sie hatte keine andere Wahl als sich ihrem Schicksal hinzugeben.

Wie lange dauerte dieser Kampf jetzt schon. Waren es Stunden, waren es Tage oder am Ende gar Wochen? Elena hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Auf einmal wurde die fröstelnde Kälte, die sie umgab von einer brennenden Hitze abgelöst.

Lodernde Feuer wohin sie auch blickte. Die Hölle? Sah so das Fegefeuer aus, von dem die Katholiken sprachen?

Würde sie hier verbleiben bis alle Übel aus ihr entwichen waren, um sie so auf die neue Welt, die vor ihr lag, vorzubereiten?

Was war geschehen? Wie um alles in der Welt kam sie hierher, an diesen Ort des Schreckens?

Alle Erinnerungen in ihr waren wie ausgelöscht, so als sei sie ein Wesen ohne jede Persönlichkeit das nie wirklich existiert hatte, oder ein Neugeborenes ohne Vergangenheit.

So ungefähr mussten sich Menschen fühlen, die nach einem Unfall zeitweilig das Gedächtnis verloren hatten. War ihr ein solcher Unfall widerfahren? Elena versuchte zu überlegen, doch es gelang ihr nicht. Zu sehr wurde sie durch die Ereignisse um sie in Anspruch genommen. Selbst das Weinen wollte ihr nicht gelingen.

Was konnte wohl als Nächstes geschehen? Sie wagte kaum daran zu denken.

Auf einmal wurde ihr ganzer Körper von unsagbaren Schmerzen erfasst. Begann das Feuer sie jetzt zu verbrennen?

Nein, es war eher als würden ihre Glieder gestreckt, so wie auf einer Folterbank. Ein brennendes Ziehen an den Armen und den Beinen.

Erneute setzte sie zum Schreien an und endlich entfuhr ihrer gemarterten Kehle ein Laut. Grauenvoll, Furcht erregend. Nein, das war nicht mehr sie selbst. Ein seelenloses Etwas, eine Hülle ohne Persönlichkeit.

Wo nur war ihr tatsächliches Ich geblieben?

Nun begann sie auch noch zu würgen. Da hatte sich irgendetwas in ihrem Rachen festgesetzt.

Ein Kloß, der beständig anschwoll.

Nach einer Weile begann zunächst ein Hämmern in ihrem Kopf, als ob sie zwischen Hammer und Amboss geraten war. Jeder Schlag schmerzhafter als der vorherige. Dann begann es plötzlich zu klingeln. Ein schrilles, aufdringliches Klingeln, das immer lauter wurde,  ein Geräusch wie von ein altertümlicher Telefonapparat. Elena betete darum, dass jemand den Hörer abnahm, bis sie begriff, dass das Klingeln aus ihrem eigenen Kopf  her kam.

Schließlich begann sie zu schweben. Mit einem Male wurden die Schmerzen schwächer. Nahmen immer deutlicher ab, bis sie kaum noch etwas spürte.

Die Gefühle nahmen schlagartig positiven Charakter an. Endlich konnte sie wieder atmen, wenn auch das beklemmende Gefühl noch eine Zeit erhalten blieb.

Sie schien auf daunenweichen Wolken gebettet.

Da höre sie liebliche Klänge aus der Ferne, die sich langsam zu Lauten formten, bis sie schließlich deutlich eine Stimme vernahm.

„Elena! Elena! Komm zurück! Deine Zeit ist noch nicht gekommen! Du musst umkehren!“

„Umkehren? Wohin? Wer bin ich? Woher komme ich? Ich weiß es nicht! Sage du es mir, du Unbekannte!“

„Darauf musst du schon selber kommen! Erinnere dich! Es ist ganz leicht!“

„Ich…ich kenne deine Stimme, ich habe sie schon einmal gehört! Aber wo? Ich versuche mich zu erinnern:“  Entgegnete Elena!

„Dann wirst du dich  auch ganz bestimmt erinnern zu wem diese Stimme gehört.“

Meldete sich nun noch ein anderer.

„Ja! Richtig! Auch an dich erinnere ich mich ganz genau.“ Antwortet Elena, wobei ihr Herz von einem seltsam wohligen Gefühl durchdrungen wurde.

Im nächsten Moment tauchten vor ihr zwei Wesen auf, erst verschwommen, wie durch eine Nebelwand, dann immer deutlicher vernehmbar, bis ihre Konturen glasklar zu erkennen waren.

Vor ihr standen Leander und Kovacs.

Auf einen Schlag meldeten sich die Erinnerungen zurück.

„Leander, mein Liebster. Du bist hier? Und du Kovacs, Freund und Lehrer. Auch du?“

„Ja, wir sind es. Wir sind gekommen dich zu begrüßen, gleichzeitig aber auch zu verabschieden. Denn deine Zeit ist noch nicht gekommen.“ Sprach Kovacs in einer fast väterlich klingenden Stimme

„Du musst ins Leben zurück. In dein Leben. Du hattest kein Recht und keinen Grund es zu beenden.“ Fügte Leander hinzu.

Elena kam ins Grübeln. Ihr Leben beendet? Ja, da war doch was. Ganz langsam wurde sie sich ihrer Tat bewusst. Nun also war sie tatsächlich auf der anderen Seite angelangt. Oder?

„Bin ich jetzt im Paradies? Im Himmel?“

„Nein! Noch nicht! Du befindest dich auf der Schwelle. Noch ist der Lebensfaden nicht durchtrennt, der dich verbindet mit der Welt aus der du gekommen bist.“

Klärte Kovacs auf.

„Ich möchte hier bleiben! Hier bei euch. Ich bin so glücklich euch beide wieder zu sehen. Ich fühle mich wunderbar. So gut wie lange schon nicht mehr.“ Begeisterte sich Elena.

„Du kannst dir die neue Welt nicht gewaltsam erobern. Deshalb musst du wieder zurück.“

Holte sie Leander aus ihrem Traum.

Das gefiel Elena ganz und gar nicht.

„Aber warum? Ich habe doch nur ein Elend beendet. Darf ich das nicht. Kann ich nicht entscheiden, wann und auf welche Weise ich aus dem Leben trete?“

„Eine gute Frage. Verständlich! Aber es sollte nicht sein.“ Antwortete Kovacs.

„Das sagst du? Du, der du ebenfalls aus dem Leben geschieden bist. Sicher, du starbst nicht von eigener Hand, aber du hast den Tod gesucht und provoziert.“ Hielt ihm Elena entgegen.

„Das stimmt! Aber ich musste die Erfahrung machen, dass es nicht richtig war. Ich hätte bleiben müssen. Ich wurde gebraucht, damals nach dem Ende der Revolution und Neidhardts Machtergreifung. Ich habe euch im Stich gelassen. Ich bereue es zutiefst.“ Gestand Kovacs reumütig ein.

„Du darfst nicht den gleichen Fehler begehen, Elena. Kehr um! Jetzt! Noch ist es dafür nicht zu spät.“

„Du wolltest dich schon einmal das Leben nehmen. Nach meinem Tod. Du erinnerst dich? Damals hinderten dich die Schwestern, gaben dir ihre Liebe und holten dich ins Leben zurück. Das würden sie heute wieder tun. Keine Frage. Du brauchst nur zu ihnen gehen und dich ihnen offenbaren.“ Rief Leander die Erinnerung zurück.

„ Ja, jetzt da du es sagst kommt es wieder hoch. Ich wollte damals sterben, weil ich deinen Verlust nicht ertragen konnte. Ich fühlte mich verantwortlich für deinen Tod, weil ich dich nicht schützen konnte. Es war eine spontane Reaktion. Es war so furchtbar. Heute ist es Madleen um die ich trauere.“

„Aber Madleen ist nicht gestorben. Sie lebt! Sie wird noch lange leben. Du kannst sie wiederhaben, doch du musst um sie kämpfen. Sie liebt dich noch immer. Der Mann an ihrer Seite hält ihre Seele gefangen. Verstehst du? Er hat sie manipuliert. Madleen weiß im Moment nicht was sie tut. Du kannst sie befreien. Glaube mir, sie kommt zu dir zurück, wenn du nur fest darauf vertraust.“ Sprach Kovacs den wunden Punkt an.

„Ich möchte es! Wenn ich nur wüsste wie. Meine Seele ist verwundet. Ich bin am Ende. Ich bin im Augenblick außerstande zu kämpfen. Ich habe einfach keine Kraft mehr. Mit den Depressionen kann ich keine Schlachten führen, geschweige dem gewinnen.“ Schätzte Elena ihre Situation richtig ein.

„Du bist Aradia! Auch die musste einen schmerzlichen Verlust erleiden. Nein, nicht einen, gleich mehrere. Sie hat ihrem Leben kein Ende gesetzt, auch wenn sie kurzzeitig daran dachte. Sie blieb standhaft. Sie ließ ihre Schwestern nicht im Stich und focht ihren Kampf bis zum bitteren Ende weiter. Ihr Schicksal war vorbestimmt. Deines auch. Doch du bist nicht zu solch einem Ende verdammt wie Aradia. Du hast die Möglichkeit aus ihren Fehlern zu lernen.“ Fuhr Kovacs weiter fort.

„Aradia? Du weißt um Aradia? Warum hast du mich nicht darauf aufmerksam gemacht, als du noch im Leben standest? Ich hätte viel früher darauf kommen müssen, dass Aradia und ich eins sind. Dann hätte ich womöglich viele Fehler vermeiden können.“ Wollte Elena wissen.

„Das konnte ich aus zwei Gründen nicht. Erstens, weil ich es damals nicht mit Gewissheit sagen konnte. Ich war dem Aradia-Mythos auf der Spur, konnte aber nicht tiefer dringen. Das könnt nur ihr Schwestern. Ferner liegt es auch daran, dass du aus eigenen Kräften hinter das Geheimnis kommen musstest. Langsam, Schritt für Schritt. Verstehst du?“

„Dein Leben ist ein Initiationsweg, Elena!“ Setzte Leander den Gedanken weiter fort.

