Entscheidungen

 

Endlose Weite, gerahmt von bizarren Bergwelten. Eine Landschaft wie aus einem Traumgesicht. Alles vertraut und doch stets neu und für Überraschungen gut.

Gemächlichen Schrittes führten Hatifa* und Teleri* ihre Pferde über die Hochebene.

Langsam begann die Sonne sich zu röten und in absehbarer Zeit würde sie vom Horizont verschluckt, der sich wie eine weit entfernte Welt vor ihnen ausbreitete.

Die Tageshitze begann schon jetzt zu weichen um einer angenehmen Kühle Platz zu machen.

Eine Wohltat. Eile war nicht geboten, beide Amazonen würden ihre Ziele noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.

Schweigen. Nur wenige Worte hatten beide mit einander gewechselt, seit sie am Morgen vom Hauptquartier der Schwesternschaft aufgebrochen waren.

Für Teleri nicht ungewöhnlich, die machte nie viele Worte, ihre ruhige, sachliche und gelassene Art kontrastierte gut mit jener temperamentvollen ihrer Gefährtin.

Auch optisch unterschieden sich die beiden erheblich .Teleris, schlanker drahtiger Körper, gut ein halben Kopf kleiner, als ihre Gefährtin, wirkte etwas knabenhaft mit seinen kleinen Brüsten und schmalen Hüften Ganz im Gegensatz zu Hatifas draller Weiblichkeit. Hatifa trug ihre langen brauen Haar meist offen, oder zu einem Pferdeschwanz gebunden, während sich Teleri ihre Haare etwa eine Handbreit über den Ohren rasiert hatte und nur einen Schweif in der Mitte stehen ließ, ganz nach Amazonenart.

„Sonderbar! Alles irgendwie sonderbar!“ Durchbrach Teleri schließlich das Schweigen.

„Was? Was ist sonderbar?“ Erwiderte Hatifa mit einem Tonfall, der erkenne ließ, dass ihr die Frage auf irgendeine Art unangenehm schien.

 „Ich genieße die Stille. Selten genug habe ich die Gelegenheit dafür. Aber du, meine schwatzhafte Elster? Seit unserem Aufbruch hast du knapp drei Worte gesprochen. Das ist bemerkenswert.“ Glaubte Teleri zu erkennen.

„Ich muss meine Kräfte sparen, mir Gedanken machen, gründlich überlegen. Ich habe einfach Angst vor dem, was mich erwartet.“

 „Eine furchtsame Hatifa? Ist mal was ganz Neues. Habe ich noch nie bei dir bemerkt in den dutzenden von Kämpfen die wir schon Seite an Seite ausgefochten.“ 

"Du weißt doch ganz genau was mir bevorsteht! Ich werde Arco wiedersehen, den Vater meiner Söhne. Dagegen ist jeder noch so gefährliche Kampfeinsatz ein Kinderspiel. Ich wollte, ich könnte diese Begegnung vermeiden, aber es ist unausweichlich. Ich muss in Erfahrung bringen wie es den Jungen dort ergeht."

Erklärte Hatifa ihrer Geliebten den bekannten Sachverhalt.

"Du hättest ja nicht mitkommen brauchen. Das macht die Sache für mich umso schwerer."

Abrupt hielt Teleri ihr Pferd an.

"Weil du eine Entscheidung fällen musst!"

Auch Hatifa zügelte ihr Ross nach ein paar Metern und blickt zu ihrer Frau.

"Entscheidung? Was für eine Entscheidung? Ich habe mich entschieden, schon lange. Ich bin eine Tochter der Freiheit. Die Amazonenschwesternschaft ist mein Zuhause. Ich habe nie ein anders besessen. Ich bin Schwertführerin und zweite Leibwächterin unserer Königin Inanna.

Und in dir habe ich meine Gefährtin fürs Leben gefunden. Es gibt nichts mehr zu entscheiden!"

"Nicht für deine Söhne? Für deinen Mann? Du kannst mir nichts vormachen. Du bist unentschieden, du wankst von einem zum anderen." Erkannte Teleri ganz richtig.

"Teleri ich bitte dich: was für ein Tausch wäre das. Absurd, geradezu lächerlich. Ein Leben an der Seite eines Fischers und Schankwirtes? Na, vielen Dank."

In der Tat. Zwei Alternativen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Als Amazone war sie eine Privilegierte, dessen war sie sich bewusst seit sie vor Jahren, samt ihren Söhnen in die Siedlung der Schwertschwestern geflohen war, der ständigen Prügel leid, die sie tagtäglich von Arco hatte einstecken müssen. Unter Inanna Schutz und Schirm war sie zu jener Persönlichkeit gereift, die hier stolz auf ihrem Kampfross dahintrabte.

Warum nur hatte das Schicksal sie zur Mutter zweier Söhne bestimmt? Weshalb hatte sie keine Töchter? Dann wäre alles viel einfacher. Dann stünde sie jetzt nicht hier um fragend in die Ferne zu blicken. Die Mädchen würden wie selbstverständlich weiter in der Siedlung leben können und sich in absehbarer Zeit selbst dem Bund anschließen können.

Stattdessen hatte sie nur Söhne, für eine Amazone eine schwere Bürde. Nun hatten die beiden jenes Alter erreicht, dass sie verpflichtete die Siedlung zu verlassen. Ein schmerzhafter Einschnitt, so als habe man ihr bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust gerissen.

Arco hatte, sehr zu ihrer Überraschung, ihrem Ansinnen zugestimmt und sich bereitgefunden, die beiden bei sich aufzunehmen.

Heute nun wollte sie ihre Kinder zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause aufsuchen, um sich ein Bild von deren Leben zu machen.    

Die Begegnung mit Arco passte ihr ganz und gar nicht, und ihr graute davor. Unter solcherlei Gedanken setzte sie ihren Ritt fort.

In der Zwischenzeit näherte sich die Sonne weiter dem Horizont, so dass sie in der Form einer rotgoldenen Scheibe die Dämmerung ankündigte, die jetzt, in der Zeit des Hochsommers, recht lange anhielt und der Dunkelheit nur für wenige Stunden das Feld überließ.

Nach einer kurzen Weile erreichten sie einen steilen Abhang, unten angekommen ging es weiter zum großen Fluss. Dort würden sich ihre Wege trennen. Teleri kam für die nächsten Tage in einer kleineren Amazonensiedlung unter, einem Außenposten des Hauptquartiers.

Für Hatifa ging es noch ein kurzes Stück am Ufer des Flusses entlang bis sie das kleine Fischerdorf erreichte, wo sie auf Arco und die Jungen traf.

Doch nachdem sie ein paar Meter geritten war, zügelte sie ihr Pferd.

"Teleri warte!"

"Was ist denn?"

"Wir haben uns nicht richtig voneinander verabschiedet!"

"Wie? Ach so, ja. Natürlich!"

Teleri schwang sich vom Rücken ihres Pferdes und landete sicher im Kiesbett des Flusses.

Hatifa rannte auf ihre Gefährtin zu. Es folgte eine stürmische Umarmung. Leidenschaft, heiße Küsse, streicheln, den Körper der anderen ertasten, erobern. Voller Begierde öffneten sie das westenartige Wams aus dunkelbraunem Wildleder, jene Grundausstattung aller Schwertschwestern, und entledigten sich derer.

Ihre nackten, von der Tageshitze verschwitzten Oberkörper umschlangen einander, die Brüste aneinander reibend, die harten Muskeln begrabschend.

Amazonen lebten aus der Spontaneität heraus, sich ausleben, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Man brauchte nicht lange nach dem Grund zu forschen Eine Tochter der Freiheit schwebte ständig in Gefahr. Überall, hinter jeder Hecke konnte eine tödliche Bedrohung lauern. Derer gab es viele, die Schwestern zählten viele Feinde. Jeder Abschied konnte der Letzte sein.

Endgültig, ohne Wiederkehr. Die Geliebte und Lebensgefährtin nie mehr in den Armen halten dürfen. Ein fürchterliches Trauma.

Langsam lies Teleri ihre Handflächen über Hatifas Brüste gleiten, bis zu deren Bauchnabel, dann die Taille umfassend. Noch ein letzter Kuss.

Schnell war das Lederwams wieder an der Stelle wo es hingehörte.

Beide saßen gleichzeitig auf und führten ihre Pferde in entgegengesetzte Richtungen.

Auf sich allein gestellt ritt Hatifa stromabwärts. Eine sanfte, kühle Brise wehte ihr erfrischend ins Gesicht, während die blutrote Sonne sich immer deutlicher dem Horizont näherte.

Schließlich erblickte sie die kleine Ansiedlung. Dort würde sie auf ihre Kinder und ihren früheren Lebensgefährten treffe.

Stille umspülte sie, sanfte beruhigende Stille, aus der Ferne nahm sie Geräusche wahr.

Wortfetzen und Geklapper von Geschirr.

Langsam näherte sie sich den primitiven, notdürftig aus Lehm und Stroh gefertigten Hütten.

Einige Menschen nutzten die Abendkühle, um noch vor ihren Behausungen verschiedene Arbeiten zu verrichten.

 

Die unerwartete Besucherin wurde mit ehrfürchtigem Verneigen begrüßt. Im Vergleich zu den einfachen, ärmlich gekleideten Leuten, wirkte Hatifa wie ein Wesen von einem anderen Stern.

Wie eine Königin durchritt sie die engen Gässchen, bis sie vor einer Hütte am anderen Ortseingang ihr Pferd stoppte. Schwungvoll glitt ihr athletischer Körper zu Boden.

Sie zögerte kurz, doch dann betrat sie mit beherrschender Entschlossenheit das Innere.

