Elena auf der Mauer

Cornelius Gesundheitszustand verschlechterte sich in den letzten Tagen erheblich.

Lange schon wurde Melancholaniens Staatsoberhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Gerüchte um seinen angeblichen Tod begannen die Runde zu machen und drangen auch bis zur Pforte der Abtei.

Zwar wurden jene Fehlinformationen regelmäßig durch den Rundfunk dementiert, aber man mochte dem keinen so rechten Glauben schenken.

Die Situation schien sich auf dramatische Weise zu zuspitzen, die Fluchtbewegung in Richtung Kommune hielt unvermittelt an. Immer mehr strömten durch das große Tor und begehrten auf dem Gelände der Abtei Asyl. Auch die der Abtei zugeordneten Gebiete verzeichneten stetigen Zuzug.

 

In zunehmendem Maße fühlten sich die Bewohner Melancholaniens von der mausgrauen Diktatur in die Enge getrieben. Eine ständige Steigerung der Repression war zu verzeichnen, immer schmerzhafter wurden die Daumenschrauben angezogen.

Es konnte wohl nur eine Lösung geben und die bestand darin, fluchtartig das Weite zu suchen, da die Außengrenzen bereits hermetische abgeriegelt waren, blieb eben nur der Gang durch die Pforte in die Abtei.

Als besonders schmerzhaft wurde dabei der Verlust gut qualifizierter Fachkräfte empfunden.

Das Land drohte immer deutlicher in eine ökonomische Katastrophe abzudriften. Es war unvermeidlich der Fluchtbewegung schnellstmöglich Einhalt zu gebiete.

Aus diesem Grund fand sich an einem verregneten Julimorgen das Zentralkomitee der Radikal-Revolutionären Partei zu einer Krisensitzung ein.

„Genossen, die Situation spitzt sich auf bedrohliche Art zu. Wir können dieser ständigen Ausdünnung der Bevölkerung nicht mehr tatenlos zusehen. In der Zwischenzeit befindet sich etwa ein Drittel des Staatsgebietes in der Hand dieser anarchistischen Kommunen. Tausende haben unserem Land den Rücken gekehrt. Und ein Ende ist nicht ab zu sehen.

Die Wirtschaft Melancholanien leidet in erheblichem Maße unter der Fluchtbewegung. An allen Ecken werden die Arbeitskräfte rar und wo wir auch hinblicken wird der Mangel sichtbar.

Es ist damit zu rechnen dass schon in absehbarer Zeit die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr zu gewährleisten ist. Unmut macht sich breit und die Stimmung ist katastrophal.

Ich bin dafür so bald als möglich zu intervenieren. So kann es unter keinen Umständen weitergehen, ansonsten droht unserem Land der endgültige Kollaps.“

Beschwerte sich Dagobert der Chefideologe der Partei in seinem Eingangsreferat.

Neidhardt hatte erst vor kurzem eine heftige Sommergrippe überstanden und saß zusammengekauert der Versammlung vor. Eingehüllt in eine Decke blickte er missmutig in die sich vor im versammelte Runde. Noch vermied er es selbst in die Diskussion ein zu greifen. Eine neue Strategie dem Anschein nach. Er lies die anderen debattieren und ergriff immer erst dann das Wort wenn es ihm nötig erschien.

„Wir haben waren viel zu lange untätig. Nun haben wir den Salat. Stets habe ich mich vehement für eine härtere Gangart eingesetzt. Aber man wollte ja nicht auf mich hören. Ich sage euch, wir müssen zu schlagen, sofort. Eine Invasion ist die einzige Sprache, die von diesem anarchistischen Pack verstanden wird.“ Polterte Gerold der für seine radikalen Ansichten gefürchtet Chef des Sicherheitsdienstes.

„Eine Invasion? Hast du den Verstand verloren? Die Reaktionen des Auslandes wären katastrophal. Dir ist wohl noch immer nicht bewusst welches Ansehen Elena dort genießt.

Wir müssten mit Sanktionen von gigantischem Ausmaß rechnen. Die können wir uns unter keinen Umständen leisten. Schon jetzt ist unsere Wirtschaft zu einem erheblichen Teil vom Export abhängig. Melancholanien muss hingegen jede Menge importieren um der Bevölkerung überhaupt noch ein Minimum an Lebensqualität zu sichern.“ Lehnte Dagobert dieses Ansinnen mit Nachdruck ab.

„Was interessieren uns die Verlautbarungen des Auslandes. Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Die sollen vor ihrer eigenen Haustür kehren. Wir haben es hier mit innermelancholanischen Angelegenheiten zu tun. Oder betrachtet etwa einer von euch das Gelände der Abtei oder die ihr angegliederte Gebiete als Ausland? Ich nicht?“

Stimmte Heribert, ein weiterer Vertreter der Falkenfraktion seinem Vorredner Gerold zu.

„Für uns mag das zutreffen. Aber international liegen die Dinge etwas anders. Die haben sich nun mal in ihrer Mehrheit auf Elenas Seite geschlagen, uns zum Nachteil. Die warten doch nur auf eine Reaktion, Gerold, um uns der eklatanten Menschrechtsverletzung anzuklagen.“ Meldete sich nun Lars zu Wort dessen gemäßigte Einstellung seit einiger Zeit immer deutlicher in zu Tage trat.

„Menschenrechte? Wenn ich dieses Wort schon höre. Die tun ja geradeso als ob alle Länder Europas und darüber hinaus Horte der Friedfertigkeit und Gerechtigkeit seien. Von den USA wollen wir gar nicht erst reden. Wehe all jenen die dort nicht die richtige Hautfarbe haben, oder du bist arm, oder gehörst keiner christlich-fundamentalistischen Kirche an. Nein, wir brauchen deren Reputation nicht. Ich denke wenn wir alle geschlossen auf treten, können die uns gar nichts.“

erwiderte Arne, ein Ex-Diplomat des alten Regimes, der nun auch unter den neuen Machthabern die Karriereleiter erklommen hatte und dessen Auslandserfahrung von enormen Nutzen schienen.

„Ich stimme dir zu. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. In unserem Lande werden die Menschenrechte nicht minder geachtet als anderswo. Aber die haben sich nun einmal auf uns eingeschossen und damit müssen wir leben. Das ist auch bei weitem nicht das einzige Problem. Wir müssen an die Klausel denken, die uns bindet, zumindest solange Cornelius lebt.“ Klärte Dagobert weiter auf.

„Cornelius? Was interessiert uns Cornelius? Er liegt derzeit im Sterben. Nach seinem Tod hat sich diese unselige Klausel ohnehin erledigt. Dann kann uns keiner mehr davon abhalten uns zu nehmen was unser ist!“ Polterte Gerold weiter.

„Dann warte wenigstens bis Cornelius das zeitliche gesegnete hat. Soviel Anstand sollten wir bewahren.“ Wehrte Lars schroff ab, während er wie ein Blitz aus seinem Sessel in die Höhe schnellte.

„Diese Zeit haben wir nicht! Es ist fünf Minuten vor Zwölf. Jeder weitere Tag der ins Land streicht ohne das wir zu wirksamen Gegenmaßnahmen greifen ist ein immenser Verlust.

Die Befindlichkeiten eines alten sentimentalen Greises können uns nicht weiter interessieren.“

Brüllte Heribert

Lars wollte gerade zu einer Standpauke ansetzen, doch Dagobert hielt ihn am Ärmel.

„So kommen wir nicht weiter. Wollen wir etwa ein Zerwürfnis innerhalb des ZK riskieren? Wir benötigen in dieser Frage Einigkeit. Lars hat völlig Recht. Wir können diese Klausel nicht so ohne weiteres umgehen. Nach Cornelius, Gut, einverstanden. Dann werden die Karten ohnehin neu gemischt. Aber selbst dann können wir nicht mit der Tür ins Haus fallen und müssen Vorsicht walten lassen.“

„Aber warum denn? Wir haben die Macht. Und Macht ist Recht! Was ist daran so kompliziert? Die Partei hat immer Recht und braucht sich vor niemanden zu rechtfertigen. Wir hätten von Anfang an jener Klausel niemals zustimmen dürfen.“ Entgegnete Gerold weiter unnachgiebig.

„Wir müssen uns dem Ziel langsamen Schrittes nähern und bei allem was wir tun den Schein der Legalität wahren. Unter keinen Umständen dürfen wir nach außen zu erkennen geben, dass wir uns der Menschenrechtsverletzung schuldig machen. Das könnte uns nur zum Schaden gereichen.“

Begann Dagobert den Versuch einer Erklärung.

Doch weit kam der damit nicht, denn nun schaltet sich Neidhardt ein. Dreimal schlug er mit seinem Stock laut auf die Tischplatte.

Warum er neuerdings einen Gehstock benutzte, konnte bisher noch niemand in Erfahrung bringen, schließlich war in keiner Weise gehbehindert. Es hatte den Anschein als wolle er sich durch solcher Art Gesten ein mehr an Respekt verschaffen.