„Stationen! All die negativen Erlebnisse in deinem Leben hatten einen Sinn. Sie haben dich in deiner Entwicklung weiter getragen. Ohne diese würdest du heute nicht dort stehen, wo du dich gerade befindest“

„Das ist mir schon bewusst! Anarchaphilia deutete ständig so etwas an, immer wenn sie zu mir sprach.

Apropos! Wo ist sie? Warum meldet sie sich nicht mehr? Weshalb hat sie mich im Stich gelassen, ausgerechnet in jenen Augenblick als ich sie am dringendsten brauchte?“ klagte Elena die Göttin an.

„Weil du im Begriff warst dein Leben wegzuwerfen. Anarchaphilia aber ist eine Göttin des Lebens und nicht des Todes!“ Antwortete Kovacs.

„Deshalb sind wir zu dir gekommen. Wir sprechen in ihrem Namen zu dir. Wir sind ihre Boten. Unser Auftrag ist es, dich in ihren Schoß zurück zu bringen:“ Gab Leander zu verstehen.

„Eigenartig! Was diese Götter alles tun, um uns Menschen einen Weg zu weisen. Rätsel, Mysterien, irreführende Labyrinthe. Warum sprechen sie nicht offen zu uns und sagen uns klipp und klar wie wir zu handeln haben?“ Wunderte sich Elena einmal mehr, so wie sie es schon oft getan hatte.

„Das Leben ist nicht einfach. Das Leben ist eine Schule. Auch dort lernst du nicht alles auf einmal, sondern musst die Erkenntnisse nach und nach erarbeiten. Alles auf einmal? Das wäre eine Zumutung, die kaum zu verkraften wäre. Für dich im Besonderen. Du bist Aradia! Du trägst Erinnerungen in dir, die ein paar Tausend Jahre alt sind!“ Versuchte Kovacs eine Erklärung.

Elena schien auf einmal müde. Dass Gespräch war hochinteressant, gerne würde sie weiter mit den beiden reden, dabei alles ansprechen, was ihr auf dem Herzen brannte. Doch irgendetwas in ihr signalisierte ihr, dass sie sich verabschieden musste. Sie stand an einer Schwelle. Würde sie weiter hier verbleiben, drohte sie den Rückweg zu verfehlen.

„Ich träume! Ja, ich muss träumen. Ich möchte bei euch bleiben. Viel gibt es da noch zu besprechen. So viele Dinge, die wir uns im Leben nicht mehr sagen konnten. Vor allem dir Leander möchte ich so viele liebe Dinge sagen. Ich habe dich oft verletzt. Als ich endlich bereit war mir meine Liebe einzugestehen, war es zu spät. Wir haben eine wundervolle Tochter, Tessa. Was gäbe ich dafür euch beide nur einmal gemeinsam zu sehen. Wie ihr miteinander redet, miteinander spielt. Ihr hätte euch so viel zu sagen. Sie ist ein wundervolles Kind und schlägt dir in allem nach. Es ist so grausam, dass du sie niemals kennen lernen durftest.“

„Ja und zu ihr musst du zurück. Sie gemeinsam mit Madleen befreien, aus den Händen eines Mannes der zu beiden nicht gehört. Hast du mich verstanden Elena. Du musst jetzt zurück!

Du musst aufwachen! Aufwachen!“

 

Mit einem brutalen Ruck wurde Elena ins Leben zurückkatapultiert. Es war grauenhaft, denn plötzlich waren die Schmerzen wieder da, die Atemnot, die Übelkeit und der Brechreiz.

Sie riss die Augen auf und musste sich erst einmal orientieren. Alles lag verschwommen, wie hinter einem Schleier.

Sie atmete schwer, hechelte eher wie ein Hund. Die Erinnerungen bahnten sich weiter ihren Weg. Die alles entscheidende Frage: Wo bin ich? Stellte sich ihr pausenlos. Noch immer konnte sie nicht viel erkennen. Alles schien in weiß getaucht. Ja richtig! War sie noch im Schnee? Nein, das konnte nicht sein, denn sie spürte eine angenehme Wärme um ihren gesamten Körper. So warm, dass sie einen heftigen Schweißausbruch erlebte.

Endlich lichtet sich der Nebel und sie vernahm die Umrisse ihrer Umgebung immer deutlicher. Sie blickte auf eine grau getünchte Decke. Bedeutet das, dass sie sich in einem Gebäude befand? Langsam wagte sie den Kopf zu heben, auch wenn es ihr dabei wieder übel wurde und Kopf und Nacken schmerzten.

Sie war in flauschig- weiche Decken gehüllt, kunstvoll um ihren Körper geschlungen, so dass nur noch der Kopf herausragte. So straff um sie gezogen, dass Bewegungen nur sehr schwierig von statten gingen. Sie versuchte ihren Leib zu ertasten und machte dabei die Feststellung, dass sie unter den Decken nackt war.

Jemand hatte ihr die klammen und durchnässte Kleidung ausgezogen und sie wie einen Säugling in Decken gewindelt.

Sie versuchte erneut den Kopf zu bewegen und stöhnte dabei auf, so schwer fiel ihr diese kleine Anstrengung

Sie befand sich in einem kleinen Zimmer, notdürftig, aber geschmackvoll eingerichtet.

Sie lag auf einem Bett. Ferner konnte sie noch Kleiderschrank, Schreibtisch mit Stuhl, einen alten Korbsessel und einen Nachttisch direkt zu ihrer Linken erkennen.

Das grelle, aufdringliche Licht einer Leuchtstoffröhre erhellte den Raum und störte ihre empfindlichen Augen. Nirgends konnte sie ein Fenster entdecken. Befand sie sich etwa einem Keller?

Den Versuch sich aufzurichten unterließ sie nach dem ersten Versuch. Es war einfach zu schmerzhaft und die Übelkeit überkam sie dann umso heftiger.

Von ihrer Stirn bahnten sich ganze Bäche von Schweiß ihren Weg. Das Kopfkissen war bereits durchnässt.

Erneut begann Elena zu stöhnen, wälzte sich dabei voller Unruhe hin und her.

Plötzlich bemerkte sie wie jemand ganz zaghaft die Tür von außen öffnete. Schnell ließ sich ins Kissen fallen und stellte sich schlafend.

Wer in aller Welt mochte das sein? Wo in Gottes Namen befand sie sich?

Ängste kamen in ihr auf. Das Herz pochte und ihr Puls raste. Sie bemerkte, dass sich die Person auf ihrer Bettkante niedergelassen hatte. Noch aber wagte sie nicht die Augen zu öffnen. Welche böse Überraschung harrte ihrer nun?

Da vernahm sie wie ein Handrücken ganz sanft über ihre verschwitze Stirn fuhr, dann die rechte Wange hinunter, über das Kinn und schließlich spürte sie einen Finger auf ihrer Nase.

Sie riss die Augen auf und erschrak gewaltig. Doch schon bald wich der Schreck einem schier grenzenlosen Glücksgefühl.

Sie blickte in ein vertrautes Gesicht, das sie vor etwa 2 Jahren das letzte Mal gesehen hatte.

„NEIDHARDT!!!!“

Sie richtete sich abrupt auf, doch das hatte wiederum einen stechenden Schmerz im Unterbauch zur Folge.

Zwei kraftvolle Hände umschlossen ihren Kopf und betteten ihn sanft zurück auf das Kissen unter ihr.

„Neidhardt! Bist du es wirklich oder träume ich schon wieder? Bitte, bitte, lass es keinen Traum sein!“

„Ich kann dich beruhigen Elena. Ich bin es, ganz real, aus Fleisch und Blut. Du bist keiner Sinnestäuschung erlegen.“

Er berührte erneut ihre Wangen.

„Ja, du bist es. Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich…ich….äh… was ist mit mir?

Wo bin ich und wie komme ich hierher?   Wie in aller Welt hast du mich gefunden?

Ich meine, wo kommst du auf einmal her? Ich verstehe es nicht.“

Zärtlich legte Neidhardt den Zeigefinger seiner rechten Hand auf Elenas Mund.

„Ganz ruhig Elena! Alles ist gut. Ich habe dich draußen im Schnee gefunden. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass du in der Kälte erfrierst. Du bist bei mir in meiner Behausung.“

„In…in deiner Behausung? Aber wo ist das? Ich war in der grauen Zone. Es lebt doch niemand dort. Alles Sperrgebiet. Von der Außenwelt abgeschirmt. Was tust du hier? Wie und wo genau lebst du?“

„Eine lange Geschichte! Wie soll ich das erklären? Wo kann ich ansetzen, ohne dabei auszuufern?“

„Tue es einfach! Ich denke wir haben eine Menge Zeit!“ antwortete Elena voller Ungeduld.

„Na gut, dann will ich dich auch nicht länger im Unklaren lassen. Was die Graue Zone betrifft, hast du Recht. Wir befinden uns in deren Bereich. Genau genommen darunter, in einem Bunker.“ Setzte Neidhardt mit seiner Aufklärung an.

„In einem Bunker?“

„Ja, in einem Bunker. Der bildet sozusagen den Kern des gesamten Komplexes.“

„Eigenartig, davon war mir gar nichts bekannt. Man sprach im Allgemeinen nur von einem Sperrgebiet. Na egal. Aber wie kommst du hierher. Das ist im Grund die Frage, die mich am meisten bewegt. Du warst auf einmal verschwunden. Es hat mir fast das Herz gebrochen damals. Geht einfach so weg, ohne zu hinterlassen, wo ich dich finden kann. Ich habe mir nächtelang die Augen ausgeweint. Du… du hast die ganze Zeit über hier zugebracht? Hier in dieser unwirklichen Umgebung. Ich kann das gar nicht glauben.“

Entsetzen prägte Elenas Gesichtsausdruck als sie diese Worte sprach.

„Mit einigen kleinen Unterbrechungen habe ich die ganze Zeit hier zugebracht.“ Entgegnete Neidhardt so als sei es das Natürlichste der Welt.

„Aber warum? Warum bist du so mir nichts dir nichts fort gegangen. Von einem Tag zum anderen, nur mit einem Abschiedsbrief auf meinem Schreibtisch. Lässt mich einfach so zurück, ohne zu sagen weshalb und warum“ Tränen traten in Elenas Augen und sie spürte einen stechenden Schmerz in der Herzgegend.