Ein relativ großer, spartanisch eingerichteter Raum, der im Vergleich zum Rest der Siedlung sauber und adrett wirke. Ein großer, aus starken Holzbohlen gefertigter Tisch füllte einen Großteil des Raumes. Ein Treffpunkt für die meist als Fischer tätigen Bewohner um hier Rat abzuhalten Ihr früherer Mann betrieb hier eine Art Dorfschänke.

Hatifa vernahm ein leichtes Poltern aus einer dunklen Ecke und sah sich plötzlich Arco gegenüber. Kurzes Schweigen.

Viel Zeit war seit ihrer letzten Begegnung vergangen.

„Du?“

„Ja, ich!“

„Ich… äh, hatte dich erst morgen erwartet!“ begrüßte Arco seine ehemalige Lebensgefährtin.

„Wie du siehst bin ich schon da! Ist es dir nicht recht? Dann gehe ich wieder!“

„Nein! Natürlich ist es mir recht! Es…es war nur so überraschend. Sei willkommen in meiner bescheidenen Behausung. Nicht sehr ordentlich muss ich zugeben. Männerwirtschaft eben!

Du bist sicher was Besseres gewohnt.“ versuchte Arco das Durcheinander zu erklären.

„Nicht unbedingt! Das Leben einer Amazone ist hart, oft entbehrungsreich. Aber für unsere Ordnung sind wir bekannt. Ich glaube ich werde es hier eine kurze Weile aushalten.“ antwortete Hatifa, während sie sich dabei nach allen Seiten umblickte.

„Gut siehst du aus! Was für ein Anblick. Du hast dich prächtig entwickelt. Nicht wieder zu erkennen. Dein Leben als Amazone scheint dir zu bekommen. Aber setzt dich erst mal, du hast sicher großen Durst.“

Arco holte einen Tonkrug und einen Becher und stellte beides auf den etwas wackelig erscheinenden Holztisch. Hatifa nahm auf einem Hocker davor Platz, goss sich etwas Wasser ein. Im Anschluss leerte sie das Gefäß in einem Zug.

„In der Tat! Ich bin sehr durstig! Danke für deine Erfrischung!“

Schweigend platzierte sich Arco neben seine frühere Frau.

Erst jetzt gelang es Hatifa, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Er schien sich sehr verändert zu haben. Die einst kohlrabenschwarzen Haare stahlgrau, außerdem hatte er abgenommen. Der Blick seiner braunen Augen wirkte traurig und leer. Den brutalen Schläger von einst gab es nicht mehr, daran bestand kein Zweifel. Sie hatte es mit einer völlig anderen Person zu tun.

„Sicher möchtest du wissen, wie es den Jungen geht? Die sind gerade am Fluss unten, aber ich denke, dass sie jeden Moment eintreffen werden. Wenn sie wüssten, dass du schon da bist, hätten sie dich längst begrüßt.“ durchbrach Arco das Schweigen.

„Natürlich! Deshalb bin ich gekommen! Ich möchte mich davon überzeugen, dass es ihnen gut geht. Ich hoffe die Aufgabe überfordert dich nicht allzu sehr?“ Provozierend wirkte ihre Frage, doch ließ sich Arco nicht aus der Fassung bringen.

„Ich komme zurecht. Ahm… ich meine wir drei kommen gut zurecht. Mach dir keine Sorgen. Sicher, ganz am Anfang, da wusste ich nicht so recht etwas mit ihnen anzufangen, sie waren beide wie Fremde für mich. Aber in der Zwischenzeit kommen wir gut mit einander aus. Sie sind mir eine große Hilfe geworden.“

„Gut, das von dir zu hören. Ich glaube dir. Aber trotzdem möchte ich, dass die beiden mir das bestätigen. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Arco. Ich habe dir nichts vorzuwerfen.

Ich selbst bin es, die ich anklagen müsste. Amazone und Mutter, ein schwieriges Unterfangen. Nur zu oft musste ich sie anderen überlassen in den zurückliegenden Jahren.“ klagte sich Hatifa an.

Arco blickte schweigend zu Boden.

„Wie… wie haben dich die Leute hier aufgenommen, als du in unsere Siedlung rittest?

Versuchte er ein anderes Thema anzuschneiden.

„Gut! Ja, ich würde sagen gut. Und respektvoll, fast ehrerbietig.“

„Die Menschen hier bekommen nur selten eine von euch zu sehen. Ihr wirkt auf uns wie Wesen aus einer Zauberwelt.“

„Ja! Möglich! Ja, es könnte sein, dass wir tatsächlich in einer Art von Zauberland leben. Wenn ich mich hier so umsehe. Unser Leben ist direkt und intensiv. Voller Leben und Leidenschaft. Ich bin dankbar für den Umstand, dass es mich gewählt hat.“

Noch bevor Hatifa weiterreden könnte, stürmten Lydo und Hannuh zur Tür hinein und fielen ihrer Mutter um den Hals.

„Mutter, endlich bist du gekommen. Wir haben schon gar nicht mehr daran geglaubt.“ begeisterte sich Lydo, der ältere der beiden.

„Bleibst du jetzt für immer bei uns!“ wollte Hannuh, der jüngere, genau wissen.

Das brachte Hatifa in Erklärungsnot.

„Ja, wollt ihr das denn?“

„Oh ja! Dann wären wir wieder zusammen, endlich wieder zusammen. Wir haben dich so sehr vermisst!“ gab Lydo zur Antwort. Hatifa war getroffen. Tränen traten in ihre Augen, sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen.

Sie schloss die Arme um die beiden und drückte sie ganz fest an sich. Alle drei verharrten in andächtigem Schweigen.

„Es ist schon Abend! Ich würde vorschlagen, dass wir etwas zu Abend essen. Ich denke du wirst sehr hungrig sein, Hatifa!“ beendete Arco die rührende Szene.

„Ja das bin ich wohl. Ich könnte einen Wolf verspeisen“ erwiderte Hatifa, der es nur mühevoll gelang, ihre Fassung wieder zu erlangen.

„Hast du denn schon mal einen Wolf gegessen!“ erkundigte sich Hannuh.

„Unsinn! Wölfe kann man doch nicht essen. Das sagt man doch nur so!“ glaubte Lydo zu wissen.

„Aber du hast doch schon viele Wölfe gejagt, Mutter!“ Hannuh ließ nicht locker.

„Ja sicher! Aber nur wenn sie unsere Siedlung bedrohten. Kommt selten vor. Für gewöhnlich lassen sie uns in Ruhe.“ erklärte Hatifa.

„Wie geht es Innana, unserer Königin?“ wollte Lydo schließlich wissen. Damit hatte er unbewusst einen wunden Punkt angeschnitten.

Hatifa senkte den Kopf und blickte zu Boden.

„Nicht gut! Gar nicht gut. Sie ist darum bemüht, Haltung zu bewahren, so wie es einer Königin angemessen scheint. Aber all jene, die in ihrer Nähe leben, ahnen den Schmerz, der in ihr ist.“

In der Zwischenzeit hatte Arco das Essen bereitet und lud zu Tisch. Es folgte eine frohe und ausgelassene Runde.  Eine richtige Familie, wie es sie zu Tausenden gab. Doch in diesem speziellen Fall waren sie es zum ersten Mal.

 

Hatifa schlief in der Nacht bei den Jungen in der Kammer. Auch das ein Novum. Eng war es hier. Hatifa, die einen großen Raum in ihrem Haus gemeinsam mit Teleri bewohnte, hatte Probleme, sich zurechtzufinden, doch die Söhne an ihrer Seite entschädigten sie. Wie sehr hatte sie sich früher nach solch einer Nähe gesehnt.

Sie erhob sich früh, wie sie es gewohnt war, um den neuen Tag zu begrüßen, dessen Licht sich langsam über den Horizont ergoss. Noch war es angenehm kühl. Eine gute Gelegenheit am  Flussufer entlang zu spazieren, die Ruhe zu genießen, die frische Luft und das sanfte Plätschern der Wellen. Gelegenheit in sich zu gehen und den Gedanken freien Lauf zu lassen.

Die Zukunft breitete sich wie ein bunter Teppich vor ihr aus. Was würde der Tag bringen? Wie lange gedachte sie überhaupt zu bleiben? Den Kindern schien es gut zu gehen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Im Prinzip hatte sie alles, was sie wollte, in Erfahrung bringen können. Der Abschied würde ihr sehr schwerfallen, vor allem wenn sie länger hier verweilte. Also beschloss sie, es kurz zu machen. Einen Tag noch den Jungen schenken. Morgen würde sie in aller Frühe ihr Pferd besteigen und sich dorthin begeben, wo sie hingehörte.

Doch es sollte nicht so einfach werden.

Den Morgen verbrachte sie damit, gemeinsam mit den Söhnen die Siedlung und die nähere Umgebung zu erkunden. Im Anschluss half sie ihrem Mann die alltäglichen Hausarbeiten zu meistern. Zu diesem Zweck tauschte sie ihre Amazonentracht gegen die mausgraue, aus groben Leinen gewobene Tunika. Sie wollte in ihrem Aussehen einfach den Menschen hier am Flussufer ähneln. Doch es schien ihr nicht zu gelingen. Sie wirkte wie hinein geborgt. Deplatziert. Da schien nichts echt. Der Adler im Hühnerstall. Kein Vergleich zu den anderen Frauen, die hier lebten.

Doch auf der anderen Seite kam sie bei diesen Gelegenheiten Arco immer näher.

Sie konnte sich endgültig von der Tatsache überzeugen, dass er ein anderer Mensch geworden war. Nie hatten die beiden in früheren Zeiten so mit einander harmoniert.

Schnell faste sie den Entschluss, länger zu bleiben. Die Tage vergingen und die Entscheidung verlangte nach ihrem Recht, doch schob Hatifa sie immer wieder vor sich her.

Was würde Teleri im Augenblick tun? Wie ging es Inanna? Immer wieder meldeten sich solche und ähnliche Fragen.