„Genug! Ich habe genug von euren Zänkereien. Endlose Debatten und kein Ergebnis, während die Welt dort draußen Land unter geht. Alles was ihr bisher geboten habt taugt geradewegs für den Papierkorb. Bin ich denn ausschließlich von Versagern umgeben? Euch kommt in erster Linie eine beratende Funktion zu, die mir meine Entscheidungen erleichtern sollen. Aber auf diese Art der Beratung kann ich sehr gerne verzichten!“

„Nun, wir alle bedauern dass unsere Vorschläge dich offensichtlich nicht zufrieden stellen. Aber dann lass uns doch wissen wie und auf welche Art wir dir eine besser Unterstützung wären.“ Wagte Dagobert einen Einwand.

„Immer wenn ihr mit eurem Latein am Ende seid kommt ihr zu mir und erhofft euch einen wegweisenden Rat. Armes Melancholanien. 

Die Vorschläge die ich zu hören bekam ,können wir allesamt vergessen. Zum besseren Verständnis. Ich habe nicht vor Elena zur Märtyrerin zu machen,um dieser Hexe Gelegenheit zu bieten über uns zu triumphieren. Es wird demzufolge keine Invasion geben, oder irgendetwas annähernd vergleichbares. Dein Vorschlag Gerold ist absolut kontraproduktiv.“

Mit hochrotem Kopf senkte der Angesprochen sein Haupt.

„Aber was euch Zauderer und Zögerer betrifft, ihr seit auch keinen Deut besser.“

Neidhardt richtete seine Blicke abwechselnd auf Dagobert und auf Lars.

„Aussitzen können wir uns nicht mehr leisten. Darauf hoffen das sich alles von alleine regelt ist nicht mehr. Wir müssen aktiv werden und zwar jetzt!“

„Aber genau so lautete doch mein Vorschlag Neidhardt. Auch ich vertrete den Standpunkt dass wir nicht mehr zögern dürfen. Du hast mich offensichtlich missverstanden, denn…“ Unternahm Dagobert den Versuch einer Rechtfertigung, doch er wurde schroff zurückgewiesen.

„Ich will nichts mehr hören!“ Fuhr ihn Neidhardt an. Dann erhob er sich von seinem Platz und begann sich in den großen Raum auf und abwärts zu bewegen.

„Wir können nicht auf das Territorium der Kommunen vordringen. Dessen bin ich mir bewusst. Wir werden die Verträge einhalte so lange Cornelius noch lebt, danach wird es einen grundlegenden Wandel geben. Wie? Daran werden wir sehr gründlich feilen. Wir können uns eine Isolation durch das Ausland nicht erlauben, also müssen wir auf äußerst geschickte Weisen vor gehen. Auf die Gebiete die uns bereits verloren gingen, müssen wir verzichten, zumindest vorläufig.“

„Verzichten? Neidhardt das dürfen wir nicht!“ Wagte Heribert seinen Vorgesetzten zu unterbrechen.

„Ein Blick auf die Landkarten hält uns deutlich vor Augen in welcher Position wir uns befinden. Unser Land gleicht einem Flickenteppich. Keiner kann mit Gewissheit sagen welches Dorf, welche Siedlung, ja welcher Stadtteil einer größeren Stadt noch der Kontrolle unserer Regierung unterliegt und welcher sich bereits unter dem Einfluss der Kommune befindet. Ständig müssen neue Landkarten erstellt werden. In Bälde werden diese nur noch so von weißen Flecken wimmeln.“

„Ich habe es überhaupt nicht gern, wenn man mich in meinen Ausführungen unterbricht, das dürfte dir doch nicht entgangen sein.“

Neidhardt verschränkte die Arme in den Achseln, eine Geste die nichts Gutes erahnen lies.

Dann schritt er langsam weiter auf und ab.

„Ich lehne es ab mit euch zu diskutieren. Den Status quo akzeptieren wir, aber wir werden die Fluchtbewegung eindämmen und zwar ein für alle mal. Mit sofortiger Wirkung ändern wir die Staatbürgerschaft. Ich habe mir die Nächte um die Ohren geschlagen um nach Optionen zu suchen die Klauseln die uns binden zu unterlaufen. Auf die einfachste Lösung kam ich leider ganz zum Schluss. Das Recht sich der Kommune anzuschließen trifft ausschließlich auf Personen und bewegbare Immobilien zu. Elena hat uns seinerzeit auf Kreuz gelegt. Es hat nie einen Passus gegeben der es erlaubt Land bzw. unbewegliche Immobilien der Kommune zu zuführen. Leider ist ihr Cornelius auf den Leim gegangen, mit den verheerenden Folgen die wir nun auszubaden haben.

Unser Land wird nicht weiter aufgesplittert.  Wir unterbinden jegliche weitere Abspaltung. Wir begründen es mit der Gefahr für die innere Sicherheit. Unserem Land kommt wie jedem anderen auch das Recht zu sich gegen ausländische Provokationen zur Wehr zu setzen. Und davon werden wir Gebrauch machen. Wir erklären das Gelände der Abtei und alle angeschlossenen Gebiete für ausländisches Staatsgebiet. Uns steht ein feindlich gesinnter Gegner gegenüber und wir nehmen uns das Recht die Grenzen zu sichern.“

Lauter Beifall brandete ihm entgegen. Neidhardt genoss diesen eine Weile bis er durch eine Geste die Ruhe im Raum wider herstellte.

„Wir werden schon in den nächsten Tagen mit den Vorbereitungen beginnen. Rund um die Abtei, sowie um die ihr angegliederten Gegenden werden wir einen Schutzwall errichten.

Auf diese Weise dämmen wir die Fluchtbewegung ein. Unser Land braucht nicht weiter auszubluten.“

Erneuter Beifall war die Folge.

„Eine großartige Idee Neidhardt, du kannst dir der ungeteilten Zustimmung des gesamten Zentralkomitees sicher sein. Aber die Frage muss erlaubt sein. Wie soll dieser Schutzwall konkret aussehen? Wie können wir ihn uns vorstellen?“ Bekundetet Dagobert.

„Zäune, Stacheldraht, wo es erforderlich ist auch eine eigens dafür zu errichtende Mauer aus Beton.  Wachtürme in überschaubaren Abständen. Eine undurchdringliche Blockade, es darf unter keinen Umständen irgendwelche Schlupflöcher geben. Generalmobilmachung der Streitkräfte. Alle verfügbaren Baubrigaden werden bis auf weiteres von ihren bisherigen Einsatzorten abgezogen. Alles geschieht unter geheimer Verschlusssache. Kein Wort darf nach außen dringen. Wir müssen die Weltöffentlichkeit vor vollendete Tatsachen stellen.

Eine große Aktion von enormer Tragweite, viel Aufwand ist von Nöten und du wirst diese Aktion leiten!“

Neidhardt richtete seinen Zeigefinger bedrohlich auf Lars. Der völlig überraschte zuckte instinktiv zusammen.

„Ich? Aber warum gerade ich?“ Stotterte der Auserkorene.

„Weil ich es so will und anordne! Seit wann muss ich meine Entscheidungen begründen?“

„Aber…aaaa aber Neidhardt, ich kann mir vorstellen dass es hier uuuuu…unter uns bbbbbessere und ffffffähigere gibt als meine Wenigkeit. Ich meine ….

Damit sagen, dass….“ stotterte Lars wir ein unsicherer Teenager.

„Ich will dich und sonst keinen!“ Brüllte Neidhardt in die Runde.

„Aber ich meine doch nur, wie kommst du ausgerechnet auf mich?“

„Aber ,aber! Lars Es handelt sich hier um einen Ehrenauftrag! Du wirst doch keinen Ehrenauftrag zurückweisen? Jeder hier im Raum beneidet dich für die Aufgabe.“ Stänkerte Arne und die Schadenfreude schien ihm ins Gesicht geschrieben verbunden mit der Erleichterung das der Kelch an ihm vorübergegangen war.

`Dann tu es doch gefälligst selber!` dachte sich Lars und aber vermied natürlich diesen Gedanken in Worte zu kleiden.

„Es gibt keinen besseren als dich! So einfach ist das. Immerhin möchtest du doch einmal mein Nachfolger werden, wie ich in Erfahrung bringen konnte. Mit der Erfüllung dieses Auftrages wird sich zeigen ob du dich dieser Funktion in ausreichenden Maße als würdig erweist.“

Neidhardts Aussage versetzte Lars nun vollends in Panik.

„Ich und dein Nachfolger? Aber Neidhardt, wie…wie kommst du denn darauf? Ich kann mich nicht erinnern jemals eine solche Andeutung gemacht zu haben. Warum auch? Du erfreust dich bester Gesundheit und wir alle hoffen dass du uns noch möglichst lange in deiner Funktion erhalten bleibst. Wir alle sind außerordentlich glücklich über deine Genesung.“

Versuchte Lars mit hastigen Worten diese Aussagen zu entkräften. Selbstverständlich hatte er nie eine solche Absichtserklärung kundgetan. Neidhardt hatte das einfach bestimmt.

„Wer in meine Nachfolge tritt bestimme ich! Ich habe dich dazu erkoren. Auch ich bin nur ein sterblicher Mensch. Jederzeit kann meine Lebensuhr aufhören zu ticken. Es bedarf einer geeigneten Person um diese Aufgabe zu übernehmen, wenn es denn sein muss. Du wirst dich darauf vorbereiten. Je früher desto besser. Diese Aufgabe wird dir eine Menge an Energie abverlangen. Ich möchte mir sicher sein, dass mein Nachfolger zu 100% in meinem Takte schlägt. Ich werde dich in der Folgezeit beobachten, bei allem was du tust wird mein Schatten über dir sein. Jede Handlung werde ich kontrollieren und mir mein Urteil bilden.