„Eine lange Geschichte, die sicher einer Erklärung bedarf, aber darüber sollten wir reden wenn es dir wieder besser geht.“

Elena machte Anstalten dagegen zu protestieren, doch Neidhardt hielt sie zurück.

„Jetzt ist es wichtig, dass du wieder zu Kräften kommst. Ich geh doch sicher recht in der Annahme, dass du Schlimmes erlebt hast in den zurückliegenden Wochen. Ich lebe sehr zurückgezogen hier, aber deshalb bekomme ich trotzdem mit, was in der Welt so vor sich geht, vor allem in unserem geliebten Melancholanien, dass einmal kurzzeitig Akratasien hieß.

Die Wahlen haben das Rad der Geschichte ordentlich zurückgedreht würde ich sagen.“

Nun brach Elena erst recht in Tränen aus.

„Siehst du! Wie ich es sagte. Du bist krank, sehr krank. Du brauchst Ruhe und Pflege. Du sollst sie bekommen.“

„Ja, erkläre es mir später. Ich bin so froh dich wiederzuhaben. Ich habe dich unendlich vermisst.“

Elena erhob sich abrupt und richte ihren Oberkörper auf, entblößte dabei ihre Brüste und fiel Neidhardt um den Hals.

Im Anschluss schluchzte sie ihm laut ins Ohr. In dieser Stellung verharrten sie eine ganze Weile, bis Neidhardt sie wieder zurück auf ihr Lager bettete.

„Komm wieder zur Ruhe, mein gequältes Herz. Hier hast du die beste Gelegenheit. Niemand wird in dein Leben einbrechen und dich daran hindern. Es ist schon Abend. Versuche jetzt zu schlafen. Wenn es dir morgen früh besser geht, werden wir über alles reden, versprochen!

Sollte dir weiter unwohl sein, werden wir warten damit. Es eilt nicht! Wie du vorhin so treffend festgestellt hast, haben wir hier alle Zeit der Welt!“

Neidhardt presste seine Lippen auf Elenas Stirn, dann machte er Anstalten zu gehen. Elena hielt ihn am Arm fest.

„Bitte bleib noch einen Moment. Kaum bist wieder in mein Leben eingetreten, dann willst du dich schon wieder verabschieden. Sag mal, hast du mich ausgezogen?“

„Das habe ich! Es ist außer mir niemand hier unten. Deine Kleidung war völlig klamm und gefroren. Ich habe deinen nackten Körper trocken gerubbelt und in die Decken gehüllt. Sollte ich etwa nicht? Ist dir das unangenehm?“

„Nein! Nein ganz und gar nicht. Du hast vollkommen richtig gehandelt. Ich war sicher stark unterkühlt. Ferner werde ich mir eine Erkältung zugezogen haben. Bei einem anderen Mann wäre mir das unangenehm, bei dir nicht!“

„Freut mich zu hören! Du hast dich nebenbei auch mehre Male erbrochen. Ich hatte meine Mühe und Not dich dabei zu halten, sosehr hast du gewürgt. Du hast etwas eingenommen, nicht wahr?“

„ Richtig! Und es ist gut, dass ich mich übergeben musste. Nur auf diese Weise konnte ich es wieder loswerden.

Ich bin so glücklich, dass du noch lebst und es dir dem Anschein nach gut ergangen ist.

Wir haben sicher viel zu erzählen. Meine Geschichte der zurückliegenden Zeit ist dir bekannt, aber über deinen jüngsten Lebensabschnitt weiß ich gar nichts.“

In der Tat, nichts bewegte Elena in diesem Moment mehr als hier sein Geheimnis zu kommen.

Warum hatte er sich wie ein Eremit in diese Einöde zurückgezogen, da er bei ihr den Himmel auf Erden  hätte haben könnte. Aber das war eben Neidhardt. Man wurde aus ihm einfach nicht schlau. Was für ein eigensinniger Typ. Stets für eine Überraschung gut.

Elena hielt seine Hand umklammert, wie ein Kind, das sich in die Arme der Mutter flüchtet.

Langsam aber sicher machte sich Müdigkeit bemerkbar. Ständig fielen ihr die Augen zu. Eine Zeitlang wehrte sie sich dagegen, dann sah sie ein, dass es nichts brachte und sie gab dem Schlafbedürfnis nach.

Nachdem sie fest eingeschlafen war, begann sich Neidhardt leise zu entfernen.

 

Elena schlief die ganze Nacht hindurch, bis weit in den Vormittag hinein. Ein durchaus erholsamer Schlaf. Nach ihrem Erwachen machten sich aber sogleich wieder die körperlichen Unzulänglichkeiten bemerkbar. Ihr Geist lies das Geschehen der letzte 48 Sunden noch einmal Revue passieren. Sie hatte einen Gewaltakt sonders gleichen hinter sich.

Doch damit meldete sich auch die destruktive Grübelei der vergangenen Tage und Wochen  zurück.

Bald schon sollten positive und negative Gefühlsregungen einen erbarmungslosen Wettstreit um die Vorherrschaft führen.

Positiv war, dass sie Neidhardt wieder gefunden hatte. Das erfüllte sie mit einem ungeahnten Glücksgefühl. Doch um welchen Preis? Alles andere hatte sie verloren. Das Bewusstsein um diesen Verlust bohrte sich tief in ihre gemarterte Seele.

Sie war am Leben. Neidhardt hatte sie gerettet. Doch was bedeutete das? Was erwartet sie hier? Konnte sie bleiben? Wenn ja, wie würde sich der Alltag gestalten, wenn der erste Rausch der Wiederbegegnung verflogen war?

Sie befanden sich in einer Bunkeranlage. Elena würde, wenn ihre Gesundheit es zuließ, dieses Gelände bald erkunden. Doch bei dem Gedanken daran wurde ihr unheimlich. Was hörte man nicht alles von geheimen Bunkern und ihrem undurchschaubaren Innenleben*

Elena versuchte aufzustehen, doch als sie festen Boden unter ihren Füßen spürte, begann sie zu taumeln, die ganze Welt schien sich um sie zu drehen. Frustriert ließ sie sich wieder auf die Matratze fallen. Ihr war kalt und sie schlang die durchgeschwitzten Decken wieder um sich. Tabletten und Alkohol hatten ganze Arbeit geleistet.

Sie konnte nur hoffen, dass Körper und Seele keinen allzu großen Schaden davongetragen hatten.

Elena verbrachte den ganzen Tag im Bett.

Neidhardt erschien in regelmäßigen Abständen, um nach ihr zu sehen. Dabei ging er außerordentlich behutsam vor, doch er bemerkte, dass Elenas Gemütszustand eindeutig in die negative Richtung tendierte. Aus diesem Grund wollte er sie nicht mit Gesprächen überfordern und hielt sich zurück.

 

Elena blieb die folgenden Tage allein auf diesem Zimmer. Neidhardt versorgte sie mit Essen und Getränken, doch sie rührte nur sehr wenig davon an. Ihr Magen schien sich nur langsam zu erholen.

Sei benötigt vor allem Ruhe. Ruhe und nochmals Ruhe um sich mit der neuen Situation vertraut zu machen. Doch das brachte es mit sich, dass sie zusehend wieder in Depressionen verfiel. Ständig war ihr zum Weinen. So sehr sie sich auch bemühte, es wollte sich einfach keine positive Stimmung einstellen. Die kurze Phase der Wiedersehensfreude war in Handumdrehen verflogen.

Auch diese neue Umgebung wurde ihr bald zum Gefängnis. Viel hatte sie zwar noch nicht  davon gesehen. Außer dem kleinen Zimmer kannte sie bisher nur den Flur der zur Toilette gegenüber führte, aber das schien ihr schon zu genügen. Sollte sich so die gesamte Anlage präsentieren, dann prost Mahlzeit.

Schritt für Schritt lieferte sie sich der Depression aus, begann Neidhardt sogar Vorwürfe zu machen, aufgrund der Tatsache, dass er sie nicht hatte sterben lassen. Immerhin hatte sie mit allem abgeschlossen und das ungeliebte Leben ein für alle Mal hinter sich gelassen.

Nun musste sie sich erneut der kalten Wahrheit stellen.

Was für ein Leben sollte sie von nun anführen? Diese Frage drang in sie wie ein vergifteter Pfeil und infizierte ihre Seele von Tag zu Tag mehr.

Sie schien wieder dort angekommen, wo sie sich unmittelbar vor ihrem Suizidversuch befunden hatte. Neidhardt schätze diese Lage als sehr bedenklich ein und sah sich genötigt einzugreifen, denn so konnte es unmöglich weitergehen.

„Elena, möchtest du nicht aufstehen? Körperlich geht es dir doch in der Zwischenzeit besser, oder? Aber deine Seele leidet. Wir können reden, das wollen wir doch schon seit Tagen. Außerdem könntest du dir die Anlage ansehen, da gibt es einiges zu erkunden.

Das Wetter draußen hat umgeschlagen. Kalt aber trocken und sonnig. Ein Gang in die Natur durchaus machbar.“

„Lass mich in Ruhe, Neidhardt! Ich habe keine Lust, zu gar nichts. Ich habe jegliche Motivation zum Leben verloren. Lass mich einfach nur allein. Das ist alles was ich möchte!“

Gab sie kurz und knapp zur Antwort.

„Ich kann dir ganz und gar nicht zustimmen! Du vergräbst dich hier und lässt dich gehen. Sieh nur wie du aussiehst. Du hast dir seit Tagen nicht mehr die Haare gewaschen, dabei ist das Bad nur zwei Schritte über den Flur zu erreichen. Du trägst nicht mal deinen Schlafrock. Nicht das mich der Anblick deiner Nacktheit stört. Aber hältst du es denn für schicklich?“

„Das kann dir doch egal sein wie ich aussehe. Ist doch wohl meine Sache. Ich sage es noch einmal. Lass mich allein. Ich will dich nicht sehen. Nicht heute, nicht morgen, nicht irgendwann.“

„Ach jetzt auf einmal! Vor ein paar Tagen als ich dich hierher brachte klang das aber ganz anders. Woher dieser plötzliche Sinneswandel?“

„Ich war erfreut, richtig! Aber nur für kurze Zeit. Das ist lange schon verklungen. Die letzten Tage bin ich wieder zu mir gekommen. Du hast mich in ein Leben zurückgeholt, dass ich abgeschlossen hatte. Aus und vorbei! Verstehst du? Ich wollte nicht mehr! Und ich will auch jetzt nicht mehr. Das Leben hat für mich jeden Sinn verloren. Es gibt nichts mehr an das ich mich halten kann. Elenas Geist ist schon lange tot. Nur der Körper ist noch lebendig, doch der ist nur noch eine leblose Hülle.“

Die Bitterkeit, mit der sie diese Worte sprach, kam nur allzu deutlich zum Ausdruck.