Am Abend, dann wenn die Dämmerung einsetzte und eine angenehm frische Brise vom Fluss her blies, zog sich Hatifa an dessen Ufer zurück, legte ihre Kampftracht an und trainierte ihren Körper, so wie sie es auch in der Schwesternschaft zu tun pflegte. Auch die Meditation führte sie durch, um den Kontakt zu den Schwestern nicht zu verlieren.

Dann erwachte für kurze Zeit die Löwin in ihr.

Aber andererseits bekam ihr diese Auszeit recht gut.

Es versteht sich von selbst, dass sie viel Zeit gemeinsam mit den Jungen verbringen wollte.  Aus diesem Grund unternahm sie Ausflüge mit ihnen, wollte einfach die Zeit so intensiv wie nur möglich nutzen.

Eines Morgens brach sie mit den beiden zu einer Tour in die Berge auf.

Wie sich herausstellte, war den Jungen die weitere Umgebung noch relativ unbekannt. Das sollte sich jetzt ändern. Der Aufstieg in die Höhe gestaltete sich alles andere als einfach. Hatifas athletischer Körper meisterte ihn mit Bravour, doch die Jungen mussten schon all ihre Kräfte aufbieten, um mithalten zu können.

„Nicht so schnell Mutter, wir kommen kaum noch mit!“ beschwerte sich Hannuh schließlich.

Lydo stieß ihn kurz mit dem Ellenbogen.

„Ach was, wir beiden schaffen das schon.“ Doch auch ihm schien langsam die Puste auszugehen.

Hatifa drehte sich um, stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte sich um.

„In Ordnung, wir werden rasten. Aber nur kurz. Wir haben den Aufstieg gleich geschafft. Du hast Recht Hannuh. Ihr dürft euch nicht überanstrengen.“

Dann ließ sie sich auf den Boden nieder.

„Als wir noch in der Siedlung bei dir lebten, hast du so etwas nie mit uns unternommen.“ erinnerte sich Lydo, dann nahm der zu ihrer Linken Platz. Hannuh tat es wie auf Befehl an der anderen Seite. Er schien immer drauf fixiert, was der ältere Bruder gerade tat und ahmte ihn nach.

„Ich weiß, ich weiß! Es tut mir auch so unendlich leid. Ich war eine Rabenmutter, hatte nie Zeit für euch, überließ euch anderen. Aber die Pflicht. Ihr wisst doch, wie viel ich zu tun hatte. Auch wenn das keine Entschuldigung ist.“ bekannte Hatifa mit einem tiefen Seufzer.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen Mutter. Jetzt bist du ja bei uns und das ist wichtig:“ wandte Hannuh ein.

„Ja, dann lasst uns den Tag genießen.“ Hatifa schloss die beiden in die Arme. Sie ruhten eine Weile aus, erfrischten sich an dem Wasservorrat, den sie mitgenommen hatten, dann setzten sie ihren Aufstieg fort.

Schweigen, ein fast meditatives Schweigen. Stille umgab sie und sie tauchten tief darin ein.

Endlich hatten sie das Hochplateau erreicht. Eine große Fläche, nur von kleinem Gestrüpp und wenigen knorrigen Bäumen bewachsen.

„Hier werden wir unser Lager aufschlagen!“ bestimmte Hatifa.

„Du meinst, wir übernachten hier oben?" wollte Lydo wissen.

„Ja sicher! Das hatte ich von Anfang an vor. Ihr sollt die Kräfte der Natur spüren können, euch mit ihr vereinen. Fürchtet ihr euch denn?“

„Nein, nein, tun wir nicht!“ entgegnete Lydo sofort.

„Ganz bestimmt nicht!“ pflichtet ihm Hannuh bei. „Solange du bei uns bleibst, brauchen wir niemand zu fürchten.“

„Ganz richtig erkannt Hannuh. Seid ohne Furcht, das ist Amazonenland. Hier seid ihr sicher.

Es kann sein, dass wir auf einige Schwestern treffen, die oft in kleinen Gruppen unterwegs sind.

„Ist Teleri auch dabei?“ Erkundigte sich Lydo.

„Das kann sein. Wir sind ja gemeinsam gekommen. Sie verbringt die Zeit in einer kleinen Außenstation. Aber es wäre reiner Zufall, denn sie kann ja nicht wissen, dass wir heute hier oben sind.“

Dann begann sie gemeinsam das Lager zu errichten. Nachdem sie eine Weile geruht hatten, erkundeten sie die Umgebung weiter. Suchten nach Früchten verschiedener Art, die in dieser Jahreszeit reiften. Sie tauchten ab in die Freiheit, die sie wie ein sanfter Mantel zu umgeben schien.

Schließlich begann sich die Sonne langsam in ihr Wolkennest zu betten. Hatifa entfachte ein Feuer, denn die Nächte drohten hier empfindlich kühl zu werden.

Sie bildeten einen kleinen Kreis um die tanzende Flamme.

„Warum können wir nicht wieder bei dir leben?“ lautete Hannuhs provozierende Frage.

„Gefällt es euch denn nicht bei eurem Vater?“ erwiderte Hatifa, während sie begann, das Wildbret in den Flammen zu rösten.

„Doch, schon! Aber es ist eben nicht so wie bei dir.“ gab Lydo zu verstehen.

„Aber ihr kennt doch unser Gesetz, ich habe es schon viele Male mit euch besprochen. Bald seid ihr keine Kinder mehr. Ihr werdet Männer und als solche dürft ihr nicht in einer Siedlung der Schwertschwestern leben. So ist es nun mal. Ihr könnt mir glauben, dass es mir alles andere als leicht gefallen ist, euch fort zu geben. Ja wenn ihr Mädchen wärt, dann wäre alles anders.“

„Aber wir sind eben keine Mädchen.“ wutentbrannt warf Lydo einen Stein in die Flamme, so dass die Funken sprühten. Dann erhob er sich trotzig und wandte dem Geschehen seinen Rücken zu.

„Lydo komm wieder her! Los, setzt dich zu uns. Na, komm schon!“ forderte Hatifa ihren Ältesten auf. Nach einer Weile folgte dieser immer noch trotzig, starte wie benommen in die lodernde Flamme.

„Natürlich könnt ihr nichts dafür. Aber ihr müsst lernen zu verstehen, dass es nicht anders geht.“ versuchte Hatifa einen Sachverhalt zu klären, den sie selbst nicht recht nachvollziehen konnte.

Nach einer Weile war das Fleisch fertig gegart und Hatifa reichte es herum.

„Euer Vater ist ein guter Mann“, meinte sie und steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund.

„Das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Er hat sich verändert, zum Guten. Alle Männer können das, wenn sie denn wollen. Viele wollen es nicht, und da liegt das Problem. Aus diesem Grund gibt es Amazonen, Töchter der Freiheit, Schwertschwestern, um gedemütigten Frauen und Mädchen Schutz zu gewähren und um die schlechte Welt, die uns umgibt, ein wenig besser zu machen. Ihr werdet es verstehen, irgendwann, davon bin ich überzeugt.

Seht ihr, früher, da war euer Vater anders. Böse und gewalttätig, er hat mich geschlagen, wann immer es ihm danach war, bis ich es nicht mehr aushielt und geflohen bin. Ihr wart damals noch ganz klein und erinnert euch deshalb nicht. Doch wo sollte ich hin? Die Schwertschwestern waren der einige Zufluchtsort für uns. Dort nur konnten wir Ausnahme finden. Tagelang irrten wir durch die Gegend, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, bis wir endlich auf die Hauptsiedlung trafen. Es kam einer Erlösung gleich.

Doch die Angst vor der Ungewissheit blieb an mir haften. Werden sie uns auch wirklich willkommen heißen?

Ich weiß noch genau, wie es damals war. Am Abend des Tages als wir eintrafen, warte ich mit noch einigen andern Frauen auf das Eintreffen der Königinnen. Euch hatten sie mir abgenommen und im Kinderhaus untergebracht.

Mir ging es schlecht, ich war völlig übermüdet, hungrig, und ich fror entsetzlich.

Wir kauerten uns aneinander um ein Feuer, ähnlich diesem hier.

Da traf das Gefolge ein. An der Spitze Inanna, auf ihrer weißen Stute. Ihr zur Seite Aradia und die anderen Schwestern aus dem inneren Kreis. Was für ein Anblick. Nie werde ich diese erste Begegnung vergessen. Inanna zog an den Zügeln und stoppte, blickte zu mir hinunter, ihr Mund formte sich zu einem wunderbaren Lächeln. Dann stieg sie vom Pferd und trat ein paar Schritte auf mich zu und blieb vor mir stehen. Mit der rechten Hand berührte sie meinen Kopf und fuhr dann langsam an meiner Wange hinunter. Unbeschreiblich, wunderschön. Liebe, Wärme, Hoffnung, neues Leben. Mein Körper prickelnd. Nie zuvor hatte ich etwas vergleichbar Schönes erlebt.

„Und wen haben wir denn hier?“ sprach mich Inanna an. „Du siehst nicht gut aus. Hast etwas Schlimmes hinter dir? Stimmt’s?“

Ich nickte nur. Ich wollte Reden, doch die Worte stockten mir auf der Zunge.

„Ihr alle, die ihr heute neu zu uns gestoßen seid, sollt in den nächsten Tagen von einer erfahrenen Schwester begleitet werden, ihr werdet in deren Häusern wohnen und mit allem versorgt, was ihr benötigt. Vor allem erfahrt ihr dort Liebe.“ sprach die Königin zu allen Neuankömmlingen, gleich darauf wandte sie sich wieder mir zu.

