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Des Teufels Musikantin
Colettes Stiefelabsätze knallten bei jedem Schritt auf dem Travertinfußboden, nachdem sie die erst vor wenigen Wochen fertig gestellte mausgraue Betonfestung betreten hatte, jenes Bauwerk, in dessen Inneren sich die Kurie befand, das Allerheiligste der Revolution, jener Versammlungssaal in dem das Zentralkomitee zu tagen pflegte. Darum gruppierten sich in einem Oval allerlei Büroräume. Im oberen Stockwerk befanden sich schließlich auch die Privatgemächer Neidhardts.
Das ganze Ambiente erinnerte gespenstisch an die während des Bürgerkrieges zerstörte Trutzburg des Blauen Ordens, die wie ein Mahnmal aus längst vergangenen Tagen als ausgebrannte Ruine am anderen Ende der Stadt langsam vor sich hin zerfiel.
Zum ersten Mal konnte Colette die neue Machtzentrale in Augenschein nehmen und sie stellte sich permanent die Frage, warum Neidhardt überhaupt den Befehl zur Zerstörung der Ordensburg gegeben hatte. Stattdessen hätte er diese problemlos mit seinen Getreuen beziehen können und sich diesen aufwendigen Neubau erspart.
Colette hatte die Ordensburg kennengelernt, als Gefangene, als die Blauen wieder einmal einfach so zum Spaß Jagd auf Kundras machten, nur um sie zu verhöhnen.
Zwei Tage durfte sie damals die „Gastfreundschaft“ des Großmeisters Thoralf genießen, das gab ihr ausreichend Zeit sich alles Wesentliche gut einzuprägen.
Der Unterschied fiel ihr sofort ins Auge. Strotzte die Ordensburg nur so mit verschwenderischem Luxus jedweder Art, präsentierte sich die Kurie viel schlichter, spartanisch und steril.
Architektur wird eben auch von der jeweiligen Ideologie bestimmt.
Trotz alledem befand sich auch hier eine Machtzentrale, wurde auch hier willkürlich über das Schicksal von Menschen entschieden.
Im Unterschied zu damals betrat Colette dieses Gebäude heute freiwillig. Ob sie es ebenso freiwillig wieder verlassen konnte, vermochte sie in diesem Augenblick nicht zu sagen.
Mit ihrer Gesundheit stand es nicht zum Besten. Die drei Tage und Nächte die Colette im Stadtpark von Manrovia verbringen musste, hatten deutliche Spuren hinterlassen, sie war einfach am Ende ihrer Kräfte.
Nur ein Mensch der am unterste Enden gestrandet ist und eine so penetrante Art der Ausgrenzung erleben musste, war imstande jenen Schritt zu tun, den Colette nun vor sich hatte.
Dienstag war es, früher Vormittag. Das Zentralkomitee trat in diesem Augenblick im Plenum zur Beratung zusammen.
Doch nicht nur Zeitpunkt und Ort unterschieden sich deutlich von all den andern Dienstagen.
Colette würde Neidhardt in wenigen Augenblicken gegenübertreten und dass, was sie zu sagen hatte, sollte nicht nur ihn in Staunen versetzen.
Sie war im Begriff mit sehr hohem Einsatz zu pokern. Alles kam darauf an wie überzeugend sie wirkte.
Der letzte Notgroschen war für die Anschaffung der hautengen Ledermontur draufgegangen, die wie angegossen zu passen schien. Auch hatte sie sich, entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten, auffällig geschminkt.
Würde sie versagen und sich, wie schon so oft, der Lächerlichkeit verfallen, war es aus. Dann drohte der endgültige Absturz in die Gosse. Jene Gosse, in die eine Kundra nach Meinung all zu vieler Zeitgenossen gehörte, jene Gosse, die eine Kundra mit Ratten, Spinnen und Kakalaken zu teilen hatte.
Colette hatte nichts mehr zu verlieren, hatte alles, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, in der Abtei zurückgelassen.
Nur noch eine kurze Zeitspanne einigermaßen anständigleben, darum ging es ihr, auch wenn sie dafür einen hohen Preis würde zahlen müssen.
Sie war einfach des Kämpfens müde. Sich anpassen, den Mächtigen nach dem Munde reden, dass war wohl die einzige Möglichkeit zur Ruhe zu kommen und die paar Jahre die ihr auf Erden noch vergönnt waren, zu leben.
Die Zeit passte gut. Die Angehörigen des ZK waren bereits vollständig versammelt, der Sitzungssaal von einem leisen murmeln durchdrungen, das bedeutete Neidhardt hatte den Raum schon betreten, niemand wagte in seiner Anwesenheit laut zu diskutieren. Aber die Sitzung hatte noch nicht begonnen, dass wusste Colette geschickt für ihre Zwecke zu nutzen.
Das Murmeln erstarb in jenem Augenblick als sie die Bankreihen durchschritt und sich dem Platz nähere, an dem sich Neidhardt zu setzen pflegte. Ungläubige Blicke, Staunen, Ratlosigkeit waren die Folge bei fast allen Anwesenden.
Selbst Neidhardt schien so verblüfft, dass er für einen Augenblick nicht imstande war den ungewohnten Besuch auf seine Art zu begrüßen.
Nachdem Colette vor ihm zum stehen kam, sank sie auf die Knie und breitete die Arme weit zur Seite aus.
„Ich Colette gelobe dir Genosse Neidhardt, Generalsekretär der Radikal-Revolutionären Partei, geliebter und allseits verehrter Führer des Volkes meine bedingungslose Treue und Gefolgschaft bis in den Tod. Alles was ich habe und besitze weihe ich dir. Meine ganze Kraft und Energie stelle ich von diesem Augenblick an in den Dienst der Revolution und des Staates, dem wir alle dienen. Du Neidhardt bis das Herz der Revolution, du bist die Revolution, bist der Weg die Wahrheit und das Leben. Ich erblicke in dir den Pfad der zum Lichte führt. Nur durch dich erfährt die Revolution ihre Bestimmung. Ich schwöre allem ab, was mir in meinem bisherigen Leben lieb und teuer war. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken, führte ein Leben im Dunkel, du warst es der mir die Augen öffnete, durch dich wurde ich zur Sehenden .Nie wieder möchte ich dir und deinen Weisungen zuwiderhandeln. Mit jedem Herzschlag will ich dich und die Revolution verherrlichen. Du bist die Sonne Melancholaniens die niemals untergeht. Du bist der Kraftquell aus dem wir alle trinken.“
Colette erhob sich langsam wieder von der Erde.
Neidhardt staunte nicht schlecht über jene Lobpreisung, die in voller Hingabe gesprochen in den Gedanken aller Anwesenden widerhallte.
Kraftvoll begann er in die Hände zu klatschen, die anderen taten es ihm gleich und es dauerte nicht lange bis der ganze Saal im tosenden Applaus versank.
Ein markantes Fingerschnippen beendete den Beifall.
„Ich bin erstaunt Colette, so etwas aus deinem Munde zu hören und erfreut, hoch erfreut. Es geschehen noch Zeichen und Wunder in Melancholanien und wir alle können sagen, wir waren dessen Zeugen. So etwas hören meine Ohren selten. Ihr alle die ihr dieser Treuebekundung beiwohntet, nehmt euch ein Beispiel, denn ich kann mich nicht erinnern, auch nur von einem hier im Saal etwas Ähnliches vernommen zu haben. Aber natürlich musst du mir die Frage gestatten, wie es denn zu diesem erstaunlichen Sinneswandel kam? Ich meine so etwas fällt doch nicht einfach so vom Himmel.“
„Nun es war einfach geliebter Führer des Volkes, ich habe gründlich über alles nachgedacht.
Und plötzlich kam es über mich. Ich erkannte meinen Irrtum, es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Der Pfad wurde vor meinen Augen sichtbar. Ich fühlte mich wie neu geboren, als sich vor mir die Wahrheit auftat. Deine Lehre ist allmächtig, ganz einfach weil sie war ist.“
„Bravo! Hervorragend, so etwas möchte ich hören! Ich akzeptiere diese Treuebekundung und nehme sie an. Zeugen haben wir ausreichend versammelt, die es unter Eides statt bekunden können.
Gibt es irgendetwas was ich für dich tun kann. Äußere einen Wunsch und er sein dir gewährt.“
Abermals sank Colette auf die Knie.
„Nimm mich in deinen Dienst, Befreier Melancholaniens, nach mehr verlangt es mir nicht in diesem Augenblick. Dir bei Tag und Nacht dienen zu dürfen wird mir die Erfüllung all meiner Wünsche sein.“
„Erhebe dich Colette! Ich war mir immer bewusst , dass du zu etwas höheren berufen bist und dass du zur Vernunft finden kannst wenn du es nur willst. Nun, was hätten wir denn zu tun für einen Menschen mit solch außergewöhnlichen Fähigkeiten?“
Noch konnte sich Colette nicht sicher sein, ob es Neidhardt erst meinte oder ob er etwa wieder nur seinen Spott mit ihr zu treiben pflegte. Endgültige Gewissheit gab es bei Neidhardt nie. Sie hatte ihr Leben in seine Hände gegeben und ein zurück gab es nicht mehr. Lehnte er ihr Ansinnen ab, war alles aus. Dann hatte sie sich bis zur Unkenntlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben. Nie und nimmer konnte sie unter diesen Umständen in die Abtei zurückkehren.
„Ihr seid meine Berater, was habt ihr dazu zu sagen, oder habt ihr keine eigene Meinung?“ Stellte Neidhardt seine Frage in die große Runde.
