Die Väterin

 

Colette blickte aus dem Fenster der Eremo. Erwartungsvolle Stille senkte sich herab an diesem Morgen. Bald würde sich die Sonne über die Gipfel des Grauhaargebirges erheben, dessen eindrucksvolles Panorama sich vor ihr erhob. Der Wonnemonat Mai versprach seiner Bezeichnung alle Ehre zu machen. Frühling wie aus dem Bilderbuch. Ein Tag wie geschaffen für das vollkommen Neue das ihrer harrte. Colette befand sich am Kreuzweg aus Vergangenheit und Zukunft und weder das eine noch das andere erschien ihr wirklich.

Gestern Abend hatten sie Betül auf die Krankenstation im Untergeschoss des Konventsgebäudes gebracht. Die Wehen hatten früher eingesetzt als erwartet. Trotz der schlaflosen Nacht die hinter ihr lag fühlte sich Colette frisch und munter in froher Erwartung der Tatsache dass sie in Kürze ein Baby in ihren Armen wiegen würde. Das kleine Mädchen dass die Gefährtin in wenigen Stunden zur Welt bringen sollte war ihr Kind. Auch wenn ihr neun Monate zur Verfügung standen sich mit diesem unumstößlichen Umstand auseinander zu setzen, konnte sie es noch immer nicht recht glauben. Sie würde in ihrem Alter…. Ja, was würde sie denn?  Betül hatte neun Monate damit zugebracht das Kind in ihrem Leibe aus zu tragen mit allen Beschwerden die so etwas mit sich brachte und nun sollte sie das kleine Würmchen unter Schmerzen und großer Anstrengung gebären. Zweifelsohne war Betül die Mutter. Dieses Privileg stand nur ihr zu. Doch was war Colette? Der Vater? Nein! Niemals!

Unter keinen Umständen kam diese Bezeichnung für sie in Frage. Sie war kein Mann, zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens hatte sie sich als solcher gefühlt. Frau in vollem Sinne. Eine Frau hatte also eine andere Frau geschwängert? Gab es so etwas?  Das konnte doch nicht sein? Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht schon kurz nach Bekannt werden von Betüls Schwangerschaft. Das Unmögliche wurde Realität. Für die ausländische Boulevardpresse  die Story des Jahres. Das sorgte für viel Publicity. Akratasien rückte immer näher in den Focus der Berichterstattung. Die Schwestern und ihr Anhang avancierten zu Publikumslieblingen. Das verschaffte dem Land viel Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Da tauchte ein Begriff auf den sich Colette schließlich zu eigen machte.

Transgender und Nicht-Binären-Initiativen weltweit empfahlen Colette die Bezeichnung „Väterin“ zu führen. Schon nach kurzer Zeit entschloss sie sich dem Drängen nach zu kommen.

Colette war kein gewöhnlicher Mensch, eine Tatsache die jeden der sie betrachtete auf der Stelle ins Bewusstsein rückte. Sie war Frau und Mann in einer Person. Sie war beides zugleich und doch keines von beiden. Sinnliche Androgynität und mystisches Charisma. Die Fähigkeit Kinder zu zeugen hatte sie nie verloren, auch wenn es ihr außerordentlich schwer viel, ihre diesbezüglichen Organe in der entsprechenden Weise einzusetzen. In Betül fand sie ihre Erlöserin. Die attraktive junge Frau warf all ihre Fähigkeiten in die Waagschale um es Colette leicht zu machen. Deren Zärtlichkeit und Wärme, Einfühlungsvermögen und Geduld lösten die Blockaden, aktivierten Colettes Selbstheilungskräfte und ließen sie zu einer nie geahnten Blüte reifen. Die beiden liebten sich voller Leidenschaft und Sinnlichkeit und in einem jener Akte der Vereinigung kam es schließlich zur Empfängnis.

Nun erwartet sie jeden Augenblick die alles verändernde Nachricht und schritt voller Ungeduld in ihrer Eremo, in die sie sich zurückgezogen hatten, auf und ab.

Eigentlich wollte sie dabei sein. Sie gehörte an Betüls Seite, um ihrer Geliebten Kraft und Mut zu spenden. Doch Elena hatte ihr nahe gelegt der Geburt fernzubleiben, aufgrund ihres hochsensiblen Gemütszustandes. Ein Rat der nicht einer gewissen Logik entbehrte.

Für Colette bedeutete Mitleid im wahrsten Sinne des Wortes mit leiden. Das sollte auf jeden Fall vermieden werden.

  

Während die Kundra ungeduldig in der Eremo ausharrte, tagte im „Grauen Wunder“ wie man das Regierungsgebäude zu nennen pflegte, das Kabinett der Übergangsregierung.

In ihrer Funktion als Staatsoberhaupt der Akratasischen Föderation leitete Elena diese wie üblich.

Eine umfangreiche Tagesordnung beschäftigte auch heute die Anwesenden. Wie würde sich die Lage in Akratasien, das früher einmal Melancholanien hieß, entwickeln? Seit Elena die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, waren etwa 15 Monate vergangen und noch immer amtierte eine Übergangsregierung. Einigkeit bestand lediglich in dem Punkt eben jenes Übergangsstadium so bald als möglich durch dauerhafte Strukturen zu ersetzen. Doch wie man dorthin gelangen sollte, darüber gingen die Meinungen weit auseinander.

Um dem Land gefestigte Strukturen zu geben war Elenas Bewegung, die Akratische Allianz, ein Bündnis mit ihrem ehemaligen Erzfeind ,der Radikal-Revolutionären Partei eingegangen und es wurde eine Koalitionsregierung gebildet. Das bot wie nicht anders zu erwarten reichlich Zündstoff.

Erschwerend kam hinzu das beide Gruppierungen auch im Inneren tief gespalten waren.

Die Radikal-Revolutionäre befanden sich nach Neidhardts Abschied von der politischen Bühne in einem desolaten Zustand und drohte beständig auseinander zu brechen. Heftige Flügelkämpfe bestimmten das Tagesgeschehen. Die noch immer einflussreichen Dogmatiker in der Partei konnten ihre Niederlage nicht verwinden und forderten beständig eine Rückkehr zu den alten Strukturen der autoritären Staatsführung im Gegensatz zum Reformflügel der zu weit reichenden Kompromissen bereit war.

Doch auch in Elenas eigener Bewegung herrschte alles andere als Friede Freude Eierkuchen.

Die radikalen Anarchisten bildeten eine Opposition gegen Elena und ihren angeblich autoritären Führungsstil. Unter der Losung „Akratie jetzt!“ Forderten sie die sofortige Einführung der „Regulierten Anarchie“ in ganz Akratasien und ein Ende der Übergangsregierung. Viel zu lange dauerte ihrer Meinung nach die Übergangsphase. Wozu bedurfte es überhaupt einer zentralen Regierung und was sollte dieser Unsinn mit einer Königin an der Spitze, wie von Elena ständig ins Spiel gebracht? Colette wurde von allen gemocht und geschätzt, aber musste sie deshalb unbedingt den Titel einer Königin tragen?

Colette befand sich derzeit in einer Art Wartestellung. Sie hatte kein Amt im eigentlichen Sinne, galt mehr als eine Art spirituelles Oberhaupt, ein Umstand der ihr im Grunde entgegenkam, gedachte sie sich doch in Zukunft so weit als möglich  aus allem herauszuhalten.

Aus Elenas Bewegung gehörten Gabriela , Alexandra, Chantal, Inga, Ronald, Folko und Lars der Regierung an, ferner hatten sie noch  Linus, Cornelius langjährigen Mitstreiter mit ins Boot geholt.

Dagobert führte die Riege der Vertreter der Radikal-Revolutionäre an.

Kein einfaches regieren. Doch die Einsicht in die Notwendigkeit schweißte die beiden einst verfeindeten  Koalitionspartner zusammen, wollten sie doch beide unter allem Umständen vermeiden das der altmelancholanische Ständestaat wieder auferstand. Die neuen Freiheiten ließen alte und neue politische Bewegungen wie Pilze aus dem Boden schießen.

 

 

 Die Forderung nach freien, gleichen und allgemeinen Wahlen wurde immer lauter. Die alten vorrevolutionären Regierungsparteien, die Musterdemokraten und die Superdemokraten erschienen wie Phönix aus der Asche wieder auf der Bühne und verlangten eine Rückkehr zur alten vorrevolutionären Ständeordnung , einen Zustand den sie im allgemeinen als Demokratie zu bezeichnen pflegten. Eine Demokratie, die vor allem dafür Sorge zu tragen hatte, dass der alte Privokaste ihre angestammten Privilegien zukamen.

Und schließlich waren da die sich neu formierenden Rechtspopulisten, die, wo sie nur konnten eine gnadenlose Hetze gegen sie Regierung vom Zaun brachen und immer deutlicher Bevölkerungskreise zu begeistern verstanden. Gerade von denen ging einen besondere Gefahr aus.

All diese Umstände führten dazu dass sich die Regierungsvertreter am Ende immer wieder auf einen Kompromiss einigen konnten. Ließen sie die Regierung platzen, konnte das verheerende Folgen nach sich ziehen.

Doch es gab auch viele Hoffnungszeichen.

Einmal begannen die Menschen sich  in zunehmenden Maße selbst zu organisieren, bildeten Vereine, Initiativen, Genossenschaften, Kommunen und vieles andere mehr ,um den Boden für die „Regulierte Akratie“ zu schaffen.

Des weiteren ging es Akratasien ökonomisch verhältnismäßig gut. Seit Elenas Amtsübernahme waren sämtliche Sanktionen die sich gegen das Neidhardt-Regime richteten, aufgehoben. Eine Fülle von Investitionen, vor allem aus dem Ausland hatte zur Folge dass ein beachtlicher Wohlstand allen Bevölkerungsteilen zugute kam.

Das war entscheidend wichtig vor allem im Kampf gegen jedwede Form des Rechtspopulismus. Dort , wo sich Menschen selbständig organisierten und begannen ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und zwar unabhängig von jeder Art Hierarchie, blieben rechte Demagogen chancenlos.

Rechte Ideologien gedeihen dort wo sich Menschen aufgeben, resignieren, sich in Folge dessen abgehängt und ausgegrenzt fühlen.

Die Regierung sah dem zu Folge ihre vordringlichste Aufgabe darin, die Menschen in ihren Bestrebungen nach Autonomie und Selbstverwaltung zu bestärken und mit allem notwendigen auszustatten.

Allein vier Ministerien wurden ausschließlich dafür ins Leben gerufen um die nötigen Schritte in Richtung „Regulierte Akratie“ zu vorzubereiten

Dabei war es wichtig darauf hinzuweisen, dass jene Akratie nicht von oben herab diktiert werden durfte. Es sollten lediglich die Bedingungen geschaffen werden. Die Initiative musste von unten, von den Bewohnern selbst kommen.

Eine Regulierte Anarchie ist auch nicht durch Wahlen zu erreichen. Sie ist einfach vorhanden oder  nicht.

Der Vorschlag einer Volksabstimmung über die zukünftige Staatsform und seine Verfassung stand auch an diesem Vormittag wieder auf der Tagesordnung und Elena und ihr Anhang würden diesen auch dieses Mal erneut zurückweisen.

Zeit gewinnen, so viel wie nur irgend möglich, lautete die Devise.

Immer deutlicher bildeten sich zwei Alternativen. Freie Wahlen und die Rückkehr zur Demokratie und Ständeordnung, oder eben das evolutionäre hinüber wachsen in die Regulierte Akratie.

Elena hatte sich mit Haut und Haaren der letzteren Variante verschrieben.

„Ich denke, wir sollte es einfach darauf ankommen lassen und die Bevölkerung entscheiden lassen. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich kein Freund von Volksabstimmungen bin. Aber in diesem Fall sollten wir es tun. Dann wird sich zeigen was das Volk tatsächlich will.“ Schlug Dagobert vor. Der frühere Chefideologe und derzeitige Vorsitzende der RRP fungierte auch als Elenas Stellvertreter. Dabei ließ der ehemalige Hardliner erstaunlich viel Kompromissbereitschaft erkennen.

„Volksabstimmung! Hört sich zunächst gut an. In Wirklichkeit ist das eine sehr oberflächliche Sache. Eine Entscheidung aus dem Bauch heraus und nicht aus dem Hirn.“ ließ Elena deutlich ihre Ablehnung erkennen.

„Wie oft haben sich solche Entscheidungen in der Geschichte in Nachhinein als fataler Irrtum erwiesen. Ich bleibe weiterhin bei einem Nein! Ich sehe meine Aufgabe weiter darin dafür zu sorgen dass sich die Regulierte Akratie verfestigen kann. Ich möchte unter allen Umständen die Rückkehr zur Demokratie vermeiden.“

Ein Raunen erfüllte das Sitzungszimmer.

„Bedenke was du sagst Elena! Wir verstehen dich! Wir kennen deine Beweggründe und wir stehen zu dir! Aber was ist mit jenen, die nicht verstehen? Die nicht imstande, sind tiefer zu blicken?

Sie werden dich eine Demokratiefeindin nennen. Wenn es sich im Moment auch nur um eine kleine Minderheit handelt. Aber sie sind schon hörbar, die Stimmen die in dir eine neue Autokratin sehen.“ warnte Gabriela  

„Ich kenne diese Stimmen nur zu gut. Uns ist doch bewusst aus welcher Richtung die kommen. Den Rechtspopulisten ist jedes Mittel recht unsere Regierung zu diffamieren.“ Glaubte Elena zu wissen.

„Aber es sind nicht nur die Rechtspopulisten. Auch aus anderen Richtungen kann man solche Anklagen vernehmen.“ Gab Dagobert zu bedenken.

„Wir haben diese Frage nun schon des Öfteren diskutiert und mir will es nach wie vor nicht in den Kopf, was denn nun so negativ an der Demokratie sein soll, dass wir nicht zu ihr zurückkehren können. Zumindest vorläufig. Zu einem späteren Zeitpunkt können wir immer noch die regulierte Akratie installieren.“ Meldete sich nun Alexandra zu Wort.

„Könnt oder wollt ihr nicht verstehen? Man kann die Akratie nicht einfach installieren, so von oben herab, ebenso wenig ist sie wählbar. Sie kann nur in einem evolutionären Prozess langsam reifen und sich immer mehr an Terrain erobern. Rückkehr zur Demokratie hieße auch Rückkehr zur alten Ständeordnung und den damit verbundenen Besitzverhältnissen.

Glaubt ihr denn dass die Privo, sollten sie erst wieder fest im Sattel sitzen, ihre alten Privilegien so mir nix dir nix zurückgeben?“ Stellte Elena in den Raum.

„Mit Sicherheit nicht!“ Pflichtet ihr Dagobert bei.