„Und du bist auserwählt, Gast in meinem Haus zu sein!“

Ich wusste nicht was ich darauf erwidern sollte, stammelte nur „Meine Kinder! Ich kann meine Kinder nicht allein lassen. Man hat sie mir weggenommen.“

„Wo sind ihre Kinder?“ erkundigte sich Inanna in die große Runde.

„Im Kinderhaus, Inanna. Wir haben sie gleich dorthin gebracht.“ Gab eine der heilkundigen Schwestern zur Antwort.

„Wie du siehst, sind deine Kinder bestens aufgehoben. Sie sind bei den Heilkundigen gut untergebracht. Es fehlt ihnen dort an nichts. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.“ sprach Inanna zu mir und lächelte dazu. Dieses wunderbare, dieses bezaubernde Lächeln.

„Aber ich…“ versuchte ich zu widersprechen.

„Nichts aber! Du brauchst Hilfe. Jetzt! Es ist an der Zeit an dich zu denken. In meinem Hause wirst du vergessen. Dort kannst du Ruhe und Frieden finden und neue Kräfte sammeln.“

Dann nahm sie mich einfach an die Hand und führte mich in ihr Heim. Sie bereitet mir etwas zu essen, aß mit mir und schließlich bettete sie meinen Kopf in ihrem Schoß, begann mich zu streicheln, bis ich in ihren Armen sanft in den Schlaf glitt.“

Lydo und Hannuh verharrten im andächtigen Schweigen. Schließlich wagte Lydo zu sprechen.

„Warum hast du uns früher nichts davon berichtet, als wir noch in der Siedlung bei dir lebten.“

„Nun, ich dachte, dass ihr für solche Geschichten noch zu klein wärt. Das war ein Fehler, ich sehe es ein.“

„Warst du denn in Inanna verliebt?“ wollte Hannuh wissen.

„Ja und wie! Schon ihre erste Berührung war phantastisch. Ich verfiel ihr total?“

„Und wie ging es danach weiter?“ hakte Lydo weiter nach.

„Ich wurde ihre Schülerin-Geliebte, so wie das bei uns Brauch ist. Sie bildete mich aus, machte aus mir jene Frau, die ich heute bin. Es war zum Teil sehr hart, aber ich nahm es hin, wenn ich nur in ihrer Nähe sein durfte. Und das war ich. Tagelang verbrachten wir in den Bergen. Tagsüber übten wir unsere Kräfte, jagten gemeinsam, trotzen Wind und Wetter. In der Nacht liebten wir uns am Feuer. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Nie wieder werde ich etwas Vergleichbares erleben dürfen. Sie lehrte mich was es heißt, ein wahrer Mensch zu sein.  Durch sie gelang es mir, zu mir selbst zu finden. Meine Kräfte zu entwickeln und geschickt einzusetzen, wenn ich ihrer bedurfte. Und natürlich meinen Verstand zu gebrauchen.

Doch dafür musste ich euch vernachlässigen, euch von anderen aufziehen lassen.“  

„Warum bist du nicht mit Inanna zusammengeblieben?“ erkundigte sich Lydo weiter.

„Ja, das wollte ich. Ich habe sehr darunter gelitten als es zu Ende ging. Fast wäre eine Welt für mich zusammengebrochen, bis ich schließlich begriff. Inanna gehört allen, so der Grundsatz. Nie hat sie sich länger an eine Person gebunden. Erst als es ihr schlechter ging, entschied sie sich für Kasuba.

Meine Trauer währte eine gewisse Zeit, doch dann trat Teleri in mein Leben und erfüllte meine Sehnsucht. Ja, und den Rest kennt ihr ja.“

„Ja, den kennen wir: Wir mögen Teleri auch. Aber lieber wäre es uns, wenn du für immer bei uns und Vater bleiben könntest.“ sprach Hannuh das heikle Thema erneut an.

Hatifa fühlte einen Stich in der Herzgegend. Was konnte sie darauf erwidern? Sie wollte die beiden nicht verletzen, doch sie kam nicht umhin sie mit der Realität zu konfrontieren.

„Ich kann nicht! So sehr ich es auch möchte. Ich kann die Frau die so viel für mich, nein, für uns getan hat, nicht im Stich lassen. Jetzt, da sie krank ist und dringend der Unterstützung bedarf. Inanna braucht mich. Ich muss an ihrer Seite stehen, wenn nötig bis ans bittere Ende.

Ihr versteht das doch?“

Schweigen, doch nach einer Weile schien Lydo begriffen zu haben.

„Ja, wir verstehen es. Es ist deine Pflicht.“

Hannuh bekundete nickend seine Zustimmung, wenn auch mit deutlicher Traurigkeit in den Augen.

„Oh, ich danke euch. Ihr seid so verständig. Ja, ihr seid keine Kinder mehr, ihr werdet zu Männern.“

Hatifa umarmte die Beiden und drückte sie fest an sich. Den Tränen ließ sie dabei freien Lauf. Doch nach einer Weile hatte sie sich gefangen.

„Ich war eine schwächliche, graue Maus, mager, spindeldürr und voller Angst, als ich zu den Amazonen kam, nun seht, was Inanna aus mir gemacht hat.“

Hatifa ballte die Fäuste und ließ ihre Muskeln tanzen. Mit einem Satz erhob sie sich vom Boden ergriff den Ast einer knorrigen alten Buche in der Nähe und zog sich daran nach oben. Zehn, Fünfzehn, Zwanzig Klimmzüge. Sie schwang die Beine nach oben, so dass sie kopfüber um den Ast sauste. Mit einem kraftvollen Salto landete sie schließlich auf dem Boden.

„Bravo, Mutter ist die Beste!“ bekundeten die Jungen und klatschten Beifall.

Hatifa ergriff ihren Kampfstab und vollführte nun ihre Kampftechniken, so wie sie es von Inanna erlernt hatte. Ein kraftvoller Tanz voller Würde, Sinnlichkeit und Ästhetik. Die Jungen fühlten sich sicher und geborgen, aber wehe dem Gegner, der dieser Amazone zu nahe kam.

 

Nachdem sie sich eine Weile ausgelassen amüsiert hatten, war es an der Zeit, schlafen zu gehen.

Hatifa schürte noch einmal das Feuer, dann bildete sie einen kleinen Kreis um die Flamme.

Den Blick zum sternenklaren Himmel gerichtet. Was für ein erhabener Anblick. Das unendliche Universum als schützendes Dach. Was brauchte ein Mensch mehr? Hatifa tauchte ein in diese Unendlichkeit des Seins, fühlte sich verbunden mit Teleri, mit Inanna und den anderen Schwestern, die schon lange zu ihrer Familie geworden waren. Die Entscheidung, wie es weitergehen soll, überließ sie den folgenden Tagen.

 

Das Land wurde zwar von den Amazonen kontrolliert, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass Räuberbanden und Wegelagerer die Gegend unsicher machten. Einer hatte die drei schon eine ganze Weile lang aus der Ferne beobachtet. Eine Frau mit zwei Halbwüchsigen. Leichte Beute, so dessen Ansicht. Langsam schlich er sich gemeinsam mit einem Kumpan in deren Nähe. Das Feuer schien heruntergebrannt und der Mond hatte sich bereits am Horizont verkrochen. Wenig Licht, beste Bedingungen also für einen schnellen Überfall.

Der eine beugte sich über Hatifa, während der andere die Umgebung fixierte.

Leider waren die Wegelagerer an eine kampferprobte Amazone geraten, damit hatten sie wohl nicht gerechnet. Schwertschwestern sind üblicherweise nicht mit heranwachsenden Jungen unterwegs.

Kaum hatte der Neugierige die Schaffelldecke ergriffen, mit der sich Hatifa bedeckte, spürte er die spitze Klinge ihres Bronzedolches am Hals.

„Damit hast du wohl nicht gerechnet, was? Pech würde ich sagen!“ begrüßte ihn die Amazone.

Im nächsten Augenblick rammte sie ihm mit voller Wucht ihr Knie in den Unterbauch. Laut aufschreiend taumelte dieser zur Seite und stürzt neben dem Feuer auf den Boden.

Blitzschnell warf Hatifa die Decke zur Seite und griff nach ihrem Stab, wirbelte wie eine Furie in der Luft herum und verteile schmerzhafte Schläge auf die beiden Angreifer.

„Na los! Kommt her! Habt ihr noch immer nicht genug? Dann sollt ihr auch mehr bekommen.“

Dreimal unternahmen die Räuber einen Angriff und jedes Mal wurden sie zurückgeschlagen, solange bis sie schließlich laut fluchend das Weite suchten.

Lydo und Hannuh wurden durch den Lärm aufgeschreckt und verfolgten dem Geschehen aus sicherer Distanz. Zumindest Lydo war eine Weile versucht einzuschreiten, doch hielt er sich zurück, um seine Mutter nicht abzulenken.

Hatifa rammt den Stab in den Boden, dann wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

„Alles in Ordnung. Die werden nicht wiederkommen, vermutlich glauben die, dass noch mehr Schwertschwestern in der Nähe sind.“

„Wau, denen hast du es aber gegeben!“ begeisterte sich Hannuh und klatschte dabei kräftig in die Hände.

„So ist das Leben einer Amazone, ständig in Bereitschaft, immerzu in der Gefahr, dass es zum Kampf kommt. Kein Honigschlecken. Härte und nochmals Härte. Aber nun seht zu, dass ihr euch wieder schlafen legt. Morgen werden wir wieder nach Hause kehren.“

„Morgen schon? Aber es ist so schön mit dir! Es wird nie langweilig, immer dürfen wir mit dir etwas Neues erleben.“ bedauerte Lydo.

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber es geht nicht ständig so weiter. Auf euch wartet ein Alltag und der will gemeistert werden. Jetzt aber ab in die Falle.“ bestimmte Hatifa.

Der Rest der Nacht verlief friedlich und ohne weitere Störung.