Mein Nachfolger muss über alle Zweifel erhaben sein. Ich dulde keine Fehler.

Solltest du dich als unwürdig erweisen, was ich nicht hoffe, dann gibt es keine Gnade, schreib dir das hinter die Ohren.“

Neidhardts Worte wirken wie ein Hammer der mit voller Wucht den Ambos trifft. Lars saß in der Falle. Aus dieser Schlinge gab es kein Entrinnen mehr.

Wieder setzte Beifall ein, diesmal galt er Lars. Sollte er begeistert sein, oder bejubelten die bereits seine zukünftige Beerdigung?

Mit zitterigen Knien erhob sich Lars zaghaft von seinem Sitz.

„Ich…. Ich fühle mich geehrt Neidhardt. Geehrt über das Vertrauen, das du mir entgegenbringst. Ich danke dem gesamten Zentralkomitee für dessen ungeteilte Unterstützung. Ich werde versuchen, mein Äußerstes zu geben. Ich bemühe mich die Anforderungen nach besten Wissen zu erfüllen. Seit gewiss, die Sicherheit Melancholaniens ist bei mit in guten Händen. Ich werde allen Staatsfeinden mit unnachgiebiger Härte begegnen. Die Revolution wird siegen, dessen bin ich mir bewusst und schon bald wird sich unser Land unter einer Fahne vereinen.“

Auch dieses kurze Statement wurde mit frenetischem Befall entgegengenommen.

Im Anschluss daran wurde Lars per Akklamation in die Funktion des Zweiten Sekretärs der Radikal-Revolutionären Partei berufen. Ein rein formaler Akt, denn Neidhardts Entscheidungen wurden nie in Frage gestellt.

Dagobert, der jene Funktion bisher inne hatte, wurde damit ganz nebenbei davon entbunden.

Dies bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, ganz im Gegenteil, er konnte sogar ausgesprochen froh über diese Tatsache sein. Es bedeutete ein angenehmeres arbeiten. Von dieser Stunde an sah er sich nicht mehr permanent den Launen Neidhardts ausgesetzt.   

„Genossen!“ Hob Neidhardt erneut an. „Wir haben heute einen großen Entschluss gefasst. Der Beginn eines neuen Zeitalters. Die Revolution findet nun, nach langer Unterbrechung, ihre Fortsetzung. Die Bewohner der so genannten libertären Kommunen werden vor die Wahl gestellt sich entweder zu beugen oder ihrem Untergang entgegen zu schreiten. Es liegt an ihnen unsere ausgestreckte Hand der Versöhnung zu ergreifen.“

Zaghaft meldete sich Rudolf einer der ältesten zu Wort, der an einer ausgesprochen Hörschwäche litt.

„Darf ich noch eine Frage zur Erläuterung stellen, Genosse Generalssekretär?“

Neidhardt bedeutete ihm nickend seine Zustimmung.

„Wenn ich recht verstanden habe, dürfen keine Bewohner Melancholaniens das Gebiet der Kommunen mehr betreten. Aber wie ist es in umgekehrter Richtung. Können die denn unser Staatsgebiet betreten? Weiterhin möchte ich gerne in Erfahrung bringen wie es mit der Versorgung der Kommunen aussieht. Werden die jetzt von allem abgeschnitten? Hast du vor die Leute dort, nun wie soll ich sagen, auszuhungern?“

Eine provokante Frage, aber eine die von entscheidender Wichtigkeit schien.

„Ich habe keinesfalls vor mich von den dekadenten Boulevardmedien der angeblich so zivilisierten westlichen Hemisphäre als Tyrann verunglimpfen zu lassen der eine humanitäre Katastrophe zu verantworten hat. Selbstverständlich können die Bewohner der Kommunen  nach Melancholanien einreisen. Es versteht sich aber von selbst dass wir einige bürokratische Hürden aufstellen. Wer einreisen möchte muss das schriftlich bei einer eigens dafür einzurichten Behörde beantragen. Reisen in andere Länder können wir ihnen nicht verweigern. Was die Versorgung betrifft, nun wir werden mit ihnen Handel treiben.“

„Handel treiben? Wie kann ich das verstehen?“ Hakte Rudolf nach, während er permanent an seinem Hörgerät fingerte.

„Eine ganze Reihe von Staatsfeinden hat sich auf das Gelände der Abtei geflüchtet. Viele davon gehörten zu Zeiten des alten Regimes der Privokaste an. Allesamt subversive Elemente die ihr Vermögen mitgenommen und somit unserem Zugriff entzogen haben. Das erklärt den rasanten ökonomischen Aufstieg und die weitgehend autarke Struktur dort. Wir werden uns dieses Geld wieder beschaffen. Wir erklären uns bereit sie mit allem dass sie für das tägliche Leben benötigen zu versorgen. Diese Dienstleistung lassen wir uns hoch und nett bezahlen.

Warum sollten wir eine Kuh schlachten die wir melken können?

Auf diese Weise werden wir unsere eigene Wirtschaft ankurbeln, die Produktion steigern und die Lebensqualität unserer  Bevölkerung deutlich heben.

Selbstverständlich können die auch ablehnen und lieber des Hungertodes sterben, das steht ihnen frei. Dafür trägt aber Elena und ihre Clique die Verantwortung, nicht wir.“

„Ein genialer Einfall Neidhardt. Ich kann nur bedingungslos zustimmen und ich geh davon aus das ich hier im des gesamten Zentralkomitees spreche.“ Katzbuckelte Dagobert in seiner üblichen devoten Haltung. Lars schwieg hingegen noch immer geschockt von der Tatsache welche Rolle er in Zukunft zu spielen hatte.

„Wir werden schon eine Möglichkeiten finden, die gesamte Bande in die Knie zu zwingen. Damit bekommen wir sie auf jeden Fall. In totaler Abhängigkeit von unserem Wohlwollen, werden sie sich von nun an sehr genau überlegen, ob sie uns weiter auf ihre unverschämte Art provozieren. Dann werden wir unser Land nach revolutionären Vorstellungen der Partei wiederzuvereinigen und entsprechen  gestalten.“

Neidhardts Schlusswort lies den Blick in einer düstere Zukunft erahnen.

Würde er Elena und die Ihren tatsächlich an empfindlicher Stelle treffen? Zu jenem Zeitpunkt blieb die Frage offen.

 

Schon am Folgetag liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Die Generalmobilmachung wurde eingeleitet, die Kasernen füllten sich mit Reservisten. Die bekamen ihre Order in eiligst anberaumten Politschulungen.

Überall im Land wurden die Bauarbeiter von ihren Baustellen abberufen und zunächst nach Manrovia gebracht, auch diese, sehr zu ihrem Unwillen, kaserniert untergebracht.

Es kam vor allem darauf an Stillschweigen zu bewahren, unter keinen Umständen durften schon jetzt Einzelheiten über die Aktion in die Öffentlichkeit gelangen. Vor allem die ausländische Presse sollte möglichst keinen Wind davon bekommen.

Was die Armee betraf, so lautete die offizielle Stellungnahme, dass es sich um ein groß angelegtes Manöver handele. Die Bauarbeiter hingegen sollten auf ein umfangreiches Großprojekt vorbereitet werden um die immer weiter um sich greifende Wohnungsnot einzudämmen.

Kaum ein Bewohner Melancholaniens mochte diesen Verlautbarungen so rechten Glauben schenken. Somit sah sich Neidhardt etwa drei Tage vor dem Startschuss gezwungen in die Offensive zu gehen und zu einer Pressekonferenz zu laden.

Pressekonferenzen verliefen immer nach dem gleichen Strickmuster. Neidhardt erschien, hielt ein langweiliges und wenig informatives Referat, das schon bald die Nerven der anwesenden Reporter auf das heftigste strapazierte. Danach durften ein oder zwei Reporter eine Frage stellen. Die wurde vor Beginn der Konferenz von Neidhardts Vertrauten auf ihre Tauglichkeit überprüft. Die Möglichkeit dem Generalsekretär einfach so eine spontane Frage zu stellen sollte verunmöglicht werden.

 

An jenem Dienstagmorgen war der große Pressesaal im „Grauen Wunder“ bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle erhofften sich schnelle Aufklärung über die im Lande kursierenden Gerüchte. Wird die Abtei endgültig abgeriegelt? Soll etwa allen ernstes eine Art von Schutzwall ringsum erreichtet werden? Was hatte das für Konsequenzen für die dortigen Bewohner? Ging Neidhardt damit nicht ein großes Risiko ein? Wie würde die Reaktion aus dem Ausland aussehen?

Viele offene Fragen die ihrer Beantwortung harrten.

Gespenstische Ruhe erfüllte den Raum, nachdem Neidhardt auf dem Podium erschienen war.

Er holte sein Manuskript hervor und begann darin zu blättern, das pflegte er immer zu tun, um die ohnehin schon vorhandene Spannung zu erhöhen.

„Liebe Genossen, meine Damen und Herren Pressevertreter ich darf sie zu unsere Pressekonferenz begrüßen.“ Setzte Neidhardt an.