„Eben! Schön dass wir einer Meinung sind Dagobert. Ich werde das zu verhindern wissen. Und ich gehe davon aus dass mich die meisten von euch verstehen werden.“

Elenas Wille schien ungebrochen, sie glaubte es all jenen schuldig zu sein, die für den Kampf für eine bessere Welt ihr Leben gelassen hatten, insbesondere Leander und Kovacs.

Die Tür öffnete sich und eine von Elenas neuen Sekretärinnen kam auf sie zu, beugte sich zu ihr hinunter und tuschelte kurz mit ihr.

Ein willkommener Anlass sich erst einmal aus dieser Runde zu verabschieden.

„Ihr werdet heute ausnahmsweise ohne mich auskommen müssen. Es gibt noch andere wichtige Dinge im Leben. Eine Geburt zum Beispiel.  Ein neues Leben in einer sich dramatisch veränderten Welt erwartet mich. Dagobert, kannst du bitte die Sitzung für mich leiten?“

Der Angesprochene signalisierte nickend seine Zustimmung.

Elena erhob sich und verließ scharfen Schrittes den Konferenzraum. Durch den lange Flur ging es zunächst in ihr Büro. Sie ließ sich kurz an ihrem Schreibtisch nieder, goss sich ein Glas Mineralwasser ein und schluckte den Inhalt hastig hinunter. Dann versuchte sie einen Moment zur Ruhe zu kommen in dem sie mehrmals tief durchatmete

Gleich würde sie für kurze Zeit wieder in ihren Beruf als Ärztin zurückkehren, indem sie sich als Hebamme betätigte. Sie hatte es Colette versprochen und sie gedachte ihr Versprechen zu halten. Die knochentrockene Politik konnte warten. Sie würde die kleine Prinzessin von Akratasien ins Leben geleiten. Eine schöne Aufgabe dachte sie sich. Wie gut das die Kleine noch nicht mitbekam in welch komplizierte Welt sie hineingeboren würde. Aber endlich wieder etwas Positives dass es zu feiern galt.

Zwei schwere Schicksalsschläge hatte Elena nur wenige Monate nach ihrer Amtsübernahme als Vorläufiges Staatsoberhaupt Akratasiens, so ihr derzeitiger Titel, verkraften müssen.

Zuerst war Cornelius gestorben. Es ging sehr schnell und obgleich es alle erwarteten, traf der Tod des Mannes der wie ein Vater zu ihr stand Elena hart. Mit einem eigens dafür anberaumten Staatsakt wurde der alte Professor zu Grabe getragen. Auch er fand seine letzte Ruhe auf dem Abteifriedhof, an der Seite der alten Gefährten und Gefährtinnen.

Doch damit nicht genug. Nur wenig später verschwand Neidhardt. Ein Brief, in dem er Elena seine Beweggründe darlegte, war das letzte Lebenszeichen. Und als Elena diesen in ihren Händen hielt wurde sie sich erst so richtig der Tatsache bewusst wie sehr sie ihn geliebt hatte. Doch nur wenig an gemeinsamer Zeit war ihnen vergönnt. „Bitte verstehe mich! Ich liebe dich! Aber ich kann nicht an deiner Seite leben, nicht einmal in deiner Nähe. Mit Melancholanien bin auch ich gestorben. In Akratasien ist kein Platz für einen Ex-Diktator. Nur in der Einsamkeit werde ich meinen Frieden finden.“ So lauteten unter anderen seine Abschiedsworte.

Elena konnte es nicht fassen und war tagelang krank vor Kummer. Sie weinte bittere Tränen um zwei alte Männer. Der eine wirklich tot, der andere aus den Augen aus dem Sinn. Elena kannte Neidhardt viel zu gut. Der würde nie wiederkehren. Der alte Sturkopf pflegte noch immer penibel genau sein Image als kompromissloser Hardliner.

Würde das kleine Mädchen das im Moment noch im Mutterleib seiner Geburt harrte, diesen Verlust wett machen?   

Elena hoffte es inständig, eine Garantie gab es freilich nicht.

Schwungvoll erhob sie sich und eilte zur Tür, begab sich schnurstracks auf das Dach der Regierungszentrale, dort wo der Hubschrauber auf das Startsignal wartete.

 

Unterdessen hielt es Colette in ihrer Eremo nicht mehr aus. Kurz entschlossen griff sie nach ihrem Rucksack, den sie immer bei sich zu tragen pflegte, schloss die Tür hinter sich und begab sich auf den Weg in Richtung Konventsgebäude.

Hektik erfasste sie, ihr ganzer Körper schien zu beben. Extreme Nervosität bemächtigte sich ihrer, mehrmals drohte sie auf dem Weg zu stürzen. Der Weg von der Eremo bis hinunter zum Konventsgebäude am anderen Ende war weit, dafür würde sie mindestens eine halbe Stunde benötigen. Schaffte sie es noch rechtzeitig um bei der Geburt zugegen sein?

Leise vor sich hin fluchend beschleunigte sie beständig ihr Tempo.

Am Horizont stieg ein Helikopter auf und näherte sich der Abtei, drehte kurz eine Runde über der

Landebahn östlich des Konventsgebäudes und setze schließlich zur Landung an.

Akratasiens Königin nahm diesen Umstand mit Erleichterung zur Kenntnis. Elena hielt ihr Versprechen bei der Geburt zu helfen. Ein beruhigendes Gefühl. Nun war Betül in sicheren Händen.

Colette schien nicht von der Stelle zu kommen, obwohl sie ihren Schritt ständig steigerte. Schon meldeten sich Seitenstechen und die Atemluft wurde knapp. Jetzt nur nicht schlapp machen. Das fehlte gerade noch.

Als sie das Konventsgebäude endlich erreicht hatte ,fluchte sie wieder über sich und ihre offensichtliche Dummheit. Warum nur hatte sie sich nicht fahren lassen? Ein Anruf bei Lukas und er wäre mit dem Elektromobil bei ihr vor gefahren. Die Vergesslichkeit nahm in der letzten Zeit immer groteskere Züge an, immer dann wenn sie in Panik geriet oder sonstiger Stress drohte.

Als sie die Pforte hinter sich gelassen hatte und sich der Kreuzgang vor ihr auftat wurde ihr kurzzeitig schwarz vor Augen und sie begann zu taumeln. Erschöpft lehnte sie sich an eine Säule und wischte sich mit dem Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn. Völlig außer Atem bekam sie einen heftigen Hustenschauer.

„Wie töricht und unvorsichtig von mir!“ schalt sie sich leise selbst. Nicht einmal den Nordic Walking –Stab hatte sie dabei ohne den sie üblicher Weise nie zu einer Wanderung aufbrach.

Wenigstens ihr Atemspray hatte sie griffbereit, hielt sich die Plastikdüse in den Mund und verabreichte sich einen starken Schub. Nun wurde es besser. Noch einen Schluck Apfelschorle um ihre trockene Kehle zu befeuchten, denn schritte sie den Gang entlang bis sie sich vor dem Bereich der Krankenstation wieder fand. 

Doch schon wieder verließ sie der Mut. Langsam, gleichsam wie in Zeitlupe nahm sie auf einem Sessel Platz. Hinter der Tür vernahm sie heftiges Stimmengewirr. Dort befanden sich Betül und ihre Helferinnen.

Sollte sie eintreten? Würde sie dort drinnen mehr behindern, denn eine Hilfe sein?

Den Türknauf bereits in der Hand ließ sie wieder los, verschränkte die Hände in den Achseln und ging wie ein Tiger im Käfig auf und ab.

Jetzt drang Elenas Stimme nach draußen.

„Und, pressen, pressen, pressen! Ja immer weiter nicht nachlassen! Ja. so ist es richtig! Gleich hast du es überstanden, Betül“

Die Tür öffnete sich und Madleen erschien auf dem Flur:

„Colette? Ich dachte mir dass ich dich hier finde.“ Hastig stürmte sie auf die Schwester zu und lies sich neben ihr auf der Sessellehne nieder, schmiegte sich eng an sie.

„Ich wollte dabei sein, Madleen, aber ich schaffe es nicht. Es ist als ob mich eine riesengroße Hand am Eintreten hindert. Aber ich müsste dort sein. Bei Betül. Wie konnte ich mich nur darauf einlassen?“

„Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Elena kennt ihr Geschäft. Und Betül ist eine gesunde, kräftige junge Frau. Es ist nicht schlimm wenn du nicht direkt bei der Geburt zugegen bist. Die meisten Männer tun das nicht wenn ihr Kinderen das Licht der Welt erblicken…“ Kaum hatte Madleen ausgesprochen rutschte ihr das Herz beinahe in die Kniekehle. Wie konnte sie nur so einen dummen Spruch über ihre Lippen bringen.

Vorwurfsvoll blickte Colette zu ihrer Freundin.

„Du siehst einen Mann in mir? Warum? Warum tust du mir das an Madleen? Wie kannst du so etwas sagen? Ich bin Colette und sonst gar nichts. Aber….aber was bin ich denn wirklich?

Etwas Abnormes. Eine Laune der Natur.“

„Colette, liebste Colette bitte verzeih mir! Ich bin eine blöde Kuh. Ja, das bin ich. Es.. es ist mir einfach so rausgerutscht. Ich… ich könnte mich ohrfeigen Wie konnte mir das nur passieren. Es ist einfach nur so ungewöhnlich, weißt du? Eine Frau ist gerade dabei ein Kind zu gebären, das sie von einer anderen Frau empfangen hat. Das ist….das ist, einfach nur phantastisch…“

Stammelte Madleen eine Entschuldigung.

„Schon gut! Schon gut! Ist in der Tat ungewöhnlich. Ich glaub es ja selbst noch immer nicht. Ich weiß nicht was ich tun soll, ich möchte, ich muss einfach, ja jetzt werde ich zu ihr gehen…“

Colette erhob sich und schritt erneut auf die Türe zu. Doch bevor sie die Türklinke betätigen konnte drang ein lauter Schrei aus dem Zimmer. Betüls Stimme. Entsetzt hielt sie sich beide Ohren zu, dann taumelte sie langsam rückwärts auf den Sessel zu.

Geistesgegenwärtig schoss Madleen in die Höhe um sie von hinten aufzufangen, dann schloss sie Colette in ihre Arme und begann durch ihr hellgraues Haar zu streichen.

Stille, beängstigende Stille. Colette ballte die Fäuste. Ihr Herz raste und der Puls hämmerte.

Da plötzlich das zarte Wimmern einer Säuglingsstimme.

„Hörst du das? Es ist geschafft! Du hast ein Kind! Ich freue mich so für dich!“ Flüsterte Madleen leise in das Ohr der großen Schwester.

Eine ganze Weile verharrten beide wie in Stiller Andacht. Dann endlich wurde die Tür geöffnet. Elena erschien und hielt ein kleines Bündel in den Armen.

Ihr markantes strahlendes Lächeln überzog ihr hübsches Gesicht als sie sich Colette langsam näherte. Dann hielt sie der Königin  Akratasiens  neugeborene Prinzessin entgegen.

Colette bebte am ganzen Körper als sie ihrer ansichtig wurde. Die Hände begannen zu zittern.

„W…w…w…wie, wie, wie ggggeht es Be…Be…Betül. Was….was ist mit ihr?“ Stotterte sie nur noch unbeholfen.

„Sei ohne Sorge meine Königin! Mutter und Kind sind wohlauf. Betül ist natürlich geschwächt und vor allem müde. Aber du kannst sie in wenigen Augenblicken sehen. Zuerst aber wartet jemand anders darauf dich kennen zu lernen Darf ich vorstellen, deine Tochter.“

Elena bettete das kleine Bündel sanft in Colettes Schoß. Alle Umstehenden, neben Elena und Madleen waren außerdem noch Kristin, Sonja und Eve anwesend, letztere befand sich noch in der Ausbildung zur Krankenschwester, rührte die sich nun anschließende Szene zu Tränen.

Unbeholfen blickte die frisch gebackene Väterin zunächst um sich, so als erwarte sie von den anderen irgendeinen Rat. Schließlich berührte sie das winzige Köpfchen das aus dem Bündel ragte.

„Hat euch die Mutter schon gesagt wie wir sie nennen wollen?“ erkundigte sie sich..

„Nein! Sie wollte das wir alle es von dir erfahren!“ verneinte Elena.

„Aischa! Wir möchten sie Aischa nennen. Betül ist gläubige Muslima und in ihrer Religion ist das ein heiliger Name.*

Willkommen im Leben meine Tochter! Ich weiß gar nicht was ich dir sagen soll. Es hat mir schlicht die Sprache verschlagen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet das es dich überhaupt jemals geben würde. Du bist das größte Geschenk meines Lebens, neben deiner Mutter natürlich. Ich wünsche dir ihre Schönheit, ihre Sinnlichkeit und Sanftmut. Werde so wie sie und beschenke die Welt mit deiner Existenz. Ich wünsche dir dass dein Körper und deine Seele eine Einheit bilden, das Frieden zwischen ihnen herrscht und sie einander mit Liebe und Respekt begegnen.“

Colettes Augen füllten sich mit Tränen.

Aischa gluckste zufrieden vor sich hin und es hatte den Anschein dass sich schon jetzt eine Art von Lächeln um ihren Mund bildete.

Colette befreite ihre Tochter ein wenig aus dem Bündel, so dass die kleinen Arme zum Vorschein kamen.

Da plötzlich geschah das Wunder. Die winzigen Fingerchen griffen nach Colettes Zeigefinger und drückten diesen einen kurzen Moment ganz fest.

Der Kontakt war hergestellt. Zwei hatten sich gefunden, ein festes Band das niemand mehr zu trennen vermochte, für alle Zeit. Colette und ihre Tochter, ein unverbrüchlicher Bund fürs Leben.

In diesem Moment viel aller Schmerz, aller Druck, all das unendliche Leid wie zerbrochenes Eis von Colettes Seele und sie wusste das sie nicht umsonst gelebt hatte. Die endgültige Entschädigung für ein Leben das nicht das ihre war. Betül und Aicha würden zu ihrem Jungbrunnen aus dem sie täglich schöpfen konnte.

„Es ist eine unruhige Welt in die du geboren wurdest, kleine Maus.“ Fuhr sie fort.

„Doch Anarchonopolis kann dir Schutz und Sicherheit bieten und eine Gemeinschaft die immer für dich da ist, die sich trägt in ihrem sanften Schoß. Ich wünsche dir dass du ein Teil dieser Gemeinschaft wirst und dich hier stets angenommen und geborgen fühlen kannst.“ Der Schwall an positiver Energie, der Colette in diesem Augenblick durchdrang schien nicht enden zu wollen.

Das kleine Lebewesen dass sie im Arm hielt war tatsächlich ein Teil von ihr.

Ganz langsam, mit Bedacht erhob sie sich und schritt auf die Türe zu aus der Elena soeben die Kleine gebracht hatte. Colette öffnete diese und trat ein. Sie fand Betül leicht vor sich hin dösend im Bett vor.