Am Morgen erhoben sie sich zeitig, um die Morgenfrische auszunutzen, denn es kündigte sich wieder ein sehr heißer Tag an.

Lydo und Hannuh waren nicht sehr gesprächig, räumten nur sehr ungern ihren Platz auf dem Plateau, der ihnen einen überwältigen Blick in die Ferne gewährte.

„Nicht traurig sein! Diesem Ausflug werden weitere folgen. Das verspreche ich euch!“ versuchte Hatifa die Stimmung etwas aufzulockern.

„Wirklich? Das heißt, dass du noch länger bei uns bleiben wirst?“ rief Hannuh freudig aus.

„Ich breche in den nächsten Tagen auf. Ich habe mich schon lange genug hier aufgehalten. Aber ich werde wiederkommen, immer wieder, in regelmäßigen Abständen.“ versprach die Mutter, obgleich sie ahnte, dass sie jenes Versprechen kaum würde halten können.

„Das sagst du doch nur um uns zu beruhigen.“ schätzte Lydo sogleich die Lage richtig ein.

„Nein, ich verspreche es! Wirklich! Bei…“  Bei allem was mir heilig ist wollte sie hinzufügen, brachte die Worte aber nicht über ihre Lippen.

Keiner der beiden war imstande etwas zu erwidern. Somit folgte wieder jenes zermürbende Schweigen, das allen dreien nicht sonderlich zu bekommen schien.

Während des Abstieges durchbrach Hatifa nur selten die Stille, vor allem dann, wenn sie den beiden etwas zu erklären versuchte. Die Last der Entscheidung lag schwer auf ihren Schultern. Mit Erleichterung nahm sie schließlich zur Kenntnis, dass sie in ihrer Siedlung angekommen waren.

„Na, hattet ihr einen schönen Ausflug?“ wurden alle drei von Arco begrüßt.

„Ja, ganz toll! Mutter ist die Größte!“ konnte Hannuh seine Begeisterung kaum in Zaum halten.

Zumindest er schien sich wieder gefangen zu haben, was man von Lydo nicht sagen konnte.

„Na, dann ist ja alles gut. Kommt rein, ihr werdet sicher Hunger haben.“ Lud Arco ein und die drei folgten willig ins Innere der Hütte.

 

Am Abend fuhren Arco und Hatifa mit dem alten Boot auf den Fluss hinaus. Seltene Gelegenheit der Zweisamkeit.

Am Ufer herrschte großes Gedränge, die Bewohner der Siedlung schienen ein Fest zu feiern.

„Die Menschen dort drüben feiern heute die große Göttin. Sie haben ihr den Namen Inanna gegeben. Du siehst wie sehr eure Königin die Herzen der Menschen erobert hat.“ erklärte Arco.

„Und warum sind wir nicht dort?“ hinterfragte Hatifa,

„Wenn du willst können wir später noch gehen. Ich habe es eigentlich nicht nötig. Ich brauche nicht zur Göttin zu pilgern, ganz gleich, welchen Namen sie auch trägt. Die Göttin ist zu mir gekommen und sitzt in meinem Boot.“

„Danke! Sehr lieb von dir!“

„Die Leute in der Siedlung und in den anderen Dörfern halten dich für eine Abgesandte der Göttin, was du in gewisser Hinsicht ja auch bist. Auch dich verehrten sie entsprechend.“

„So? Das habe ich gar nicht bemerkt. Ich wollte doch nur eine von ihnen sein.“ wies Hatifa diese Ansinnen zurück.

„Für mich bist du eine, wenn auch auf ganz andere Art!“ Arco nahm an ihrer Seite Platz und schloss sie in seinen Arm, Hatifa ließ es geschehen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sanft schwang das Boot auf der Wasseroberfläche.

„Ich vermute, dass du dich schon bald zum Aufbruch rüstest? Habe ich recht?“ Die Frage traf Hatifa wie ein schwerer Schlag.

„Ich werde es tun müssen, so bald als möglich. Wenn nicht, komme ich überhaupt nicht mehr von euch los.“

„Und? Wäre das so schlimm?“ wollte Arco wissen.

„Ich muss, ich habe Verantwortung. Ich habe Inanna schon zu lange allein gelassen, na und von Teleri wollen wir gar nicht reden. Es geht nicht anders. Ich muss zurück. Dort ist der Platz, wo ich hingehöre, so gern ich bei auch euch bleiben würde.“

„Das wird den Jungen ganz und gar nicht gefallen.“

„Das ist ja das Schlimme, ich mache mir derentwegen schon jetzt  die schlimmsten Vorwürfe. Es bricht mir einfach das Herz.“ Tränen traten in ihre Augen.

„Das musst du entscheiden!“ erwiderte Arco.  „Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, das kannst du mir glauben.“

„Ach Arco, halte mich fest! Halt mich einfach und spende mir Kraft!“ flehte Hatifa.

„Ich soll dir Kraft spenden? Dir, der furchtlosen Amazone? Das sind ganz neue Worte. Aber ich tue es gern.“

„Manchmal ist eben auch eine Schwertschwester nur eine Frau.“

Danach wog Arco sie in seinen Armen.

Diese unerwartete Nähe gestattete den Emotionen freien Lauf. Sie beschlossen nicht auf das Fest zu gehen, stattdessen zogen sie sich in die Hütte zurück und liebten sich die ganze Nacht, bis sie vom ersten Hahnenschrei in die Wirklichkeit zurück gerufen wurden.

 

Das brachte es mit sich, dass Hatifa nun völlig im luftleeren Raum zu schweben schien. Hier zu bleiben schien nun nicht mehr allein nur der Jungen wegen, sondern auch Arcos wegen. Jenen Arco, den sie von früher kannte, hätte sie schon unmittelbar nach ihrem Eintreffen problemlos verlassen können. Doch dieser Mann hier erwies sich als ausgesprochen liebenswert, zartfühlend und rücksichtsvoll. Das machte die Sache noch viel komplizierter, als sie ohnehin schon war. Hatifa bestieg ihr Pferd und ritt den Fluss entlang, den Wind im offenen Haar, bis sie eine Stelle gefunden hatte, um eine Zeit lang zu mit sich selbst zu sein. Sie ging zum Ufer und starte wie benommen auf die Wellen, die zum Ufer strebten, nach einer Weile setzte sie sich auf einen großen Felsbrocken, der aus der Sandbank ragte.

„Namenlose Göttin, hilf mir! Ich bin total verzweifelt! Was soll ich nur tun? Wo gehöre ich hin? Ich bin eine Tochter der Freiheit, eine Schwester des ewigen Bundes und Inanna ist meine Königin, der ich die Treue geschworen. Treue bis in den Tod. Die Schwesternschaft ist mein Zuhause und in Teleri fand ich eine zärtliche Geliebte und Gefährtin, mit der ich alles teile.

Aber andererseits. Hier habe ich eine richtige Familie, einen Mann der mich zu lieben und zu achten scheint und zwei Söhne, die mich gerade jetzt so dringend brauchen. Oh, wie schwer ist die Last der Entscheidung. Ich möchte beides, aber ich bin mir im Klaren darüber, dass es unmöglich ist.

Gib mir die Kraft, die richtige Wahl zu treffen.“

Hatifa vergrub ihr Gesicht in den Handflächen.

Doch es sprach keine innere Stimme zu ihr, die ihr die rechte Richtung wies. Die Entscheidung lag allein bei ihr und die konnte ihr niemand nehmen, keine Königin, ja nicht einmal die Göttin.

Hatifa ritt ins Dorf zurück, kleidete sich um und half ihrem Mann wieder in der Taverne, so als habe sie die Wahl bereits getroffen. So verging der Tag, ohne weitere Vorkommnisse und die Nacht gehörte Arco.

Doch tags darauf brannte sich die Sehnsucht nach Teleri, nach Inanna und den anderen Schwestern wie glühende Kohle in ihr Herz. Das Ende ihres Traumes von einer heilen Familie schien gekommen. Sie überredete ihre Söhne, mit ihr eine Bootsfahrt auf dem Fluss zu unternehmen. Als sie weit genug gerudert waren, kletterte sie auf die Bootsblanken und balancierte die kleine Nussschale geschickt aus. In den Händen hielt sie ihren Stab und streckte diesen in die Höhe.

„Wie gut, dass ich euch frühzeitig das schwimmen lehrte. Wenigstens dazu blieb mir die Zeit. Sollten wir jetzt umkippen, können wir alle drei ans Ufer schwimmen.

Ihr dürft nicht traurig sein. Was ich euch jetzt zu sagen habe wird schwer zu ertragen sein. Ich habe mich entschieden. Ich verlasse euch, gleich morgen früh in der Morgendämmerung.  Gemeinsam mit Teleri werde ich in das Hauptquartier der Amazonen zurückkehren. Dort gehöre ich hin, es ist meine Bestimmung.“

Hannuh begann zu weinen, der ältere Bruder tröstete ihn. Es würde nichts nützen die Mutter zum Bleiben zu bewegen. Inanna und Aradia übten auf Frauen und Mädchen eine magische Anziehungskraft aus, der sie nicht wiederstehen konnten. Für Männer eine nur sehr schwer nachzuvollziehende Tatsache.

„Nicht weinen, Hannuh! Ich werde immer bei euch sein, meine Seele wird stets über euch wachen, ganz gleich was auch geschehen mag. Wir werden uns wiedersehen, schon bald. Wenn sich der Mond wieder füllt, feiern wir ein großes Fest in unserer Siedlung. Wir huldigen der Freiheitsgöttin, die uns vor so vielen Jahren zusammengeführt. Ihr seid dazu eingeladen und könnt mich besuchen kommen. Wohnen werdet ihr in unserer Gästesiedlung, ich werde jeden Tag zu euch kommen. Ich weiß, ihr werdet mich verstehen und könnt meine Entscheidung gutheißen.