„Eine sehr heikle Angelegenheit ist dass Neidhardt. Colette hat sich bisher als eine unserer größten Gegnerinnen zu erkennen gegeben. Sie hat dich, uns, ja die gesamte Revolution in aller Öffentlichkeit angegriffen und verhöhnt. Unserer Sache wurde damit immenser Schaden zugefügt. Dafür darf es eigentlich keine Gnade geben.“ Wagte Dagobert als erster das Wort zu ergreifen.
Daraufhin wurde ihm einzelner zögerlicher Beifall gespendet
Colette sah sich ausgeliefert. Hatte sie ausgespielt? Hoch gepokert und ebenso hoch verloren?
„Aber andererseits ist ihr Verhalten sehr lobenswert!“ Schaltet sich nun Lars in die Debatte ein. „Wir sollten vergeben und vergessen, vorausgesetzt Colette meint es auch tatsächlich ernst. Das müsste sie uns beweisen, denke ich. Und das kann sie am aller Besten, wenn wir ihr eine verantwortungsvolle Aufgabe an vertrauen. Wir sollten sie in Dienst nehmen, Probe halber zunächst, versteht sich. Macht sie ihre Sache gut können wir weiter sehen.“
Hoffnung keimte in Colettes Herz.
„Ein Für und Wider. Ich denke es spiegelt die Meinung aller Anwesenden wieder. Lass mich überlegen.“ Neidhardt begann zu grübeln. Augenblicke nur, die Colette jedoch wie eine halbe Ewigkeit erschienen.
„Ich habs!“ Neidhardt schlug mit der Handfläche auf die Tischplatte.
„Ich kann dich nicht zur Ministerin machen, dass wirst du sicher verstehen. Überhaupt ist eine allzu politische Funktion in deinem Falle nicht der geeignete Platz. Die ganze Art wie du eben zu mir, zu uns sprachst offenbart Fähigkeiten ganz anderer Couleur, du bist eine Poetin, du bist die geborene Kulturschaffende. So etwas benötigt unser Land dringend, die Menschen lechzen nach Zerstreuung, das ist gut, wir werden sie ihnen gewähren und du wirst unsere Botin sein.
Schon vor längerer Zeit habe ich mich ausführlich kundig über dich gemacht. Du hast einmal als Sägerin und Artistin gearbeitet. Diese Fähigkeiten kommen dir nun zugute. Der Gesang, die Musik, das Lied, ist die geeignete Form den Menschen unsere Anliegen nahe zu bringen.
Ich erkannte irgendwann dass platte, trockene Vorträge die Menschen ermüden oder gar abschrecken, damit kommen wir bei viele leider noch bildungsfernen Bevölkerungsschichten nicht weit.
Aber deine Art des Auftretens hat etwas. Colette schaffe Chansons um die Revolution zu verherrlichen, trage sie vor ein Publikum, vor ausverkauften Reihen. Wir werden dir dieses Publikum beschaffen. Na, ist das ein Angebot?“
Colette konnte vor Anspannung kaum noch atmen, mit einer solchen Ehre hatte sie nicht gerechnet. Das war weit mehr als sie erwartete.
„Du ehrst mich, Sonne Melancholaniens. Ich.. ich weis nicht was ich sahen soll, ich bin sprachlos.“
„Nun, du musst dich nicht augenblicklich entscheiden. Ich gewähre dir Bedenkzeit. Aber überlege nicht zu lange, denn auch meine Großzügigkeit kennt seine Grenzen.“
„Ich brauche keine Bedenkzeit! Ich war nur überwältigt von deiner gigantischen Großzügigkeit, sie hat mir einfach die Sprache verschlagen. Ich nehme dein Angebot mit Freuden an. All mein Können lege ich in deine Hände, verfüge darüber als dein Eigentum.
Ich lege dir mein Herz zu deinen Füßen, verzeih dass ich heute keine größere Gabe vorzuweisen habe.“ raspelte Colette weiter Süßholz.
„Nun denn! Dann sei willkommen in unseren Reihen! Es soll dein Schaden nicht sein. Du hast meine Großzügigkeit gepriesen, sie sei dir gewährt. Du erhältst ein eigenes Haus nebst Dienstpersonal, das dir zur Verfügung steht, selbstverständlich auch ein Dienstfahrzeug, alles auf Kosten des Zentralkomitees. Ferner steht dir ein festes Gehalt zu. Deine Arrangements organisiert unsere Kulturabteilung. Du wirst vor aus verkaufen Rängen deine Kunst darbieten, der Applaus ist dir gewiss. Die Medien stehen dir zur Verfügung, sie werden für deine Popularität im ganzen Lande sorgen. Schon bald soll dein Name in aller Munde sein. Du wirst zur Stimme der Revolution.“
Niemand wäre wohl imstande so ein Angebot abzulehnen, schon gar keiner, dem der Absturz in die Gosse drohte. Doch Colette wollte ganz auf Nummer sicher gehen.
„Es ist noch nicht lange her, da wurde ich verhöhnt und verspottet, oh du Stimme und Faust der Nation. Glaubst du, dass sich unter diesen Umständen viele bereit finden mich zu unterstützen?“
„Sie werden, da kannst du Gift drauf nehmen. Hört meine Anweisung!“
Neidhardt erhob sich und bot der Versammlung in herrischer Geste seinen massigen Körper dar.
„Von diesem Augenblick an steht Colette unter meinem persönlichen Schutz. Ich untersage hiermit strikt mit ihr in, auf welche Art auch immer, Spott zu treiben oder sie zu verunglimpfen. Jeder der dieser Weisung zuwiderhandelt bekommt es mit mir zu tun. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt?“
„Deutlich, sehr deutlich Neidhardt. Wir alle haben verstanden. Jeder hier im Saal ist sich im Klaren darüber, was das zu bedeuten hat.“ Pflichtet ihm Dagobert in unterwürfiger Geste bei.
„Sehr gut! Wer mir die Treue bekundet, noch dazu auf solch theatralische Weise, kann sich meines Wohlwollens sicher sein. Du hast uns einen großen Dienst erwiesen Colette, du bist dir wahrscheinlich in diesem Augenblick selber noch nicht im Klaren darüber was das für uns bedeutet. Du warst noch bis vor kurzem meine schärfste Kritikerin. Doch nun hast du dich in meinen Dienst begeben, dich mir auf Gedeih und Verderb angelobt. Das wird seine Wirkung in der Öffentlichkeit nicht verfehlen. Das ist ein grandioser Sieg für die Revolution. Ich hoffe ihr habt dass alles verstanden. Ich erwarten von euch, das ihr Colette eure bedingungslose Unterstützung angedeihen lasst.“
Tosender Beifall setzte ein.
Besonders jene, die Colette noch vor wenigen Tagen auf übelste Art beleidigt und gedemütigt hatten, taten sich hervor. Geschafft! Hoch gepokert und haushoch gewonnen, auf ganzer Linie. Colette konnte zufrieden sein.
„Ich verspreche dir, mein Bestes zu geben! Ich werde dich nicht enttäuschen größter Sohn Melancholaniens. Deinen Namen werde ich preisen, wann immer ich die Gelegenheit bekomme. Gemeinsam werden wir die Revolution in die Herzen der Menschen tragen und ihr zum endgültigen Sieg verhelfen. Sag mir, wann darf ich damit beginnen, wann darf ich deinen Namen auf den Olymp der Unsterblichkeit geleiten?“
„Sachte, sachte Colette. Ich schätze deinen Tatendrang. Aber auch die Geduld ist eine Tugend von erhabener Schönheit. Ich werde dich rufen lassen, wenn ich dich brauche. Bis dahin wirst du es dir gut gehen lassen, alles auf Kosten des Hauses, versteht sich von selbst!“
„Versteht sich! Ich weiß was ich zu tun habe! Als Leiter des Kulturministeriums stelle ich dir meinen gesamten Stab zur Verfügung. Erstelle einfach eine Liste mit deinen Wünschen und lass sie mir überbringen. Wir werden uns dann zu gegebener Zeit mit der Vorbereitung deiner ersten Tournee beschäftigen!“ Bot Leonid an, der seit einigen Wochen dem Kulturministerium vorstand.
Erneut setzte Beifall ein und Colette stellte sich die Frage ob sie wachte oder träumte, soviel Anerkennung und Glück auf einmal konnte wohl nur der Standfesteste ertragen.
Einer hingegen spendete keinen Applaus, war stattdessen desillusioniert in seiner Bank zusammen gesunken, er hatte es die ganze Zeit nicht einmal vermocht Colette auch nur in die Augen zu sehen. Für Ronald brach in diesem Moment eine Welt zusammen.
Was in aller Welt bedeutete diese unwürdige Komödie?
Ronalds ideologisches Fundament hatte in den letzten Wochen viel von seiner Festigkeit verloren. Immer deutlicher zeichnete sich eine Diktatur ab, eine Alleinherrschaft, der er nicht folgen wollte und konnte.
Colettes mutiges Auftreten war für ihn ein kleiner Hoffnungsschimmer am immer dunkler werdenden Horizont. Ronald hatte sich fest vorgenommen, diesen Mut und diese Aufrichtigkeit zu würdigen. Er wollte zu ihr gehen, wollte ihr sagen, wie sehr er sie bewunderte für ihren Mut und ihre Standfestigkeit. Wenn er auch ihrer anarchistischen Gesinnung nicht uneingeschränkt folgen wollte, so gab es doch viele Punkt in ihren Aussagen, die er unterstützte und es würde sich sicher die Möglichkeit einer Zusammenarbeit ergeben. Trotz immer noch vorhandener ideologischer Differenzen gemeinsam der unheilvollen Diktatur eines Mannes und dessen kleiner Anhängerschaft entgegen zu wirken.