„Leider ist es uns noch nicht in vollem Umfang gelungen das Wohnungsproblem unseres Landes in ausreichendem Maße zu lösen. Aus diesem Grunde haben wir uns entschieden ein gezielt angelegtes Bauprojekt in Manrovia zu starten.

Zu diesem Zweck haben wir alle verfügbaren Reserven an Bauarbeiten aus allen Teilen des Landes  zusammengerufen. Die bereiten sich derzeit auf ihre neue Aufgabe vor.

In wenigen Tagen erfolgt der Startschuss. Binnen kurzer Zeit soll es uns gelingen über 500 Neubauwohnungen fertig zustellen. Ein Vorhaben von enormen Umfang. Aber wir sind guter Zuversicht, dass es uns gelingen wird.“

Blablabla. Das übliche. Selbstverständlich befriedigte das mitnichten. Aber die meisten anwesenden Pressevertreter waren mit den Gepflogenheiten bereits vertraut und erwarteten keine Aufklärung mehr. Einer jedoch wollte sich mit diesem Statement nicht zufrieden geben.

Harry Hastig, viel beschäftigter Reporter des deutschen Fernsehens hatte sich vorgenommen das Ritual an diesem Tag zu durchbrechen und wagte es doch tatsächlich Neidhardt die alles entscheidende provokative Frage zu stellen.

„Sehr geehrter Herr Generalsekretär. Ihr Statement in allen Ehren. Aber die meisten der hier versammelten Reporter bewegt in diesem Moment nur die eine Frage. Gerüchte sind im Umlauf. Demnach gibt es einen Plan, das Geländer der Alten Abtei, sowie deren angegliederte Zonen mit einem Schutzwall zu umgeben. Grenzbefestigungen sollen installiert werden, womöglich eine Mauer um den Zustrom an Flüchtlingen in die Kommunen einzudämmen. Wie lautet ihre Stellungnahme dazu? Was können sie uns darauf antworten.“

Stille, eine gespenstische Stille senkte sich auf die Anwesenden nieder. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.

Da hatte doch tatsächlich einer die Schallmauer durchbrochen.

Was würde geschehen? Ein Donnerwetter? Keinesfalls, denn Neidhardt wusste sich gegenüber ausländischen Korrespondenten zu benehmen.

„Ich kann ihnen versichern, es handelt sich hier um Gerüchte, reine Gerüchte die jedweder Grundlage entbehren. Wie ich schon andeutete die Bauleute sind lediglich für den Bau neuer Wohneinheiten abgestellt. Alles andere sind Spekulationen. Ich gebe ihnen mein Ehrenwort, verstehen sie, mein E h r e n w o r t. Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten!“

Damit schien alles gesagt. Der letzte Satz sollte schon in Kürze zur Legende werden.

Das Dementi schien eindeutig. Kein Mensch mochte den Worten Glauben schenken, aber niemand kam auf die Idee, noch einmal nachzuhaken.

Auch Harry Hastig nicht. Der versuchte zwar noch einmal zu einer Frage anzusetzen, gab sein Ansinnen jedoch auf, als es ihm dämmerte, wie sinnlos es war Neidhardt mit Fragen zu löchern. Der würde doch nur wieder wie ein Papagei in ständiger Abfolge wiederholen was er der Versammlung bereits kundgetan.

„Meine Damen und Herren! Gibt es noch jemand ihm Saal, der mir eine Frage stellen möchte?“ Warf Neidhardt in die Runde.

Schweigen! Eintöniges Schweigen!

„Nun denn, wenn dem nicht so ist, dann wünsche ich ihnen einen schönen Tag!“ Sprachs und verließ eilenden Schrittes die Pressekonferenz. Sie hatte im Ganzen etwas 5 min gedauert.

Die Reporter erhielten eine eindeutige Antwort, dem war nichts hinzu zufügen.

Nichts desto trotz brodelte die Gerüchteküche weiter. Diese machten auch vor den Toren der Abtei keinen Halt. Doch niemand glaubte dass die andere Seite es tatsächlich wagen würde soweit zu gehen.

 

Als in den frühen Morgenstunden eines angenehm frischen Julimorgens Ansgar wie immer seinen Morgenspaziergang an der Innenseite der Klostermauer unternahm, drang ihm von außen ein Stimmengewirr an die Ohren. Um dem auf den Grund zu gehen bestieg er einen der zahlreichen Hochstände die sich direkt an der Mauer befanden und warf einen Blick vor das Tor. Er traute seinen Augen nicht als er dort dutzenden von Bewaffneten erblickte. Natürlich glaubte er im ersten Moment an eine bevorstehende Invasion. Mit der Absicht die anderen vor der vermeintlichen Bedrohung zu warnen,hastete er  wie ein Besessener über den Klosterhof in Richtung Konventgebäude. 

Um sich noch schneller Gehör zu verschaffen griff er nach einer Glocke, die gewöhnlich dazu benutzt wurde die Mahlzeiten zu verkünden. Damit rannte er durch die langen Gänge des Konventsgebäudes. Schon kurze Zeit später strömten die ersten in die Gänge um sich kundig zu machen.

Ansgar klärte sie in kurzen Sätzen auf.

Auf der großen Treppe die ins Obergeschoss führte, kamen ihm Elena und Madleen entgegen.

„Was ist denn los Ansgar? Warum machst du so einen höllischen Lärm. Droht uns denn ein Asteroid aus dem All zu erschlagen?“ Erkundigte sich Elena.

„Nun, der Asteroid ist längst aufgeschlagen. Sieh nach draußen und überzeuge dich. Militär wohin das Auge blick, rings um die Abtei. Ich sage euch, die bereiten eine Invasion vor.“

„Was? Kann ich mir nicht vorstellen! Solange Cornelius noch lebt werden die das nicht wagen!“ zweifelte Elena.

„Dann geh und überzeuge dich, wenn du mir nicht glaubst.“ Schlug Ansgar vor, dann lies er die beiden stehen und setzte seine Runde durch das Haus fort.

Die beiden Frauen begaben sich nach draußen und schlossen sich der Menschenmenge an die in Richtung Klostermauer strebte.

Unten angekommen konnten sie sich der Richtigkeit von Ansgars Schilderung versichern.

„Sieh hin! Die bereiten ne echte Schweinerei vor. Das spüre ich. Meine Vermutungen haben mich noch nie im Stich gelassen.“ begrüßte Colette die beiden.

„Ich glaub es nicht! Was um alles in der Welt geht hier vor ? Was wollen die?“

Entsetzte sich Elena.

„Ich denke nicht dass es sich um eine Invasion handelt! Führten die so was im Schilde, wären die schon lange eingedrungen, in der Nacht, bei Dunkelheit!“ Versuchte Ronald beruhigend einzuwirken.

„Aber was ist es dann?“ Wollte Madleen wissen.

„Keine Ahnung! Aber sieh mal da. Alles Baufahrzeuge! Und dort die laden Stacheldrahtzäune ab. Mir kommt da langsam ein Verdacht. Die Gerüchte die schon lange kursieren sind also doch nicht aus der Luft gegriffen“ Ronald wies auf die Bauarbeiter die sich bereits an verschiedenen Enden zu schaffen machten.

Einige Presseleute ausländischer Medien hatte sich gegenüber der Klosterpforte postiert und harten der Dinge, die jeden Augenblick geschehen konnten. Auch Harry Hastig der rasende Reporter des deutschen Fernsehens bezog hier Stellung.

„Meine Damen und Herren! Wieder einmal befinde ich mich am Eingangstor zur Abtei. Noch vor wenigen Tagen, auf der letzten Pressekonferenz hat uns Neidhardt versichert, dass es keine Sicherungsmaßnahmen rund um das Abteigelände geben wird. Doch wie sie sich hiermit überzeugen können, hat er uns offensichtlich nicht die Wahrheit gesagt. In der Zwischenzeit sind dutzende von Baufahrzeugen eingetroffen, beladen mit Materialien zur effektiven Grenzsicherung. Es muss damit gerechnet werden, dass hier eine undurchdringliche Grenze entstehen soll, deren Zweck es ist der andauernden Fluchtbewegung Einhalt zu gebieten. Niemand hat vor eine Mauer zu errichten! So lauteten Neidhardt Worte. Nun, wir werden gleich in Erfahrung bringen wozu all die Klinkersteine dienen die dort trüben abgeladen werden.“ Der Reporter wies mit dem Finger in die rechte Richtung.

Während dessen näherte sich eine schwarze Staatskarosse dem Geschehen und kam direkt neben den warteten Journalisten zum stehen. Der Chauffeur öffnete eine der Hintertüren und Lars entstieg dem Wagen.

„Wie wir sehen ist der neu ernannte Zweite Sekretär der RRP gerade eingetroffen um wie es scheint die Lage zu inspizieren. Daran lässt sich leicht erkennen welche Tragweite diesem  Geschehen  beizumessen ist.“ Setzte Harry Hastig seinen Kommentar fort.

Lars bewegte sich langsamen Schrittes auf die Abtei zu.

Sein Gesichtsausdruck lies erahnen wie unangenehm ihm die ganze Angelegenheit war.

Zwischendurch hielt er immer wieder inne um die Wachposten oder die Bauarbeiter zu begrüßen und um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln.