Ganz ruhig ließ sie ich auf der Bettkante nieder. Die frisch gebackene Mutter öffnete die Augen und empfing ihre Gefährtin mit einem bezaubernden Lächeln.

„Wie ich sehe habt ihr euch schon bekannt gemacht. Gefällt sie dir?“ Sprach Betül mit leiser noch von der Anstrengung gezeichneter Stimme.

„Das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Ich bin noch immer ganz außer mir vor Freude über dieses neue Leben. Aber wie geht es dir?  Alles gut überstanden? Hast du Schmerzen?“ Sorgenfalten bildeten sich auf Colettes Stirn.

„Mir geht es gut! Mach dir um meinetwegen keine Gedanken. Ich bin nur etwas müde und erschöpft. Nach so einer Tortur kein Wunder. Ich muss mich ausruhen, ein bis zwei tagelang.

Dann werden wir wieder zusammen sein. Dann beginnt ein neues Leben für uns.“

Colette wollte noch etwas erwidern, doch ihr versagte erneut die Stimme. Nur mit Mühe gelang es ihr den Schwall an Tränen zurückzuhalten der darauf wartete sich zu entladen.

„Ja, ruh dich aus! Damit du wieder zu Kräften kommst. Ich warte voller Sehnsucht auf deine…auf eure Heimkehr.“

Colette bettete die Tochter zurück an Betüls Seite, danach verabreichte sie beiden ein Kuss und entfernte sich langsam aus dem Zimmer.

Sie schloss die Tür, hielt sich beide Handflächen vor den Mund und begann tief durchzuatmen.

Elena tat einen Schritt auf sie zu.

„Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“

„Jaja, alles gut! Ich muss nur eine Flutwelle von Gefühlen ordnen, die sich gerade über meine Seele ergießt. Tausende von Eindrücken kommen und gehen in Sekundenschnelle. Ich kann sie alle gar nicht so schnell verarbeiten.“

Elena hakt sie bei ihr unter und geleitete Colette zu dem Sofa an der Wand gegenüber.

Dort nahmen sie gemeinsam Platz.

„Hast du überhaupt Zeit, dich um alles zu kümmern? Solltest du nicht auf der Kabinettssitzung sein?“ Erkundigte sich die Königin.

„Die kann warten. Ihr seid mir wichtiger. Für euch habe ich immer Zeit. Wir können uns einander nichts vormachen. Ich sehe die Sorgen die sich in deine Freude mischen. Was bedrückt dich? Wovor hast du Angst?“

„Es ist alles so ungewohnt für mich, so vollkommen neu und unerwartet!“ Begann Colette.

„Selbstverständlich freue ich mich, so wie kaum vorher in meinem Leben. Aber die Ängste sind da, die lassen sich nicht mit ein paar positiven Gefühlen vertreiben. Ich und ein eigenes Kind? Passt das zusammen?  Ich bin Anfang 50, eine Kundra und gesundheitlich angeschlagen. Ich bin Sensitiv und doch eigentlich für ein ganz anderesLeben bestimmt. Es zieht mich in die Stille und in die Einsamkeit. Ich bin doch die geborene Eremitin. Und nun soll ich mich um ein neugeborenes Kind kümmern? Ich fürchte zu versagen, Elena: Wenn die Zeit der Euphorie vorüber und der Alltag zurückgekehrt, werde ich kärglich versagen.“

Mit sichtlicher Betroffenheit vernahm Elena das Geständnis der Schwester. Was konnte sie erwidern, denn die Befürchtungen waren durchaus berechtigt.

„Ich verstehe deine Bedenken durchaus. Aber ich kann dir versichern, sie werden sich nicht bestätigen. Unter üblichen Bedingungen womöglich. Aber wir befinden uns in Anarchonopolis. Hier ticken die Uhren etwas anders, wie du sicher weißt.“

„Ja, aber die Aufgabe in der Familie, ich fühle mich ihr nicht gewachsen. Ich kann mir gar nicht vorstellen wie das ablaufen soll, so tagtäglich. Kann ich meiner jungen Frau eine Hilfe sein oder werde ich ihr die ganze Arbeit allein aufbürden?“ Sorgte sich Colette weiter.

„Wir sind eine Schwesternschaft, eine Gemeinschaft, eine Großfamilie. Ihr werdet nie alleine sein .Helfer stehen mehr als genug bereit. Angefangen bei Kristin, die es  gar nicht erwarten kann sich um ein weiteres Kind zu kümmern. Eve wird dir mit Sicherheit zur Hand gehen, sie hat es mir versichert, gestern erst. Na und vor allem Kim, die liegt mir ständig in den Ohren und erkundigt sich ob sie etwas für dich tun kann. Und da gibt noch viele andere mehr die euch mit Freuden zur Seite stehen werden. Von allen wird Betül Unterstützung erfahren, sie ist nicht allein. Alle haben Verständnis wenn du dich zurückziehen willst oder musst. Es ist dein Privileg als Königin und Visionärin.  Niemand aus der Gemeinschaft wird daran Anstoß nehmen.

Elenas Worte entfalteten eine beruhigende Wirkung. Doch konnte sie die Bedenken nicht ganz zerstreuen.

„Es gibt so vieles zu beachten. Was ist wenn die Kleine des Nachts anfängt zu weinen und ich nicht mehr in den Schlaf finde. Du weißt doch wie geräuschempfindlich ich bin. Ich möchte es richtig machen, aber ich habe Angst im entscheidenden Moment zu versagen…“

Elena zog Colette zu sich und wog sie in ihren Armen.

„Nicht so viel unnötige Gedanken. Ihr steht am Anfang. Kommt Zeit kommt Rat. Betül bleibt noch etwa zwei Nächte auf der Krankenstation. Wenn du magst kannst du bei ihr schlafen. Wir stellen dir ein Bett in das Zimmer. Danach kehrt ihr in eure neue Wohnung zurück. Madleen und ich wohnen gegenüber. Langsam ganz langsam werdet ihr euch an die neue Situation gewöhnen. Zum Glück haben wir jetzt Frühling und du kannst dich in die Eremo zurückziehen wann immer dir danach ist. Wir alle unterstützen Betül. Am Anfang würde ich Aischa noch nicht in die Eremo mitnehmen. Wartet bis sie ein paar Wochen älter ist.“

Versuchte Elena weiter zu beschwichtigen.

Colette löste sich aus der Umarmung und blickte die Jüngere an.

„Die Kleine in der Eremo? Welch ein Gedanke? Geschaffen für streng zölibatär lebende Mönche ,erleben sie ein so junges unverbrauchtes Leben in ihren Mauern? Passt das überhaupt zusammen?“

„Wir leben in Akratasien! Ich denke hier passt alles. Das ist unser Leben. Das ist unser Auftrag. Und sollte einmal etwas nicht passen, wird es eben passend gemacht. Aischa in der Eremo? Ein guter Anfang!"

„Ach wäre doch alles nur so leicht wie wir es uns vorstellen. Neun Monate hatte ich Zeit mich auf die neue Situation einzustellen. Ich habe diese Zeit nicht genutzt. Statt mich damit auseinanderzusetzen um mich darauf einzustellen, tat ich was ich immer tue, flüchten. In meine Traumwelt, meine Scheinrealität und diese ist vor allem in der Eremo lebendig.“

„Eine Traumwelt ja, aber keine Scheinrealität. Du bist Colette von Akratasien, ein Mensch der es zu einer Berühmtheit gebracht hat. Dir ist ein einmaliges Geschenk zuteil geworden. Du darfst deinen Traum leben. Wer kann das schon von sich behaupten. Damit bist du uns allen ein Stück voraus. Aber du lebst den Traum nicht nur für dich allein. Wir alle haben Teil daran. Du bereitest uns den Weg in dieses weitgehend noch unbekannte Land. Du bist Akratasien. Auch Betül wusste dass, deshalb entschied sie sich damals hier zu bleiben um dir zu dienen. Denn wenn sie dir dienst und dein Wohlbefinden fördert, dient sie der ganzen Gemeinschaft, wenn nicht gar der ganzen Welt.“

Antwortete Elena ganz pathetisch.

„Ich bin Akratasien? Warum ich? Du bist es auch. Womöglich noch viel mehr als ich. Und letztendlich sind wir alle Akratasien. Warum hebst du mich hervor? Die regulierte Anarchie die wir anstreben bedarf keiner Ämter und Funktionen!“ Entgegnete Colette.

„Du verkörperst Akratasien! Der Weg dorthin ist weit und wir befinden uns in einer langen Übergangsphase. Wir haben dich damals zu unserer Königin gemacht und die bist du noch immer. Ich werde dafür sorgen dass du diesen Titel schon bald wieder ganz offiziell tragen kannst. Das ist mein Geschenk anlässlich der Geburt deiner Tochter.“

„Dann wäre also Aischa, Prinzessin von Akratasien?“ Stellte Colette verblüfft fest.

„In gewisser Hinsicht ja. Aber wir wissen welche Bedeutung dein Königtum für uns hat.“

 

Die folgenden Tag und Wochen zerstreuten Colettes Befürchtungen, zumindest im Augenblick erfreute sie sich ihrer neuen Rolle als Väterin und das zur Freude aller Bewohner von Anarchonopolis.

Der Frühling war in der Zwischenzeit in einen Frühsommer übergegangen und der verwöhnte mit angenehm warmen und trockenen Wetter.

Jeden Tag konnte man Akratasiens Königen dabei beobachten wie sie voller Stolz den Kinderwagen über das Gelände schon, dabei fast immer von einer Traube von Menschen umgeben die ihr Glücksgefühl teilte.

So auch eines Morgens als Alexandra in Begleitung ihrer Kinder, die sich inzwischen auf eigenen Beinen bewegten und Kyra ihren Weg kreuzten.

„Guten Morgen Colette, meine Königin! Gut das ich dir begegne. Darf ich meinen Kindern deinen kleinen Sonnenschein zeigen? Sie kennen sie noch nicht und sind ganz gespannt darauf?“

Alexandra blickt in den Wagen und strich zart mit dem Zeigefinger über Aischas Wangen.

„Gutschigutschigutschigutschigutschi! Ach ist sie nicht süß?  Eine wunderbare Tochter hast du Colette.“

Dann winkte sie ihre Töchter Silke und Jacqueline heran.

„Seht ihr? Das ist euer neues Schwesterchen!“

„Schwesterchen?“ wunderte sich Silke.

„Ja! Aischa ist euer kleines Schwesterchen! So wie alle Kinder hier in Anarchonopolis. So wie Kyra, Tante Colette, Tante Elena, Tante Madleen und viele andere mehr meine Schwestern sind, ist Aischa eure Schwester!“

Die beiden schienen schnell zu begreifen was ihnen die Mutter damit sagen wollte.

Hier waren alle Geschwister. Akratasiens junge Generation würde mit dieser Tatsache wie selbstverständlich aufwachsen und bedeuten weniger Schwierigkeiten haben als die „Alten“.

Den Kinderwagen, ein Geschenk der Regierung, benutzte vor allem Colette. Betül zog die traditionelle Beförderungsmethode vor und verwendete ein Tragetuch dass sie sich um den Bauch wickelt und die Tochter darin verstaute so dass nur noch das Köpfchen hervorlugte.

Auf diese Weise war es auch möglich die kleine Prinzessin überall mit hinzunehmen.

Von Anfang an war Aischa Teil der Schwesternschaft in die sie langsam ganz langsam hineinwuchs. Es war selbstverständlich dass Betül ihrer Tochter auch in der Öffentlichkeit die Brust gab wenn sie danach verlangte oder frische Windeln anlegte wenn es erforderlich war All die natürlichen Dinge dieser Welt, in Akratasien Teil eines großen Ganzen.

 

Lange jedoch währte Colettes euphorische Phase nicht. Gewissensbisse trieben sie immer deutlicher vor sich her und die bange Frage nach dem was wohl noch werden könnte.

Zwei Seelen schlugen in ihrer Brust. Da war einmal die Eremitin, die sich nach einem kontemplativen Leben in Stille, Versenkung und Abgeschiedenheit sehnte. Zurückgezogen von einer Welt die schon lange nicht mehr die Ihre war, wollte sie die Zeit die ihr noch blieb in der Eremo verbringen. Sie gedachte diese damit auszufüllen in dem sie noch so viel wie möglich schrieb, zudem einen Unmenge las, meditierte, die Natur genoss und sich mit anderen eremitisch Veranlagten austauschte, von denen einige sehr interessante Leute bereits den Wunsch geäußert hatte sich auf dem Boden der Abtei niederzulassen.

Möglichkeiten also von denen sie in früheren schlimmen Zeiten nicht einmal zu träumen gewagt hätte.

Doch jetzt gab es eine eigene kleine Familie. Eine Tochter die einen Anspruch darauf hatte auch von ihr umsorgt und getragen zu werden. Auch dieses Leben reizte Colette durchaus. Das absolut Neue, Unbekannte. Das eingebunden sein in eine Familienstruktur und die Liebe und Zärtlichkeit ihrer jungen hübschen Gefährtin. Und sie durfte Zeuge sein, wie sich Aischa in ferner Zukunft selbst zu einer wunderschönen Frau entwickelte.

Was aber, wenn sie das eben nicht mehr erleben durfte? Sie hatte die 50 überschritten und Aischa war ein kleiner Säugling. Wenn die einmal 20 war, dann…. oh nein, nur nicht daran denken. Dann wäre Colette nur noch eine verschrumpelte Tattergreisin, wenn sie überhaupt noch am Leben war.

An einem lauen Juliabend fand Betül sie am Boden zerstört und zusammengekauert vor ihrer Eremo sitzend. Wie aus dem Nichts hatte die Depression erbarmungslos von ihr Besitz ergriffen.

„Colette, mein Liebling, meine Königin, was ist mit dir?“

Schnell band sie Aischa aus dem Tragetuch und platzierte die Tochter auf einem dicken Kissen direkt neben sich. Dann schloss sie Colette in die Arme und drückte sie ganz fest.

Sanft fuhr ihre Handfläche durch das grauweiße Haar der Gefährtin, die Wangen hinab.

Schweigen, heilsames Schweigen, für den ersten Moment bedurfte es keiner Worte. Betül kannte sich in der Zwischenzeit gut aus. In diesem Zustand durfte sie Colette nicht mit Fragen bedrängen. Wollte ihr die nötige Zeit einräumen selbst den ersten Schritt zu tun.

Colette richtete ihren Blick auf die friedlich schlummernde Tochter.