„Ein Lebensabschnitt ist zu Ende, Elena. Aber nicht das Leben selbst. Du hast viel zurück- gelassen, das ist wahr. Eine Art von kleinem Tod, wenn du so willst. Nun heißt es für dich, Neues zu entdecken, ganz von vorne anfangen. Dir bleibt keine andere Wahl.“ Versuchte Neidhardt sie noch im sanften Tonfall umzustimmen, doch hatte er längst begriffen, dass er bei ihr nicht weit damit kam.

„Nein! Nein, ich will nicht!  Niemals! Es gibt kein Leben mehr für mich! Ich will sterben. Sterben, verstehst du das? Sterben, Sterben, Sterben!!!

Ich werde es wieder tun. Immer wieder! Solange bis es mir irgendwann einmal gelingt.“

Neidhardt ergriff ihre Hände und drückte sie auf das Bett zurück. Dann beugte er sich über sie, sah tief in ihre Augen und versuchte ihr forsch ins Gewissen zu reden.

„So! Jetzt hörst du mir zu Elena von Akratasien!  Du standest noch bis vor Kurzen ganz oben. Du warst die Kanzlerin der Herzen. Eine deren die Sympathiewerte nur so entgegen flogen. Du warst immer oben, wenn man von einigen kleinen Durststrecken einmal absieht. Für dich gab es nur alles oder nichts. Alle fraßen dir aus der Hand. Du warst die Macherin, der alle bedingungslos folgten. Dein Wort zählte etwas, bei den Schwestern, in der Kommune

Schließlich im Kabinett und im ganzen Land.

Nun hat sich das Blatt schlagartig gewendet und damit wirst du nicht fertig. Verständlich! Wer könnte es besser nachvollziehen als ich. Auch ich wurde vom Sockel gestoßen, den ich mir in langen Jahren, nein Jahrzehnten habe  hart erkämpfen müssen. Ich wurde über Nacht zu einem Nichts, zu einem Niemand. Auch ich zog mich zurück. Aus diesem Grund kam ich hierher. Um allein zu sein, mit mir und mit meiner Vergangenheit. Abzuschließen, richtig, aber auf mein Art. Jetzt bist du an der Reihe. Erkenne die Stunde, Elena. Wir sitzen im gleichen Boot. Beide wurden wir entmachtet. Beide sind wir nun auf uns gestellt und müssen uns neu orientieren. Der Unterschied liegt darin, dass du noch eine Zukunft hast für die es sich zu kämpfen lohnt. Du kannst dir die Macht, die sie dir genommen, wieder zurückerobern. Für mich hingegen ist es dafür lange schon zu spät.“

Elena erschrak über diese deutlichen Worte. Hatten nicht Leander und Kovacs während ihres Traumes ähnliches zu ihr gesagt? Ja, sie begann sich zu erinnern. Nun sprach ein Lebendiger zu ihr und alle schienen sie im Recht zu sein.

„Ich.. ich habe es doch versuchte in den zurückliegenden Wochen und Monaten. Habe gekämpft wie eine Löwin. Aber es half nichts. Alles gleitet mir aus den Händen. Alles bricht zusammen, alles was mir lieb und teuer war. Akratasien existiert nicht mehr. Die Menschen haben mich im Stich gelassen. Das ganze Volk hat sich diesem smarten Schönling zu Füßen geworfen, allen voran meine Madleen und zu guter

Letzt haben sie mir auch noch meine Tochter genommen.“ Schluchzte Elena laut.

Neidhardt holte ein Taschentuch, wischte ihr die Tränen von den Wangen, danach putzte er ihr die Nase.

„Das ist hart! Wie ich schon sagte. Ich verstehe dich nur zu gut. All deine Bemühungen scheinen dir vergebens. Du bist gezwungen mit anzusehen, wie alles was du aufgebaut hast den Bach hinunter geht. Aber so läuft nun mal die Politik.  Wie heißt ein altes christliches Sprichwort :> Nur ein paar Tage trennen den Palmsonntag vom Karfreitag< Gestern noch begrüßten sie dich mit Hosianna, heute heißt es >Ans Kreuz mit ihr!

Politik ist ein kurzlebiges Geschäft, wenn man nicht versteht auf die rechte Weise damit umzugehen. Ich musste die Erfahrung machen, nun bist du an der Reihe. Sie haben uns beide vergessen!“

„Verzeih mir Neidhardt! Verzeih mir meine bösen Worte! Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe. Es ist nur so schwer für mich. Wenn ich nur ein wenig Licht am Ende des Tunnels sehen könnte. Ein Zeichen! Irgendein Zeichen, dass es weitergeht!“

„Es wird weitergehen Elena! Der Anfang ist getan. Du bist bei mir! Nun werden wir weiter- sehen. Komm zur Ruhe! Weine wenn dir danach ist. Wenn es dir besser geht, findest du mich bereit.“

Danach küsst er ihre Hände, erhob sich und verlies wortlos den Raum.

Elena hatte schon bei ihrer ersten Begegnung vor ein paar Tagen deutliche Veränderungen an ihm wahrgenommen. Die Zeit hier schien ihre Wirkung hinterlassen. Er schien ein neuer Mensch zu sein.

Sie ließ sich wieder auf die Matratze fallen und gab sich ihrem Schmerzen hin. So ging es noch einen Tag und eine Nacht.

Doch am darauf folgenden Morgen fühlte sie sich bereit sich zu erheben und sich dem Alltag zu stellen, der hier auf sie wartete.

Sie spürte festen Boden unter den Füßen und wankte ins Badezimmer, um sich gründlich zu säubern. Der Blick in den Spiegel offenbarte das Ganze Elend. Blass wie eine frisch gekalkte Wand, tiefe Ränder unter den Augen, total zerzaustes Haar. Lange würde sie brauchen, um die alte Schönheit wieder herzustellen.

Sie stellte die Dusche an, das prickelnde Wasser tat ihr gut auf der Haut. Nun waren die Haare dran. Es bedurfte eine gewisse Zeit, um die  alte Pracht von neuem zu errichten. Trocknen, Föhnen, Auskämmen.

Die Haut mit ausreichend Creme versorgen. Langsam begann sie sich wieder zu erkennen.

Sie schritt ins Zimmer zurück und begann sich anzukleiden. Neidhardt hatte sie mit allem versorgt. Sie besaß nicht einmal mehr was sie auf dem Leibe trug. Wie eine Neugeborene. Sie schlüpfte in die Unterwäsche, dann zog sie die schwarze eng anliegende Baumwollleggin an. Im Anschluss das ebenso farbige Kapuzenshirt. Zum Schluss die weißen Stoffturnschuhe. Alles passte wie angegossen. Woher hatte Neidhardt diese Sachen?

Noch ein kurzer Blick in den Spiegel. In dieser Kleidung würde sie nun die vor ihr liegende Zeit verbringen.

Sie ging nach draußen. Den engen von einigen Nachtlichtern erleuchteten Flur entlang, öffnete eine Tür und befand sich in einem weiteren Flur. Noch war ihr alles fremd.

Womöglich ein Labyrinth. Wo sollte sie Neidhardt finden?

Und noch ein langer Flur, bis sie sich plötzlich vor einer Stahltür wieder fand. Sie drückte ihr Ohr daran und konnte auf der anderen Seite Geräusche wahrnehmen. Dann trat sie ein und fand dort Neidhardt vor. Offensichtlich ein etwas größerer Wohnraum, mit den dazu gehörenden Mobiliar. Wohnzimmerschrank, Bücherregale. Schreibtisch, ein altes gemütliches Sofa, sowie ein großer Tisch in der Mitte des Raumes.

„Guten Morgen Elena! Schön, dass du dich entschlossen hast ins Leben zurückzukehren. Ich freue mich! Du kommst gerade recht zum Frühstück. Komm setz dich! Es ist alles bereitet.“

lud Neidhardt ein.

„Ja, ich habe mich entschlossen es zu versuchen! Ich weiß nicht ob es mir gelingen wird. Aber ich wollte einfach nicht die ganze Zeit im Bett verbringen. Körperlich geht es mir einigermaßen. Aber die Seele. Schweigen wir lieber. Die Depression ist da und kreist wie ein schwarzer Vogel über mir. Es kann jeden Moment über mich kommen. Ich muss dich vor mir warnen. Das bin ich dir schuldig.“

Erwiderte Elena mit schwacher Stimme.

„Na, dann nimm doch einfach erst mal Platz!“

Neidhardt goss ihr eine Tasse Kaffee ein und stellte sie zurecht.

„Wie du siehst, haben wir sogar frische Brötchen. Dann lang zu und lass es dir schmecken:“

„Tatsächlich frische Brötchen! Woher hast du die?“

„Du hast sicher angenommen, dass ich  mich nur aus atomgesicherten Konserven ernähre, die alle irgendwie gleich nach gar nichts schmecken. Ich kann dich beruhigen. Dem ist nicht so.

Ich werde versorgt, mit allem was zum Leben nötig ist. Die Brötchen gehören dazu. Sie sind Teil der Erklärung, die du noch von mir zu bekommen hast.“

„Ich bin gespannt. Sehr gespannt hinter alles zu kommen. Ich bin aufnahmefähig, wenn auch immer noch etwas müde.“

Bekannte Elena. Sie glaubte ihn von allem was sie betraf in Kenntnis setzen zu müssen. Schließlich würden sie ja eine Weile hier zusammenleben.

Neidhardt nahm einen Schluck Kaffee, dann versuchte er sich zu konzentrieren.