Auf einem der Hochstände hinter der Klostermauer hatte Ronald Stellung bezogen.

„Hey Lars, na sieht man dich auch mal wieder. Gratuliere zu deiner Beförderung, bist jetzt die Nummer 2 in der Parteihierarchie. Kannste mächtig stolz drauf sein. Und? Welche Schweinerei habt ihr heute im Gepäck? Ihr wollt uns einmauern, was? Ja, das sieht euch ähnlich. Wie fühlt man sich denn so als Gefängniswärter?“

Lars warf seinem einstigen Kampfgefährten nur einen verächtlichen Blick zu. Er hatte mit solchen Provokationen gerechnet und sich vorgenommen  sich keinesfalls auf Diskussionen einzulassen.

Demonstrativ suchte er weitere Gesprächspartner auf und vertiefte sich in oberflächliches Gelaber. Doch seine Nervosität war kaum noch zu verbergen.

„Hey Lars! Wo hast du denn Neidhardt gelassen?  Schickt er immer noch andere vor um die Drecksarbeit zu machen? Ist doch irgendwie komisch oder?“

Lars ballte eine Faust und hielt sie wortlos in Richtung Klostermauer. Hatte er sich doch provozieren lassen.

„Meine Damen und Herren, wie wir uns überzeugen konnten, kommt es bereits zu den ersten Auseinandersetzungen. Wortgefechte des Kronprinzen Lars mit  einem Kommunebewohner. Es handelt sich dabei um Ronald den Anführer der Rebellen, die vor etwa einem Jahr einen Aufstand gegen das Neidhardtregime unternahmen, aber schließlich aufgeben mussten. Wir dürfen gespannt sein in wie weit die Situation noch eskaliert.“ Meldete sich der Reporter des deutschen Fernsehens wieder zu Wort.

In der Zwischenzeit hatte sich Alexandra neben Lars auf den Hochstand begeben.

„Es könnte gefährlich werden, Liebste. Denen da unten ist alles zu zutrauen. Bring dich lieber in Sicherheit, am besten ihr zieht euch ganz ins Innere des Geländes zurück.“ Schlug Ronald vor.

„Wir werden das genaue Gegenteil tun. Die Schwestern haben beschlossen alle Hochstände zu besetzen um dem Geschehen da draußen zu folgen. Um uns Schwestern braucht sich niemand zu sorgen.“ Lehnte Alexandra den Vorschlag mit Nachdruck ab.

„Natürlich! Ich vergaß dass ,ich es hier mit Kämpferinnen zu tun habe, gewohnt furchtlos der Gefahr ins Auge zu blicken. Ach bin ich froh, dass du zur rechten Zeit die Entscheidung getroffen hast zurück zukehren. Vier Tage ist das erst her. Siehst du nun ,länger hättest du nicht damit  warten dürfen. Ich gehe davon aus dass die uns vollständig abriegeln. Hier wird auf absehbarer Zeit keiner mehr einreisen können.“ Sanft legte Ronald den Arm um seine Frau.

„Was meinst du? Wie wird sich Lars fühlen, da unten? Ob ihm die Sache unangenehm ist?“

Vermutete Alexandra.

„Schwer zu sagen. Lars war immer ein treuer Lakai seines Herrn und Meisters. Der hat früher kaum eine Anforderung hinterfragt. Ich habe natürlich keine Ahnung was im Moment in ihm vor geht. Jeder Mensch ist lernfähig, warum nicht auch Lars. Aber wenn ich ehrlich sein will, bei ihm habe ich wenig Hoffnung das er mal genauer über alles nachdenkt. Lars steht wie eine Eins zu den vermeintlichen Idealen der Revolution“

Seufzte Ronald resigniert.

In der Zwischenzeit begannen die Baubrigaden mit der Installation der Sperranlagen. Etwa einen Meter vor der Klostermauer wurde Stacheldraht aufgestellt. Dahinter nochmals eine Sicherung in Form von 2 Meter hohen Gitterzäunen.  Dies diente als vorläufige Sperranlage, später sollte dann noch eine massive Mauer gezogen werden. Unter keinen Umständen wollte man Schlupflöcher dulden.  

Auf der anderen Seite versammelten sich die Abteibewohner um in Erfahrung zu bringen mit welcher Aktion Elena und die Ihren auf diese Provokation reagieren würden.

„Hey Lars! Mach dich auf was gefasst. Gleich wirst du die geballt Wucht des Protestes zu spüren bekommen. Ich hoffe du hast dir den Hintern gut gepolstert.“ Spottete Ronald über  seinen Kontrahenten.

Nach und nach füllten sich nun auch die andern Hochstände, vor allem mit den Schwestern, aber auch viele andere Bewohner strebten ihnen entgegen. Hilflos mussten sie mit ansehen wie ihre Heimstatt Meter für Meter versiegelt wurde.

Unüberwindlich sollte die Grenze sein. Auf Dauer trennen, was nach Ansichten der Machthaber Melancholaniens nicht zusammen gehörte.

Womit aber keiner gerechnet hatte war der Menschenauflauf jenseits der Sperranlagen.

Abgedrängt von den Sicherheitskräften kamen auch immer mehr Bewohner der umliegenden Vororte Manrovias um dem finsteren Schauspiel beizuwohnen. Würden Blickkontakte für lange Zeit die einzige Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit den Bewohnern der Abtei bleiben? Bleischwer legte sich diese Erkenntnis auf die Seelen der Versammelten.

Endlich erschien Elena, was bei vielen zu einer Entspannung führte.

Nun war sie tatsächliche die von den Medien hochstilisierte Amazone. Der hautenge Lederkombi, die Schnürstiefel, das weinrote Halstuch und die leicht im Kühlen Wind wehenden Haare. Nun fehlte nur noch die Doppelaxt, doch einer solchen bedurfte sie gar nicht. Denn auch ohne rutsche Lars bei ihrem Anblick das Herz in die Hosentasche.

Mit halb offen stehendem Mund stand er wie angewurzelt und blickte verwirrt in ihre Richtung. Wann würde sie einen Blitzstrahl auf ihn herab senden um ihn in ein Häufchen Asche zu verwandeln?

Die Beleidigungen von Ronald schüttelte er ab. Damit konnte er leben. Was aber würde sie jetzt sagen. Plötzlich glaubte Lars sich der Sache nicht mehr gewachsen zu. Es schien als drücke ihm eine unheimliche Kraft mit aller Kraft die Kehle zu.

„Meine Damen und Herren! Sie ist erschienen! Elena ist da. Blicken die auf zu ihr. Sieht sie nicht bezaubernd aus? Ganz gleich wie sich diese Sache heute entwickelt. Die Siegerin steht jetzt  schon fest. Es ist Elena. Sie wird der Tyrannei die kalte Schulter zeigen.  Wird den intoleranten Geistern im ZK zu verstehen geben dass man die Freiheit nicht hinter Mauern sperren kann.

Was für eine Frau! Sie ist einfach nur genial!“ Schwärmte Harry Hastig.

 

 Mit einem Satz hüpfte Elena auf die Klostermauer und balancierte sich geschickt mit beiden Armen aus. Colette machte Anstalten es ihr gleich zu tun, doch Madleen hinderte sie daran.

„Vorsicht Colette, ich würde das nicht tun. Du bist viel zu schwer. Ehe du dich versiehst liegst du unten.“

Elena tippelte leichtfüßig einige Schritte weiter bis sie sich vis a via zu Lars Position befand.

Der stand dort ,einer Salzsäule gleich, so als ob ihn eine unsichtbare Kraft ihn daran hinderte sich von seinem Platz zu entfernen.

„Ist das die neue Art einander zu begegnen? Ihr wollt uns von der Außenwelt abriegeln? Tut es und ihr leitet mit diesem Schritt euren Untergang ein. Ihr setzt euch selbst den Sargnagel.

Sage deinem Herrn und Meister dass er uns auf diese Weise nicht in die Knie zwingen kann.

Ihr könnt uns demütigen, ihr könnt uns aussperren. Ihr könnt uns womöglich sogar aushungern, kapitulieren werden wir nicht. Im Gegenteil, wir werden ausharren, in uns gehen und neue Kräfte sammeln. Die Zeit spricht für uns. Wir schaffen das Neue, das Unvergängliche. Ihr aber seit dem Untergang geweiht!“ Schleuderte ihm Elena entgegen.

Lars hatte dem nichts entgegen zu setzen. Er wollte etwas erwidern, doch versagte ihm die Stimme. Seine Knie zittern und die Handflächen trieften vor Schweiß.

Mit einem Satz flüchtet er sich hinter die Linien der Wachposten, ein Umstand der ihm von beiden Seiten der Mauer ein schallendes Hohngelächter einbrachte.

Nervös kramte er in seiner Jackentasche, holte eine Zigaretteschachtel hervor. Da er kein Feuerzeug dabei hatte versuchte er sich  mittels Streichhölzer eine anzustecken. Doch die Hölzer brachen ihm eines nach dem anderen ab. Schließlich verteilte sich der gesamte Inhalt der Streichholzschachtel auf dem Boden.

„Meine Damen und Herren. Mir gegenüber sehen wir den Zweiten Sekretär der RRP, der gerade Elenas Standpauke über sich ergehen lassen musste. Er wirkt sichtlich nervös und ausgepowert. Ja, zu beneiden ist er für diese Aufgabe wahrlich nicht.“ Flüsterte der Reporter in sein Mikro.