Es kann für mich keine andere geben.“

Sie hob ihren Kampfstab weit nach oben in den Himmel, dabei kamen ihre starken Muskeln zum Vorschein. Ein Anblick wie in Stein gemeißelt. Die geborene Kämpferin. Als Aushilfe in einer Dorfschänke deplatziert, ein Adler gehört nun einmal nicht in einen Hühnerstall.

Voller Ehrfurcht blickten die Jungen auf ihre Mutter, Stolz erfüllte ihre Herzen.

„Wir sind dankbar und stolz, dich zur Mutter zu haben.“  entfuhr es Lydo.

Hatifa nahm ihren Platz wieder ein und schloss die beiden in ihre Arme, der Frieden war wiederhergestellt.

Ungeachtet dessen, sollte sich der tatsächliche Abschied am darauf folgenden Morgen als ausgesprochen schmerzhaft erweisen.

Obgleich sie Haltung bewahrten, litten die Jungen erheblich unter dem Trennungsschmerz und auch Arco fiel der Abschied alles andere als leicht.

„Dann bleibt mir wohl nichts weiter als dir eine gute und sichere Reise zu wünschen“, meinte er mit einer nicht zu leugnenden Trauer in der Stimme.

„Ja, es konnte wohl nicht ewig so weiter gehen, wir haben alle unsere Bestimmung.“ erwiderte Hatifa während sie ihren Hengst bestieg. Lydo und Hannuh traten zu ihrer Mutter.

„Aber du kommst ganz bestimmt bald wieder?“ wollte sich Hannuh noch einmal versichern.

„Versprochen ist versprochen! Aber zunächst seid ihr an der Reihe. Wir sehen uns beim nächsten Vollmond auf unserem Fest. Dass gilt im Übrigen auch für dich, Arco. Auch du bist willkommen.“ Erweiterte die Amazone ihre Einladung.

„Ich nehme die Einladung gerne an und werde unsere Kinder begleiten.“

„Ich möchte, dass du Teleri kennen lernst. Das ist mir ein sehr wichtiges Anliegen.“

Arco nickte wortlos, aber mit einem freundlichen Gesichtsausdruck.

„Also dann! Zeit zum Aufbruch. Auf bald!“

In Windeseile lenkte Hatifa ihr Pferd aus der Siedlung. Sie wollte den Jungen den Abschied nicht noch schwerer machen und verbarg geschickt ihre Tränen. Doch kaum dass sie das Dorf hinter sich gelassen, brach es in voller Wucht aus ihrem Inneren, gleich einem Lava speienden Vulkan.

Es zerriss ihr das Herz. Ich werde sie wiedersehen, sprach sie ständig zu sich selbst, in dem Bewusstsein, dass es dafür keine Garantie gab. Das Leben einer Amazone ist leidenschaftlich aber kurz, erinnerte sie sich Inannas Worte. Das war es in der Tat. Jeder Tag konnte der letzte sein, die letzte Schlacht rückte in bedrohliche Nähe.

Nach dem sie ein ganzes Stück des Weges zurückgelegt hatte, traf sie am vereinbarten Ort auf Teleri.

„Hm, du brauchst mir nichts zu erzählen, deine roten und verquollenen Augen sprechen eine deutliche Sprache.“ begrüßte diese ihre Geliebte.

Frustriert schwang sich Hatifa vom Rücken ihres Pferdes, Teleri tat es ihr gleich.

„Na komm schon her. War der Abschied so schlimm?“

Es folgte eine innige Umarmung.

„Abschied ist ein scharfes Schwert. Ach, wenn ich dich nicht hätte, meine treue Gefährtin.“

„Und? Geht es den Jungen gut?“ Erkundigte sich Teleri weiter.

„Ja! Arco hat sich geändert, sehr zu seinem Vorteil. Ich weiß sie bei ihm gut aufgehoben. Aber gerade diese Tatsache machte die Sache so kompliziert. Ich war lange im Zweifel, ob ich für immer bleiben sollte.“

„Aber du hast es nicht getan. Stattdessen bist du zu mir zurückgekehrt.“ Teleri nahm Hatifas Kopf in beide Hände und verabreichte ihr einen Kuss.

„Ja, ich habe mich für dich entschieden. Für Inanna und die ganze Schwesternschaft. Das ist mein Leben! Mein Zuhause. Es gibt für mich kein anderes. Nicht in diesem Leben.“

Mit großer Genugtuung nahm Teleri Hatifas Erklärung zur Kenntnis. Sie schlang ihre Arme um deren Taille und zog sie zu sich.

„Ich kann es kaum erwarten, heute Abend wieder in deinen starken Armen zu liegen.“

„Und ich in deinen.“ bestätigte Hatifa.

„Dann lass uns geschwind aufbrechen. Der Tag ist noch jung und bis zur Siedlung ist es nicht weit.“

Mit einem Satz saßen beide auf. Hatifa griff zu ihrer Doppelaxt und schwang sie mehrmals im Kreis, dann stieß sie den furchterregenden Amazonenschrei aus. Wie ein Blitz jagte sie davon. Teleri folgte. Ein Wettreiten.

Die Sonne stieg am Himmel auf und brannte sich auf die bizarre Berglandschaft vor ihnen. Hatifa hatte zu sich selbst gefunden. Der Adler entfaltete seine Schwingen und ließ sich in die endlose Weite des Himmels gleiten.

Teleri zog an ihr vorbei.

„Na warte! Dich hole ich wieder ein.“

So ging es weiter bis sie schließlich die Siedlung erreichten.

„Ich bin heimgekehrt, meine Liebste. Sei ohne Furcht. Ich werde dich nie verlassen. Hier gehöre ich hin, bis zum bitteren Ende.“

Hier stimmte alles. Daraya und Gomela waren gerade dabei sich auf dem Dach ihres Hauses im Schwertkampf zu üben, dabei probierten sie offenbar eine neue Kampftechnik aus. Barbusig und nur in ihre hautengen Reiterleggins gekleidet, unbändige Amazonen, so etwas konnte es nur hier geben.

Klapp, klapp klapp…. Krachte die hölzernen Übungsschwerter aneinander.

Klappklappklapp…..

 

Erschrocken fuhr Inga in die Höhe. „Was ist los? Wo bin ich?“ 

Anarchonopolis! Klar! Wo sollte sie auch anders sein. Erst einmal sammeln. Was war geschehen? Langsam, ganz langsam begann es zu dämmern. Sie befand sich im Garten des Konventsgebäudes der Abtei. Dort hatte sie in einem Liegestuhl Platz genommen und wollte eine Weile ausruhen, dabei musste sie eingeschlafen sein. Ein Traum, es war ein Traum, aber was für einer. Es rumorte heftig in ihrem Inneren. Sie fühlte sich benommen. Ihr Herz raste.

Sie hatte in den vergangenen Wochen genügend von den anderen Schwestern mitbekommen, jene, die ebenfalls von solcherart Träumen heimgesucht wurden, um zu erkennen.

Nun war es also auch bei ihr geschehen.

„Hatifa? Ich…ich bin Hatifa!“ sprach sie zu sich selbst. „Dann kann es sich bei Teleri nur um Sonia handeln?“

Kallklappklapp… Vanessa und Jennifer übten sich in ihrer Nähe im Schwertkampf.

Die beiden schienen wie besessen von den Amazonengeschichten, die sie überall aufschnappten.

Das Geklapper hatte sie geweckt. Schade! Gerne wäre sie länger geblieben in dieser wildromantischen mythologischen Welt im Dunkel der Vergangenheit.

In diesem Leben schien alles geordnet. Hier hatte sie zwei Töchter und die lebten selbstverständlich mit ihr zusammen, solange sie wollten, fanden sie doch beste Bedingungen für ihr weiteres Leben.

Inga brauchte keine Entscheidung zu treffen. Doch ähnlich dem Geschehen in der Bronzezeit, lauerte auch hier die Gefahr. Ach ja, die Kabinettssitzung. Inga blickte auf ihre Armbanduhr.

Dann erhob sie sich, ihr war etwas schwindelig und sie taumelte kurz.

„Geht es dir nicht gut Mutter?“ rief Vanessa zu ihr rüber.

„Es geht schon! Mach dir keine Gedanken. Übt nur weiter, ihr Nachwuchsamazonen. Ich gehe zur Sitzung, bin schon recht spät dran.

Inga machte sich auf den Weg in den Kapitelsaal der Abtei. Krisensitzung, schon wieder. Derer gab es genug in den zurückliegenden Wochen. Niemand vermochte zu sagen, wie es nach Elenas Rücktritt weitergehen sollte. Es stand auf des Messers Schneide. Die Rechtspopulisten machten mobil. Unruhen hatten das ganze Land erfasst und drohten jederzeit zu eskalieren. Landesweit kam es zu Gewaltexzessen. Noch schien Anarchonopolis wie eine Insel im Sturm, doch wie lange noch?

Madleen war zur Verräterin geworden. Wie konnte das geschehen? Viele fragten sich, ob sie noch bei klarem Verstand war. Auch Cassians Entlarvung hatte sie nicht umstimmen können. Sie entschied sich für ihn und gegen Elena. Eine Entscheidung mit fatalen Folgen. Für Elena der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie war verschwunden, schon seit Tagen hatte sie niemand mehr gesehen. Es hieß, sie habe sich ins Waldhaus zurückgezogen, um allein zu sein in ihrem Schmerz, doch war sie dort nicht anzutreffen.

Wie schon zuletzt, würde auch heute Colette die Sitzung leiten, obgleich das mit ihrem verfassungsrechtlichen Status unvereinbar schien. Alles lief darauf hin hinaus, dass sie ein weiteres Mal in die Rolle der Beschützerin der Kommune gelenkt wurde, wie damals, kurz nach Neidhardts Machtergreifung. Doch das war Öl auf die Mühlen der radikalen Anarchisten, die sich in ihren Vermutungen bestätigt sahen, dass der Staat nun endgültig zu einer Diktatur mutierte.   