„Ich… ich möchte so gerne sehen wie sie heranreift und erwachsen wird. Wie sie sich entwickelt und zur Frau wird mit allem was dazu gehört. All die Dingen die mir in meinem eigenen Leben nie vergönnt waren.“

„Aber das wirst du doch, meine Meisterin. Was macht dich so traurig?“

„Wenn unsere Tochter sich zu einer sinnlichen Schönheit entwickelt hat, werden meine Gebeine längst auf dem Klosterfriedhof vermodert sein.“

„Warum denn? Du wirst es erleben und dich daran erfreuen. Dir ist ein langes Leben geschenkt, ich sehe es deutlich vor mir. Und weißt du warum? Weil wir beide, Aischa und ich, dich mit unsere Liebe stark und gesund erhalten. Wir werden für sich da sein in jedem Augenblick deines Lebens.“

„Wenn ich dich nicht hätte. Du hast mir Kraft gegeben seit du an meiner Seite lebst. Alles was ich bin, bin ich allein durch dich.“ Bekannte Colette ohne Umschweife.

„Und durch dich selbst, meine Königin! Du bist Colette von Akratasien. Die Welt kennt dich und begegnet dir mit Achtung und Interesse. Und was mich betrifft. Ich könnte mir kein besseres Leben vorstellen. Alles was ich mir immer gewünscht habe erfüllt sich hier in Anarchonopolis. Mir dir.“

Betül küsste Colettes Stirn, dann umarmte sie die Geliebte noch fester.

„Und du bist wirklich glücklich? Keine Sehnsucht nach der großen weiten Welt mit ihren zahlreichen Möglichkeiten. Kein Verlangen nach dem Märchenprinzen?“ Colettes düstere Befürchtung ließ auch jetzt nicht von ihr ab.

Betül löste die Umarmung um der Gefährtin tief in die Augen zu blicken.

„Was juckt mich ein Prinz, wenn ich eine Königin an meiner Seite habe? Immer noch die alten Ängste und Dämonen? Die werden wohl niemals Ruhe geben, fürchte ich. Aber ich kann es dir nur einmal mehr versichern. Der Tag an dem ich dich, pardon euch verlasse, eines anderen wegen, soll der letzte meines Lebens sein.“

Betüls entschlossene Direktheit beeindruckte und entsetzte Colette immer wieder aufs Neue.

„Diese Ängste bringen mich noch um den Verstand. Ich weiß nicht was ich dagegen tun könnte. Das ist der Grund warum ich dieses Leben immer fürchtete. Ich hatte es überwunden, damals zu jener Zeit da ich mich in die Eremo zurückzog. Ich wurde zur Eremitin und war glücklich über diesen Zustand. Losgelöst und heraus genommen aus allen Anfechtungen. Dabei hätte ich bleiben sollen. Nun straft mich das Leben mit dieser lähmenden Angst, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Augenblick für Augenblick.“

„Als ich damals zu dir kam, im tiefen Winter, alles war verschneit und der Boden hart gefroren. Du erinnerst dich? Mir ist als ob es gestern wäre. Als ich dich antraf sahst du alles andere als glücklich aus. Du warst einsam und traurig. Ich sah in dein Herz und entdeckte wonach du dich am meisten sehntest. In diesem Augenblick blickte ich tiefer und erkannte meinen Auftrag. Dir zu dienen, dich zu lieben und an deiner Seite stehen. Damit du gesunden und Kräften sammeln konntest. Kräfte deren du dringend bedurftest um deine Aufgaben zu meistern. Und derer gab es viele. Die Welt braucht Menschen von deinem Schlag. Es gibt ihrer viel zu wenig.“ Versuchte Betül die Schwester und Vertraute wieder aufzurichten.

„Ich weiß es zu schätzen, jeden Tag immer wieder aufs Neue. Solange du an meiner Seite stehst, bin ich nicht verloren. Aber jetzt ist Aischa bei uns und deine vorrangige Aufgabe besteht darin dich ihrer anzunehmen. Ich sollte dich dabei unterstützen, stattdessen bin ich dir nur eine zusätzliche Belastung mit meinem Gejammer und der depressiven Stimmung. Wir haben Sommer, wunderbares Wetter ist uns beschieden. Was soll das erst im Winter werden.

Ich sollte mich an Aischa freuen, gemeinsam mit ihr durch das Gelände streifen, den Augenblick genießen, der sich mir darbietet. Was tue ich statt dessen? Ich versinke in Depressionen?“

„Sie verschwinden! Sie werden von dir ablassen sobald du ihnen die Nahrung entziehst.

Sieh dort! Deine Tochter! Nimm sie!“ Erwiderte Betül und es klang wie ein Befehl.

„In meiner Verfassung? Ich kann das nicht! Ich habe Angst etwas falsch zu machen und damit ihr Leben zu gefährden!“ lehnte Colette ab.

„Merkst du es? Du zweifelst schon wieder an dir. Nichts wird geschehen, was unserer Tochter zum Schaden werde, solange du ihr deinen Schutz angedeihen lässt. Den braucht sie ebenso wie meinen. Los! Tue es! Nimm sie schon!“

Als Colette der Aufforderung nicht nachkam erhob sich die junge Geliebte, griff nach ihrer Tochter und drückte sie Colette in die Arme.

„Spürst du es? Das Leben das von ihr ausgeht. Sie möchte dich besser kennen lernen.

Aber das kann sie nur, wenn du dich ihr gibst. Wenn du für sie erreichbar bist. Bisher konntest du es auch. Beginnst du aber dich ihr zu entziehen, werdet ihr einander Fremde bleiben.“

Und tatsächlich plötzlich verspürte Colette einen Schwall positiver Energien in ihrem Inneren.

Die Blockaden die ihre Seele wie in einen Schraubstock gefangen hielten, begannen von ihr abzufallen. Langsam erhob sie sich. Schwankend und Taumelnd, doch dann gelang es ihr das Gleichgewicht zu wahren um ihrer Tochter sicheren Halt zu bieten.

Voller Würde bewegte sie sich in den kleinen Garten, der das Einsiedlerhäuschen umgab, schaute sich um bis sie ihren Blick in Richtung Sonne lenkte.

Mit beiden Armen streckte sie Aischa dem Fixstern entgegen.

Betül hielt den Atem an, was würde wohl jetzt geschehen? War sie zu weit gegangen? War Colette noch bei sich? Oder schwebte ihre Seele schon irgendwo im Nirwana?

„Tochter der Sonne! Schöpfe aus ihrer Kraft. Werde stark und klug. Mutig und voller Liebe und Verständnis für die Menschheit. Werde zur Sonne Akratasiens, spende deine Wärme der ganzen Welt. Jene Welt die dir schon bald zu Füßen liegen wird.“

Schnell senkte Colette ihre Arme wieder, um die Kleine nicht zu lange der Sonnenstrahlung aus zusetzen.

Dann kehrte sie bedächtigen Schrittes zurück und reichte ihr Aischa.

Vorsichtig ergriff diese das Bündel und wog es im Anschluss in den Armen.

Colette breitet die Arme aus und blickte in den hellblauen Himmel, der sich nur mit einigen schneeweißen Schönwetterwölkchen schmückte.

Dann atmete sie tief ein und wieder aus und wiederholte diesen Vorgang mehrmals hintereinander.

Schnell platzierte Betül die Tochter sicher auf ein Kissen und machte sich bereit die Königin aufzufangen, sollte diese die Besinnung verlieren. Die Art Meditation die Colette hier praktizierte endete für gewöhnlich in eine Ohnmacht. Die Geliebte an ihrer Seite hatte damit schon reichlich Erfahrung und war genau darauf eingestellt was dann zu tun sei.

Doch erstaunlicher Weise blieb Colette auf den Beinen.

Hatte sie gerade wieder ihre Balance gefunden?

Dann hockte sie sich wieder auf den Boden.

"Es geht wieder. Ich habe mich gefunden. Gerade jetzt! In diesem Augenblick erschien es mir ganz deutlich vor Augen. Ich muss stark sein. Ich darf mich nicht weiter hängen lassen. Die Gemeinschaft braucht mich, so wie ich diese brauche. Ich muss Elena und das gesamte Kabinett unterstützen, denn ich sehe schon wieder eine Gefahr auf uns zurollen."

"Eine Gefahr? welche Gefahr? Du machst mir Angst!" Entgegnete Betül.

"Ich weiß es nicht. Alles liegt noch undeutlich wie in einem dichten Nebel. Ich erkenne gerade mal die Umrisse, doch schon die verheißen nichts Gutes. Elena braucht mich, ich muss sie dringend entlasten. Aber was ist mit dir? Kann ich dir die Last der Kindererziehung aufbürden und mich selbst heraus nehmen?"

"So gefällst du mir schon bedeutend besser meine Meisterin! Deshalb liebe ich dich ja so sehr. Du gehörst mit an die Spitze, gemeinsam mit den anderen. Mach dir um meinetwegen keinen Gedanken. Ich werde wissen was ich zu tun habe. Ich steh an deiner Seite, ganz gleich was auch auf uns zukommt."

Versprach Betül und große Zuversicht sprach aus ihren Augen.

"Aber ich möchte unsere Tochter nicht im Stich lassen. Ich habe sie so sehr in mein Herz geschlossen. Ich werde bei euch sein wann immer ich es einrichten kann." Erbot sich Colette.

"Wir werden bei dir sein, wann immer du es möchtest!" Korrigierte Betül.

"Als ich mich für sich entschied war ich mir von Anfang an der Tatsache bewusst, dass du kein gewöhnlicher Mensch bist, dass du niemals nur mir allein gehörst sondern allen Menschen  die dir anvertraut wurden. Gemeinsam mit Elena verkörperst du Akratasien. Das neue, das unentdeckte Land, das vor uns liegt und darauf wartete dass wir alle es in Besitz nehmen."

Colette ergriff die Hände der Gefährtin und drückte sie ganz fest. Sie waren Zwillingsseelen, für immer untrennbar verbunden, zwei Hälften eines vollkommen Ganzen, das ohne den anderen nie vollständig sein würde.

Ebenso war es bei Elena und Madleen, bei Alexandra und Kyra, Chantal und Eve und vielen andern Paaren die hier in Anarchonopolis zusammen gefunden hatten.

Endlich, nach so langer Zeit war es also auch Colette vergönnt eine solche Seelenverwandt an ihrer Seite zu wissen. Und Aischa hatte ihr Lebensglück komplettiert.

 

Die heutige Kabinettssitzung drohte aus dem Ruder zu laufen. Das Thema Demokratie oder Akratie hing wie ein scharfes Beil über den Köpfen und drohte jederzeit das Werk der Spaltung zu vollziehen.

Eine Entscheidung stand aus. Elena musste sich eingestehen den Wettlauf mit der Zeit allmählich zu verlieren.

"Die Bevölkerung lässt sich nicht mehr hinhalten, Elena. Der Unmut wird immer deutlicher sichtbar. Auch wenn es noch eine Minderheit ist, aber die Opposition erhält immer deutlicheren Zulauf und zwar aus allen Richtungen. Diese Petition ist erst gestern in meinem Ministerium abgegeben worden. Tausende von Unterschriften von Leuten die sich für freie Wahlen aussprechen. Sie haben eine Bewegung ins Leben gerufen mit dem der Forderung: "Wir wollen wählen jetzt!" Das können wir nicht einfach ignorieren." Warnte Ronald und man konnte an seinem Gesichtsausdruck deutliche Anspannung erkennen.

"Klingt irgendwie ähnlich den Forderungen die von der entgegen gesetzten Seite erhoben wird. "Akratie jetzt!" erlebt ebenfalls erheblichen Zulauf. Wir befinden uns in der Mitte und drohen zwischen die Räder zu geraten."

Fügte Gabriela hinzu.

"Wenn unsere Analyse stimmt haben wir es also mit zwei Bewegungen zu tun, die etwa gleich stark sind. Die Wahl zwischen Pest und Cholera würde ich sagen. Geben wir den Bürgerlichen nach und halten freie Wahlen ab, werden uns Anarchisten und Revolutionäre des Verrates an den Idealen der Revolution bezichtigen. Gehen wir aber auf die Forderung der Anarchisten ein und lassen die Akratie langsam wachsen könnten die Bürgerlichen geneigt sein uns als autoritäres Regime zu verunglimpfen. Beides wäre für unsere Position katastrophal. Aber für eine Variante werden wir uns entscheiden müssen." Schilderte Dagobert die Situation sehr anschaulich.

"Die Entscheidung ist lange schon gefallen“, schaltete sich nun Elena ein. "Ich befürworte die Akratie! Etwas anderes habe ich nicht zu sagen. Ich werde meine Meinung nicht revidieren. Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt würden uns um Jahrzehnte in der Entwicklung zurück werfen. Habt keine Furcht. Ich werde nicht zur Verräterin an der Revolution."

"Wir dürfen aber die internationale Vernetzung nicht aus den Augen verlieren. Wir sind nun mal keine Insel. Wir brauchen die Reputation aus dem Ausland. Die werden uns nur anerkennen, wenn wir Wahlen stattfinden lassen. Euch ist doch bewusst wie sehr Demokratiefixiert die sind. Ohne eine aus freien Wahlen hervorgegangene Regierung haben wir es sehr schwer als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden. Die Folgen wäre für unsere Wirtschaft verheerend." Warnte Folko, andere gaben Kopf nickend ihre Zustimmung kund.

"Obwohl wir doch die Akratie anstreben, werden wir einer diktatorischen Regierungsweise angeklagt? Ist doch Wahnsinn! Ereiferte sich Chantal, die als Pressesprecherin und Medienministerin sehr genau wusste welche Macht in den Händen der Medien lag.

"Das ist das Los all jener, die etwas Gutes im Sinne haben. Am Ende legt man ihnen das als Schwäche aus. Mir geht es da nicht anders als unzähligen Idealisten vor mir, die allesamt an dieser Frage scheiterten." Resignation sprach aus Elenas Worten.

Die Last drückte erbarmungslos auf ihren Schultern. Sie sehnte sich nach Ruhe und Stille, nach Rückzug und Einkehr, drüben in der Abtei, in Anarchonopolis wo sie unter sich waren, dort wo sie hingehörte. Warum habe ich damals nicht einfach abgelehnt, als sie mir die Macht anboten? Alles wäre anders gekommen. Nun sitze ich hier und weiß nicht mehr ein noch aus. Mir geschieht recht. Warum kann ich nicht damit aufhören immer nur den Glücksengel für die anderen zu spielen. Die alte Elena die es vorzeiten einmal gab, die nur auf ihren Vorteil aus war und keinen Anteil am Los anderer nahm, hatte es da bedeutend einfacher. Warum nur musste ich ausziehen um ein besserer Menschen zu werden? Klagte sich Elena in Gedanken an. Doch wieder zur Egoistin werden? Niemals! Das kam nicht in Frage.

"Wir können die Tatsache nicht unter den Tisch kehren dass Elena im Grund nie wirklich in ihre Funktion gewählt wurde. Das Parlament dass sie damals per Akklamation in das Amt hievte gibt es nicht mehr. Mit der Gründung Akratasiens wurde es überflüssig und löste sich auf. Wie lange kann jemand der nicht, mit Hilfe einer Wahl in ein Staatsamt gelangte, an der Spitze eines Staates stehen, ohne als Diktator betrachtet zu werden."