Und nun das!
Ronald konnte in der letzten Zeit viel hinzulernen, so vermochte er inzwischen gut zwischen den Zeilen zu lesen oder auch zu hören. Wer es verstand die Worte richtig zu deuten, dem offenbarte sich sofort, dass Colette hier eine Komödie vom Stapel ließ. Gewiss, sie erwies sich als gute Schauspielerin. Aber Ronald durchschaute sie. Wie schlecht musste es ihr doch gehen, dass sie zu solch einem Schritt imstande war. Wer hatte sie so tief verletzt, und ausgerechnet sie, die bisher Treueste und Standfesteste zu so einem Handeln getrieben?
Ronald kämpfte mit den Tränen. Wenn Colette der Restkommune den Rücken kehrte, stand es sehr schlecht um diese.
Ihm wurde auf einmal speiübel, er fürchtete sich übergeben zu müssen, sollte er noch weiter diesem unwürdigen Spektakel beiwohnen.
Von den anderen weitgehend unbemerkt erhob er sich und wandte sich zum Gehen und während Colette gerade im Begriff war ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, durchschritt er die Bankreihen, ohne einen Blick zurück zu werfen.
Er schloss die Tür hinter der noch immer der frenetische Jubel einer gesteuerten Masse tobte.
Ronald griff nach seinem Mantel, klemmte seine Aktentasche unter den Arm und durchschritt das Portal. Draußen wunderte sich sein Chauffeur über den frühen Aufbruch, gehorchte aber widerspruchslos den Anweisungen seines Herrn.
Auch dass der ansonsten stets so redselige Ronald während der Fahrt kein Wort über seine Lippen brachte irritierte den Fahrer sichtlich, doch er lies sich nichts anmerken, steuerte das Fahrzeug durch die von permanenter Bautätigkeit bestimmten Gassen der Altstadt. Manrovia sollte so bald als möglich wieder in neuem Glanz erstrahlen, so der Vorsatz der neuen Machthaber, eine Stadt neuen Typus, wie sie diese zu bezeichnen pflegten. Nach Möglichkeit sollte nichts an die alte untergegangene Metropole erinnern, immerhin hatte Neidhardt eine neue Zeitrechnung ausgerufen, obgleich der neue Kalender nur schwer seinen Einzug in die Köpfe der Menschen fand.*
Zunächst hatte jedoch die neue Parteiaristokratie für sich gesorgt und eine schmucke Reihenhaussiedlung am Rande der Stadt aus dem Boden stampfen lassen. Tag und Nacht wurde hier geschuftet um jenes Ghetto zu schaffen. Auch Ronald und Alexandra hatten vor einigen Wochen ihr neues Domizil bezogen. Kein Vergleich zu den Protzbauten der untergegangen Privokaste, eher bieder und ein wenig uniform, aber zweckmäßig und nach einigen individuellen Verschönerungen durchaus wohnlich. Die Häuser in der Siedlung waren alle nach dem gleichen Baustil errichtet. Weiträumige Bungalows, die in die Breite und nicht in die Höhe schossen. Ausnahmslos weiß gekalkt. Die Inneneinrichtung oblag dem Geschmack seiner jeweiligen Bewohner.
Besonders stolz war Ronald auf das Kaminzimmer im Zentrum des einstöckigen Bauwerks, alle weiteren Räume gruppierten sich darum.
Wenn die Holzscheide in den lodernden Flammen knisterten und wohnliche Wärme spendeten, konnte Ronald in Alexandras Armen für weinige Stunden abschalten, zur Ruhe kommen und dem eintönig tristen Alltag für einige Zeit entfliehen.
Heute war er früh dran, aus diesem Grund begrüßte ihn Alexandra auch nicht wie sonst üblich an der Haustür. An der Garderobe entledigte er sich seines Mantels und seiner Baskenmütze und stellte die Aktentasche akkurat daneben ab. Der Revolutionär war zum Beamten geworden. Ein Beamter der sich nichts sehnlicher wünschte als endlich wieder zum Revolutionär zu werden.
Alexandra beschäftige sich gerade mit den Zwillingen Silke und Jacqueline die in ihrem Bettchen dösten, als Ronald durch die Wohnungstüre schritt.
„So früh heute? Ich glaube du hast dich wohl in der Zeit vertan?“ Begrüßte ihn Alexandra und es hatte den Anschein dass sie seinem verfrühten Erscheinen keine sonderliche Begeisterung entgegenbringen konnte.
„Das klingt aber nicht sehr schmeichelhaft!“ Durchschaute Ronald ihre Stimmung sogleich.
„Hab einfach früher Schluss gemacht heute, mir ist nicht sonderlich gut. Diese ewigen Referate und Debatten können mit der Zeit schon ermüden.“
„Das wundert mich gar nicht!“ Erhielt er zur Antwort. Danach näherte er sich den Zwillingen um sie zu begrüßen, doch die schlummerten friedlich vor sich hin.
„Nach Möglichkeit nicht aufwecken, bin froh das sie Ruhe geben.“
Frustriert lies sich Ronald auf einem der mausgrauen Plüschsessel nieder.
„Ist was Besonderes? Du wirkst recht bedrückt! Gut, bei dem Job nicht weiter verwunderlich. Aber immerhin! Wir können noch immer gut davon leben. Und das ist ja schon mal was, wenn ich an all den Mangel denke, der andere heimsucht.“ Stellt Alexandra fest.
Ronald rang mit sich, fand aber nicht so recht den Einstieg in ein Gespräch, er spürte das dringende Bedürfnis sich mit Alexandra auszusprechen, ihr seinen Frust offen zu legen, doch er riskierte damit wie so oft nur wieder einen Streit.
„Ach es ist wegen Colette!“
„Colette? Ach so! Es ist wieder Dienstag! Habt ihr mit der Armen wieder euren Spott getrieben? Gratuliere! Kannst wieder mächtig stolz drauf sein. Aber…? So früh, das verwundert mich ein wenig. Ansonsten hat sie doch erst am späten Nachmittag ihren Auftritt.“ Erinnerte sich Alexandra.
„Nein, nein! Heute war es anders! Das ist es ja! An ihre bisherigen Eklats bin ich gewöhnt.
Stell dir vor, sie kam in die Kurie, viel vor Neidhardt auf die Knie und gelobte ihm ewig Treue und bot ihm ihre Dienste an. Neidhardt hat natürlich sofort eingeschlagen.“
„Sie hat was??? Nein, das kann nicht sein! Doch nicht Colette!“
„Doch sie hat und das mit einer Theatralik, das es mir eiskalt den Rücken runter lief. Ich konnte dem nicht mehr beiwohnen, deshalb bin ich hier. Merkt ja eh keiner mehr dass ich nicht anwesend bin. Ich muss das alles erst mal verdauen.“ Stöhnte Ronald und rieb sich dabei das Gesicht.
„Hm dann verdau! Ich hoffe du bekommst keine Magenschmerzen davon. Wenn das stimmt, dann ist das wirklich ein Ding. Arme Colette! Ich kann nicht genug für den Umstand danken, das ich mir so etwas nicht an sehen muss. Gratuliere dir, dann habt ihr sie ja endlich da wo ihr sie immer schon wolltet.“
„Du hast mich missverstanden! Ich spüre nicht den geringsten Triumph. Statt dessen Resignation, Verzweiflung! Ich hatte auf Colette gesetzt. Endlich war ich soweit, wollte auf sie zugehen um ihr meine Bewunderung auszusprechen und jetzt das. Das macht alle meine Pläne zu Nichte.“
„Dich bei Colette zu entschuldigen wäre in der Tat schon lange überfällig. Wenn du noch lange gezögert hättest, wäre ich statt deiner zu ihr gegangen. Nun, das hat sich jetzt erübrigt und ich bedaure das ebenso wie du.“ Alexandra fingerte dabei weiter an den Strickzeug auf ihrem Schoß, da sie gerade im Begriff war Jäckchen für die Zwillinge zu fertigen, eine Kunst die ihr, dem einst verwöhnten Jetsetgirl, Colette gelehrt hatte.
„Pläne? Was hast du für Pläne? Was heckst du jetzt schon wieder aus? Muss ich mich am Ende noch beunruhigen?“
„Ach nicht weiter wichtig!“ Versuchte Ronald abzuwiegeln, doch kam er damit bei ihr nicht durch.
„Ich denke schon! Oder meinst du ich merke nicht dass etwas nicht stimmt? Mir kannst du nichts mehr vormachen.“
„Na gut! Es ist wegen Neidhardt! Ich mache mir einfach Gedanken was noch alles auf uns zukommt. Ich fürchte der wird unser Land bald in eine absolute Diktatur verwandeln.“
Alexandra lachte laut auf.
„Na prima! Guten Morgen der Herr! Fällt dir das also auch schon auf? Na, da bist du endlich auf dem Weg der Besserung. Das hätte ich dir schon vor langer Zeit sagen können. Da braucht man kein Professor zu sein um das zu durchschauen, nicht einmal Politiker.“
„Alexandra mir ist ganz und gar nicht zum scherzen!“
„Ja denkst du mir vielleicht?“ Fuhr ihn diese scharf an.