„Also. Wo soll ich anfangen? Wo wir uns befinden? In der Grauen Zone, aber das ist dir ja bewusst. Alle Einzelheiten?“

„Ich weiß nur dass es sich um militärisches Sperrgebiet handelt. Die Gegend sei vermint und radioaktiv verseucht. Das ist wohl der Grund warum sich bisher niemand damit beschäftigt hat. Wir konnten uns in den Kabinettsitzungen nicht auf eine Entseuchung einigen. Zu großer Aufwand, zu wenig Nutzen hieß es immer. Wir beließen es dabei!“

Plötzlich wurde Elenas Gesichtsausdruck nachdenklich und nach einer kurzen Zeitspanne von Entsetzen geprägt.

„Radioaktiv verseucht! Ja, erst jetzt werde ich mir der ganzen Tragweite bewusst. Bin ich jetzt etwa kontaminiert? Ist mein Körper etwa einer Strahlung ausgesetzt?“

„Mit Sicherheit nicht Elena, ebenso wenig wie ich. Ich kann dich beruhigen, es gibt keine Verseuchung, es hat sie nie gegeben. Und vermint ist die Gegend ebenso wenig. Auch wenn hier dutzende Warntafeln stehen. Du kannst dich in der Gegend völlig frei bewegen.“ Gab Neidhardt Entwarnung.

„Jetzt versteh ich gar nichts mehr! Das muss du mir erklären!“

„Gerne! Es ist ganz einfach. Eine bewusste Falschmeldung. Von meiner damaligen Administration in die Welt gesetzt. Zu dem Zweck, dass wir hier ungestört bauen konnten. Wir wollten hier geheime militärische Forschungen betreiben und neugierige Besucher von vorn herein abschrecken. Wie du siehst ist es uns gelungen.“

„Und an was habt ihr hier im Geheimen geforscht?“

„Na Kriegsmaterial natürlich. Spezialwaffen und so weiter. Es sollte allerdings nicht mehr dazu kommen. Die friedliche Revolution und deine Machtergreifung setzten dem ein jähes Ende.“ Gab Neidhardt ohne Bedauern zur Antwort.

„Leuchtet ein! Das heißt, die Menschen gehen noch heute davon aus, dass hier große Gefahren lauern und meiden diese Gegend.“ Staunte Elena weiter.

„Ja, wenn es kein entsprechendes Dementi gibt, glaubt die Bevölkerung heute noch daran. Das bedeutet, dass wir hier völlig ungestört weiterleben können. Es sei denn Cassian hegt ein besonderes Interesse an diesem Gebiet und lässt alles gründlich untersuchen. Davon gehe ich im Moment nicht aus. Zumindest nicht in seiner Anfangsphase. Jetzt hat er erst mal alle Hände voll zu tun, seine Macht zu festigen.“

„Beruhigend das zu hören.“ entgegnete Elena, während sie sich ein Brötchen aufschnitt.

„Wir haben beide kein sonderliches Interesse denen in die Hände zu fallen. Ein weiterer Punkt der uns zusammenschweißt!“

„Aber wie kann ein Mensch hier so lange allein und von der Außenwelt existieren. Du sagtest, dass du schon die ganze Zeit über hier lebst, seit deinem Verschwinden damals. Das stelle ich

mir entsetzlich vor. Wie hast du das geschafft, ohne den Verstand zu verlieren?“

„Erstens bin ich ein Mensch der Ruhe und Alleinsein gewohnt ist. Ich komme ganz gut zurecht.

Zweitens bin ich gar nicht so allein, wie es dem ersten Anschein nach aussieht. Es gibt einige Leute dir mir helfen und zur Seite stehen. So ganz eremitisch lebt der Eremit nun auch wieder nicht.“

„Du hast Leute, die dich unterstützen?“

„Ja, damit hast du wohl nicht gerechnet? Auch Neidhardt kann noch ein paar Getreue sein Eigen nennen, wenn es auch, zugegebenermaßen, nicht mehr viele sind.

In nicht allzu weiter Entfernung, gleich hinter dem Wald, den wir uns später auch ansehen werden, gibt es ein kleines Dorf. Sagen wir lieber ein Dörfchen. Kaum mehr als 100 Seelen.

Dort habe ich eine Reihe von Anhängern, die eingeweiht sind. Die wissen, dass ich hier lebe und sich um meine Belange kümmern. Sie versorgen mich mit allem was ich benötig, sehen regelmäßig nach dem Rechten usw. Bisher hielt die Tarnung und ich kann mich 100 % auf sie verlassen.  Inwieweit dass unter den neuen Bedingungen halten wird, vermag ich noch nicht einzuschätzen. Aber ich denke, wir brauchen uns vorerst keine Sorgen zu machen.“

„Das ist bemerkenswert. Bei näherer Betrachtung gar nicht so abwegig, immerhin bestand deine Radikal-Revolutionäre Partei ja in Akratasien weiter und war sogar Teil der Regierung. Heute natürlich nicht mehr, ebenso wenig wie die Meine.“

„Alte Strukturen fallen nun mal nicht so über Nacht in sich zusammen. Sie bestehen weiter, wenn auch unter anderen Bedingungen in veränderter Form und Vorgehensweise.“

„Das leitet über zu meiner wichtigsten Frage. Warum bist du damals auf und davon, ohne dich richtig zu verabschieden. Du hättest bleiben können. Niemand hat dich angeklagt. Andere haben es getan. Dein Stellvertreter Dagobert zum Beispiel hat sich glänzend arrangiert und war mir ein guter Vizekanzler.“ Wollte Elena wissen.

„Kann ich mir vorstellen! Sieht ihm ähnlich! Hat sich immer gut anpassen können und das Fähnchen in den Wind gedreht. Ich bin anders. Ich biedere mich niemals an.. Ich stehe zu dem was ich war und was ich getan habe. Ich wollte mich nicht ständig rechtfertigen müssen, für meine Überzeugungen und für die daraus resultierenden Taten. Ein Abtauchen in den Untergrund schien mir die einzig gangbare Alternative. Nein, Elena! Neidhardt als der Teil der Gemeinschaft von Anarchonopolis? Undenkbar! Wenn du es dir genau überlegst wirst du mir zustimmen.“

Seine Aussage entbehrte nicht einer gewissen Logik. Elena musste sich eingestehen, dass er wohl tatsächlich nicht anders handeln konnte.

„Aber du hättest doch auch einen besseren Ort für ein Exil wählen können. Dein Gartengrund stück zu Beispiel. Ich war hin und wieder dort. Ist ganz schön verwildert und bräuchte dringend pflegende Hände.“

„Dort hätten sie mich doch wohl am ehesten gesucht und mich bedrängt mit ihren Fragen, wenn nicht noch mit anderen Unannehmlichkeiten. Nein, der Platz dort ist lange nicht mehr so verborgen wie er einmal war. Glaub mir! Hier habe ich gefunden, wonach ich bedurfte.“

Elena konnte und wollte dem nichts entgegensetzen. Sie begnügte sich vorerst mit dieser Antwort.

Doch ganz wollte sie das Thema noch nicht beiseite schieben.

„Hattest du nicht manchmal Sehnsucht nach mir.“ Forschte Elena mit weicher Stimme.

„Oh ja! Oft! Sehr oft sogar. Es verging im Prinzip kaum ein Tag da ich nicht an dich denken musste. Dein Gesicht war permanent präsent, auch wenn du hier kein Bild von dir findest. Ich bewahrte dich im Herzen, das genügte mir vollkommen.“

Diese Aussage rührte Elena erneut zu Tränen und  nur unter großer Mühe gelang es ihr diese vor ihm zu verbergen.

Sie beugte den Kopf und blickte zur Tischplatte.

„Mir erging es ganz ähnlich. Auch du warst in Gedanken stets zugegen. Dazu die Sorge darüber wo du verblieben bist und ob es dir gut geht, ja ob du überhaupt noch am Leben bist.

Ich aber hatte Gemeinschaft. Madleen an meiner Seite und Tessa. Colette und die vielen anderen. Ich hatte meine Funktionen, die mich ausfüllten. Da blieb wenig Zeit, um nachzusinnen. Doch ich nahm sie mir trotzdem. Ja und jetzt bin ich hier.“

„Das bist du in der Tat!“

„Können wir die verlorene Zeit nachholen?“

Elenas Frage traf ihn unvorbereitet. Es schien ihm unangenehm. Was konnte er darauf erwidern?

Natürlich wollte er es, doch durfte er ihr gegenüber keine Schwäche an den Tag legen, glaubte er zumindest.

Deshalb lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.

„Nun, wenn du fertig mit frühstücken bist und dich entsprechend fühlst, könnten wir einen Rundgang durch die Anlage starten. Die wird dich doch sicher interessieren? Aber nur wenn du dich wirklich fühlst. Wir könne jederzeit abbrechen und ein andermal weitermachen.“

Bot er an und Elena signalisierte nickend ihre Zustimmung.

 

Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, brachen sie umgehend auf. Neidhardt reichte ihr den Arm und Elena hakte sich unter, dann begann er ihr sein unterirdisches Reich zu präsentieren.  

Er führte die Ex-Kanzlerin in ein Labyrinth aus unzähligen langen Gängen mit dutzenden größeren wie kleineren Räumen zu beiden Seiten.

Steril erscheinende weißgetünchte Wände und Decken, beleuchtet von grünlich schimmernden Nachtlichtern. Leuchtstoffröhren an den Decken funktionierten per Knopfdruck und spendeten bei Bedarf ein grelles, aufdringliches Licht.

Der Fußboden war mit beigefarbener Auslegware bedeckt.

„Die Anlage ist etwa 50000 qm groß und erstreckt sich auf einer Länge von ca. 10 Km.“

Begann Neidhardt nun seine Ausführungen.

„Wir sehen uns erst einmal den bewohnten Teil an. Ich selbst benutze nur wenige Räume. Das macht etwa 10 % des Gesamtvolumens aus. Dir steht einiges zur Verfügung. Du kannst alles nach Belieben nutzen, wenn dir danach ist. Allerdings musst du dafür schon einige Entfernungen in Kauf nehmen. Aber ich denke, dir wird das nichts ausmachen.“

Elena nickte zurückhaltend. Sie hatte tausende von Fragen in ihrem Kopf, doch sie wollte sich zunächst überraschen lassen.