Warf Lars eine provokative Argumentation in den Raum.

Gerade dieser Vorwurf schmerzte Elena besonders. Sie, die sich ganz und gar der  Aufgabe verschrieben hatte die Freiheit aller zu erkämpfen, eine Diktatorin? Welcher Dämon arbeitete in ihr um sie dahin zu führen.

Gerade wollte sie zu einer Erwiderung ansetzen als sie im Hintergrund eine vertraute Stimme vernahm.

"Aber sie ist doch gewählt! Direkt durch die Mehrheit des Volkes! Leidet ihr alle an Gedächtnisschwund, dass euch diese historische Tatsache entfallen ist?"

Elena wandte ihren Blick in Richtung Tür und blickte in ein vertrautes Augenpaar. Colette, gute alte Colette. Wie eine große Schwester war sie stets zur Stelle wenn man ihrer Hilfe am dringendsten bedurfte.

Mit ihrem typischen bezaubernden Lächeln erhob sich Elena um Colette in Empfang zu nehmen die langsam und bedächtigen Schrittes auf sie zukam. Bekleidet war Akratasiens Königin entsprechend der Sommerwärme mit einem schlichten weinroten, ärmellosen Kleid aus feinem Leinen, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Um den Hals ein dünnes grünes Seidentuch und Biosandalen an den Füßen, derer sie sich entledigte als sie den kühlen Parkettboden betrat. Elena blickte auf ihre mit leichten weißen Tennisschuhen bekleideten Füße. Schnell entfernte sie diese um der Schwestern ebenfalls barfuss entgegen zu treten.

"Mit großer Freude begrüße ich die Königin von Akratasien in unserem Kreis. Lange mussten wir auf diesen Moment warten. Du bist uns in dieser Runde stets willkommen und alle lauschen gespannt auf den Rat den du uns geben wirst."

"Ich finde es eigentlich nicht in Ordnung das Colette an unserer Kabinettssitzung teilnimmt. Sie bekleidet keine offizielle Funktion und wurde auch sonst in kein Amt gewählt“, versuchte Linus eine Gegenrede. Doch das raunen in den Reihen ließ durchblicken das er mit dieser Meinung ziemlich alleine stand.

"Erstens ist Colette noch immer Königin von Akratasien, vergesst das bitte niemals. Und zweites, selbst wenn sie es nicht wäre stünde es ihr zu ,hier bei uns zu weilen, zu sprechen und uns zu beraten. Colette verkörpert eine natürliche Autorität die keiner Wahl als Legitimation bedarf. Jene natürlichen Autoritäten sind es, die erst in der regulierten Akratie wieder voll zur Geltung kommen werden." Widersprach Elena sehr direkt. Dann ergriff sie Colettes Hände und drückte sie ganz fest.

Ich bin bei dir! Ich werde dir den Rücken stärken! Von nun an kämpfen wir wieder vereint für unsere Sache. Worte die Colette gar nicht über ihre Lippen bringen brauchte, denn Elena verstand diese auch ohne Laute.

Lange schon wohnte Colette keiner Kabinettssitzung mehr bei. Das letzte Mal konnte man sie vor über einem Jahr in dieser Zusammenkunft begrüßen. Ein Fehler, wie ihr erst jetzt aufging.

"Was meinst du damit, dass Elena mit Volksmehrheit gewählt wurde?" Wollte Folko wissen.

"Leute, ist es schon so lange her, dass es euch diese Tatsache entfallen ist?" Colette bewegte sich langsam durch das Sitzungszimmer. "Wenn ich mich nicht irre ist es etwa 6 Jahre her, da wurde sie bei der letzten Wahl zum melancholanischen Nationalforum mit großer Mehrheit zur Kanzlerin gewählt. Macht es jetzt Klick? Sie bekleidet jetzt die Funktion die ihr von Rechts wegen zusteht. Zugegeben mit einigen Jahren Verzögerung. Aber ist das wirklich von so großer Bedeutung?"

"Du beziehst dich auf die letzte Wahl zum Forum? Ein interessanter Einwand, muss ich zugeben. Darauf wäre ich nie gekommen!" Gestand Dagobert um nach einer kurzen Kunstpause fortzufahren.

"Das ist genial! Genau! Das könnte funktionieren. Selbstverständlich müssen wir genau abwägen, wie wir mit diesem Einwand den Kritikern begegnen."

"Glaubst du dass wir damit durchkommen? Es ist sechs Jahre her. Doch eine recht lange Zeit würde ich sagen?" Äußerte Alexandra ihre Bedenken.

"Warum? Elena wurde in die Funktion gewählt, konnte sie aber erst verspätet einnehmen. Und nicht nur das. Alle, die hier beisammen sitzen verkörpern den Volkswillen von vor 6 Jahren. Bereits zu jener Zeit wurde beabsichtigt eine Koalitionsregierung zu bilden. Genau das habt ihr vor knapp anderthalb Jahren nachgeholt. Das diese Regierung damals nicht zustande kam ist nicht eure Schuld. Wir alle kennen die Verantwortlichen.

Der Blaue Orden putschte sich an die Macht noch bevor die Regierung gebildet werden konnte. Mit einigen Jahren Verspätung wurde dem Volkswillen nun entsprochen. Eure Legislatur beträgt 4 Jahre, vergangen sind aber erst anderthalb. Bleiben also noch weitere zweieinhalb Jahre. Selbst wenn wir so großzügig sind und die Zeit der Räterepublik mit hinzurechnen blieben noch immer fast 2 übrig." erläuterte Colette weiterhin, wobei sie einen souveränen Eindruck machte wie ihn Elena bei der Schwester schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte.

Hier sprach eine wahre Königin. Eine Königin der Herzen, beim Volk beliebt und geachtet, nicht zuletzt Aischas Geburt hatte noch einmal wesentlich dazu beigetragen und diese Begeisterung galt es auszunutzen.

"Bedenkt! Wir müssen zwei völlig unterschiedliche oppositionelle Bewegungen befrieden. Mit diesem Trumpf in der Hand könnten wir viel an Zeit gewinnen. Zeit die wir bitter benötigen um an unser Ziel zu gelangen." Glaubte Elena zu wissen.

"Mit dem Ziel meist du die regulierte Akratie?" Wollte Gabriela wissen.

"Ja sicher! Was sonst? Nur dafür sind wir angetreten!"

"Glaubst du im Ernst dass wir mit dieser Finte unsere Kritiker im Zaun halten? Ich hege da erhebliche Bedenken. Die werden uns glatt für verrückt erklären wenn wir ihnen damit kommen. Ich gehe davon aus dass wir mit diesem Argument kaum Erfolg haben werden. Wir können die Zustände,  die vor 6 Jahren herrschten nicht mit den heutigen gleichsetzen. Das waren ganz andere Voraussetzungen.“ zweifelte Folko noch immer.

"Auch ich habe Zweifel! Das muss ich zugeben! Erschwerend könnte hinzukommen dass es sich ja de facto um ein völlig anders Land handelt. Elena wurde als melancholanische Kanzlerin gewählt. Nun aber leben wir in Akratasien." Pflichtet ihm Ronald bei.

"Akratasien? Sind wir wirklich schon in Akratasien Ronald?" Colettes Frage schien die meisten zu irritieren. "Ein neuer Name, eine andere Fahne und damit ist das Neue schon geschaffen? Seht euch doch um. Wir sind noch immer die gleichen. Auch das Land hat sich kaum verändert. Meint ihr, dass sich die Menschen für solche Haarspaltereien interessieren? Sie wollten Elena und sie haben sie bekommen. Wer führt denn diese lautstarke Opposition? Sind es Preka, die tagein tagaus unter harten Bedingungen ihren Lebensunterhalt erwirtschaften müssen? Sind es soziale Randexistenzen die vom Absturz bedroht sind? Nein! Es sind allesamt Bildungsbürger, bestrebt möglichst bald eine neue Privoklasse zu bilden um auch in dem neu zu schaffenden Staatswesen den Ton anzugeben. Wölfe in Schafspelzen. Offiziell geben sie vor für die Demokratie zu streiten. In Wahrheit wollen sie den Ständestaat mit seiner sozialen Apartheit wie wir ihn aus den Zeiten vor der Revolution kannten."

„Das ist absolut richtig Colette! Ich stimme dir uneingeschränkt zu! Das Problem ist nur, wie vermitteln wir das der Öffentlichkeit und vor allem dem Ausland?“ Wollte Ronald wissen.

„Zählt es so sehr was das Ausland von uns hält, dass wir uns zu deren Büttel machen müssen?“ Konterte Colette.

„Macht euch doch nicht so viele Gedanken um ungelegte Eier. Ich weiß, ihr fürchtet Sanktionen, so wie bei Neidhardt. Ich denke dem können wir gelassen entgegenblicken.

Im Gegensatz zu Neidhardt erfreut sich Elena einer außerordentlichen Popularität im Ausland. Darauf können wir bauen. Und wenn wir Rückschau halten. Selbst die Sanktionen gegen Neidhardt wurden im Grund nur halbherzig eingehalten.

Wenn es um Geschäfte geht, reagiert die Wirtschaft in den meisten Fällen ausgesprochen unpatriotisch.“

„Ich werde zurücktreten!“ Kündigte Elena plötzlich wie aus heiterem Himmel an.

Im Sitzungszimmer löste diese Aussage allgemeines Entsetzen aus.

„Zurücktreten? Elena! Bist du von Sinnen? Das kann doch nicht dein ernst sein?“

ereiferte sich Gabriela.

„Bedenke was du damit für eine Lawine auslöst“ stimmte Alexandra zu.

„Akratasie ohne Elena? Das ist unvorstellbar!“ Schloss sich nun auch noch Chantal an.

Elenas Mund formte sich zu einem Lachen.

„Ich werde meine Funktion als Staatsoberhaupt abgeben. In die wurde ich in der Tat nicht gewählt. Aber selbstverständlich bleibe ich Kanzlerin, wenn euch das beruhigt.“

Ein tiefes Ausatmen der Erleichterung erfasste alle Anwesenden.

„Ich bekleide beide Funktionen in Personalunion. Für eine Übergangszeit war das in Ordnung. Aber längerfristig ist das nicht möglich.“

„Und wer sollte unserem Staatswesen in Zukunft vorstehen?“ erkundigte sich Dagobert obwohl er sich denken konnte wie die Antwort lautete.

„Ist es Zufall dass du ausgerechnet heute in unserem Kreis erschienen bist?“ Elena blickte zu Colette.

„Du bist es bereits, unsere Königin. Du wirst es auch in Zukunft sein. Du sollst Oberhaupt des neuen vereinten Akratasien werden!“

Andächtiges Schweigen senkte sich auf die Versammelten.

"Eine Königin? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Du sprichst dich einerseits gegen die Demokratie aus, weil sie deiner Meinung nur eine Form der Herrschaft darstellt. Andererseits favorisierst du eine Königin an der Spitze des neuen Staates, also eine Monarchie? Wenn ich in meiner Analyse nicht ganz falsch liege bedeutet die aber eine bedeutend kompaktere Form von Herrschaft. Und ausgerechnet die soll uns in die Regulierte Anarchie geleiten oder Akratie wie du dieses Gemeinwesen zu benennen bliebst. Ich komme langsam nicht mehr mit. Das ist einfach nur ein Antagonismus ohne gleichen." Beschwerte sich Linus.

"Ich liebe und schätze Colette sehr. Ich habe ihr damals bei ihrer Proklamation zur Königin als erste meine Treue geschworen und ich gedenke diese zu halten so lange ich lebe. Ich unterstütze Elenas Vorschlag. Ich finde ihn genial. Das könnte die Lösung sein. Wir sollten sofort beginnen diesen Plan umzusetzen." Begeisterte sich hingegen Chantal.

"Ich sehe es ähnlich! Und wenn ich mich nicht all zu sehr täusche werden mir die meisten unter euch beipflichten. Es gibt keine Bessere als Colette an der Spitze, Elena natürlich ausgenommen. Ein Bedenken kommt mir allerdings doch. Wie erklären wir das das den radikalen Anarchisten? Werden die eine Königin akzeptieren? Jene die doch jegliche Form der Herrschaft verwerfen? Das bringt uns in Erklärungsnot!" Flocht Alexandra ein.

"Ich bin mir absolut bewusst, dass dieser Vorschlag in den Ohren vieler verrückt klingen muss. Aber es ist nicht antagonistisch. Als ich Colette soeben begrüßte, verwendete ich einen speziellen Begriff. Natürliche Autorität nannte ich sie. Als solche ist sie anerkannt, selbst bei radikalen Anhängern der Anarchie.  

Als wir sie damals zur Königin proklamierten, war uns allen bewusst, dass ihr Königtum eine bedeutend andere Qualität verkörpert als das Monarchien für gewöhnlich tun. Ihr Königinnentum ist nicht von dieser Welt, wenn ich es einmal ganz pathetisch bezeichnen will. Sie bleibt immer Gleiche unter Gleichen. Damit werden wir punkten. Ihre Natürliche Hierarchie gepaart mit der meinen wird uns Schritt für Schritt in die Regulierte Akratie geleiten.“

„Zugegeben, damals unter der Ausnahmebedingung, als euch eine streng gesicherte Grenze umgab und sich eine ungewisse Zukunft auftat, gelang euch das Unmögliche. Unter diesen Bedingungen funktionierte dieser Antagonismus. Es tut mir leid ich finde keine bessere Umschreibung für diesen ungewöhnlichen Zustand einer Akratie mit einer Königin an der Spitze. Es war eigentlich keine richtige Regierung. Aber jetzt? Wir sind frei in unserem Handeln und Denken und können gestaltend eingreifen ins Geschehen. Wird es uns unter den neuen Bedingungen auch gelingen?“

Gab Linus weiter zu bedenken.

„Ich bin zuversichtlich! Die Menschen mögen Colette. Das haben sie erst kürzlich bei Aichas Geburt verdeutlicht. Und genau diesem Umstand werden wir ausnutzen!“

Schlug Elena vor.

„Damit bedienen wir uns Mittel die wir früher auf das heftigste kritisierten. Mittel die dazu neigen die Bevölkerung von Problemen abzulenken und ihnen eine heile Welt vorgaukeln?“

Gabrielas Einwand war nicht von der Hand zu weisen.

„Das ist richtig Gabriela! Wir sind im Begriff eben das zu tun. Mir ist auch alles andere als wohl bei dem Gedanken. Aber es gibt Situationen die ein solches Handeln rechtfertigen und die ist gegeben. Um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden sind wir gezwungen diese für eine Zeit einzulullen. Niemals aber dürfen wir unser Ziel aus den Augen verlieren. Erst wenn wir das tun begehen wir Verrat an unsren Idealen.“

Gestand Elena.