Elena befand sich noch immer auf der Mauer und badete in dem Beifall der ihr von allen Seiten entgegen schwabbte. Sie hob die Hände gen Himmel und sprach pathetisch

„Ihr Völker der Welt, seht auf uns. Seht auf unsere friedliche Gemeinde. Sie wollen uns isolieren, wollen uns den Kontakt zur restlichen Welt nehmen. Aber sie werden es nicht schaffen. Sie mögen sich die Mittel nehmen, denn ihnen gehört die Macht, während uns nur die Ohnmacht lähmt. Aber der Tag wird kommen, dann werden sie wie die geprügelten Hunde von dannen ziehen, während wir triumphieren. Die moralischen Sieger sind wir schon jetzt.

Wir sind frei und wir werden immer frei bleiben. Die Freiheit kann man nicht in Ketten legen.

Unser Gemeinwesen wird weiter wachsen und die Früchte von morgen reifen schon im Hier und Heute.

Diese Grenze wird nicht ewig währen. Sie wird vergehen, so wie alles vergänglich ist auf dieser Welt. Unsere Kommune wird leben, aber die Mauer wird fallen!“

Wie ein warmer Regen strömte der Befall über Elena.

Die Wachposten schienen jegliche Kontrolle über die Menschenmenge zu verlieren, es hatte den Anschein als wollten die Bewohner der Vorstadtsiedlungen  in Richtung Abtei durchbrechen. Elena ahnte schlimmes.

„Ich danke euch für euren Bestand! Wir alle hier werden euch das nie vergessen. Aber tut jetzt nichts Unüberlegtes. Setzt eure Leben und eure Gesundheit nicht für uns aufs Spiel. Ich rufe euch zu: Keine Gewalt! Bleibt friedlich! Verschafft euch nicht gewaltsam Zutritt! Das würde niemanden nützen. Geht zurück und fügt euch den Anordnungen der Sicherheitskräfte.

Denn heute noch haben sie die Macht.“

Die Wirkung setzte ein und die Menschen beruhigten sich wieder.

„Meine Damen und Herren! Es ist unbeschreiblich was hier geschieht. Elena hat in diesem Moment sogar wieder die Lage beruhigt. Wir alle hoffen dass es friedlich bleibt. Nur Elena kann den Frieden bewahren. Was für eine Frau! Ich bin stolz ihr in diesem Moment nahe zu sein.“

Schwärmte der Reporter weiter.

Unterdessen schritt Elena weiter auf der Mauer auf und ab. Da hüpften von den andern Hochständen weitere Schwestern auf die Umfriedung. Es war ausgemacht dass das nur die leichtesten und sportlichsten tun sollten. Niemand sollte sich unnötig in Gefahr bringen, denn immer hin war die Mauer gut drei Meter hoch.

Voller Spannung hielten die Sicherheitskräfte den Atem an, sicherten ihre Gewehre und hielten auf die Mauergänger zu. Doch die ließen sich von diesem Muskelspiel nicht beeindrucken. Wieder brandete Jubel von den Außenbewohnern auf. In diesem Moment begannen die Polizeieinheiten auf die Demonstranten einzuprügeln.

„Wenn das alles ist was ihr könnt, dann tut ihr mir nur noch leid. Gehen euch die Argumente aus, dann kann euch nur der Knüppel helfen. Aber eines Tages werden diese Schläge auf euch zurückkommen und euch mit der vollen Wucht treffen.“ Rief ihnen Elena entgegen.

Von Seiten der Klosterinsassen konnte man darauf ein lautes „Buuuuuuhhhhh!“ vernehmen.

 

Stunden vergingen und die Grenzanlage wurde immer dichter. Als sich die Dämmerung ankündigte war der Vorderteil des Geländes fast vollständig abgeriegelt. Lediglich der Bereich vor dem Tor wurde noch offen gehalten. Um das gesamte Gebiet zu umfrieden würde man ohnehin Tage benötigen. Denn immerhin gehörten dem Kloster viele Hektar Land.

Es waren nicht nur die bewohnten Gebäude. Parkanlagen, große Gärten, dahinter die Obstplantagen auf der einen, Weideland auf der anderen Seite. Dann begann das umfangreiche Waldgebiet. Der klostereigene Forst streckte sich bis weit in das unwegsame Gelände des Grauhaargebirges. Eine Sysiphosarbeit ohnegleichen wartete auf die Baubrigaden, in deren Reihe sich ebenfalls die ersten Anzeichen von Unmut abzeichneten.

Die Lage hatte sich zwar im Laufe des Tages beruhig und die meisten Bewohner der umliegenden Siedlungen waren abgezogen, doch noch immer erfüllte Spannung das Geschehen. Hier wurden einfach vollendete Tatsachen geschaffen.

Der melancholanische Rundfunk hatte provokativ Lautsprecher in Richtung der Abtei installiert. Gegen 20 Uhr wurde eine Rede des Generalsekretärs übertragen, die er vor dem fast vollständig versammelten Plenum des Zentralkomitees hielt.

„Genossen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Heute konnte die Revolution einen großen Sieg für sich verbuchen. Es ist uns gelungen eine besonders feindselige Attacke des Gegners auf dem Abteigelände abzuwehren. Von diesem Augenblick an wird Melancholanien wieder sicher sein.

Niemand soll in Zukunft mehr auf unser Territorium vordringen um hier feige Sabotageakte zu vollziehen. Auch soll kein Bürger unseres Landes mehr auf heimtückische Art entführt und auf das Gelände der Abtei verschleppt werden, wie dies in den vergangenen Tagen leider viel zu oft geschehen ist. Die Menschen unseres Landes können wieder aufatmen und sich in Sicherheit wiegen. Die Grenzbefestigung wird uns einen dauerhaften Frieden sichern. Glück und Zufriedenheit werden die Herzen unseres Volkes erfüllen, jetzt da wir den Feind auf seinem eigenen Terrain geschlagen haben.

In den Folgetagen werden wir den Schutzwall noch effektiver ausbauen. Nicht nur Zäune und Stacheldraht, nein auch eine Mauer aus massiven Beton soll zumindest an einigen besonders schützenswerten Zonen errichtet werden. Diese Mauer wird in 50, ja wo möglich noch in 100 Jahren stehen um ihren Dienst zu verrichten, so es denn die Verhältnisse erfordern.

Wir haben Elena und ihrer Clique mehr als einmal unsere ausgestreckte Hand der Versöhnung entgegengestreckt, aber immer wurde diese schroff zurück gewiesen. Nun sollen sie die Folgen zu spüren bekommen. Sie und nicht wir sind verantwortlich für diese drastische Maßnahme.“

Ein Wunder das Neidhardt die Lüge nicht im Halse stecken blieb. Die Vorwürfe waren so hanebüchen, das ihnen selbst der naivste Melancholanier keinen Glauben schenken mochte.

Selbst in den Reihen der Bauarbeiter konnte man verhaltenes Lachen vernehmen.

Einem war hingegen ganz und gar nicht nach heiterer Stimmung. Lars hielt noch immer standhaft seine Stellung. Wenn sich doch nur bald die Dunkelheit auf das Land herabsenken würde, um seine Unsicherheit zu verhüllen, aber jetzt Ende Juli waren die Tage nun einmal besonders lang.

Wie ein Tiger im Käfig schritt er fortwährend an der Klostermauer auf und ab. Da begann sich eine Kraft in ihm aufzubauen, etwas das er noch nie in seinem Leben verspürt hatte und er konnte nicht deuten woher diese kam und wer dafür verantwortlich schien.

Auch die Reporter der verschiedenen Sendeanstalten verharrten weiter. Heute würde wohl nichts Außergewöhnliches mehr geschehen. Sollte sie ihre Zelte abbrechen und sich zur Ruhe begeben? Noch etwa eine Stunde bis zur Dämmerung, dann war damit zu rechnen dass die Bauleute ihre Schicht beendeten und den wohlverdienten Feierabend genießen konnten.

Sie beschlossen noch so lange auszuhalten.

Auch auf der Innenseite der Abteimauer kehrte langsam Ruhe ein, auch wenn die meisten beschlossen auch nach Einbruch der Dunkelheit aus zu harren.

Elena hatte sich zwischenzeitlich mit den Schwestern noch einmal zur Beratung zurückgezogen. Sie konnten sich aber noch auf keine geeigneten Maßnahmen einigen, zu überraschend kam diese Herausforderung, man würde gründlich abwägen müssen, was in den  Folgetagen zu geschehen hatte.

Schließlich erschienen sie wieder und begaben sich erneut auf die Hochstände, noch ein letztes Mal in Augenschein nehmen was da draußen vor sich ging. Als Elenas Rotschopf sichtbar wurde tönte ihr ein Pfeifkonzert entgegen. Ein Pfeifen der Begeisterung und nicht der Ablehnung. In den melancholanischen Medien wurde dies natürlich in sein Gegenteil umgedeutet.   

Doch das Ereignis was sich hier in wenigen Augenblicken ereignete, sollte alles in den Schatten stellen.