„Ich kann und ich will dem nicht mehr zustimmen. Neidhardt ist dabei die Ideale der Revolution mit Füßen zu treten. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Es muss etwas geschehen. Aber was? Ich jedenfalls sehe mir das noch eine Weile an, werde das Gespräch suchen, sicher. Aber ich hege wenig Hoffnung. Am Ende wird es wohl auf einen Bruch hinauslaufen. Ich muss darauf eingestellt sein mich aus der Regierung zurück zu ziehen.“
„Zurückziehen? Das heißt mit anderen Worten, du willst alles hinschmeißen?“
„Ja, so ist es! Ich werde meine Rücktritt einreichen.“
„Ach und was willst du dann machen? Dich an den Kamin setzen und mit dem Schürhaken Figuren in die Asche ritzen?“
„Nein, nein! Doch nicht so! Doch nicht so!“ Erwiderte Ronald und preßte dabei sein Gesicht tief in die Handflächen.
„Wenn ich sage dass ich mich aus der Regierung zurückziehe heißt das doch nicht Totalrückzug aus der Politik. Ich werde weiter aktiv bleiben, werde Zeit haben um viel zu schreiben, zu agitieren, mich mit anderen oppositionellen Vertretern zusammenschließen. Ich bin bei weitem nicht der einzig Unzufriedene. Es werden immer mehr die ihre Bereitschaft bekunden ihre Stimme gegen die zu befürchtende Tyrannei zu erheben. Schade, schade dass Colette die Seiten gewechselt hat. Mit ihr an unserer Seite könnten wir…“
„Hör auf!“ Schrie Alexandra den völlig verdutzen an.
„Ich kann es nicht mehr hören, es kommt mir aus den Ohren. Denkst du denn überhaupt mal ein bisschen nach, oder hat der Umgang mit Neidhardt bereits dazu geführt, dass dein Gehirn außer Kraft gesetzt ist. Hast du dir mal überlegt wovon wir leben sollen? Oder sind solche Gedanken unter deiner Würde?“
„Sicher ist es ein Risiko! Das will ich gar nicht bestreiten. Dann müssen wir uns einschränken, uns anderweitig orientieren. Wir werden schon auf irgend eine Art über die Runden kommen. Aber ich kann mich nicht mehr beugen und verbiegen lassen. Es ist mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbar, was ich hier abspielt.“
„Dein Gewissen? Du willst mir doch nicht vorgaukeln, dass du je eines besessen hast. Einschränken? Anderweitig orientieren? Was denn bitte schön? Du beziehst ein festes Gehalt, davon können wir recht gut Leben und einen gewissen Lebensstandart halten. Das ist im Vergleich zur Allgemeinheit ein ungeheures Privileg. Das willst du alles aufs Spiel setzen nur um einem Windei nachzujagen? Hast du den Verstand verloren. Du hast Verantwortung, du hast eine Familie, mein Lieber, das scheint dich überhaupt nicht zu interessieren. Werde endlich einmal erwachsen Ronald. Leben heißt nun mal Verantwortung. Du hast deinen Spaß gehabt, nun ist es an der Zeit sich der Wahrheit zu stellen.“
„Ja aber was glaubst du denn für wen oder was ich das alles tue?“
„Für was oder wen, das kann ich dir sagen. Für dich und dein gekränktes Ego. Du bist der große Revolutionär, die anderen haben alle Unrecht, jetzt auf einmal. Darf ich dich daran erinnern, dass du noch vor kurzer Zeit Neidhardt wie ein läufige Hündin nachgelaufen bist.
Er war dein großer Herr und Meister, für ihn warst du bereit durch die Hölle zu gehen, wenn er es von dir verlangt hätte. Alles hast du dieser Idee geopfert. Dein Leben war die Revolution. So, und nun da wir sie hinter uns haben geht es nicht mehr. Kaum dass du selber in Verantwortung stehst, willst du dich ihr feige entziehen. Geht dir etwas gegen den Strich, alles hinschmeißen, sich allem entziehen, koste es was es wolle.“
Aufgebracht erhob sich Ronald.
„Was soll das Alexandra. Du hast kein Recht so mit mir zu reden. Willst du mir nun auch noch in den Rücken fallen. Das ist ja eine feine Sache. Womit habe ich das verdient? Die eigene Frau lässt mich im Stich, gerade jetzt da ich ihrer am dringendsten bedarf. Das wird ja immer schöner.“
„Ich habe bisher alles getragen. Ich bin dir gefolgt, obgleich es mir schwer fiel. Ich hatte ein Zuhause, ein richtiges Heim. Die Zeit in der Kommune war die beste meines Lebens, ich habe es aufgegeben nur um dir zu folgen. Mensch, wie bescheuert ich doch war. Elena und die Schwestern, es war mein Leben, verstehst du? Das waren meine Ideale! Oder glaubst du das du der einzige mit solchen bist.“ Fauchte Alexandra zurück.
„Natürlich, dass musste jetzt kommen. Elena und die Schwesternschaft. Das wirst du mir noch bis ans Ende meiner Tage aufs Brot schmieren. Elena die Göttin zu der alle voller Andacht schauen. Elena die Superfrau, die immer weis wo es lang geht. Elena die Hüterin des Paradieses.“
„Du hast kein Recht so von ihr zu reden, von ihr oder den anderen. Hast du vergessen dass auch du einmal Teil der Kommune warst und dass es dir dort auch gefallen hat. Ich lasse nicht zu dass du alles in den Schmutz ziehst.“
„Aber ich will es doch gar nicht in den Schutz ziehen, wie kommst du darauf? Ich habe die Zeit in der Abtei nicht vergessen. Ich schätze Elena sehr, sie ist eine tolle, ein kluge Frau und ich freue mich das es ihr nach langer Krankheit wieder besser geht. Ich habe Kovacs gemocht, er war ein wahrer Dichter und ein großer Philosoph und ich bedaure zutiefst dass er nicht mehr unter uns weilt.
Aber er war ein Träumer. Wir alle sind Träumer das ist war, aber wir müssen ebenso wieder in die Realität zurückfinden. Für die Realität waren seine Ideen wohl nicht bestimmt.
Und Elena? Sie selbst hat geäußert, dass es keine Kommune mehr geben wird, sie möchte sich aus der Politik zurückziehen. Das ist ihr gutes Recht. Die Kommune ist tot Alexandra. Der Traum von der herrschaftsfreien Ordnung ausgeträumt. Sie wird niemals wieder erstehen.
Nun heißt es nach anderen Lösungen zu suchen.“
Alexandras Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich hätte nie für möglich gehalten wie gemein und hinterhältig du bist. Klar ist die Kommune tot. Für uns. Eine Rückkehr ist ausgeschlossen für dich aber auch für mich. Niemals könnte ich den anderen wieder unter die Augen treten, nach all dem was geschehen ist. Ich habe meinen Lebenssinn verloren und meine große Liebe. Ich werde Kyra nie wieder sehen.“
„Natürlich! Auch daran bin ich schuld! Ich weiß dass du sie immer mehr geliebt hast als mich. Das war mir schon während unserer Zeit in der Abtei bewusst. Aber sie ist nicht mehr dort. Auch Kyra hat die Kurve gekratzt, ist mit Folko auf und davon. Dafür soll ich die Verantwortung tragen? Überlege doch mal was du da für einen Unsinn erzählst.“ Entgegnete Ronald.
Alexandra musste sich eingestehen, dass er in dieser Angelegenheit ausnahmsweise die Wahrheit sprach, dafür konnte sie ihn wahrlich nicht verantwortlich machen. Auch ihre Aussage, dass ihr die Rückkehr in die Abtei versperrt war entsprach nicht den Tatsachen. Wenn auch die Kommune derzeit nicht existierte, so wäre es ihr aber durchaus möglich auf dem Gelände der Abtei zu wohnen. Das aber wollte Ronald nicht. Allein aber würde Alexandra nicht zurückkehren, dann kam eher ein Rückzug zu ihren Eltern in Betracht, die noch immer recht gut und weitgehend unangefochten ganz im Süden des Landes lebten, sollte sie sich tatsächlich von Ronald trennen.
„Einverstanden! Dafür kann ich dir nicht die Schuld geben!“ Bekannte Alexandra nach einer Weile des Schweigens. „Im Grund hat mir ihr Weggang damals die Entscheidung erleichtert. Ohne Kyra in der Abtei, nein, das hätte ich auf Dauer nicht verkraftet. Deshalb entschloss ich mich mit dir zu gehen!“
„Natürlich! Ronald der Lückenfüller! Ich bin mir schon seit langem im Klaren darüber das ich nur die zweite Geige für dich spiele. Am Anfang, ja, da war es schön zwischen uns, aber seit Kyra in dein Leben trat rückte ich immer mehr ins Abseits. Ich gebe es zu. Auch deshalb wollte ich damals raus aus der Kommune, weil ich es nicht mehr aushielt.“
„Aber warum denn? Meine Beziehung zu Kyra hätte doch unserem Verhältnis nicht im Wege gestanden. Du warst es der eine Entscheidung verlangte. Ich hätte mit euch beiden leben wollen. Mit ein wenig Mühe, wäre uns das auch gelungen.“ Bekannte Alexandra.
„Ach das glaubst du doch selber nicht. Ich habe dir schon damals gesagt, eine Beziehung zu dritt ist Unsinn. Das klappt nicht. Das kann niemals auf Dauer funktionieren. Schöne saubere Theorie, doch in der Praxis untauglich. In einer Dreierbeziehung gibt es immer einen Verlierer. In unserem Falle hätte der wohl stets Ronald geheißen! Du wirfst mir vor ich solle erwachsen werden? Diese Frage solltest du zunächst dir selber stellen. Man kann nur einen Menschen aufrichtig und von ganzen Herzen lieben, alles andere ist Firlefanz. Freie Liebe? Ja für all jene die sich nicht entscheiden wollen oder können. Sie mag eine ganze Weile funktionieren. Aber eines Tages kommt der Tag der Abrechnung. Freie Liebe führt immer in eine Sackgasse.“
„Das glaube ich nicht! Elena hat uns gelernt dass es Mittel und Wege gibt damit umzugehen.