Colette hatte in der Zwischenzeit zu Elenas rechten Platz genommen.

„Elena hat das Wesentliche gesagt. Mein Königtum soll bestimmt sein von Harmonie und Verständigung, von Versöhnung, Frieden und Freiheit. Unter meinem Schutz und Schirm soll sich die Akratie frei und ungehindert entwickeln können bis sie zur vollen Blüte gereift. Um ein Zeichen zu setzen schlage ich euch vor, darüber abstimmen zu lassen. Die Bevölkerung soll eine Königin wählen. Ich fürchte mich nicht davor. Ich gehe mit einem guten Gefühl einem solchen Votum entgegen. Ich bin bereits Königin. Eine Königin außer Dienst. Es geht darum ob ich diese Funktion wieder aufnehmen kann. Dann wäre alles geregelt. Meine erste Amtshandlung wird darin bestehen die bereits amtierende Regierung zu bestätigen. Deren Hauptaufgabe wiederum darin besteht, der Akratie den Weg zu bereiten.“

"Aber eine solche Abstimmung können wir nicht übers Knie brechen. Die muss vorbereitet werden. Unsere Gegner könnten geneigt sein diese Zeit zu nutzen um möglichst viele Gegenargumente ins Feld zu führen. Wir müssen uns also sehr genau überlegen wie wir unsere Ansichten unters Volk bringen." Warf Lars in die Runde.

"Zunächst müssen wir abstimmen!" Forderte Elena. "Gibt es noch jemand unter uns der grundsätzliche Bedenken hat? Der oder die möge diese jetzt vorbringen!"

 Leichtes Getuschel, doch niemand erhob Einspruch. Alle waren sich der Tatsache bewusst dass sie wieder einmal dabei waren Geschichte zu schreiben.

"Also wenn es keine Gegenrede gibt, lasst uns abstimmen! Wer ist dafür, Colette in ihrem Amt als Königin zu bestätigen um sie wieder als solche einzusetzen?"

Alle Versammelten stimmten der Vorlage zu. Die einen erhoben ihre Hand sehr schnell, andere zögerlich. Doch am Ende konnte Einstimmigkeit verzeichnet werden.

"Ihr habt euch für diese Variante entschieden das ist gut und ich danke für das Vertrauen das ihr in unsre Königin setzt. Doch wir möchten die Bevölkerung wie besprochen, nicht übergehen. Deshalb müssen wir nun über die geplante Volksabstimmung entscheiden. Wer spricht sich dafür aus die Bevölkerung Akratasiens per Volksentscheid darüber entscheiden zu lassen ob wir mit Colette in Zukunft von einer Königin regiert werden, der oder die hebe die Hand." Entschied Elena.

Auch dieses Votum fiel eindeutig aus. Keine Gegenstimmen, keine Enthaltung.

Elena und Colette umarmten sich spontan und hielten einander lange in den Armen.

Ein in der Geschichte der Menschheit einmaliger Vorgang der seinesgleichen suchte. Anarchisten und Revolutionäre hatten sich soeben für die Einführung einer Monarchie entschieden, ganz freiwillig und ohne jedweden Druck von außen. War dass der tatsächliche Eintritt in ein posthistorisches Zeitalter? Die Geschichte wurde mit dieser Entscheidung  gründlich auf den Kopf gestellt.

Alle Anwesenden waren sich zumindest über die große Tragweite ihres Beschlusses im Klaren.

"Ihr habt euch also für mich entschieden! Nun ist es raus. Das letzte Wort aber hat das Volk von Akratasien. Sollte ich die Zustimmung erlangen, werde ich mich bemühen die in mich gesetzten Erwartungen zu erfüllen.

Niemand vermag zusagen wie lange ich in dieser Funktion bleibe. Alles hängt von der Entwicklung ab. Wird sich mein Lebensstil verändern? Ich beanspruche keine Privilegien für mich. Mein Hofstaat ist die Schwesternschaft und die Kommune von Anarchonopolis. Elena hat es vorhin ausgesprochen, ich werde weiter eine Gleiche unter Gleichen sein. Ich will es versuchen. Was unsere Bevölkerung und nicht zuletzt das Ausland und dessen Boulevardpresse daraus macht liegt nicht in unserem Ermessen. Selbstverständlich werde ich auch Helfer benötigen die mich in meiner Arbeit unterstützen. Die aber werden es freiwillig tun. Niemand wird zu etwas verpflichtet. Vor allem meine Frau Betül wird Unterstützung benötigen, dann wenn ich anderweitig beschäftigt bin. Vor allem für sie möchte ich bitten. Sie hat mich getragen und auf den rechten Weg zurückgeführt. Ohne ihre Liebe und Hilfe säße ich jetzt nicht hier. Ich danke euch. Ich muss mich zurückziehen, ich bedarf dringend der Ruhe und Einkehr nach dieser Entscheidung."

Colettes Schlusswort beinhaltet alles was zu diesem Thema noch zu sagen war. Wie immer kurz und bündig, aber aufschlussreich.

Akratasiens Königin erhob sich und warf allen Versammelten noch eine Kusshand zu, dann entfernte sie sich und ließ die sichtlich ergriffene Versammlung zurück. Denen oblag es nun sich wieder anderen wichtigen Punkten zu widmen.

 

Ein heißer trockener Juliwind empfing Colette als sie vor die Türe der Regierungszentrale trat.  Sie schulterte ihren Rucksack und brachte ihren Nordic-Walkingstab in Stellung. Sie gedachte den Weg in die Abtei zu Fuß zurück zu legen, so wie sie auch hierher gekommen war. Doch da öffnete sich die Tür eines kleinen Shuttles und Heiko entstieg dem Wagen. Mit freundlicher Geste bedeutete er ihr einzusteigen. Angenehm klimatisiert, das Innere der Kabine. Sie warf sich den Umhang über den sie stets im Rucksack mit sich führte um nicht zu frieren. Dann ging es ab.

Betül hatte den Chauffeur beordert um Colette den Weg durch die Nachmittagshitze zu ersparen. Schon in diesem Augenblick war sie wieder Akratasiens Königin, daran bestand kein Zweifel, auch wenn das Votum der Bevölkerung noch ausstand. Kleine Privilegien wie die Fahrt in einem Auto mit Klimaanlage würden das Gefüge schon nicht gleich aus den Angeln heben.

Heiko drängte auch nicht mit unnötigen Frage sondern überlies seine Königin ihren Gedanken und Gefühlen die in reichlicher Zahl durch ihre Seele flossen. Welche Lawine hatte sie ausgelöst? Was rollte noch alles auf sie zu? War ihre damalige Proklamation zur Königin vor allem ein symbolischer Akt, würde es nun richtig zur Sache gehen. Sie war Oberhaupt eines Staates mit allen Konsequenzen die so etwas mit sich brachte.

Mit dem beschaulichen Leben als Eremitin in ihrer Eremo war es erst mal Essig. Desgleichen würde sie auch auf ein Familienleben verzichten müssen. Warum nur hatte sie wieder den Feuerwehrmann spielen müssen?

Sie wollte Elena unterstützen, denn auch die jüngere Schwester sehnte sich nach Ruhe, Kontemplation und Abgeschiedenheit. Auch die hatte eine eigene kleine Familie permanent von ihr vernachlässigt. Madleen hatte sich  gefügt, obgleich sie unter diesem Zustand litt.

Konnte sie das auch von Betül erwarten?

"Möchtest du hier am Konventsgebäude aussteigen? Ich kann dich aber auch bis zur Eremo fahren, wenn du möchtest?" Bot Heiko an und riss Colette aus ihrer Gedankenflut. Ihr war vollkommen entgangen dass sie die Große Pforte zur Abtei bereits passiert hatten.

"Äh...wie? Ach so! Du... du kannst mich gleich hier rauslassen. Ich gehe erst mal in die Wohnung. Betül wollte hier auf mich warten."

Geistesgegenwärtig sprang Heiko zu und öffnete die Tür. Colette machte einen verwirrten Eindruck. Kaum hatte sie Boden unter den Füßen begann sie zu schwanken. Doch mit Hilfe ihres Stabes konnte sie Balance halten.

Ihr Weg führte sie aber nicht ins Konventsgebäude sondern zunächst in die Basilika. Eine Eingebung schien sie an diesen Ort zu locken. Angenehme Kühle und wohltuende Stille begrüßten sie als sie sich durch das Kirchenschiff bewegte. Hier konnte sie es eine Weile aushalten. Mit Besuchern war zu dieser Tageszeit, so kurz nach dem Mittag nicht zu rechnen. Sie bedurfte dringend der Einkehr, denn die vielen Eindrücke belastete ihre hochsensible Seele außerordentlich schwer. Im Chorraum angekommen besaß sie gerade noch die Kraft sich auf eine Bank in der vordersten Reihe fallen zu lassen. Nur eine Weile sitzen, verschnaufen, zur Ruhe kommen. Doch das harte Eichenholz bereitete ihr Schmerzen in Rücken und Beinen. Sie wollte sich ein Kissen besorgen dass sich in etwa zwei Metern Entfernung auf der Bankreihe befand. Um es zu erreichen musste sie kurz aufstehen. Nun versagten die Beine ihren Dienst, sie glitt aus und landete auf dem Boden. Mit letzter Kraft zog sich bis zur Bank und lehnte ihren Rücken daran. Dann setzte Atemnot ein und dass nervöse flattern in Bauch und Brust, schließlich begannen die Hände zu zittern. Sie begann vorsichtig zu atmen, hechelte dabei fast wie ein Hund. Zu mehr war sie  nicht imstande. Das erlösende Atemspray befand sich in ihrem Rucksack. Doch den konnte sie von ihrer derzeitigen Stellung nicht erreichen. Aus? War es dass etwa? Der Augenblick vor dem sie sich immer gefürchtet hatte. So sehr sie die Einsamkeit und Abgeschiedenheit mochte und dringend brauchte. Sie durfte es nicht riskieren tatsächlich allein zu sein. Irgend jemand musste sich immer in erreichbarer Nähe aufhalten. Betül hatte sich für diese Aufgabe zur Verfügung gestellt. Eine ganze Zeitlang funktionierte das hervorragend. Man konnte geneigt sein diesen Zustand als Gedankenübertragung zu bezeichnen. Denn kaum das Colette in Bedrängnis geriet oder etwas brauchte, war die Gefährtin stets zur Stelle. Doch vor einigen Wochen hatte ein weiterer Mensch die Bühne des Lebens betreten. Jetzt war Aicha auf der Welt. Die Kleine bedurfte nun der vollen Aufmerksamkeit der Mutter. Betül konnte sich nicht teilen.

Mehrfach unternahm Colette den Versuch sich aus eigener Kraft vom Boden zu erheben, doch kaum hatte sie sich aufgerichtet, wurde ihr schwarz vor Augen und sie sackte wieder zusammen. Ruhe bewahren hieß das Gebot der Stunde. Sie vernahm den Glockenschlag, halb zwei am Nachmittag. Mit den ersten Besuchern war nicht vor 15 Uhr zu rechnen und selbst dafür gab es keine Garantie. Konnte sie es solange ohne ihr lebenswichtiges Medikament aushalten? Sie versuchte auch mehrmals durch Rufen auf sich aufmerksam zu machen, beschloss aber dann lieber den Atem aufzusparen.

Wie in einem Film ließ sie ihr Leben Revue passieren. Lang war der Weg nach Akratasien, der Weg in die Freiheit, in die Harmonie, die Sicherheit und Akzeptanz ihrer selbst. Eine Königin war sie, gab es noch etwas darüber? Oder sollte das eben gerade nicht sein? War sie hochmütig? Löste dieser Umstand ihren Fall aus? Wer sich selbst erhöht wird erniedrigt werden! Sie hatte sich bei der Besprechung selbst als Königin ins Spiel gebracht, präsentierte ihr das Schicksal nun die Quittung?

Durfte sich eine wie sie ungestraft in höhere gesellschaftliche Sphären schwingen? In jedem anderen Land, jeder anderen Gesellschaftsordnung nahmen Leute wie Colette den Platz an der untersten sozialen Sprossenleiter ein. Verhöhnt und verspottet, abgehängt und ausgegrenzt. Eine alternde Kundra war das personifizierte Nichts. Humanoider Müll. Nicht einmal als Hure zu gebrauchen. Eine Schande! Eine ständige Provokation gegen die sakrosankte binäre Ordnung. Und hier? Colette von Akratasien ,eine natürliche Autorität, eine Prophetin und Visionärin, eine die mit den politischen, ökonomischen und spirituellen Eliten der Welt  korrespondierte und wie ein Magnet die Aufmerksamkeit auf sich zog,  allseits geachtet und respektiert. Eingebunden in einer Schwesternschaft von Frauen in bedingungsloser Treue verbunden und als Krönung eine wunderbare junge Frau an ihrer Seite und nun Aicha.

Bei dem Gedanken an die Tochter versetzte es ihr einen heftigen Stich in der Herzgegend.

"Ich muss leben! Und wenn es nur für dich , meine Tochter ist!" Versuchte sie sich  Mut zu machen.

Eine ganze Weile geschah nichts. Der Atem ging nach wie vor nur schwer. Konnte sie es riskieren aufzustehen? Das Risiko schien einfach zu groß. Sie richtete den Blick auf den Hochaltar und die klaren Fenster dahinter. Stets hatte sie sich nach Ruhe und Einkehr gesehnt, doch nun wurden ihr diese zu unheimlichen Gefährten.

Sollte sie auf allen Vieren am Boden entlang robben um den Ausgang zu erreichen? Nein! Dafür bedurfte es womöglich noch einer größeren Kraftanstrengung. Tränen bildete sich in ihren Augen und bahnten sich den Weg über die Wangen. Es gab keine Alternative, sie musste ausharren. Ein erneuter Glockenschlag, 14 Uhr, so lange schon lag sie hier? Warum dieser Zusammenbruch? Es war doch alles in bester Ordnung am Morgen. Mit gutem Gewissen hatte sie sich in die Kabinettssitzung begeben und ihr Anliegen wurde positiv bewertet. Daran konnte es nicht liegen. Das Problem lag tiefer. Es war einfach zuviel! Mit Aischas Geburt hatte eine neue Zeitrechnung begonnen. Die Eindrücke die seither auf sie einströmten, konnte sie nicht mehr verarbeiten, obgleich es sich fast ausnahmslos um positive handelte. Die Flut der Gedanken und die damit verbundenen Ängste arbeiteten seit lange auf diesen Zusammenbruch hin.

Plötzlich spürte sie auch den Druck auf den Schläfen, Schmerzen in der Halswirbelgegend, auch das noch. Die unbequeme Lage forderte zusätzlichen  Tribut.

Stimmen drangen an ihr Ohr. Waren die real oder narrte sie ihr Unterbewusstsein?