Als Inga in den Kapitelsaal trat, traf sie zu ihrer Verwunderung auf Sonia.

„Was machst du denn hier?“

„Ich habe dich überall gesucht und konnte dich nicht finden. Deshalb kam ich her, um dich zu vertreten.“ Lautete die Antwort.

„Ich muss unbedingt mit dir reden. Stell dir vor, mich hat es auch getroffen. Ich hatte einen ganz ungewöhnlichen Traum. Ich war bei den Amazonen der Vorzeit.“ erwiderte Inga und die Art wie sie sprach, ließ erkennen, wie aufgewühlt sie noch war.

„Du auch? Aber wann? Heute Morgen hast du nichts davon berichtet. Jetzt ist es früher Nachmittag?“

„Das ist doch nicht so wichtig. Ich habe mich im Klostergarten ein wenig ausgeruht und dabei bin ich eingeschlafen. Es war genauso wie die anderen berichteten. Grandios. Phantastisch. Ich muss unbedingt mit Colette darüber sprechen.“ antwortete Inga und blickte dabei auf die Königin, die in einem bequemen Sessel am Rande der großen Tafel Platz genommen hatte.

Derweil trafen immer weitere Kabinettsmitglieder und Andere ein, die an der Sitzung teilnehmen sollten.

„Ich glaube kaum, dass Colette imstande ist, dafür die nötige Zeit aufzubringen. Dir ist doch nicht entgangen, welches Chaos hier seit Tagen herrscht, seit Elena sich zurückgezogen hat.“ gab Sonia zu bedenken.

„Selbstverständlich! Aber es ist wichtig. Ich könnte mir vorstellen, dass unsere Königin gespannt sein wird, mir zu zuhören. So ein Mist, dass wir gerade jetzt in eine Krise taumeln müssen.“ stellte Inga fest

Nach einer Weile eröffnete Colette die Beratung. Betül und Androgyna verharrten an ihrer Seite, gleichsam wie Seraphine, die ein bedeutendes Heiligtum beschützen.

„Die wichtigste Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, ist die Wahl Dagoberts zum Kanzler der Akratasischen Föderation. Meine Frage in die Runde: Gibt es weitere Vorschläge?“

Colette schien jede einzelne Person dabei anzublicken. Doch es gab keine Reaktion. Verständlich.

Wer möchte schon Kanzler oder Kanzlerin in einer Krisensituation sein. Das Land schien unaufhörlich vor die Hunde zu gehen. Andererseits ein Armutszeugnis ohne Gleichen, wenn man auf eine Person außerhalb der Schwesternschaft, bzw. der Kommune zurückgreifen musste. Noch dazu auf einen Vertreter des alten, untergegangenen Regimes. Das würde die Krise nur noch weiter verschärfen.

Inga blickte weiter wie gebannt auf Colette.

„Mist, dass ich so abrupt aufgewacht bin. Ich hatte keine Gelegenheit Inanna zu erblicken. Wie sie wohl ausgesehen haben mag. Ihre Schönheit muss überwältigend gewesen sein.“

„Inga reiß dich zusammen! Du bist ja total aus dem Häuschen. Ihr müsst euch konzentrieren. Eine überaus wichtige Entscheidung steht ins Haus.“ mahnte Sonia weiter.

„Das ist mir bewusst! Aber es ist doch so, dass ich….“

„Warum übernimmst du nicht diese Verantwortung? Es wäre möglicherweise ratsam, Königin und Kanzlerin in Personalunion zu vereinen.“ achlug Alexandra vor.

„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ lehnte Betül barsch ab. „Was soll sie denn noch alles tun? Colette ist nicht gesund! Vergesst das nicht.“

„Lieb von dir, Alexandra, dass du mir das zutraust. Aber ich tue es nicht. Das wäre ausgesprochen unklug. Das ist ausgeschlossen.“ gab Colette unmissverständlich zu verstehen. „Also wie ich sehe, gibt es keine weiteren Interessenten. Gut, das wäre geklärt. Dann die Frage an dich Dagobert. Bist du bereit, diese Verantwortung wirklich zu übernehmen?“

Der Angesprochenen erhob sich.

„Wenn die Mehrheit der Kabinettsmitglieder und die Schwesternschaft mir ihre Unterstützung zusichern, werde ich mich der Verantwortung nicht entziehen.“

Dagobert war nie ein Mann, der viel Aufhebens um seine Person machte. Nun sollte sich erweisen ob sich dieser Umstand als vorteilhaft erweisen, oder ihm zum Nachteil gereichte.

„Du bist dir im Klaren darüber, dass du zur Zielscheibe des Hasses werden könntest. Sowohl die Rechtspopulisten und Konservativen auf der einen, als auch die radikalen Anarchisten auf der anderen Seite, werden in dir eine persona non grata sehen und dich für alles verantwortlich machen.“ warnte Folko.

„Ich bin mir dessen bewusst. Wäre ich es nicht, hätte ich mich kaum bereitgefunden. Keine Sorge, ich bin Anfeindungen seit je her gewohnt, das ist für mich nichts Neues. Ich habe lernen müssen, damit umzugehen. Deine Vergangenheit ist auch nicht sehr koscher, Folko.“

„Danke, dass du mich daran erinnerst. Ich hätte es glatt vergessen.“

Colette klatschte in die Hände.

„Schluss jetzt! Keine Vorwürfe mehr, die bringen uns keinen Schritt weiter. Wenn es keinen Diskussionsbedarf mehr gibt, können wir jetzt zur Abstimmung schreiten. Besteht einer oder eine auf geheime Abstimmung? Sollte das nicht der Fall sein, könnten wir es schnell hinter uns bringen und per Handzeichen Zustimmung erteilen oder nicht.“

Der Blick in die Runde verdeutliche, dass die meisten so dachten. Es gab keine Einwände.

Inga war nach wie vor nicht richtig bei der Sache.

„Ich hätte zu gerne in Erfahrung gebracht, wie Inanna aussieht. Wie Colette mit Sicherheit nicht, dass liegt ja auf der Hand. Glaubst du, dass ich noch mal in die Dunkelheit der Träume steigen kann und eine Fortsetzung träume? Elena und Colette können das…“ wisperte sie in Sonias Ohr

„Inga, bitte!“

„Schon gut! Schon gut!“

„Inga, Sonia! Könnt ihr eure Privatunterhaltung bitte auf später verschieben?“ mahnte Colette.

„Schön! Dann schreiten wir zur Abstimmung.

„Wer für den Vorschlag votiert, den bitte ich um das Handzeichen.“

Zögernd reckten sich alle Arme in die Höhe. Es war die Einsicht in die Notwendigkeit, die auch die größten Zweifler dazu bewog, Dagobert zu unterstützen, in Ermangelung wirklicher Alternativen.

„Dagobert, dir wurde einstimmig das Vertrauen ausgesprochen. Nimmst du dieses Votum an?“ fragte Colette.

Der Angesprochene erhob sich von seinem Platz.

„Ich nehme die Wahl an. Natürlich muss mich das Parlament noch bestätigen.“

„Das wird nicht mehr von Nöten sein. Ich habe das Parlament heute Vormittag aufgelöst und in den Urlaub geschickt. Es wäre in dieser Situation ohnehin keine wirkliche Hilfe. Wir haben einen Ausnahmezustand, und ein solcher fordert nun mal Ausnahmeregeln.“ ließ Colette durchblicken.

„Toll! Da werden sich Dagmar und ihr Gefolge aber freuen. Jetzt haben sie den Anlass, um endgültig loszuschlagen.“ erkannte Kyra sogleich den Ernst der Situation

„Radikale Anarchisten als Verteidiger der parlamentarischen Demokratie? Ist ja mal was ganz neues.“ fügte Gabriela hinzu.

„Das ist es in der Tat. Uns wird einmal mehr bewusst, in was für verirrten Zeiten wir leben. Anarchisten und Rechtspopulisten werden in absehbarer Zeit die Axt an den Baum legen, der Akratasien heißt.“ stimmte Colette zu. „Aber dieses Risiko müssen wir eingehen. Uns bleibt keine andere Wahl.“

„Ich kann mir überhaupt nicht erklären, wie es soweit kommen konnte. Wir hätten Elena nicht so ohne weiteres gehen lassen dürfen. Wir brauchen sie mehr denn je. Sie war immer unsere Steuerfrau und sie wird es immer bleiben. Es geht nicht ohne sie. Wir sollte nichts unversucht lassen, sie zurück zu holen.“ beschwerte sich Gabriela.

„Ihr könnt mir glauben, wie sehr gerade ich sie vermisse. Elena ist für mich wie eine jüngere Schwester und bin mir darüber im Klaren, welches Loch sie hinterlässt. Kaum jemand ist imstande, es zu füllen. Aber sie hat eine Entscheidung getroffen, die wir respektieren müssen, ob es uns gefällt oder nicht. Sie hat ungeheuer gelitten und mit diesen Depressionen ist sie derzeit kaum in der Lage, eine größere Verantwortung zu übernehmen.“

Colettes Machtwort wirkte überzeugend.

„Meinen Teil habe ich beigetragen. Ich bin stets für euch da. Aber nun muss ich unserem designierten Kanzler das Wort erteilen, damit er fortan die Leitung dieses Gremiums übernehme.“ Entschied Colette.

In gewohnt souveräner Art und Weise übernahm Dagobert die Kabinettsitzung. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er bestrebt war, seine Funktion zum Wohle aller auszuführen. Doch er war nicht Elena, es würde Veränderungen geben, gravierende Veränderungen. Schon seine ersten Verlautbarungen ließen das erkennen.