„Wir befinden uns hier in der Fitnessabteilung. Darf ich bitten.“

Neidhardt führte Elena in eine Halle mit allerlei Sportgeräten.

„Hey, das ist großartig. Da kann ich ja mein Training wieder aufnehmen. Das ist sehr wichtig, habe ich vernachlässig in letzter Zeit.“ Staunte Elena über das Vorgefundene.

„Ich dachte mir, dass es dir zusagt. Ja, hier drüben auf der anderen Seite findest du eine Schwimmhalle und gleich daneben eine funktionstüchtige Sauna mit allem was dazu gehört.“

Fuhr Neidhardt in fort.

Schließlich führte er sie in eine Art Ruheraum.

„Einen Andachtsraum haben wir auch, wie du schwerlich erkennen kannst.“

„Das ist ja phantastisch! Hier kann ich meine Meditationen durchführen. Sogar mit Klängen. Wie ich sehe gibt es eine Musikanlage.“ 

„Wir haben an alles gedacht. Diese Räume sollten der Regierung im Notfall zur Verfügung stehen. Da fehlt es an nichts.

So, wir verlassen jetzt den Trimmdichbereich und wenden uns den Räumlichkeiten zu, die eher den geistigen Belangen dienen.“

„Oh, da bin ich mal gespannt!“

Es ging einen weiteren langen Gang hindurch, bis Neidhardt eine Stahltür öffnete.

„Bitte sehr, die Bibliothek! Zu deiner Verfügung! Natürlich kann sie nicht mit der eurigen in der Abtei konkurrieren. Aber immerhin! Ich denke, sie hat einiges zu bieten!“

„Großartig! Du findest mich sprachlos. Ihr habt in der Tat an alles gedacht.“ Begeisterte sich Elena ehrlichen Herzens. „Ja, natürlich werde ich sie nutzen. Keine Frage und ich werde finden was ich brauche.“

Sie durchschritten den großen dreietagigen Raum, deren obere Ränge über stabile Leitern zu erreichen waren und befanden sich in einem etwas kleineren, aber immer noch geräumigen Zimmer.

„Das ist unser Medienraum. Du kannst Filme ansehen, die Videos oder CDs befinden sich in den Regalen. Hier hast du auch Internetverbindung. In den üblichen Räumen klappt das nicht immer so gut. Alle möglichen Schreibutensilien findest du hier ebenso.“

Sie führten ihren Gang weiter durch eine ganze Reihe geschmackvoll eingerichteter Aufenthaltsräume. Dann in eine Art Kantine, schließlich in eine große Halle, die Elena stark an einen Partyraum erinnerte.

Die Auftraggeber dieser Bauten schien alles in Betracht gezogen.

„Jetzt werde ich dir unsere medizinische Einrichtung zeigen. In deiner Eigenschaft als Ärztin wird sie dir sicher ganz besonders interessieren.“ Glaubte Neidhardt zu wissen und führte seinen Gast einen Gang weiter.

„ Eine komplett eingerichtete Arztpraxis mit allem was dazu gehört. Ferner Zahnarztbehandlungszimmer, sowie eine Apotheke. Die eingelagerten Medikamente müssten mal überprüft werden in naher Zukunft, sind sicher schon einige abgelaufen. All das wartet auf einen Arzt oder eine Ärztin, die sich hier betätigen könnte.“

„Das würde ich schon gern  Neidhardt. Allein, es fehlen die Patienten, die ich hier betreuen könnte.“

Erwiderte Elena verblüfft über diesen Vorschlag.

„Nun, einen hast du schon. Ich werde  sicherlich einer Behandlung bedürfen in naher Zukunft. Ferner dachte ich an die Leute aus dem kleinen Dorf von dem ich dir erzählt habe und das wir uns in Bälde ansehen werden. Die haben dort nämlich keinen Arzt weit und breit.“

„Darüber lässt sich reden. Aber alles zu seiner Zeit. Ich werde mir deinen Vorschlag gründlich durch den Kopf gehen lassen. Gab Elena zu verstehen.

Nachdem sie sich etwas genauer umgesehen hatte und aus dem Staunen kaum noch herauskam, setzten sie ihren Rundgang fort.

Über eine Metalltreppe ging es ein Stockwerk tiefer. Nun betraten sie eine Reihe von Werkstätten. Da waren Tischlerei, Schlosserei, Schneiderei nebst Kleiderkammer, Druckerei, ein Maler-und Bildhaueratelier und alle möglichen Lagerräume.

„Wir können uns gerne noch unsere Energiezentrale ansehen. Aber nur wenn du magst und nicht zu müde bist.“ Bot Neidhardt an.

„Ja, gerne! Ich möchte alles sehen! Ausruhen kann ich mich, wenn wir damit fertig  sind:“

Und noch eine kleine Treppe abwärts und einen langen Gang entlang. Immer wieder wuchtige Stahltüren durchschreitend.

Hier waren alle möglichen Speicherbatterien installiert.

„Die Fotovoltaikanlage befindet sich oben auf einem kleinen unscheinbaren Turm. Alles bestens getarnt. Wie du siehst hat auch meine Administration vorausschauend gedacht und auf umweltverträgliche Energieversorgung gesetzt. Ich denke, das ist ganz in deinem Sinne.“

„Auf jeden Fall! Es freut mich, dass wir auch in dieser Frage einer Meinung sind.

Das ist alles wuchtig! Riesige Anlagen. Und das alles für nur eine Person.“ Erwiderte Elena während sie in Begriff waren den Rückweg anzutreten.

„Jetzt nicht mehr. Wir sind zu zweit!“

„Du weißt worauf in hinaus will Neidhardt.“

„Natürlich! Es sollte ursprünglich dem Politbüro und der gesamten Regierung als Unterschlupf dienen, im Falle eines Falles. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Nun nutze ich es, das heißt natürlich wir beide und ich finde es angemessen.“

„Sicher! So kann man es natürlich auch betrachten! War das alles oder gibt es da womöglich noch mehr zu entdeckten?“

„Wir haben knapp ein Drittel der Anlage besichtigt. Es gibt weitaus mehr. Allerdings ist vieles davon noch im Rohzustand. Eure Revolution verhinderte einen weiteren Ausbau. Ist nicht so bedeutungsvoll. Können wir uns später einmal vornehmen. Ich gehe sicher recht in der Annahme das du dich jetzt gerne etwas ausruhen möchtest.“

 „Ich könnte jetzt ne Pause vertragen. War schon allerhand für mich. Du musst bedenken, ich war  seit einigen Tagen nicht mehr auf den Beinen.“

Neidhardt brachte Elena direkt auf ihr Zimmer zurück. Zwischendurch musste sie eine Pause einlegen, da sich Elena doch ein wenig verausgabt hatte.

„Wenn dir danach ist, komm einfach zu mir. Du weißt, wo du mich findest!“

Neidhardt schloss die Tür und ließ Elena mit sich und tausenden von Fragen zurück. Die sank auf ihr Bett und starrte zur Decke. Sie musste alles erst in aller Ruhe auf sich wirken lassen. Ein gewaltiger Komplex. Sie hatte viel gesehen. Eindrücke folgten auf Eindrücke. Was sie nicht erhaschen konnte war Tageslicht. Sie befanden sich komplett unter Tage. Kein einziges Fenster säumte ihren Weg. Draußen war der Winter in Anzug. Wie würde es Akratasiens naturverwöhnte und freiheitsliebende Ex-Kanzlerin hier längere Zeit aushalten, ohne dabei verrückt zu werden?

Da konnte es nur eine Antwort geben. Beschäftigung. Sie musste rund um die Uhr mit irgendwas beschäftigt sein. Sie brauchte einen Plan für eine genaue Tagesstruktur. Das würde ihr eine große Hilfe sein.

Niemals durfte sie Langeweile zulassen. Die wäre hier unten im wahrsten Sinne des Wortes tödlich. Eine bessere Nahrung konnten Depression nicht bekommen.

 

Schon tags darauf begann Elena damit jenen Tagesplan zu entwerfen. Dabei war es wichtig eine Prioritätenliste zu erstellen. Vor allem musste sie Dinge im Auge haben, die ihr gut taten und ihr dabei halfen die Psyche zu stabilisieren. Es galt Körper und Geist in Einklang miteinander zu bringen.

Beginnen würde sie mit sportlicher Betätigung, weiterhin mit Achtsamkeitsübungen. Meditation, um ihren Geist heimzubringen, wie es ein alter Tibetischer Spruch so treffsicher bezeichnet.

Es musste ihr gelingen loszulassen, sie durfte nicht mehr an althergebrachten anhaften und musste sich auf die neue Situation einstellen.

„Also, ich bin bereit, den Kampf aufzunehmen, ihr Furcht erregenden Dämonen in mir. Ich werde mich nicht eurem Regiment unterwerfen. Packen wir’s an!“

Sprach Elena zu sich selbst als sie zum ersten Mal das Fitnessstudio betrat. Dann machte sie sich unverzüglich an die Arbeit und verlangte von sich volle Leistung, so wie sie es früher immer zu tun pflegte. Damit war sie auf dem besten Weg, auch wenn dieser von spitzen Steinen und Dornen nur so wimmelte.

So ging es weiter, Tag für Tag, Woche für Woche. Elena achtete nicht mehr auf die Zeit, denn die hatte hier unten eine völlig andere Bedeutung als Obertage.

Ein hartes Training bis zur Erschöpfung. Wenig später suchte sie zum ersten Mal die Sauna auf um schwamm einige Züge im beheizten Schwimmbassin.

Schließlich kam der Tag an dem sie zum ersten Mal seit langem wieder eine Meditation probierte. Lange war es her, seit sie zum letzten Mal ihre Seele auf diese Weise führte.

Noch hatte sie die Praktiken nicht verlernt, trotzdem gestaltete sich der Einstieg schwierig und sie benötigte einige Anläufe bis sie es schaffte.

Sie fand eine Menge an CD`S mit entspannender Musik, das half ihr dabei die Seele baumeln zu lassen.