Der traurige Augenblick war gekommen, nun schloss sich die letzte Lücke, die große Pforte zum Abteihof. Ein Akt von symbolischer Bedeutung. Man hatte nicht mehr an diesem Abend damit gerechnet und die Presseleute waren froh ob der Tatsache dass sie sich noch vor Ort befanden. Die Abriegelung der großen Pforte, dieses traurige Ereignis sollte von vielen Fernsehsendern in alle Welt übertragen werden.

Die Kameras wurden in Positur gerückt.

Lars hielt es nicht mehr auf seinem Platz, es schien als habe er Ameisen in der Hose.

„Ich werde dich beobachten bei allem was du tust. Ständig wird mein Schatten über sich sein!“ Neidhardts Drohung hämmerte in seinem Kopf. Wie nur konnte er sich diesem Trauma entziehen? Da plötzlich kam es über ihn wie ein Gesicht. Er begann sich fort zu bewegen, erst ganz langsam, eher ein Schlendern denn ein Laufen, dann beschleunigte er seinen Schritt. Es schien als machten sich seine Beine auf einmal selbständig. Dann plötzlich begann er zu rennen, warf seine Stiefel weit in die Höhe so dass sie auf dem Boden krachten und bewegte sich auf die Pforte zu.

Dann setzte er an und überwand wie ein Sprinter die aufgestellt Hürde in diesem Fall den Stacheldraht, gerade noch rechtzeitig bevor dieser die Pforte endgültig verschloss.

Geistesgegenwärtig öffnete jemand das Tor von innen und Lars erreichte den Innenhof der Abtei.

Dank der modernen Medientechnik konnte dieses Ereignis in die ganze Welt übertragen werden.

Harry Hastig verschluckte vor Begeisterung fast sein Mikrofon.

„Meine Damen und Herren, sie sind keiner Sinnestäuschung erlegen. Sie haben richtig gesehen. Es ist unglaublich aber wahr. Die Nummer Zwei in der Parteihierarchie hat sich soeben auf das Gelände der Abtei abgesetzt. Das bedeutet eine unglaubliche Blamage für das Neidhardtregime. Niemand vermag in diesem Moment zu sagen was das für Folgen nach sich ziehen kann. Eines aber ist gewiss. Der Schuss ist gehörig nach hinten gegangen.

Elena und ihre Gefährtinnen sind die eindeutigen Sieger dieses Tages.“ 

Elena befand sich mit einigen anderen noch auf dem Hochstand und musste sich erst sammeln bis ihr aufging was hier gerade vorgefallen war.

Sie blickte zum Innenhof und sah wie eine Traube von Menschen den Neuankömmling umzingelte.

Ronald und einige andere Männer waren die ersten die zur Stelle eilten.

„Hallo Lars! Na da laust mich doch der Affe. Du findest mich sprachlos und das will was heißen. Hätte ich dir nie im Leben zugetraut. Na dann erst mal willkommen im neuen Leben!“     

„Mein Gott! Was habe ich getan?“ stammelte Lars der nur langsam wieder zur Besinnung fand.

„Na ich würde sagen du hast dich gerade des Hochverrates schuldig gemacht. Willkommen im Club. Wie du siehst haben sich hier einige versammelt denen man seit langen schon das gleiche Delikt zu Laste legt.“ erwiderte Ronald voller Genugtuung.

„Was habe ich getan? Ich muss komplett verrückt sein! Ich kann mir nicht erklären wie es dazu kam!“ Versuchte Lars eine Rechtfertigung.

„Bei uns brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Und denen vor dem Tor ist es ebenfalls gleich. Akzeptiere es, du kannst nicht wieder zurück! Es ist zu spät!“ meinte nun auch noch Ansgar.

„Ja und? Was kommt jetzt? Nehmt ihr mich nicht fest?“

Schallendes Gelächter war die Folge dieser Frage.

„Du bist immer noch der gleiche komische Vogel wie früher. Warum sollte dich hier einer verhaften wollen? Du bist frei! Zugegeben eine etwas enge Freiheit, denn ebenso wie ich oder einige andere hier wirst du nun das Gelände der Abtei auf absehbare Zeit nicht wieder verlassen können.“ klärte Ronald auf.

In der Zwischenzeit hatte Elena die Menschenansammlung erreicht.

„Welche Ehre! Mit solch einem hohen Besuch hatten wir wahrlich nicht mehr gerechnet, heute Abend. Sei mir gegrüßt Lars. Sag, was führt dich in unsere Reihen?“

Die Umstehenden konnten sich erneut ein Lachen nicht verkneifen.“

„Äh ja..äh.. die Freude ist ganz auf meiner Seite Elena. Sei mir gegrüßt. Was soll ich sagen? Jetzt bin ich hier!“

„Da ist nicht zu übersehen!“ Schmunzelte die.

„Lars befürchtet dass wir in hier in Haft nehmen?“ gab Ansgar zu verstehen.

„In Haft nehmen? Oh wie interessant! Sollen wir? Hm, möchtest du mich als deine Kerkermeisterin?“

Elena trat zu ihm, umfasste seine Taille und zog ihn zu sich. Mit einem Stoß warf sie ihn leicht rückwärts, dann ergriff sie mit einer Hand seinen Nacken und preßte ihre Lippen auf die seinen. Sekundenlang saugte sie sich an ihn fest. Als ihn los lies schien er wie benommen.

„Sei mir gegrüßt Bruder! Du hast uns allen einen großen Dienst erwiesen und wir sind dir zu Dank verpflichtet. Deine Flucht hat dieser ganzen Aktion da draußen die Sprengkraft genommen. Neidhardt ist blamiert bis auf die Knochen. Sei unser Ehrengast. Ich denke das sollte gefeiert werden.“

Elenas Worte lösten großes Gejohle aus.

„Ihr Männer, ich überlasse ihn euch für heute Abend. Es ist euer Privileg ihn in unsere Gepflogenheiten einzuführen.“ Wies Elena an, dann verabschiedete sie sich.

„Nun denn Lars, du hast es gehört, dann wollen wir den neuen Bruder gehörig beklatschen.

Komm mit in unser Männerzentrum. Ja so etwas gibt es hier. Dort wollen wir erst mal einen guten Schluck auf den Schrecken des Abend nehmen.“ Lud Ronald ein und die Männermenge setzte sich in Bewegung.

Die Begrüßung zog sich bis weit in die Nacht. Am Ende hatte es Lars umgehauen. Es konnte nicht in Erfahrung gebracht werden ob dafür die zahlreichen Gläser des Grauhaarklostergeistes verantwortlich waren, jenes Kräuterlikörs, der hier seit einiger Zeit wieder gebrannt wurde, oder ob Spätfolgen von Elenas energischem Kuss im Spiele waren.

 

Als Lars am Folgetag mit einem schweren Kopf erwachte, musste er sich eingestehen dass er sich in einer vollständig veränderten Situation wieder fand. Es gab keinen Funktionär mehr. Seine steile Karriere hatte ein abruptes Ende gefunden. Er war von einem Augenblick zum andern zu einem Flüchtling, einem Ausgegrenzten,  einem Asylanten geworden, zu einem Staatsfeind erster Ordnung, der das Territorium der Abtei nicht mehr verlassen durfte. Langsam, ganz langsam musste er sich mit seiner neuen Rolle vertraut machen.

Aber durch jene spektakuläre Flucht hatte er sich seinen Platz in der Gemeinschaft gesichert.

Die Tatsachen, dass sich Neidhardts Stellvertreter und designierter Nachfolger in das Lager des Gegners abgesetzt hatte, bedeutete für das Regime einen Gesichtsverlust ohnegleichen. Man hatte sich gründlich verspekuliert und vor der ganzen Welt zum Narren gemacht.

Für die Kommunen hingegen hieß das eine deutliche Aufwertung. Vor allem das Interesse des Auslandes an dieser seltsamen Gemeinschaft wurde durch diesen Akt noch einmal kräftig gesteigert.

Neidhardt würde sich jetzt peinlichst genau überlegen, welche Aktionen er noch in diese Richtung unternehmen konnte.

Währenddessen gingen die Bauarbeiten an der Grenzbefestigung ungehindert weiter. Tage lang konnte man den Lärm der Baumaschinen aus verschieden Richtungen wahrnehmen.

Besonders in den unwegsamen Waldgebieten kamen die nur äußerst mühevoll voran. Es ließ sich kaum vermeiden dass zahlreiche Schlupflöcher blieben, von deren Existenz lange Zeit nicht einmal die Kommunebewohner etwas wussten.

Das Terrain der Abtei war sehr weiträumig und deren Bewohner empfanden gar kein so deutliches Gefühl des eingesperrt seins, hatte sie doch hier alles was sie brauchten.

Wie es hingegen in den der Abtei angegliederten und natürlich bedeutend kleineren Gebieten aussah, darüber konnte man nur Spekulationen anstellen. Hier wirkte sich die Abschottung mit Sicherheit viel bedrückender aus.

Neidhardt hatte ihnen den Status als Melancholanier aberkannt und sie per Dekret zu Staatenlosen gemacht. Wie sollten sie darauf regieren? Protestieren? Mit welchem Ziel? Wieder aufgenommen zu werden in eine diktatorische Staatsordnung? Warum sollte sie das anstreben?

Im Grunde hatte ihnen das Regime sogar einen großen Gefallen damit getan, ab diesem Zeitpunkt waren sie vollständig autonom. Die Revolution konnte auf ihre Art und Weise weiter geführt werden.