"Colette? Colette? Wo bist du? Melde sich doch?" Nein sie waren echt. Jemand rief nach ihr. eine vertraute Stimme. Hoffnung!

 

Wie zwei Hochleistungssprinterinnen hasteten Betül und Madleen auf das Portal der Basilika zu. Dort wo sie ihre Königin vermuteten.

Heiko hatte genau das Richtige getan als er die Versammlung der Schwestern im Park direkt neben dem Konventsgebäude aufsuchte um die anwesenden über Colettes Rückkehr von der Kabinettssitzung zu informieren.

"Strohwitwenbund" so bezeichneten sie auf scherzhafte Weise jene Vereinigung die sie kürzlich aus der Taufe hoben. All jene Schwestern die nicht an der direkten Regierungsarbeit beteiligt waren und den Tag über voller Sehnsucht auf die Rückkehr ihrer liebsten aus der Regierungszentrale warteten. Neben Betül und Madleen waren hier vor allem Kyra, Kristin, Eve, Sonja, Luisa und Kim engagiert. Ihnen oblag es die Schwesternschaft und die Kommune zu verwalten und mit Leben zu füllen. Sonst drohte die aufreibende Regierungsarbeit ihre Ideale und Visionen auf zu fressen. Madleen führte die Riege an. Bürgermeisterin von Anarchonopolis nannte man sie bald. Ihr oblag die Organisation und Verwaltung des alten vertrauten Geländes. Gewissenhaft und voller Würde meisterte sie diese Funktion.

Angsterfüllt drang Betül aus erste durch das Portal in das Kirchenschiff.

"Colette? Ich bin hier! Gib mir ein Zeichen!"

Wie heilsamer Balsam vernahm diese die Worte und erhob ihre Hand!

"Da vorn! Da ist sie tatsächlich! Komm schnell!"

Madleen folgte ohne Erwiderung der Freundin durch die Bankreihen. Bis sie schließlich Colette erreichten.

Betül stürzte auf ihre Geliebte zu und umarmte sie hastig.

"Meine Königin! Was ist mit dir? Ein Zusammenbruch?"

Wortlos deutete Colette auf ihre Brust:

"Das Atemspray!!!" Betül griff nach dem Rucksack und durchsuchte verzweifelt dessen Inhalt bis sie fündig wurde. Während dessen schloss Madleen Colette in ihre Arme.

 "So! Bist du selber imstande dir eine Dosis zu verabreichen?" Gierig griff Colette nach der erlösenden Plastikdose und verabreichte sich einen Schub, worauf sie einen heftigen Hustenschauer bekam.

"Ganz ruhig Colette! Versuch es noch einmal und dann kurz die Luft anhalten, damit es wirken kann."

In kreisender Bewegung fuhr Betüls Handfläche sanft über die Brust der Gefährtin. Der folgende Schub entfaltete die erwünschte Wirkung und bald funktionierte die Atmung wieder weitgehend normal.

Colette ließ sich in die arme der Gefährtinnen sinken. 

"Alles wieder gut, meine liebe! Gleich wird es besser. Erst mal ne Weile ausruhen. Wir haben Zeit, nichts drängt uns. Wir bleiben hier bist du dich wieder besser fühlst!"

"Was... was ist mit Aischa?" Flüsterte die Königin leise.

"Sei ohne Sorge! Die ist bei Kristin gut aufgehoben. Sie wird langsam etwas knuddelig. Sie möchte wieder von ihrer Mama Colette in die Arme genommen werden. Sie vermisst dich sehr."

Akratasiens Königen überlies sich den beiden Frauen an ihrer Seite und genoss die Streicheleinheiten. Berühren, streicheln, liebkosten. Betül und Madleen wussten was Colette in solchen Momenten am dringendsten bedurfte um schnell wieder auf die Beine zu kommen.

"Es geht wieder! Ihr seid gerade noch zur rechten Zeit gekommen. "Verstehst du nun was ich meine? Du kannst unmöglich Aischa und mich beaufsichtigen. Ich kann dir das auf keinen Fall zumuten, ich..."

Sanft legte Betül ihren Zeigefinger auf den Mund der ihr Anvertrauten.

"Psst! Nicht jetzt darüber sprechen. Das klären wir alles später. Du musst zunächst wieder zu Kräften kommen. Glaubst du dass du schon in der Lage bist aufzustehen?"

"Ich muss, ich muss es können! Ich darf mich nicht so gehen lassen. Es wird Zeit das ich gezielt dagegen ankämpfe. Ich bin Colette, Königin von Akratasien. Ich muss Stärke erkennen lassen, ich muss..."

Mit einem kräftigen Ruck zog sie sich nach oben. Die beiden jungen Frauen stützen sie dabei.

"Versteht ihr, ich darf jetzt keine Schwäche zeigen!"

"Und ob du darfst! Darin liegt deine wirkliche Stärke. "Widersprach Betül energisch. "Gerade wenn du deine Handicaps akzeptierst und verstehst mit ihnen umzugehen präsentierst du dich als wahre Königin. Akratasien, ja die ganze Welt wird dich dafür bewundern und achten."

"Aber Elena braucht mich! Ich muss fit genug sein um sie zu unterstützen, bei all den Problemen die auf Akratasien zurollen. Madleen, achte auf Elena. Sie ist dabei zum Workaholic zu mutieren. Ihre Funktion droht  sie zu überwältigen wenn sie so weiter macht. Als ich in ihre Augen blickte erkannte ich gleich das es ihr nicht gut geht:"  Glaubte Colette zu wissen.

"Ich weiß! Ich habe das schon lange bemerkt. Unser Glück leidet darunter. Wir haben kaum noch ein Privatleben. Aber im Gegensatz zu dir gelingt es ihr nicht sich mir zu offenbaren. Die große starke Elena ist einfach zu schwach um Schwäche zu zugeben." Klagte Madleen.

„Wirklich? Ist es so schlimm?“

„Ja! Es kommt in der letzten Zeit immer häufiger vor, dass sie in ihrer Wohnung in der Regierungszentrale übernachtet und gar nicht nach Hause kommt. Schon seit einer Ewigkeit haben wir nicht mehr miteinander geschlafen. Ihre Funktion frisst all ihre Reserven. Hinzu kommen Cornelius Tod und Neidhardts Weggang. Das hat sie bis heute nicht verkraftet.“ Fügte Madleen noch hinzu.

"Du musst dich um sie kümmern, heute noch. Nimm sie in die Arme, schenke ihr deine Liebe und Zärtlichkeit. Sei ein sicherer Hafen! Versprichst du mir das!" Verlangte die Königin.

"Versprochen! Ich versuche es zumindest. Ich hoffe dass sie heute Abend den Weg nach Hause findet. Viel zu müde und abgespannt ist sie wenn sie zu mir kommt. Auch Tessa merkt das. Sie ist ja schon ein großes und verständiges Mädchen. Zum Glück hat sie in mir noch eine Mama." Bedauerte Madleen weiter, während sich die drei ganz langsam in Richtung Ausgang bewegten.     

Die Königin konnte einfach nicht abschalten. Ihre Gedanken eilten wieder zur Kabinettssitzung. Elena hatte soviel am Hut. Wie konnte sie der kleinen Schwester bestehen wenn sie gesundheitlich immer deutlicher abtrifftete?

"War es ein Fehler in die Kabinettssitzung zu gehen um meine Hilfe anzubieten?" wollte sie wissen.

"Die Antwort kannst du dir nur selber geben meine Königin! Es war dein Entschluss! Ja, ich glaube er war richtig. Du wirst es schaffen. Akratasien braucht dich. Ich bin für dich da um dich dabei zu unterstützen. Ich kann es immer wieder unterstreichen. Du bist nicht allein." Versicherte Betül erneut, wie so oft in den zurückliegenden Wochen.

"Auch ich stehe an deiner Seite! Wenn du meine Hilfe brauchst bin ich zur Stelle!" Bot sich auch Madleen an.

"Ihr beiden seid ein Geschenk! Aber ich komme mir schlecht und egoistisch vor wenn ich euch ständig um Hilfe bitten muss bei der Fülle von Aufgaben die euch belasten."

"Es gibt außer uns noch andere!" Fiel Betül ein. "Genau! Zu einer richtigen Königin gehört auch ein echter Hofstaat. Was hältst du davon. Ein Wort von mir oder von Madleen genügt und die Helfer werden sich in Scharen einfinden. Das wäre doch gelacht wenn es daran scheitern sollte."

"Meinst du wirklich?"

"Ja sicher! Noch heute werde ich meine Fühler ausstrecken und Madleen wird sich ebenfalls kundig machen:"

Vor dem Eingang ließen sie Colette los. Nun stand sie wieder fest auf den Beinen, so als sei nie etwas dergleichen vorgefallen.

"Am liebsten würde ich jetzt in die Eremo marschieren! Es geht wieder, kannst du glauben! Im Moment fühle ich mich wieder gut!" Gab Colette zu verstehen.

" Kommt nicht in Frage! Zunächst geht es in die Wohnung. Dort wirst du dich ausruhen. Dein Mittagsschlaf steht noch aus. Wenn es am Abend besser ist können wir uns dann immer noch auf den Weg machen." Ordnete Betül an.

 

Als Elena am Abend müde, abgespannt und desillusioniert nach Hause kam, begrüßte sie Madleen überschwänglich freundlich, liebevoll und in erotischer Pose. Sie hatte sich vorgenommen Colettes Rat in die Tat umzusetzen. Für ein paar Augenblicke ein normales Familienleben genießen und gestalten. Die Gefährtin von der ihr nur noch wenig blieb, verwöhnen und lieben. Ein in jeder Hinsicht erfolgreiches Unternehmen. Auch Tessa kam auf ihre Kosten, Madleen hatte alles genau vorbereitet. Ein gemeinsamer Abend zu dritt, endlich wieder mal. Mit gemeinsamen Spiele und allem was dazu gehörte. Als sie die Tochter zu Bett gebracht hatten blieb noch die ganze Nacht für die Liebe. Madleen verwöhnte ihre Frau mit vollem Einsatz. Ein Ereignis dass allen beiden außerordentlich gut bekam.

 

Colette und Betül verbrachten die Nacht in der Eremo, selbstverständlich war Aischa auch dabei. Zum aller ersten Mal übernachteten sie zu dritt in der Einsiedelei, die ansonsten ausschließlich Colette vorbehalten war.  Längst hatte sich deren Befürchtung, dass sie die Tochter durch nächtelanges weinen und um den Schlaf bringen könnte, in Luft aufgelöst. Die Kleine schlief nachts wie ein Murmeltier und machte sich höchst selten einmal bemerkbar.

Am frühen Morgen, als sich die Sonne noch hinter den Felsmassiv des Grauhaargebirges verborgen hielt und sich angenehme Frische über den ganzen Klosterpark ausbreitete ,hatte Betül den Liegestuhl in den kleinen Garten gestellt und Colette darauf platziert, stets darauf achtend das sie sich in Rufweiter der Geliebten befand.

Akratasiens Königin döste vor sich hin. Ihr Unterbewusstsein nahm sie Stimmen war, die aus der Eremitage zu ihr nach draußen drangen. Offensichtlich hatte sich Besuch eingefunden.

".....sie ist draußen im Garten. Du kannst gerne zu ihr gehen. Aber sollte sie schlafen wecke sie bitte nicht auf!"

"Ok! Kein Problem! Ich habe Zeit mitgebracht. Dann warte ich eben!"

Eine vertraute Stimme. Colette wandte sich um und blickte in Kims Augen.

"Guten Morgen! Was hat dich denn schon so früh hierher geführt?"

"Betül hat sich gestern nachmittag noch bei mir gemeldet. Es geht um Hilfe für euch. Keine Frage! Ich stehe jederzeit zur Verfügung. Sagt einfach was ich tun soll und ich mache es!" Bot sich Kim an, nachdem sie sich schwungvoll im Gras direkt neben den Liegestuhl niedergelassen hatte.

"Hey! Das ist aber nett von dir! Auf dich ist immer Verlass! Ich habe ehrlich gesagt gehofft , dass du dich mal bei mir meldest!" Antwortet Colette während sie der Freundin sanft über ihren Kopf mit der markanten Igelfrisur strich.

"Wirklich? Das ist cool! Ich wollte ebenfalls schon lange mit dir reden. Das trifft sich ausgezeichnet!" Kim bettete ihren Kopf im Schoß der Königin und genoss deren sanftes Streicheln.

"Kannst du denn die Zeit dafür erübrigen? Ich meine zum Beispiel deine Arbeit. Na und was ist mit deiner Beziehung zu Lukas? Wird die nicht darunter leiden?"

"Das mit der Arbeit lässt sich regeln. Ich denke schon lange darüber nach etwas anderes zu machen. Ich kann das anfangs auch gut kombinieren. Bei einer Regelarbeitszeit von 4 Stunden pro Tag ist das ja leicht einzufädeln. Wenn du willst kannst du mich aber auch ganz in deinen Dienst nehmen. Na und mit Lukas, hm, im Moment läuft da eh nicht allzuviel mit uns beiden."

"Eine Beziehungskrise? Doch nicht etwa auch bei euch? Das scheint ja mächtig um sich zu greifen. Ist wohl so ne Art Epidemie ausgebrochen?" Colettes Tonfall klang besorgt.

" Bei wem denn noch alles?" Wollte Kim wissen.

"Na Elena und Madleen zum Beispiel! Und Alexandra und Kyra scheinen auch des Öfteren Stress mit einander zu haben. Cassandra und Luisa gehen derzeit ohnehin getrennte Wege, vorübergehend wie sie sagen, aber da muss schon mehr dahinter stecken."

"Elena und Madleen sagst du? Aber das wäre katastrophal für die ganze Gemeinschaft!"

"Wem sagst du das! Ich muss kitten, schlichten, die Menschen wieder zu einander bringen. Mein nächstliegendes Projekt. Nur wenn wir Harmonie und Verständigung leben, kann Akratasien existieren. Es gibt so viel zu tun. Ich habe mich viel zu lange aus allem raus genommen. Aber ich brauche Helfer wenn ich erfolgreich sein will."

"Deshalb bin ich hier! Ich folge dir wohin du gehst. Und ich denke meinem Beispiel werden sich weitere anschließen. Bin gespannt wer heute noch so alles auftaucht."

"Du warst die Erste! Darüber freue ich mich ganz besonders!"

"Ich habe dich noch immer lieb, Colette! Hätte ich dich damals nicht im Stich gelassen, stünde ich jetzt an deiner Seite. Es tut mir alles so leid. Wir haben dir unendlich wehgetan und dafür schäme ich mich. Aber jetzt möchte ich Wiedergutmachung leisten..."