Von nun an fügte sie jeden Tag einige weitere Minuten an, bis sie ihren gewohnten Rhythmus wiedererlangt hatte. Sie war immer überzeugte Perfektionistin und sie würde es wieder sein.

Trotzdem reichten ihr diese Betätigungen bei weitem nicht aus. Sie suchte und fand weitere Beschäftigung. Zunächst nahm sie sich, Neidhardts Bitte nachkommend, die Hausapotheke vor und sortierte die Medikamente. Einige waren abgelaufen und wurden fachgerecht entsorgt. Die meisten jedoch genügten noch den Anforderungen. eine Tätigkeit mit der sie etwa vier Tage beschäftigt war.

Schließlich begann sie zu stricken und zu häkeln. In der Kleiderkammer hatte sie eine Unmenge an gut zu verarbeitender Wolle gefunden. Zuletzt hatte sie als Jugendliche gestrickt und war auch in dieser Disziplin ganz ordentlich. Doch das war lange her und nun musste sie sich langsam in die Materie einarbeiten. Nach einer gewissen Zeit gelang ihr auch das.

In der Zwischenzeit hatte ihr Neidhardt auch den Haupteingang gezeigt und ihr die  nähere Umgebung präsentiert. Die stellte sich im Nachhinein als gar nicht so öde wie zunächst angenommen vor. Ganz im Gegenteil: Bergige Landschaft, wenn auch nicht von solch bizarren Felsen gekrönt wie in der Umgebung der Abtei. Mittelgebirge. Ein etwa 700 Meter hohes Plateau, ein auf und ab von Steigung und Gefälle. Teilweise mit dichtem Nadelwald bewachsen, teilweise Wiesen und Heidelandschaft. Auf der oberen Erhebung hatte man einen majestätischen Blick zum weiten Horizont, dort, wo das Grauhaargebirge in den Himmel strebte.

Elena wagte, wenn die Witterung es zuließ, kleine Spaziergänge in die Umgebung.

Tiefer Winter ringsum. Kälte, Nässe und die sehr früh einsetzende Dunkelheit machten längere Wanderungen derzeit noch sehr schwierig. Im vollen Umfang würde sie diese Natur wohl erst im Frühjahr genießen können.

Schwäre es doch schon so weit, hörte sie sich innerlich flehen. Dann wäre alles viel einfacher zu tragen. Vorerst musste sie sich noch in Geduld üben.

Das kleine Dorf von dem Neidhardt gesprochen hatte, dort, wo die meisten Bewohner zu seinen Anhängern gehörten, wollte sie auch so bald als möglich aufsuchen, zögerte jedoch weil sie natürlich fürchten musste erkannt zu werden. Das brachte es mit sich, dass sie dieses Vorhaben von einem zum anderen Tag aufschob. Schlechtwetterperioden, die ein rausgehen verunmöglichten, nahmen ihr dabei die Entscheidung weitgehend ab.

Also hieß es weiter sich untertage zu beschäftigen.

Lesen, schreiben, meditieren. Diesen Tätigkeiten widmete sie immer mehr an Zeit. In sich gehen, den Sinn ihres derzeitigen Exils erkennen und akzeptieren lernen, daran arbeitete sie beständig weiter. 

 Auf diese Weise begann sich ihr seelischer Zustand zu stabilisieren und sie spürte, wie die Depressionen langsam ihre Wirkung einbüßten. Über den Berg war Elena jedoch noch lange nicht. Jederzeit musste sie mit einem Rückfall rechnen. Es hieß ständig auf der Hut zu sein.

Mit Neidhardt kam sie regelmäßig zusammen, sie kochten und aßen zusammen und die Abende verbrachten sie meist beisammen. Andererseits respektieren sie einander die Wünsche nach Ruhe und Rückzug.

Auch Neidhardt hatte einen festen Tagesrhytmus, der sich nicht sonderlich von Elenas unterschied.

Auch er las und schrieb jede Menge, ging in die Natur, betätigte sich sportlich, wenn auch bei weitem nicht so intensiv wie Elena. Statt des Strickens fand er sein Steckenpferd in der Arbeit mit Holz. In der Tischlerei versuchte er sich in der Herstellung von kleinen hölzernen Gegenständen aller Art.

Mit der Meditation hingegen hatte es der gestrenge logisch -rationale Intellekt nicht so. Elena konnte ihn aber eines Tages überreden an den Musiktherapien teilzunehmen.

In Folge dessen fand er Gefallen daran und lies sich in regelmäßigen Abständen von beruhigenden Klängen berieseln.

In der Zwischenzeit waren einige Wochen vergangen. In Gedanken weilte Elena immer häufiger bei den nahen und doch so fernen Schwestern. Wo befanden sie sich jetzt? Schon lange war Cassians Ultimatum verstrichen. Sie hatten sich in der Zwischenzeit schon im Exil eingerichtet.

Den ausländischen Medien zufolge waren sie nach Deutschland gegangen und zwar nach Köln.

Dort in verschieden Hotels untergebracht, blickten sie einer ungewissen Zukunft entgegen.

Cassian hatte ein Informationsverbot erlassen. Jedwede Nachrichten über den Verbleib oder das allgemeine Leben der Schwesternschaft wurde strengstens geahndet.

Elena selbst wurde offiziell für tot erklärt. In einem flüchtigen Kommentar wurde eher beiläufig erwähnt, dass sie freiwillig aus dem Leben geschieden sei. Im übertragenen Sinne stimmte das sogar. Sie lebte unter der Erde, wenn auch nicht so tot wie von den neuen Machthabern verkündet und erhofft.

Da man sie für tot hielt, wurde auch nicht nach ihr gefahndet. Das war schon einmal beruhigend.

Mit der Grauen Zone würde man sie mit Sicherheit nicht in Verbindung bringen. Von Neidhardt war überhaupt nicht mehr die Rede, den hatte man in der Zwischenzeit vergessen, auch das im gewissen Sinne ein vorteilhafter Umstand.

Sie konnten davon ausgehen, hier  relativ ungestört zu leben.

Doch für wie lange? Diese Frage begann Elena immer mehr zu verfolgen. Für den Rest ihres Lebens? Nein! Niemals! Sie lebte und würde sich nach einer angemessenen Zeitspanne ins Leben zurückmelden, wieder ins Geschehen eingreifen und Cassian herausfordern.

Sie konnte die Zeit  weiter nutzen, um wieder zu Kräften zu kommen, ausreichend Energie zu tanken um sich dem Kampf zu stellen.

Langsam aber sicher begann sie zu verstehen, warum sie in diese, auf den ersten Blick ausgesprochen hoffnungslose Lage geraten war. Sie befand sich wieder einmal vor einer entscheidenden Wende in ihrem Leben, einer Wende, die sie nur mit einer Initiation einleiten konnte.

Ihr Leben als Kanzlerin hatte ihr eine Menge abverlangt, hatte sie buchstäblich aufgerieben zwischen den zahllosen Pflichten und der Verantwortung, deren sie sich zu stellen hatte.

Die Sorgen der Bevölkerung waren ihr zum Schluss kaum noch zuträglich und ihr privates Glück war daran zerbrochen. So hätte es unmöglich weitergehen können. Es bedurfte dringend einer regenerativen Phase, um zu gesunden und sich vollständig neu zu orientieren, genau das hatte sie hier gefunden.

Neidhardt stellte den idealen Gefährten für eine solch komplizierte Lebensphase dar. Seine ausgeprägte Persönlichkeit, seine charakterliche Stärke und nicht zuletzt seine robuste Natur, die es vermochte, dass er noch nie ein Krankenhaus von innen zu sehen brauchte, schienen wie geschaffen für seine Rolle als Mentor für eine psychisch stark in Mitleidenschaft gezogene Seele.

Nie im Leben hätte Elena ihrer Madleen eine solche Funktion zumuten können, die wäre in absehbarer Zeit daran zerbrochen. Auch die gesundheitlich angeschlagene und hochsensible Colette wäre damit überfordert gewesen, ebenso Gabriela und viele andere auch.

Die Umgebung war bei genauer Betrachtung ebenfalls wie geschaffen für solch einen Reifungsprozess.

Im übertragenen Sinne war sie in den Schoß der Mutter zurückgekehrt, in den Bauch von Mutter Erde. Elena begann den symbolischen Charakter richtig zu deuten. Nur hier, in dieser abgeschiedenen Welt, von der kaum jemand Notiz zu nehmen schien, konnte sie sich von Grund auf regenerieren und sich auf den bevorstehende neuen Lebensabschnitt vorbereiten, wenn sie im Moment auch noch nicht wissen konnte wie genau sich der gestalten würde.

Noch war sie nicht soweit. Immer wenn sie in Gedanken nach Anarchonopolis zurückkehrte, wurde sie von einer emotionalen Flut eingeholt. Dachte sie an Madleen  oder an Tessa, an Colette und die anderen, schossen ihr die Tränen in die Augen. Solange dieser Zustand fortdauerte, war sie noch nicht bereit für eine Auseinandersetzung.

Erst dann, wenn sie die Emotionen unter Kontrolle hatte, war sie gerettet und vollständig genesen. Dann konnte ihr niemand mehr etwas anhaben.

 

"Ich glaube, ich habe es geschafft Neidhardt. Die Depressionen sind gebannt, ich habe die Dämonen besiegt, die mich solange peinigten. Ich wage einfach diese Prognose, wenn ich auch nach wie vor einen Rückfall einkalkuliere!" Erklärte sich Elena eines Morgens, als sie sich zum gemeinsamen Frühstück niedergelassen hatten.

"Wirklich Elena? Das...das wäre phantastisch. Ich freue mich für dich. Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, dass du es schaffen wirst." Erwiderte Neidhardt hocherfreut.

"Eine Garantie gibt es nicht, aber ich gehe davon aus, dass meine Methode den Depressionen bei zukommen Erfolg hatte. Ich kann jetzt über die Vergangenheit nachdenken, kann von Madleen träumen, oder von Colette, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Ein gutes Zeichen. Die zurückliegenden Wochen waren hart, aber sie waren wichtig. Ich habe viel hinzugelernt und  konnte wieder um eine Erfahrung reicher werden. Ich bin frei, Neidhardt!