Das was sie bereits begonnen,fortsetzen, nur unter einem völlig neuem Vorzeichen.

Zeit, endlich eigene Gesetze zu erlassen, Zeit sich Gedanken über eine wie auch immer zu gestaltende Regierung zu machen.

 

„Wir werden einen eigenen Staat ausrufen! Einen wie ihn die Welt noch nie gesehen hat. Etwas das jeden Rahmen sprengt. Die Voraussetzungen dafür konnten wir schon vor langer Zeit schaffen. Unsere Kommunen funktionieren in autonomer Selbstverwaltung. Und diese Autonomie werden wir noch weiter ausbauen. Wir schaffen uns ein Netzwerk, dass alles in gegenseitiger Hilfe und Solidarität verbindet.“

Gab Elena ihren Schwestern zu verstehen, als sich diese um sie geschart hatten. Aufgrund des wieder schönen Wetters hatten sie die Besprechung nach draußen, in den kleinen Eichenhain seitlich des Konventsgebäudes verlegt.

Neben ihr waren noch Madleen, Colette, Alexandra, Gabriela, Kristin, Chantal und Cassandra zugegen.  

„Einen eigene Staat? Hört sich zunächst einmal gut an. Aber wie willst du ihn gestalten, ihn lenken und regieren? Ich stelle mir das außerordentlich schwierig vor.“ Gab Gabriela zu Bedenken.

„Neidhardt lässt uns keine andere Wahl. Er hat uns mit seinem Dekret zu Gesetzlosen erklärt. Wir müssen eine ausgewogene Antwort darauf finden. Wir können nicht einfach alles aussitzen. Ich finde Elenas Vorschlag sehr interessant!“ Erwiderte Chantal.

„Also wenn wir es genau betrachten hat Neidhardt, ohne sich dessen bewusst zu sein, diesen neu zu gestaltenden Staat erschaffen. Und zwar nicht erst seit dem letzten Ereignis, sondern schon seit geraumer Zeit. Alles was er gegen uns in Stellung bring, kommt in Endeffekt wie ein Bumerang auf ihn zurück. Aber mit diesem Faupax hat er sich wohl endgültig unmöglich gemacht. Wir werden ihn mit der Staatsgründung auf Augenhöhe begegnen. Nun kann er uns nicht mehr in den Dreck treten.“ Glaubte Colette zu wissen.

„Das ist richtig Colette! Aber ich lege Wert darauf dass der Staat den wir zu bilden gedenken als Provisorium zu betrachten ist. Alles in unserer Macht stehende sollten wir versuchen um eine Wiedervereinigung anzustreben. Natürlich unter unseren Bedingungen und mit unseren Methoden. Es gibt kein zurück in die Diktatur.“ Klärte Elena auf.

„Aber von nun an dürfen sich doch keine weitern Gebiete unserem Territorium anschließen.

Das dürfte das Ziel ausgesprochen in die Ferne rücken.“ Zweifelte Alexandra.

„Da muss ich Alexandra zustimmen. Ich sehe  dass uns die Hände gebunden sind. Hier in der Abtei können wir alles nach unseren Vorstellungen formen. Wie aber sieht es in den restlichen Gebieten aus, die von uns weitgehend abgeschnitten sind. Wir sind derzeit nicht einmal in der Lage diese verkehrstechnisch zu erreichen.“ Stimmte Gabriela zu.

„Langsam, langsam Schwestern. Ich spreche nicht davon dass wir diesen Staat schon morgen früh um 10 ins Leben rufen werden. Dazu bedarf es einer sehr gründlichen Vorbereitung. Weiterhin weise ich darauf hin dass sich dieses Gebilde sehr deutlich von all dem unterscheiden wird, das uns bisher als Staat im engeren Sinne bekannt sein dürfte. Es läuft alles auf die gleiche Art weiter wie bisher. Wir behalten den basisdemokratischen Charakter im Inneren bei, versuchen diesen sogar noch weiter auszubauen, bis wir die vollkommene Akratie erreicht haben. Nach außen hin müssen wir uns hingegen Strukturen geben um die Anerkennung des Auslandes zu gewinnen. Wenn wir Ämter und Funktionen einsetzen, so haben diese im Inneren ausschließlich symbolischen Charakter.“

„Symbolischen Charakter? Wie kann ich mir das vorstellen?“ Fragte Kristin.

„Eine Regierung, ein Staatsoberhaupt, Regierungschef, Minister, Staatssekretären etc. All so etwas gehört zu einem funktionieren Staatswesen. Die Akratie hingegen bedarf solcher Hierarchien nicht, da sie aus sich selbst heraus funktioniert, eben die perfekte Ordnung ohne Herrschaft. Diesem Grundsatz haben wir uns im Gedenken an unseren großen unvergessenen Dichter Kovacs verpflichtet. Und wir gedenken diesen auch nicht aufzugeben. Also, Elena will

damit sagen, dass jemand der ein Ministeramt bekleidet, keineswegs besser gestellt sein dürfte als ein gewöhnlicher Kommunebewohner. Es werden keine Privilegien gewährt.“ Sprach Colette, ganz ihrer Rolle als Bewahrerin der Überlieferungen verpflichtet, die ihnen Kovacs auf den Weg gegeben hatte.

„Ganz präzise erläutert Colette! Wir müssen nach außen etwas darstellen. Kein Land der Welt wird uns Reputation bezeugen wenn die erfahren dass wir anarchistischen Ideen folgen. Wir sind aber leider auf die Unterstützung des Auslandes angewiesen. Also bieten wir ihnen etwas, das sie zufrieden stellt. Sie sehen Amazonen in uns? Meinetwegen! Sollen sie haben. Wir liefern ihnen was sie sehen wollen. Wir werden nach außen einen Amazonenstaat zelebrieren, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, mit allem was dazugehört, auch einer Königin.“ Erläuterte Elena.

„Eine Königin, das hört sich aber verführerisch an. Dazu gehört natürlich auch eine Krone und selbstverständlich ein ganzer Hofstaat!“ Meinte Cassandra mit einem Schmunzeln im Gesicht.

„ Elena wird unsere Königin und wir fungieren als ihre Hofdamen und hüllen uns ein in unsere Pracht!“  Wisperte Gabriela.

„Ja, das könnte euch gefallen! Wie in den alten Zeiten!“ erinnerte sich Alexandra.

„Spaß beiseite! Träumen können wir zu jeder Zeit, an jedem Ort. Zunächst aber müssen wir arbeiten. Bisher bewahren wir Stillschweigen. Es darf noch nichts nach außen dringen. Erst müssen wir gründliche Vorarbeit leisten, um die Welt mit unserem Coup zu überraschen, so dass denen die Augen übergehen wenn wir das Ergebnis präsentieren. Dieser Zusammenkunft werden viele weitere folgen. Nach und nach weihen wir auch noch andere Personen ein. Unter allen Umständen müssen wir Obacht darauf geben, dass sich  nicht am Ende tatsächliche Hierarchien herausbilden. Dann würden wir zu Verräterinnen an unseren eigen Prinzipien und stünden nicht viel besser da als jene draußen. Colette, dir obliegt die schwere Aufgabe darüber zu wachen. Sollte ich zum Beispiel wieder Starallüren entwickeln, dann gibt mir einen kräftigen Klaps auf den Po. Wenn ich eine Königin sein werde, dann einer der Herzen und nicht eine der Macht.“ Sprach Elena zu ihrer treuen Gefährtin.

„Ich glaube nicht dass du einen solchen nötig hast!“ Mutmaßte die Angesprochene.

„Und du glaubst, dass uns ein solcher Akt tatsächlich die nötige Reputation bringen wird, derer wir bedürfen?“ Hakte Cassandra nach.

„Mit Sicherheit! Du kennst dich doch noch aus in der Szene. Die Boulevardpresse und all dieser Glimmpatsch, die warten doch nur auf so etwas, die können sich gar nicht satt genug daran sehen. Sollen sie, solange es uns nützlich ist, kann es nicht schaden.“

„Aber was wird Neidhardt davon halten? Wird er einen solchen Vorgang nicht als Bedrohung empfinden und darin einen Anlass sehen gegen uns vor zugehen?“ Fürchtete Chantal.

„Das kann ich mir nicht vorstellen! Der wird sich hüten. Der hat den Rubicon schon lange überschritten.“ Erwiderte Elena.

„Was aber, wenn die erhoffte Anerkennung der Welt ausbleibt und die die sich lieben mit dem Regime arranggieren.“ Zweifelte Kristin.

„Es werden uns mit Sicherheit nicht alle Staaten an erkennen, zumindest nicht sofort, einige werden in der Tat vorsichtig abwägen. Aber ist erst einmal der Anfang gesetzt, werden andere folgen, ein Dominoeffekt!“ vermutete Colette.

„Ganz egal was auch geschieht. Wir haben es uns als Ziel gesetzt und so wir werden es halten.

Wir gehen unseren Weg, das sind wir der gesamten Menschheit schuldig. Sollte unser Beispiel Schule machen, könnte es eine weltweite Veränderungen von enormen Folgen nach sich ziehen.“ meinte Elena und besser hätte ein Schlusswort kaum ausfallen können.