Eifersucht muss nicht notgedrungen zur Liebe gehören. Wir können diese, wenn wir nur wollen überwinden!“ Glaubte Alexandra zu wissen.
„Womit wie wieder beim Thema Elena sind. Die Zauberfrau die alles richtet. Ich kanns nicht mehr hören, es kommt mir aus den Ohren. Das ist eine schöne Traumwelt, das reale Leben sieht anders aus Liebste, da ist nicht immer eine Elena zur Hand die dich in die Arme nimmt und dir ihren Trost spendet bis es wieder besser geht. Wir müssen den Tatsachen in die Augen blicken. Nein, das Problem muss an den Hörnern gepackt werden.“
„Und selbstverständlich bist du auserkoren das zu tun! Immer du! Andere halten sich derweil zurück und sehen wie sie ihren Arsch in Sicherheit bringen.“ Giftete Alexandra sichtlich genervt. Sie hatte nur einen Wunsch diesen Streit so bald als möglich zu beenden, Ronald aber hatte dem Anschein nach noch immer nicht genug.
„Ja ich! Du sagst es! Ich weiß was zu tun ist. Anarchie ist keine Lösung, das Land braucht eine straffe Regierung die durchgreift. Aber es muss eine Führung sein die sich den Idealen der Revolution tatsächlich verpflichtet fühlt und sich vorrangig für das Wohl des Volkes einsetzt und nicht wie unsere derzeitige Junta, in erster Linie an sich selber denkt. Wenn Neidhardt nicht mehr mit sich reden lässt, muss er weg, muss durch einen anderen, einen fähigeren ersetzt werden. Dann können wir die Reformen die das Land braucht tatsächlich durchsetzten und….“
„Es reicht, soviel Idealismus erträgt kein Mensch. Mach einfach was du willst, folge Neidhardt oder folge einem anderen. Ich weiß, was ich zu tun habe, ich folge nur noch mir selbst. Entscheide dich, Ronald, aber ich sage dir, wenn du alles hinschmeißt und unsere Existenz als Familie in Gefahr bringst, werde ich dich verlassen. Dann bist du frei wieder Revolution zu spielen, aber auf mich musst du dann verzichten! Die Kinder nehme ich selbstverständlich mit. Die sollen in einer möglichst friedlichen und normalen Umgebung aufwachsen“ empörte sich Alexandra.
„Gut dann weiß ich was mich erwartet! Und das ist dein letztes Wort?“
„Mein allerletztes, darauf kannst du Gift nehmen!“
Damit war alles gesagt. Eine Entscheidung von großer Tragweite. In der Verantwortung bleiben, mit Familie und sicherer Existenz, dafür aber täglich einen Bückling vor einem Diktator machen. Oder aber alles aufs Spiel setzen, Beruf, Existenz, Frau, Familie, um eine Revolution anzuzetteln die mit Sicherheit keiner wollte und die kaum Chancen auf Erfolg hatte.
Ronald hatte seine Galgenfrist, wie lange diese währte vermochte er nicht zu sagen.
Für Colette waren hingegen die Würfel gefallen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und dem Teufel ihre Seele übereignet.
Nach einer Zeit der Erholung auf Kosten des Staates begann eines Tages der neue Alltag als Neidhardts Musikantin. Was sie genau erwartete lag jenseits ihrer Vorstellungskraft.
Die Kulturabteilung war im Begriff eine erste Tournee zu organisieren. Medienwirksame Auftritte vor auserwähltem Publikum. Neidhardt drängte auf Eile, denn diese neue unkonventionelle Art der Propaganda kam ihm sehr gelegen, zu einem Zeitpunkt da sich immer deutlicher die Unzufriedenheit mit seinem immer autoritäreren Führungsstil ihren Weg bahnte.
Es war wohl ein Wink des Schicksals das die Proben ausgerechnet in einem Studio stattfanden, dass in früheren Zeiten Elena für ihre Sendungen diente. Ein gutes oder schlechtes Omen?
Als Colette die Gitarre in die Hand nahm schossen ihr sofort die Tränen in die Augen, denn unwillkürlich musste sie an die schöne Zeit denken, als sie mit Kim und Kyra in ihrer Band musizierte, der queeren Band allen Konventionen enthoben. Wie heiter und beschwingt ging es doch in jenen Tagen zu. Warum nur vermochte sie die Zeit nicht zurückzudrehen? Welcher Teufel hatte sie geritten, sich zu dieser Wahnsinnstat hin reißen zu lassen? Die Antwort lies nicht lange auf sich warten. Not und Mittellosigkeit sind ausgesprochen schlechte Ratgeber.
Sie stand hier, weil sie nicht unter die Räder kommen wollte. Neidhardt zahlte gut und sorgte für ein bequemes, halbwegs sicheres Leben. Darauf kam es an und im Gegensatz zu Ronald konnte sich Colette keinen Idealismus mehr leisten.
Also, den Klos im Hals herunterschlucken, die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen, eine Alternative gab es nicht mehr. Weg mit den negativen Gedanken, nach vorne blicken, der Zukunft zugewandt.
Colette würgte die Gitarre wie sie es bei Kyra und Kim getan hatte, was die Töne betraf, so unterschieden die sich nicht wesentlich von jenen in der flippigen Kommuneband, Neidhardt lies ihr viel Spielraum, es sollten peppige Songs werden, ein wenig Rock, ein wenig Punk, aber auch Balladen und Chansons, von jedem etwas.
Doch wenn sie auf die Texte blickte, erstarrte sie vor kaltem Entsetzen.
Lobeshymnen auf die Revolution wären ihr sicher noch leicht über die Lippen gekommen, doch der schwulstige Personenkult um Neidhardt, würde ihr eine Menge abverlangen.
Die erste Probe wurde ein Fiasko, schon nach 5 Minuten verschlug es ihr regelrecht die Stimme. Zum Kotzen übel. Gerade noch rechtzeitig erreichte die die Toilette um sich zu übergeben. Dann ging sie einfach weg, nach Hause, um ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen.
Die folgenden Wochen verstrichen ohne nennenswerte Ereignisse. Colette absolvierte ihre Proben in der gewohnten Routine.
Sie hatte ausreichend Zeit sich vorzubereiten, materielle Sorgen kannte dieses Leben nicht, denn ihr Gehalt stimmte, obgleich sie noch kein einziges Konzert geliefert hatte.
Innerhalb kurzer Zeit war sie sogar imstand echte Starallüren zu entwickeln. Die konnte sie sich jetzt leisten denn niemand wagte sie dafür zu tadeln. Solange Neidhardt seine schützende Hand über ihr hielt, genoss sie Narrenfreiheit.
Es musste ihr demzufolge gelingen diesen stets bei Laune zu halten, sollte er ihr einmal seine Gunst entziehen, war es aus.
Ein ganzer Stab von Mitarbeitern stand ihr zur Verfügung. Von der Begleitband über Maskenbildner, Beleuchtern, Tonassistenten bis zu Transportarbeitern und Personal für ihre persönlichen Bedürfnisse.
Alle begannen bald unter ihren immer exzentrischer wirkenden Launen zu leiden. Auf diese Weise gelang es Colette den Frust abzubauen der sich ihr bemächtigte .
Mit dem Herzen war sie nicht dabei. Das was sie hier tat, war ihre Arbeit, ihr Broterwerb, weiter nichts. Im Grunde war sie eine Arbeiterin. Sie leistete ihren Beitrag ebenso wie die wieder zahlreicher werdenden Fließbandarbeiter, die im Akkord ihre Arbeitskraft verkauften, so wie in den Tagen vor der Revolution.
Fließbandarbeit abschaffen, so lautete eine der wichtigsten Forderungen der Revolution, denn diese Art der Tätigkeit galt als Inbegriff entfremdeter Arbeit, die es unbedingt zu überwinden galt. Nun schufteten die neuen Prekas wieder im gleichen tristen Trott wie vordem. Wozu hatte es eigentlich eine Revolution gegeben?
Angeblich sollten die Preka die neue herrschende Kaste sein, komisch nur das die von alle dem nichts mitbekamen. Dafür hatten sie schließlich ihre Repräsentanten im Zentralkomitee, die dem Anschein nach in ihrem Namen handelten, tatsächlich jedoch nur ihren eigenen Interessen frönten. Wieder einmal mehr waren die Preka die Looser der Nation.
Um diese Realität zu verschleiern wollte man sich der Kultur bedienen und die Revolution auf der Bühne wieder auferstehen lassen. Colette sollte tatkräftig dazu bei tragen diese Scheinrealität zu konstruieren.
Endlich war es soweit. Ihr erstes Konzert fand im neu errichteten Palast des Volkes statt.
Dessen großer Saal bot etwa 5000 Besuchern Platz.
Was die Besucherliste betraf, hatte das Volk heute in "Seinem" Palast nichts zu suchen, es handelte sich dabei ausnahmslos um handverlesene Leute, die entweder zur Parteiaristokratie gehörten oder dieser zumindest in irgend einer Form nahe standen.
Colette war der Beifall gewiss, denn alle hatten Anweisung in bestimmten Abständen lauthals und in voller Inbrunst zu applaudieren.