"Kim, das ist Schnee von vorgestern. Hab ich längst aus meinen Erinnerungen getilgt. Wir müssen nach vorn schauen. In die Vergangenheit können wir nicht eingreifen, aber die Zukunft lässt sich gestalten. Und dafür brauche ich Helfer, jederzeit bist du willkommen. Du bist mir lieb und teuer. Wir sind Schwestern ganz besonderer Art. Das Schicksal hat uns bei unserer Geburt einen schönen Streich gespielt, oder war es Vorsehung das wir in falschen Körpern das Licht der Welt erblickten? Wir haben beide das uns zugewiesene Geschlecht nicht akzeptiert und leben jenseits der binären Weltordnung. Du möchtest gern ein Junge sein und ich eine Frau, aber wir sind was wir sind und können nicht heraus aus dem Leib der uns fesselt. Aber uns beiden ist es gelungen Frieden zu schließen mit diesem Körper und ihn zu tolerieren, auch wenn es schwer fällt. Wir sind anders als die Mehrheit der Männer und Frauen die uns umgibt. Wir schaffen das völlig neue, das unbekannte Geschlecht."

"Ach ich bin so froh dass du so eine Meinung hast. Richtig! Wir sind Seelenschwestern. Ich denke ebenso. Ich kann mich einfach nicht entschließen wohin ich mich zugehörig fühle. Ich bin beides aber andererseits auch keins von beiden. Ich möchte immer in deiner Nähe sein. Stets warst du für mich ein Stück Heimat, seit dem Tag an dem wir uns zum ersten Mal begegneten." Kim umarmte Colette stürmisch, Tränen bildeten sich in ihren Augen.

"Sag mal, wie gefällt dir Betül? Findest du sie hübsch und sinnlich?"

"Ob ich sie hübsch finde? Na hallo! Sie ist wunderschön! Eine echte Prinzessin." Gestand Kim offen und blickte dabei in Colettes Augen, so als habe sie den Sinn dieser Frage nicht ganz erfasst.

"Sehr gut! Das trifft sich ausgezeichnet! Du hast auch einen gewaltigen Eindruck auf sie gemacht. Meine Gefährtin mag dich sehr!"

"Echt? Das ist ja der Hammer!"

"Dann wäre alles geklärt. Herzlich willkommen zurück in meinem Leben! Also wichtig ist vor allem dass du zunächst Betül unter die Arme greifst. Sie hat mit der Kleinen viel zu tun und mit mir. Wird mit der Zeit ein wenig viel, verstehst du?"

"Absolut! Ich werde dich hüten wie meinen Augapfel und zur Stelle sein, wann immer du mich brauchst."

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Kyra trat in den Garten.

"Hallo? Wen haben wir denn da? Ein seltener Gast in dieser heiligen Umfriedung!" Begrüßte Colette die Besucherin.

"Hey! Wie ich sehe bin ich nicht die Erste. Konnte mir denken dass du mir zuvorkommst Kim."

"Ist doch Ehrensache! Wir hoffen dass sich noch andere bereit finden!" Antwortete die angesprochene.

"Also Eve dürfte in Kürze hier sein. Die habe ich gestern Abend dazu angehalten. Die ist ja häufig bei uns drüben in der Försterei und geht mir zur Hand. Die hat auf jeden Fall Zeit, langweilt sich ansonsten wenn ihr Schatzi Chantal den ganzen Tag über in der Regierungszentrale weilt." Gab Kyra zu verstehen.

"Und selber? Kannst du denn soviel Zeit aufbringen?" Erkundigte sich Colette vorsichtig.

"Ja, ab jetzt wird es besser. Hatte ja viel um die Ohren mit Alexandras kleinen Quälgeistern. Aber die sind soweit das sie Tagsüber in die KITA können. Bei Kristin fühlen die sich es wohler. Scheiß Regierungsarbeit. So hatte ich mir die schöne neue akratasische Welt nicht vorgestellt. Lassen die drei mich doch einfach allein zurück. Ich war auf einmal Alexandra und Ronald los. Und wenn die nach Hause kommen gibt es auch nur ein Thema. Ich kann es schon nicht mehr hören." Klage Kyra und man konnte ihren Frust von ihren Augen ablesen.

"Dann bist du hier genau richtig. Aber es heißt, die hätten dir auch nen Posten angeboten. Als Beauftragte für Kulturfragen und so weiter." Hakte Colette nach.

"Ja, aber ich hab da kein Interesse. Die sollen mal schön allein regieren wenn es ihnen Spaß macht. Sind mir alles schöne Anarchisten."

Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal und Eve lugte durch den Schlitz.

"Ich hoffe, ich bin hier richtig?"

"Nee, du bist total falsch! Na los komm schon rein?" Forderte Kyra die Freundin auf.

Eve betrat den Garten und hockte sich auf den Boden direkt an Kyra s Seite. Die zog sie zu sich und verabreichte ihr einen Kuss auf die Wange.

"Phänomenal! Ihr seht euch derart ähnlich, man könnte ohne weiteres geneigt sein euch für Zwillingsschwestern zu halten. Komisch dass mir das jetzt erst richtig auffällt." Frohlockte Colette.

"Bekommen wir oft zu hören. Ne tolle Gesellschafterin ist sie. Wären wir beide nicht anderweitig verbandelt, wäre sie genau das richtig für mich. Musikalisch ist sie auch noch. Wir werden wie es aussieht wieder eine Band aus der Taufe heben. Na Kim wie seht es aus, hast du nicht auch wieder Lust?" klärte Kyra auf.

"Hey toll! Sicher! Da bin ich doch dabei!" begeisterte sich Kim.

„Ich soll dich ganz lieb von Chantal grüßen Colette.“ Meinte Eve.“ Die würde gerne helfen. Aber du kannst dir  vorstellen wie sie im Moment in die Arbeit eingebunden ist. Sobald sie es einrichten kann kommt sie dich besuchen. Wir haben nicht vergessen was du damals für uns getan hast. Es ist uns eine Ehrensache dich zu unterstützen.“

"Sind schon dabei!" Meinte Kyra während sie Eves Haaransatz graulte.

Colette stieß einen tiefen Seufzer der Zufriedenheit aus. 

"Leute, ich hab mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt und wißt ihr woran das liegt?"

"Nein, aber du wirst es uns sicher gleich sagen." Scherzte Kyra.

"Weil ihr drei genau diejenigen seit die ich für mein Vorhaben benötige. Der zündende Funke stellte sich erst vor wenigen Augenblicken ein, obgleich ich die Idee schon lange in mir trage. "

"Na da sind wir aber mal gespannt zu hören." Erwiderte Eve.

"Kim, wir zwei sind uns einige was unsere Geschlechterrolle betrifft. Aber von euch, Kyra und Eve, möchte ich gern wissen. Als was seht ihr euch? Weiblich, wie ihr es von Geburt an seid? Oder wollt ihr lieber Männer sein, mit allem was dazu gehört? Oder? Ja, oder was könnte es da sonst noch geben? Könntet ihr euch vorstellen ein neues Geschlecht zu konstruieren?"

Die Frage verwirrte zunächst, denn weder Kyra noch Eve hatte sich einer solche Frage je wirklich gestellt. Sie waren Frauen, auch wenn sie sich deutlich von ihren Geschlechtsgenossinnen unterschieden, was etwa Kleidung oder die ganze Art betraf wie sie sich gaben oder bewegten.

"Ich bin Frau, was sollte ich auch sonst sein? In erster Linie sehe ich mich als Lesbe. Ich liebe andere Frauen. Mit einer ganz besonders reizenden bin ich auch zusammen. Hm, sicher! Ich nehme gern den männlichen Part in der Beziehung ein, wenn du darauf hinaus willst. Meine Kleidung ist auch nicht gerade weiblich, das stimmt auch. Mein Haar trage ich lieber kurz und mein Benehmen sei ausgesprochen Jungenhaft. Das ziemt sich nicht für ein anständiges Mädchen. So wurde ich früher des Öfteren von meinen Eltern getadelt. Aber warum sollte ich mich dann gleich als Mann betrachten? Wäre nie auf die Idee gekommen. Ich meine ich möchte keinen männlichen Körper. Ich steh halt total auf lesbischen Sex. Aber du kannst Recht haben. Die traditionelle weibliche Rolle passt ebenfalls nicht zu meinem Wesen." Bekannte Eve.

"Also was den Sex betrifft wechsele ich ja ständig die Rollen und fühle mich gut dabei. Bei Alexandra bin ich der Mann, aktiv und dominant. Bei Folko hingegen die Frau, auch wenn es zugegeben manchmal etwas schwierig ist. Ich bin Frau, das lässt sich nicht verleugnen. Auch ich möchte keinen männlichen Körper, aber eine männliche Rolle würde ich schon gern spielen. Diese ganze Zuordnung ist doch Stuss. Ich bin eben was dazwischen.  Ja, wenn es so was gebe, wäre ich dabei." Stimmte Kyra zu und lieferte damit das Stichwort.

"Du hast es schnell erfasst Kyra und du ebenfalls Eve. Genau da möchte ich euch hinführen. Akratasien soll die binäre Geschlechterordnung sprengen." Gab Colette zu verstehen-

"Du meinst ein drittes Geschlecht? Ganz offiziell?" Wollte Kim wissen.

"Früher hätte ich mich damit begnügt. Heute blicke ich in die Weite. Vielmehr als drei. Ein dutzend? 100? Oder noch mehr? Am besten so viele wie es Menschen gibt. Das was zwischen männlich und weiblich steht, ist so heterogen, so vielfältig das man es gar nicht in eine einheitliche Kategorie verpacken kann. Akratasien soll eine Heimat für all jene werden, die sich nicht festlegen wollen oder können. Für alle, die aufgrund dessen ihr zuhause verloren haben, weil sie diskriminiert und ausgegrenzt werden, verhöhnt oder gar Gewalt ertragen müssen. Das ist mein Traum und ich möchte ihn mit euch träumen. Ihr versteht mich. Ihr seid euch bewußt wovon ich spreche. Bei den anderen bin ich mir da manchmal gar nicht so sicher. Aber wo ist Betül? Sie gehört auch zu uns. Liebling komm doch zu uns raus in den Garten."

Sogleich erschien die Gefährtin in der Tür.

"Aber du willst uns jetzt nicht etwa weismachen, das Betül sich männlich fühlt? Sie ist die sinnlichste weibliche Verführung seit Elena?" Entgegnete Kyra mit spaßigem Unterton.

"Natürlich nicht! Aber meine Liebste hat in ihrer alten Heimat sehr energisch gegen die ihr zugewiesene Rolle ankämpfen müssen. Eine Rolle die ihr die Luft zum Atmen nahm und ihr jedwede Entwicklungsmöglichkeit verbaute. Nun ist sie bei uns und kann ihren Traum von Freiheit leben."

„ Ihr seid zu meiner neuen Familie geworden. Freiheit ist eine wichtige und wunderbare Sache, aber wenn du als Preis dafür den Verlust deiner Familie hinnehmen mußt, ist sie nur die Hälfte wert. Freiheit ist nur dann wahre Freiheit, wenn du sie mit anderen teilen und genießen kannst.

Ohne euch hätte ich nie wirkliche Freiheit gefunden. Und vor allem, dass ich sie mit einem Menschen wie Colette teilen kann, ist für mich die größte Erfüllung.“

Betüls Aussage bewegte die Gemüter, so dass für den Augenblick niemand etwas sagen konnte. 

Sie erhob sich und begab sich wieder in die Einsiedelei um wenig später mit Aischa im Arm zurückzukehren.

Sie legte das kleine Würmchen in Colettes Schoß.

„Diese junge Dame soll von Anfang an dazu gehören. Es ist ihr vergönnt in einer anderen Welt aufzuwachsen als wir alle es durften. Sie und alle anderen von der neuen, der akratasischen Generation sind unsere Hoffnung. Sie werden später jene Früchte ernten dürfen deren Samen wir erkoren sind auszusäen. Ich spüre die Kraft die von dir ausgeht meine Königin, von dir wie auch von Elena.“

Dem brauchte keiner mehr etwas hinzufügen.

Der Grundstein für einen neuen Bund war gelegt. Anarchonopolis würde in der Folgezeit zu einem Mekka all jener die sich nicht in die binäre Geschlechternorm fügen wollten oder konnten.

So wie bereits die Männer ihr eigenes Zentrum erhalten hatten, würden nun Kundras jedweder Prägung und Geschlechtes die Möglichkeit bekommen frei und selbst bestimmt in einem Refugium ihrer Wahl zu leben. Platz hatte man mehr als genug. Da facto stand ganz Akratasien zur Verfügung. Doch waren sich alle einig ein solches Zentrum möglichst in oder in unmittelbarer Umgebung von Anarchonopolis zu gestalten. 

Colette hatte ihre Mitstreiterinnen für den ersten Schritt gefunden. Weitere würden sich ihnen anschließen, wenn das Projekt erst einmal publik gemacht würde. Die alternde Transfrau und die Junglesben, was auf den ersten Moment so gar nicht zueinander passen wollte, erwies sich bei genauerem Hinsehen als Idealkonstrukt. Alles in allem typisch akratasisch.

Kyra und Eve waren gut versorgt. Bei Kim würde sich Colette noch in ganz anderer Hinsicht ins Zeug legen. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern, die sehnte sich nach einer weiblichen Partnerschaft. Colette gedachte zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

In Gedanken kehrte sie zum gestrigen Tag zurück. Was, wenn die beiden nicht mehr rechtzeitig in die Basilika gekommen wären? Was, wenn sie ihren Weg ans andere Ufer der Nacht schon gestern hätte antreten müssen?

Dann stünde Betül jetzt allein, allein mit der kleinen Aischa. Wen würde Colette Frau und Tochter anvertrauen können? Kim war ihre absolute Wunschkandidatin, sie mochte sie nach wie vor sehr und sah sich in gesteigertem Maße für sie verantwortlich. Kim war mehr Tochter denn Geliebte. Diese Erkenntnis hatte sich endgültig durchgesetzt. In der Folgezeit würde sie alles daran setzen Betül und Kim einander näher zu bringen. Sollte das gelingen, würde sie guten Gewissens Abschied nehmen können von dieser Welt. Einer Welt die ihr die längste Zeit ihres Lebens nur Kummer und Verdruss gebracht hatte.

Doch andererseits, wollte sie tatsächlich schon Abschied nehmen? Jetzt? Wo es langsam anfing spannend zu werden?

 

 

 * Aischa bint Abi Bakr- War die dritte und jüngste Frau des Propheten Mohammed. Tochter des ersten Kalifen Abu Bakr. Sie zählt zu den 12 „Müttern des Glaubens“ Sie gilt als Mohammeds Lieblingsfrau und besaß großen Einfluss. 632 starb Mohammed in ihren Armen. Seine letzten überlieferten Worte vor seinem Tod „In der Endzeit wird meine Religion auf den Händen der Frauen getragen.“ Davon ist im Moment nicht viel zu spüren, also dürfte es bis zur Endzeit noch sehr lange dauern.