"Und was gedenkst du zu tun, angesichts der neu gewonnenen Freiheit?"

"Kämpfen! Um alles worum ich betrogen wurde. So wie du es mir auch verdeutlicht hast, nachdem ich hierher kam. Ich habe noch keinen genauen Plan, den muss ich erst entwerfen. Es wird nicht leicht, das ist mir nur all zu bewusst. Cassian ist ein harter Gegner. Aber ich werde ihn herausfordern." Offenbarte Elena sich in alter selbstbewusster Art.

"Hervorragend!" Neidhardt schlug, während er dieses Wort sprach mit der flachen Hand, auf sein linkes Knie." Genauso habe ich es mir gewünscht. Das ist die alte Elena, so wie ich sie in Erinnerung habe. Du wirst den Kampf aufnehmen und du wirst ihn erfolgreich beenden. Davon bin ich überzeugt."

"Wir werden kämpfen. Du und ich gemeinsam und wir werden siegen!"

"Nein! Leider kann ich dir in dieser Hinsicht nicht zustimmen. Wie ich dir schon vor einiger Zeit sagte, ist meine Zeit vorbei. Die heutigen Auseinandersetzungen gehen mich nichts an."

Elena versuchte zu widersprechen, doch er hinderte sie daran.

"Was glaubst du, was wir gemeinsam erreichen könnten? Versuche zu verstehen! Ich würde dir wie ein Klotz am Bein hängen, würde dich nur behindern und Cassian jede Menge Munition liefern, um dich damit zu befeuern.

Mit mir an deiner Seite kannst du keinen Staat machen. Ich werde dich unterstützen, keine Frage, aber aus dem Verborgenen. Niemals darf es einen gemeinsamen Auftritt in der Öffentlichkeit geben. Das würde deinem Ansehen immensen Schaden zufügen."

Elena senkte den Kopf und begriff auf der Stelle wie er Recht damit hatte.    

Neidhardt, der Revolutionär, der zum Diktator wurde und der Diktator der sich in den Revolutionär rückverwandelte. Ein Relikt aus einer anderen Zeitepoche, dass sich nicht anpassen wollte und konnte. Er gehörte wohl längst in ein Museum mit samt seinen Ideen und Idealen.

Schon sein Äußeres verriet den radikalen Nonkonformisten. Er trug noch immer die dunkelgraue Parteiuniform, nur dass er den obersten Knopf offenlies und ein Tuch aus Leinen oder Baumwolle um den Hals band, meist in einem sanften weinrot oder dunklem grün. Die schwarzen Langschäfter trug er nur wenn er nach draußen ging. Im Inneren bevorzugte er bequeme Hausschuhe. Auch seine Frisur hatte sich geändert. Die stahlgrauen Haare waren so sehr gewachsen, dass er sie am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf zusammengebunden hatte. Eine Haartracht, die stark an den berühmten Modeschöpfer Karl Lagerfeld erinnerte. Schlicht und einfach, spartanisch, womöglich gar asketisch. Das waren seine Attribute. Er hatte ein Leben lang daran festgehalten und würde sie nie aufgeben. Neidhardt war sich stets treu geblieben und das imponierte Elena zutiefst. Er war ein Mann zu dem sie in Ehrfurcht aufblicken konnte, auch wenn sie nicht seiner Meinung war. Welch ein Kontrast zu diesem eitlen Pfau Cassian und seinen eigens entworfenen Operettenuniformen.

Elena akzeptierte seinen Entschluss und wollte nicht mehr davon sprechen, deshalb begann sie zaghaft, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

"Wir´... wir hatten einmal eine kurze Beziehung. Erinnerst du dich gern an diese Zeit zurück?"

"Natürlich tue ich das! Welche Frage! Wie kommst du darauf?"

"Wir leben seit Wochen gemeinsam hier unten und sind in dieser Zeit nicht zusammen- gekommen. Verzeih mir! Ich war so sehr mit dem Kampf gegen die Depression beschäftigt, dass ich dafür einfach keinen Sinn hatte.

Das verstehst du doch, oder?" Glaubte Elena sich entschuldigen zu müssen.

"Elena, ich bitte dich! Das versteht sich doch wohl von selbst. Du warst sehr, sehr krank, am Ende deiner Kräfte und musstest erst einmal zu dir kommen. Wer könnte dir das vorwerfen?"

"Danke für dein Verständnis! Jetzt bin ich bereit. Es ist wieder möglich. Es geht mir besser. Wenn...wenn du magst kann ich gerne zu dir kommen heute Nacht!"

Neidhardt schwieg. und blickte zu Boden. Elena kannte ihn in der Zwischenzeit so gut, dass sie ihn richtig einzuschätzen wusste

Natürlich wollte er. Doch nie würde er sie darum bitten, das geboten ihm sein Stolz und seine selbst auferlegte Zurückhaltung. Es bedurfte keiner Worte

Elena wusste genau was sie zu tun hatte. Die Initiative ergreifen, ohne ihn dabei zu überrumpeln.

 

Am späten Abend hatte es sich Neidhardt auf seinem Bett bequem gemacht. Er trug seinen dunkelblauen Morgenmantel über seinem Pyjama, hatte sich seine Brille auf die Nasenspitze gezogen und las in einem Buch.

Alles schien wie in jeder Nacht, seit er hier eingezogen war. Doch über allem lag eine frohe Erwartungshaltung auf das was sich wohl in dieser Nacht ereignen sollte.

Die Decke hatte er bis zum Bauch gezogen. In dieser Stellung verharrte er. Würde sie wirklich erscheinen oder nicht? Er konnte beides akzeptieren. Es kam so wie es eben kommen musste. Nichts schien ihn aus der Ruhe bringen zu können.

Nach einiger Zeit vernahm er ein zaghaftes Klopfen an der Tür und nachdem er "Herein!" gerufen hatte, erschien Elena in der Tür, gekleidet nur in ihren dünnen Schlafrock, der ihre Konturen deutlich erkennen ließ.

"Hier bin ich! Wie versprochen!" Nachdem sie das gesagt hatte begann sie das Kleidungsstück langsam über ihren Kopf zu ziehen bis sie nackt vor ihm stand.

Beim Anblick ihrer verführerischen Formen steigerte sich sein Verlangen.

Schnell schlug Neidhardt die Decke zurück und bekundete seine Bereitschaft.

"Es ist kalt hier. Komm schnell! Du wirst doch sicher frieren."

Schnell huschte Elena an seine Seite und schmiegte sich eng an den massigen Körper. Neidhardt schlug die Decke wieder zurück bis sie ganz bedeckt war.

"Das tue ich in der Tat! Brrr, mich fröstelt am ganzen Körper. Hmmm, schön warm hast du es hier!"

Neidhardt schlang seinen linken Arm um Elena und die schmiegte sich weiter eng an ihn heran.

"Ich habe mich noch gar nicht richtig bedankt für die Tatsache, dass du mich gerettet hast. Durch dich bekam ich das Leben neu geschenkt. Auf ewig stehe ich in deiner Schuld. Ich weiß nicht wie ich das jemals wieder einlösen kann." Flüsterte sie in sein Ohr.

"Die Tatsache, dass du hier bei mir bist ist schon Geschenk genug. Es ist ein großer Unterschied ob ein Mensch hier allein ausharren muss, oder ob er den Menschen, den er liebt an seiner Seite weiß.“

"Das heißt also, dass du mich wirklich liebst:"

"Ich habe dich immer geliebt. Seit dem Tag als wir uns zum ersten Male begegnet sind.  Du kannst dich doch sicher noch daran erinnern, oder?"

"Las mich überlegen! Hmm, das war, das war...richtig. Am Tag als wir das Bündnis schlossen, zwischen Cornelius Bürgerbewegung und deinen Radikal-Revolutionären. In der alten Fabrik, Cornelius Stützpunkt. Du kamst in der Verkleidung eins Maurers. Ich weiß nur noch, dass ich eine Tür öffnete und du plötzlich wie ein Bär vor mir standest".** Erinnerte sich Elena wieder.

"Genau! Seit jenem Tag hast du mich nie mehr losgelassen."

"Du mich auch nicht. Es tut unendlich gut in deinen Armen zu liegen!"

Sie liebten sich in dieser Nacht intensiv, immerhin hatten sie eine Menge nach zu holen.

Wie es weitergehen sollte spielte im Moment keine Rolle.  Die folgenden Tage würden für sich sorgen. Elena hatte weiterhin genügend Zeit alles gründlich zu durchdenken und dabei tiefer tauchen in die Mysterien des Lebens um weitere Erkenntnisse zu machen.

 

 

 

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*Für Neidhardts Bunkeranlage gibt es verschiedene Vorlagen. Dem/der Leser/In ist es überlassen sich eine geeignete vorzustellen.

Thüringen bietet eine große Dichte von Bunkern aus verschieden Zeitepochen. Die ältesten stammen noch aus der Zeit der Weimarer Republik. Illegal und daher im geheimen errichtet, weil sie einen Verstoß gegen den Versailler Vertrag darstellen.

Am bekanntesten sind die Bauten aus der NS-Zeit. Hitlers letztes Führerhauptquartier mit seiner wuchtigen Bunkeranlage entstand im Jonastal bei Arnstadt

Zahlreiche Spekulationen ranken sich um diesen Ort dessen Existenz lange unbekannt war und erst 2005 freigegeben wurde.

Gerüchte um Atomwaffen die hier in der Endphase des Dritten Reiches entwickelt wurden, machen die Runde. Auch das  legendäre Bernsteinzimmer wurde hier einige Zeit vermutet.

 

Ebenso interessant sind jene Bunker, die zu DDR-Zeiten im Auftrag des SED-Politbüros eingerichtet wurden.

So zum Beispiel die heute als Bunkermuseum bekannte Anlage im Thüringer Wald nahe der Gemeinde Frauenwald, die vor allem dem Staatssicherheitsdienst für seine Operationen dienen sollte.

Im Internet gibt es jede Menge Bilder und auf youtube sogar Filmaufnahmen, die einen guten Einblick gewähren.

 

 

** siehe Teil 1 Macht und Ohnmacht  Kapitel  Verhängnisvolles Bündnis