Während auf der Bühne die letzten Vorbereitungen liefen und sich der Saal langsam zu füllen begann, hatte sich der neue Star in ihre Garderobe zurückgezogen. Sie wurde von starken Rückenschmerzen heimgesucht, nachdem sich ihre Bandscheiben lange nicht mehr gemeldet hatten. Ausgerechnet jetzt schlugen sie erbarmungslos zu, heute wo es darauf ankam eine besonders gute Figur zu machen um bei Neidhardt Eindruck zu schinden.
Verzweifelt durchstöberte sie ihre Handtasche auf der Suche nach Schmerztabletten. Eine hatte sie schon vor einer halben Stunde eingeworfen, die Wirkung blieb aus. Gierig würgte sie noch eine hinunter in der Hoffnung auf Besserung. Der Blick auf ihre Armbanduhr offenbarte das es in 15 min soweit war, dann musste sie die Bühne betreten, ob mit oder ohne Schmerzen.
Sie stützte beide Hände auf die Tischplatte vor ihr, der Gegendruck bewirkte manchmal eine Linderung in ihrem Nacken. Sollten nun auch noch die entsetzlichen Kopfschmerzen zu schlagen, wäre sie kaum in der Lage aufzutreten.
Zudem brannte das make up das sie in Unmengen auf ihr vom vielen epilieren entzündetes Gesicht aufgetragen hatte, um die roten Flecken zu verbergen, die sie immer deutlicher entstellten.
Tränen schossen in die Augen, mit aller Kraft versuchte sie diese zu unterdrücken.
Sie war keine 20 mehr, auch keine 30, das lies sich nicht verbergen, auch wenn ihr geiles hautenges Lederoutfit eine deutliche Verjüngung vorgaukelte.
Ach Elena, ich vermisse sie so sehr, deine zärtliche heilende Hand, die offensichtlich jeden Schmerz lindern konnte, sobald sie die Haut eines Leidenden berührte. Schnell verbannte Colette diesen Gedanken, nutzte ihr diese Erkenntnis im Moment doch rein gar nichts.
Derweil schritt Ronald in Alexandras Begleitung durch die Eingangspforte. An der Garderobe entledigten sie sich ihrer Mäntel und begaben sich in das Foyer um sich vor dem Auftritt noch einen Cocktail zu genehmigen.
Es bedurfte langer Überredungskünste um Alexandra dazu zu bewegen ihn auf das Konzert zu begleiten. Nur unter großem Vorbehalt stimmte sie zu und auch jetzt in diesem Augenblick fühlte sie sich ausgesprochen unwohl. Sie hatte Colette seit Monaten nicht mehr gesehen. Wie ging es ihr? Welchen Eindruck würde sie hinterlassen? Konnte es zu einer Begegnung kommen? Wie benebelt stand Alexandra an der Bar und schlürfte lustlos an ihrem Glas.
„Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?“ wollte Ronald wissen.
„Wie es mir geht willst du wissen? Scheußlich um konkret zu sein. Ronald, es war ein Fehler mitzukommen. Ich glaube nicht dass ich das durchstehe. Ich möchte Colette nicht in dieser Rolle sehen, ich glaube es bricht mir das Herz.“
„Ich…ich verstehe dich. Mir fällt es auch nicht leicht. Aber immerhin, wir müssen an das positive denken. Colette hat ein sicheres Auskommen, sie leidet keinen Mangel und es scheint ihr zumindest dem Anschein nach ganz gut zu gehen. Das zählt im Moment. Was meinst du, ob wir sie nach dem Auftritt besuchen?“
„Nein, tu mir das nicht an! Ich will ihr nicht auf diese Weise unter die Augen treten!“
„Sicher hast du Recht! Dann lassen wir es bleiben. Aber andererseits, so einfach an ihr vorbeigehen, tun als ob wir sie nicht kennen? Ich weiß nicht! Wir haben mal zusammengehört! Du hast das immer wieder betont!“
„Bitte Ronald, schweig! Ich halte es sonst nicht mehr aus! Was meinst du ob noch Zeit genug ist zu gehen? Noch wird es niemanden auffallen.“
„Aber das geht doch nicht, Alex! Wir haben unsere festen Plätze, ganz weit vorn auf dem Logenrang. Das merken alle, vor allem Neidhardt, der hat seine Augen überall.“ Lehnte Ronald ab, sich dessen bewusst das auch er immer deutlicher den Wunsch verspürte so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
Alexandra nahm auf einem Barhocker platz und stütze ihren Kopf auf die Handflächen.
„Mir ist übel! Mir ist auf einmal schrecklich übel!“
Ronald bekam es mit der Angst zu tun.
„Gut, einverstanden! Wir gehen! Ich mache hier auch nicht mehr mit!“
Gerade wollte sie sich zum gehen wenden, als plötzlich wie aus dem Nichts Ansgar vor ihnen erschien.
„Na, da seit ihr ja! Habe euch schon überall gesucht. Wollen wir uns mal überraschen lassen, was unsere Colette heute Abend so zum Besten gibt?“
„Gu…Guten Abend Ansgar!“ Rang sich Ronald eine Begrüßung ab.
„Aber was ist denn? Ihr seht ja aus wie das heulende Elend. Habt ihr was?“
„Ach… ich meine.. ich habe.. ich wollte… Uns geht es beiden nicht so gut. Ich glaube uns hat eine Erkältung erwischt.“ Bediente sich Ronald einer Notlüge.
„Ja, geht rum in der Stadt, ist ne Grippewelle, wie mir zu Ohren kam. Schlimme Sache, kann ich nur hoffen dass ich mich nicht auch noch anstecke.“ Meinte Ansgar während er auffällig in Richtung Eingang starrte.
„Ich glaube es ist das Beste, Alexandra und ich verschwinden wieder und hauen uns zu Hause aufs Ohr, damit wir unsere Bazillen nicht weiterreichen!“
„Das ist sehr solidarisch von euch. Aber ich glaube daraus wird nichts mehr. Sieh mal Neidhardt naht mit großen Schritten. Er könnte es als Eklat einstufen wenn ihr euch jetzt verdrückt. Ihr werdet ausharren müssen, denke ich!“ Gab Ansgar zu verstehen und deutet auf die Eingangstür.
Eine Fanfarensalve ertönte und kündigte Neidhardts Erscheinen an. Der betrat in gewohnt herrischer Geste den Flur. Zum Erstaunen aller kam er nicht allein. Direkt neben ihm schritt Cornelius. Nach Monaten der Abwesenheit zeigte sich Melancholaniens Präsident heute erstmals wieder in der Öffentlichkeit. Die lange schwere Erkrankung die er hinter sich gebracht hatte war kaum zu verbergen. Ein alter verbrauchter Mann gestützt auf seinen Gehstock. Jeder Schritt schien ihm Schmerz zu bereiten. Doch er kämpfte auf bewundernswerte Art dagegen an.
„Siehst du Ronald! Selbst der noch immer sehr kranke Cornelius ist heute hier erschienen um der alten Kampfgefährtin zu lauschen. Ich denke damit ist euer Argument hinfällig.“
Bevor Ronald etwas erwidern kann, kam Neidhardt vor den dreien zum Stehen.
„Ich begrüße euch! Sehr gut dass unsere Regierungsmannschaft vollständig versammelt ist.
Das wird ein Fest heute, das kann ich versprechen. Es wäre doch schade, wenn sich dann bestimmte Leute von selber ausschließen, nicht wahr Ronald?“
Es war unheimlich, war Neidhardt nun zu allem Überfluss auch noch imstande Gedanken zu lesen. Musste Melancholanien also demnächst mit einer Art von Gedankenpolizei rechnen?
„Ich grüße vor allem dich Alexandra! Dein Erscheinen bereite mir eine ganz besondere Wonne!“ Fuhr Neidhardt fort bevor er sich von ihnen entfernte und in Richtung Saal bewegte.
„Komm Liebes! Du siehst wir können nicht anders! Da bleibt nichts weiter übrig als unsere Plätze einzunehmen.“ Ronald hakte sein Frau unter.
„Das muss nun auch noch geschehen. Bleibt mir denn heute gar nichts erspart? Du weißt dass ich diesen Typen nicht ausstehen kann. Warum quatscht der mich auch noch vor allen Leuten an?“ Beschwerte sich Alexandra barsch.
„Ach, mach dir nichts draus, ist eben seine Art. Bedeutet gar nichts weiter!“ Versuchte Ronald die Sache herunter zu spielen.
Scheren Herzens nahem sie in ihrer reservierten Loge Platz.
Nach wenigen Augenblicken öffnete sich der Vorhang und Colette erschien im Licht der Scheinwerfer auf der Bühne. Zu ihrem Glück hatte die Scherzen nachgelassen, wenn sie auch noch nicht vollständig verschwunden waren. Immerhin sah sie sich in der Verfassung aufzutreten.
Alexandra weinte bittere Tränen als sie ihrer ansichtig wurde. Am liebsten hätte sie in diesem Moment laut aufgeschrieen so sehr wühlte sie dieser Anblick auf.
Alexandra erkannt sofort das es der Schwester nicht gut erging und wie sehr sie offensichtlich unter der Rolle litt, die sie einzunehmen hatte.
„Colette! Schwester! Siehst du mich? Willst du mich nicht sehen? Ronald sieh doch ,sie hat geweint! Ihr geht es nicht gut! Ihr kann es nicht gut gehen!“ Flüsterte Alexandra mit weinerlicher Stimme, nachdem sie in ihr Taschentuch geschnieft hatte.
Ronald ergriff ihre Hand und drückte sie ganz zart.
Unterdessen begann Colette mit ihrem Konzert.
Am Anfang funktionierte es, denn sie vermied geschickt jeden direkten Blickkontakt zum Publikum, konnte sich somit ganz auf ihren Auftritt konzentrieren.
In voller Inbrunst würgte sie ihre Gitarre und entlockte ihr ekstatische Klänge und sang dabei mit ihrer kraftvollen Stimme, dabei immer wieder von starken Schmerzintervallen gepeinigt, aber sie stand es durch.
Tosender Beifall! Vorgetäuschter oder ehrlicher Art? Es vermochte am Ende keiner mehr eine Grenze zu ziehen. Es schien für einen Moment als habe Colette die Konvention gesprengt und das Publikum begeisterte sich tatsächlich.
Nach den rockigen Einlagen waren nun die Balladen an der Reihe, die kamen ihr bedeutend schwerer über die Lippen.
Die Lobpreisung an Neidhardt klang wie blanker Hohn.
In einem Akt der Unaufmerksamkeit viel ihr Blick für einen winzigen Augenblick auf die Besucherränge und da geschah es. Ihre Augen entdeckten Alexandra.
Ronald, Ansgar oder auch Cornelius zu erblicken machte ihr nichts mehr aus, mit denen hatte sie im Inneren längst gebrochen, doch beim Anblick der geliebten Schwester versagte ihr augenblicklich die Stimme. Ein bohrender Schmerz durchdrang ihre Brust, sie vermochte kaum noch zu atmen, als sie in Alexandras feuchte Augen blickte. Deren Mund bildete ein bezauberndes Lächeln und sie nickt ihr zu.
Wie im Film zogen die Bilder vorüber und sie sah sich in die schöne Zeit der Kommune zurückversetzt, als sie mit Kyra und Kim aufspielte auf ihren Konzerten, im Sommer, zumeist am Stausee. Es war Alexandra die den dreien immer als erste Blumen auf die Bühne warf um sich im Anschluss zu ihnen gesellte und mit ihnen um die Wette tanzte.
Blumen hatte Alexandra dieses Mal nicht dabei, so blieb ihr nur die Möglichkeit Colette aus sicherer Distanz eine Kusshand anzudeuten. Nun brach auch Colette in Tränen aus. Gespenstische Stille erfüllte den übervollen Saal. Danach flüchtet Colette von der Bühne.
Alexandra tat es ihr gleich, sie schoss wie eine Rakete nach oben, so dass ihr Stuhl mit lautem Knall nach hinten krachte.
Wie eine besessene stürmte sie die Treppe hinab und bahnte sich ihren Weg durch die Reihen. Um besser vorwärts zu kommen streifte sie ihr Pumps von den Füßen und lief barfuß weiter. Es war wie im Traum, wenn man voller Verzweiflung versucht von der Stelle zu kommen es aber einfach nicht gelingen will.
Endlich hatte sie den Notausgang erreicht und kämpfte sich zur Garderobe hinter der Bühne vor. Da erblickte sie die Schwester.
„Colette, Schwester, bleib doch stehen! Warum flüchtest du vor mir. Ich bin es Alexandra!“
Doch die nahm weiter Reißaus.
Krachend fiel die Tür ins Schloss. Vergeblich bat Alexandra die Schwester um Einlass.
„Colette, Schwester, Schwester!“
Voller Verzweiflung hämmerte sie mit der Faust gegen die Türe, wie ein kleines Mädchen das sich in die Obhut der großen Schwester flüchten will. Auf der anderen Seite der Tür weinte Colette ebensolche Tränen. Doch die fanden nicht zueinander.
Unterdessen verstand Neidhardt auch diesen unkontrollierten emotionalen Ausbruch geschickt für seine Propaganda auszunutzen.
Das Läuten einer schrillen Glocke signalisierte den Anwesenden dass Neidhardt die Absicht hatte das Wort zu ergreifen.
„Verehrtes Publikum! Es gibt keinen Grund zur Besorgnis! Wir alle waren Zeugen einer emotionalen Regung. Einmal zunächst müssen wir bedenken, Colette ist eine Kundra und die ticken nun mal etwas anders als gewöhnliche Menschen. Andererseits jedoch besteht berechtigter Grund zu der Annahme, dass unsere Colette so ergriffen von ihrem Auftritt war das sie von gewaltigen Gefühlen überwältigt wurde. Wer sein Ego zugunsten der Revolution aufgibt, so wie es Colette getan hat, darf schon mal überwältigt sein. Ihre verirrte Seele hat zur Wahrheit zurückgefunden. Sie hat ihre kleinbürgerlichen Ansichten über Bord geworfen und sich zu unserer gerechten Sache bekannt. Ich denke das sollten wir honorieren! Ist das nicht schon einen extra Beifall wert?“
Wie auf Bestellung brandete Neidhardt tosender Applaus entgegen. Galt der wirklich Colette oder eher doch ihm selbst?
„Lasst uns immer daran erinnert sein. Die Revolution ist im Begriff weiter voranzuschreiten und in den Herzen der Menschen Wohnung zu nehmen. Wir dürfen niemals in unserem Enthusiasmus nachlassen, ständig bereit außergewöhnliche, ja außermenschliches zu leisten, wenn es um deren Verwirklichung geht. Colette ist diesen Weg gegangen, ich kann euch versichern, nie in ihrem Leben hat sie sich besser gefühlt. Hier erst wurde sie zum wahren Menschen. Denn nur wer die Prinzipien der Revolution in ihrer vollen Breite und Tiefe akzeptiert, darf sich wirklicher Mensch nennen!“
Ronald hielt es kaum noch aus.
„Halt endlich die Schnauze, elender, arroganter Tyrann!“ sprach er leise zu sich selbst und ballte dabei die Fäuste, denn um Neidhardt dass ins Gesicht zu sagen, fehlte ihm derzeit noch der Mut.
Dann verließ auch er die Loge um sich auf die Suche nach Alexandra zu begeben.
Nachdem er einige Korridore vergeblich nach ihr abgesucht hatte, kam sie ihm entgegen, tastete sich, noch immer laut vor sich hin schluchzend an der Wand entlang. Ronald bemerkte das sie am, ganze Leibe zitterte.
Er tat das einzig richtige. Ohne zu hinterfragen nahm er sie einfach in die Arme, drückte sie an sich, streichelte ihr Haar.
Nach einer Weile offenbarte sie mit heiserer Stimme. „Sie.. sie ist doch meine Schwester, ich… ich spüre das sie Kummer hat, dass es ihr nicht gut geht und sie dringend der Hilfe bedarf.“ Um gleich darauf wieder in Tränen auszubrechen.
„Ich bring dich nach Hause, Liebes! Ich habe auch genug von alledem, genug um hier ein Ende zu machen. Es wird alles gut!“
Gemeinsam schritten sie des Weges.
Fragen über Fragen türmten sich in Ronalds Kopf. Wie konnte man einen solchen emotionalen Ausbruch rational erklären? Er fand die Antwort nicht. Lag es etwa daran, dass er ein Mann war? Waren etwa nur Frauen zu solch einem Tiefgang fähig. Wenn der Schwesternschaft auch nur eine kurze Lebensdauer beschieden war, so war das Band zwischen den Frauen noch lange nicht zerschnitten. Hier wirkte eine Kraft von so ungeheuerem Ausmaß, die scheinbar jedweder Logik zuwiderlief. Doch konnte man sich diesem Umstand überhaupt mit Logik nähern?
Aber es hatte tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Schon als sie noch gemeinsam in der Abtei lebten, konnte er sich von den innigen Beziehungen der Frauen untereinander überzeugen und nun begann er sich zum ersten Mal die Frage zu stellen, ob es um die Welt nicht vielleicht besser bestellt wäre , würden zukünftig Frauen dort das Sagen haben?
Das Leben ging weiter. Colette startete ihre Tournee durch ganz Melancholanien. Überall bot sie ihre Kunst vor aus verkaufen Rängen dar. Bald machte sich Unmut in der Bevölkerung breit, denn auch die gewöhnlichen Menschen verlangten nach ihrem Recht, Colette in Natura erleben zu dürfen. Somit verliefen ihre Auftritte stets spannungsgeladen. Ihre Kasse begann sich zu füllen und garantierte ihr weiterhin ein sorgloses Dasein obgleich ihr die Lobeshymnen auf Neidhardt und sein Klüngel immer schwerer über die Lippen kamen.
Wochen, ja Monate gingen auf diese Weise ins Land. Colette fühlte sich derweil immer einsamer. Immer deutliche drang ihr ins Bewusstsein, welchen Schatz sie in der Abtei zurückgelassen hatte. Immer tiefer stürzte sie in Depressionen. Auch wenn sich alle ihr gegenüber korrekt verhielten, sie blieb die verachtete Kundra hinter deren Rücken man beständig tuschelte. Es war allein Neidhardts Hand die ihr Schutz bot, die Hand des einstigen Erzfeindes.
Zwar hatte sie Verehrer, ausnahmslos Männer, aber mit Liebe hatte das nichts zu tun.
Es gehörte zum guten Ton einmal mit Colette ins Bett zu steigen. Viele Männer wollen mit einer Kundra ins Bett, um ihren Spaß zu haben. Dafür waren sie gut genug. Neben ihrer Karriere als Musikantin startet sie also noch eine als Hure.
Die Männer hatten ihr Vergnügen, ob Colette das gleiche verspürte war dabei ohne Belang.
Colette empfand am Ende nur noch Schmerz und Ekel. Wie sehr sehnte sie sich doch nach den zärtlichen Händen der Schwestern. Nur einmal noch diese innige Nähe kosten, die Wonne und Süßigkeit, Hingabe und Vertrauen. Und das Gefühl in einem Heim geborgen zu sein und von lieben Menschen getragen werden.
Die letzte Zeit meldeten sich auch die Schmerzen wieder vermehrt zurück und ließen sie in der Nacht kaum noch den erholsamen Schlaf finden.
Immer deutlicher versank sie in einen Ozean von Kummer.
Mit dem Beginn der großen Säuberung begann auch ihr Stern langsam aber sicher zu sinken.
Gerade Künstler und Intellektuelle bekamen diese zu spüren. Die Zensur wurde beständig verschärft und Schlupflöcher kaum noch vorhanden. Während andere Musiker mit Auftrittsverboten belegt wurden, ging es für Colette zunächst noch in der gewohnten Art und Weise weiter. Neidhardt erwartet von ihr immer neue Unterwürfigkeitsbekundungen. Vor jeden Auftritt hatte sie ihren Treueeid zu erneuern, was sie dann auch unter Widerwillen tat.
Doch der Krug geht so lange zu Wasser bis er bricht und es kam der Tag an dem auch für Colette das Maß voll war. Es ging einfach nicht mehr. Es fehlte nur noch der bewusste Tropfen der dass Fass zum Überlaufen brachte.
Der Sommer war ins Tal gezogen warm und kräftig, langsam sandte der Herbst seine ersten Boten vor sich her. In den Wäldern schoben sich die Pilze aus dem Laub, der Honig tropfte aus den Bienenstöcken und es reiften die Beeren.
Etwa ein Jahr lebte Colette nun schon als des Teufels Musikantin und Hure. Einen Auftritt wollte sie noch absolvieren um sich dann mit einem Paukenschlag zu verabschieden. Würdelos hatte sie dieses Jahr verbracht, würdevoll wollte sie von der Bühne treten.
Sie mochte diese Jahreszeit sehr, der Spätsommer war schon immer einer ihrer liebsten Freunde.
Das Konzert sollte zur Abendzeit unter freien Himmel, auf einer neu errichteten Freilichtbühne stattfinden.
Als die Sonne sich am Horizont in ein rotgelbes Glühen auflöste, entlockte Colette ihrer Gitarre die ersten Klänge. Anscheinend war niemanden aufgefallen, dass sie ihren obligatorischen Treueeid diesmal nicht absolviert hatte.
Den Ablaufplan mit den geforderten Liedern hatte sie im Papierkorb entsorgt, bevor sie die Bühne betrat. Sie hielt sich nicht an Vorgaben, sang alles was ihr in den Sinn kam, erst kürzlich selbst komponierte Melodien mit ausgesprochen provokanten Texten und nicht zuletzt die alten in der Öffentlichkeit verbotenen Kommunelieder.
Neidhardt war nicht zum Konzert erschienen.
In Colettes Augen brannte wilde Leidenschaft, sie war bereit sich wieder mit einem übermächtigen Gegner anzulegen, so wie sie es früher getan hatte.
Tiefe Falten gruben sich in ihre Stirn.
Den härtesten Brocken hatte sie sich bis zum Schluss aufgehoben. Kyra`s kämpferischen Punk. Der Punk war vor wenigen Wochen der Zensur zum Opfer gefallen, durfte nicht mehr öffentlich dargeboten werden und jenes aufrührerische Lied stand ganz weit oben auf dem Index.
Sie richtete ihren Blick zu den Rängen. Wieder einmal alles ausgesuchte Gäste. Augen voller Weisheit trafen hier auf hasserfüllte Blicke. Wann würde wohl der erste Stein auf sie herabdonnern?
Wie in Trance begann sie in das Mikro zu brüllen:
„Das ist der Punk der dich fand als du unten lagst
Das ist der Punk der dich fand als du zu dir kamst
Komm heraus graue Maus aus dem Abbruchhaus
Stehe auf, komm nach vorn, lass den Frust im Loch
Blick nach vorn, find den Platz wo du hingehörst
Schau zurück, da gibt’s nichts was gefangen hält
Das ist der Punk der dich fand als du abgebrannt
Das ist der Punk den du hasst oder liebst oder untergehst
Bleibe hier trinke Bier, spül den Ärger weg
Doch glaub nicht, dass es hilft wenn du dein Hirn berauschst
Komm zu uns wir sind hier denn wir brauchen dich
Das ist der Punk in dir drin, der dich aufgeweckt
Das ist der Punk einer Nacht die zum Leben führt
Glaube nicht wenn du schweigst das es besser wird
Schwimm dich frei, mach dir Luft, find dein wahres Ich
Lass ihn raus deinen Frust, sonst erwürgt er dich
Ball die Faust, schrei heraus, was dich fertig macht
Lass ihn nicht los deinen Hass, denn er gibt dir Kraft
Doch die Tat, die dann folgt, tu sie mit Bedacht
Schlag zurück, doch gib Acht, dass du den Rechten triffst
Das ist der Punk unter uns, der vom Joch befreit
Der uns gibt, was wir sind und zum Leben reicht
Melancholanien ist schön, das ist allbekannt
Doch wer hat was davon, wenn er abgebrannt?
Bist du Preka oder Paria oder sonst noch was
Ist die liebe schöne Freiheit nur ein leeres Fass
Melancholanien ist schön, viel zu schön, um noch wahr zu sein
Drauf woll`n wir einen lassen und dann gehen wir heim.
Nun ergoß sich eine Orgie wütender Beschimpfungen über Colette.
Boshafte Beleidigungen die weit unter die Gürtellinie gingen. Sie war wieder zum Ausgangsort zurückgekehrt, jenem Ort der ihr wirkliches Zuhause war.
Die Tränen die nun über ihre Wangen liefen, waren Tränen der Erschöpfung und der Selbstachtung. Sie fühlte sich plötzlich auf eine merkwürdige Art befreit. Sie hatte mit diesem Akt einen Schlussstrich unter ein dunkles Kapitel ihres Lebens gezogen, in dem Bewusstsein nun wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren. Denn wovon sie zukünftig würde leben können stand in den Sternen.
Es war ihr egal. In diesem Moment war ihr einfach alles gleich. Und würde sie in diesem Augenblick von einem Blitz erschlagen, es hätte keine Bedeutung mehr.
Sie klemmte die Gitarre unter den Arm und ging einfach weg. In dem Garderobenzelt holte sie noch ein paar persönliche Dinge und verschwand unbemerkt auf einen unbeleuchteten Seitenweg.
Des Teufels Musikantin hatte sich aus der Geschichte verabschiedet, nun war sie einfach wieder Colette, mittellos, aber frei.
Ihre Spur verlor sich für die nächste Zeit im Nirgendwo.
Doch nicht nur Colette stand wieder einmal vor dem Nichts, Ronald folgte ihr schon nach kurzer Zeit auf diesem Weg.
Nachdem die große Säuberung einsetzte und sämtliche Führungskader auf ihre Zuverlässigkeit und ihre bedingungslose Treue geprüft wurden schlug auch dessen Stündchen.
Um dem Rauswurf zuvorzukommen, hatte es Ronald auf eine offene Konfrontation ankommen lassen. Während einer Sitzung des Zentralkomitees widersprach er Neidhardt offen und teilte ihm mit dass er in einer ganzen Reihe von Fragen gegenteiliger Meinung sei und den offiziellen Weg nicht mehr mittragen wollte.
Neidhardt nahm seinen Rücktritt dankend an, ersparte er sich dadurch doch eine ganze Reihe unangenehmer Fragen.
Seiner Stellung verlustig kehrte er eines Tages in sein Heim zurück und fand die Wohnung kalt.
Alexandra hatte ihre Drohung wahr gemacht und ihn samt den Kindern verlassen. Ein kleiner Zettel auf dem Stubentisch diente als letzter Gruss.
„Ich kann nicht mehr! Es hat keinen Zweck! Ich verlasse dich! Leb wohl!“ konnte er dort in großen Lettern lesen.
Einsam und verlassen sinnierte er darüber was nun geschehen sollte. Frau weg, Familie im Einer. Arbeitslos und ohne Aussichten auf eine Alternative war er natürlich auch nicht in der Lage das Haus zu halten. Was sollte er hier auch mutterseelenallein.
Aus seiner Aktentasche holte er einen zerknüllten Zettel mit einer Adresse. Im Norden des Landes hatte sich ein geheimer Zirkel von Oppositionellen gebildet, die eine Rebellion gegen Neidhardt und seinen Hofstaat planten. Schon vor Zeiten hatte er den Kontakt gesucht, wenn er auch lange hoffte davon keinen Gebrauch machen zu müssen. Dorthin würde er nun gehen um sich der Verschwörung an zu schließen. Was konnte er auch sonst tun? Wäre er imstande seinem verpfuschten Leben wenigstens anteilmäßig eine Art von Lebensinhalt geben?
Der Beamte war nun wieder Revolutionär.
Alexandra kehrte nicht in die Abtei zurück da sie der irrigen Meinung war, dort nicht mehr willkommen zu sein. Stattdessen zog sie mit samt den Zwillingen zu ihren Eltern in den Süden des Landes. Die stammten aus altem melancholanischem Adel, waren noch immer wohlhabend. Ihr Vater hatte es verstanden, rechtzeitig die Seiten zu wechseln und diente sich dem neuen Regime an. Diplomat war, Diplomat würde er auch unter den neuen Bedingungen bleiben. Neidhardt hatte Wort gehalten.
Wie nicht anders zu erwarten, kam Alexandra nicht klar mit dieser Welt.Das führte zu dem Umstand dass sie schon bald in einen tiefe Depression verfiel.