„Wir müssen uns zunächst mit den Fragen der Sicherheit beschäftigen. Auch wenn ich bisher nicht selbst auf dem Gelände der Abtei wohnte, benötigen wir einen Plan zu dessen Sicherung.

Wir müssen mit Angriffen rechnen.“

„Mit Angriffen auf Anarchonopolis? Glaubst du, dass es schon so weit ist?“ entrüstete sich Alexandra. Ronald der neben ihr saß, legte seinen Arm um ihre Schulter.

„Nun, sicherlich nicht morgen oder übermorgen. Aber in ein paar Wochen könnte es tatsächlich geschehen. Es hängt davon ab, wie viele Cassian und sein Anhang auf ihre Seite bringen können.

Folko, wie weit seit ihr mit eurem Sicherheitskonzept?“

„Wir arbeiten daran, Tag und Nacht. Ich habe zu diesem Zweck eigens eine Abteilung ins Leben gerufen. Zunächst müssen die Milizen in höchste Alarmbereitschaft versetzt werden.“ erwiderte der Angesprochene.

„Ich denke, ohne die Verhängung des Ausnahmezustandes wird es nicht mehr gehen und die damit verbundenen Sondermaßnahmen.“ gab Dagobert zu verstehen.

Bei nicht wenigen löste das eine ausgesprochene Missstimmung aus.

„Ausnahmezustand, ich höre wohl nicht recht. Wir sind Akratasien. Langsam, aber sicher beginne ich Dagmar und ihr Gefolge zu verstehen. Du willst uns tatsächlich in die Diktatur führen.“ begehrte Kyra auf.

„Nie wieder Diktatur! So lautete unser Slogan, als wir dieses Gemeinwesen ins Leben riefen. Die akratasische Föderation sollte sich deutlich von all dem abheben, was wir bisher unter staatlicher Autorität zu verstehen hatten. Das willst du alles aufs Spiel setzen?“

„Gegen diese rechten Rattenfänger hilft nur eine harte Gangart. Ja glaubt ihr denn, mir würde das Spaß machen? Präsentiert mir eine Alternative und ich werde sie mit euch gehen. Aber ich kann davon ausgehen, dass es keine gibt. Somit sind uns die Hände gebunden. Aber ihr könnt euch trösten. Am Ende werden sie ohnehin mir allein den schwarzen Peter zuschieben. Elena ist nicht mehr greifbar, geht also mit weißer Weste aus der ganzen Angelegenheit, so wie ihr anderen auch.“

Beklemmendes Schweigen erfüllte den Kapitelsaal. Allen waren sich der Tatsache bewusst, dass er die Wahrheit sprach. Toleranz den Intoleranten? Die Gegner der Akratie zu deren Mitgestaltung heranziehen? Diese Denkweise war gründlich gescheitert.

„Wir haben volles Vertrauen in dich, Dagobert. Ich möchte nur darum bitten, die wichtigen anstehenden Entscheidungen im Team zu fällen und Alleingänge vermeiden. Tut, was ihr tun müsst. Ihr findet mich auf eurer Seite. Ich habe es stets befürchtet. Unser Volk ist noch lange nicht reif für die Akratie. Nun gibt es erst einmal einen Roll Back. Ich kann nur hoffen, dass er uns nicht zu weit zurückwirft. Ich werde euch jetzt verlassen. Ich bin jederzeit abrufbar, wenn ihr mich braucht.“ sprach Colette, erhob sich und schickte sich an, zu gehen. Betül und Androgyna folgten. Im Raum wurde von Gemurmel erfüllt.

„Jetzt ist die Gelegenheit. Ich muss Colette einfach ansprechen.“ meinte Inga und erhob sich ebenfalls von ihrem Platz.

„Aber du kannst doch nicht einfach die Kabinettssitzung verlassen. Ihr habt wichtige Punkte zu besprechen.“ versuchte Sonia ihre Frau zurückzuhalten.

„Ich komme ja wieder. In der Zwischenzeit kannst du mich vertreten.“

Schon war Inga in den Flur entwischt.

„Colette, kann ich dich einen kurzen Moment sprechen? Hast du Zeit?“

„Ich glaube nicht, dass es der richtige Augenblick ist. Colette muss erst mal Pause machen!“ wies Betül das Ansinnen zurück.

„Nein lass nur, meine liebe. Ich bin jederzeit für die Schwestern da. Was hast du denn auf den Herzen Inga?“

„Das müssten wir vielleicht mal in Ruhe besprechen. Nur so viel, ich hatte letzte Nacht einen Traum. Du verstehst, einen dieser bewussten Träume. Ich war bei den Amazonen. Ich war eine von ihnen. Ich habe das Geschehen noch immer vor Augen, ganz klar. Wie einen Film der gerade lief.“

„Wirklich? Du auch? Das ist ja bemerkenswert.“ begeisterte sich die Königin.

„Ich möchte darüber reden. Ich bin mir natürlich bewusst, dass du im Moment andere Sorgen hast.“

„Nein! So etwas interessiert mich immer. Du hast Recht. Das müssen wir in Ruhe bereden. Hm, mein Terminkalender übervoll. Ach, komm doch einfach heute Abend vorbei und bring Sonia mit. Die hatte noch keinen?“

„Nicht, das ich wüsste. Zumindest hat sie mir nichts davon erzählt.“

„Wird vermutlich noch kommen. Ja, die Träume melden sich auf verschiedenen Wegen. Da gibt es keinen einheitlichen Verlauf. Kommt zu uns und wir werden sehen.“

Colette verabschiedete sich und entschwand gemeinsam mit ihren beiden Begleiterinnen.

Inga begab sich wieder in die Sitzung.

„Habe ich viel versäumt?“ wollte sie von Sonia wissen.

„Nein! Das Wichtige wird noch kommen. Ich hoffe, es dauert nicht zu lange.“

Es kam wie es kommen musste. Dagobert wurde ermächtigt den Ausnahmezustand über das Land zu verhängen. Eine Entscheidung von großer Tragweite. Betretenes Schweigen. Alle waren sich darüber im Klaren, was das bedeutete. War das etwa der Abgesang auf die akratasische Idee?

Betrübt und desillusioniert ging die Versammlung am späteren Nachmittag auseinander. All das, was vor nicht gar so langer Zeit auf mühsame Weise aufgebaut wurde, drohte wie ein Kartenhaus zusammenzubrechen.

Viele machten sich Gedanken um Elena. Wo war sie? Wie ging es ihr? Fragen über Fragen.

Wie nur konnte Madleen ihr das antun? Gerade jetzt, in dieser schwierigen Situation, wo es eines ganz besonderen Zusammenhaltes bedurfte. Alle Hoffnung ruhte auf Colette. Würde sie sich ein zweites Mal wie der Fels in der Brandung erweisen?

 

Am Abend waren Inga und Sonia wie vereinbart zu Gast bei Colette. Inga hatte keine Schwierigkeiten, ihre Erlebnisse zu berichten, noch immer war die Erinnerung daran nicht im Dunkel des Vergessens versunken. Schon das konnte als ausreichender Beweis dafür angesehen werden, dass es sich um eine tatsächliche Vision handelte.

„Es besteht kein Zweifel. Unsere Existenzen aus der Frühzeit wollen uns etwas mitteilen. Es ist kein Zufall, dass sie sich gerade jetzt, in dieser Krisenzeit melden. Ich habe den Eindruck, dass sie uns warnen wollen.“ glaubte Colette zu wissen.

„Warnen? Vor was wollen sie uns warnen?“ erkundigte sich Inga.

„Ich würde sagen, vor uns selbst. Wir sind dabei, schwerwiegende Fehler zu begehen. Unsere Manifestationen aus der Geschichte haben in ihrer Zeitepoche ebenfalls im entscheidenden Moment versagt und konnten ihr Gemeinwesen nicht verteidigen. Aus diesem Grund ist der Amazonenstaat untergegangen. Nun melden sie sich aus dem Unterbewussten, um uns vor dem gleichen Fehler zu bewahren.“ erläuterte die Königin weiter.

„Ja, das könnte sein. Jetzt, da du es sagst, erinnere ich mich wieder. Ich habe während meiner Vision deutlich eine Gefahr gespürt, die über allem lag und das trotz der überaus positiven Erlebnisse, die mir viel Kraft verliehen. Kräfte, die ich noch immer in mir spüre.“ erwiderte Inga.

„Eigenartig, dass ich nicht den gleichen Traum hatte. Kyra und Alexandra erlebten das, wie sie uns berichteten.“ wunderte sich Sonia.

„Die Umstände waren anders. Kyra und Alexandra erlebten es bei Nacht. Du, Inga, hattest deine Vision am Tag und allein. Elena und ich hingegen führten die Vision willentlich herbei, aufgrund einer Versenkung der Seele. Verschiedene Wege, letztendlich aber alles nach einem bestimmten Muster.“ unternahm Colette den Versuch einer Deutung.

„Auch ich hatte noch nie ein Traumgesicht. Schade, so gerne würde ich abtauchen in das unerforschte Wissen. Du sagst, dass ich im früheren Leben Kasuba war? Wenn das stimmt, müsste ich doch immerfort mit dir gemeinsam auf Traumreise gehen, immer, wenn sich bei dir eine Vision meldet.“ stellte Betül fest.

„Ich kann es auch nicht verstehen? Aber keine Sorge, es wird noch kommen. So wie bei den anderen auch, die damals dabei waren.“

„Waren wir wirklich alle dabei? Ich meine, es waren so viele Schwertschwestern. Es klingt alles so unwahrscheinlich. Demnach sind wir alle nicht durch Zufall zusammengekommen?“ ließ Sonia ihre Zweifel erkennen.

„Genau! Daran besteht in der Zwischenzeit nicht mehr der geringste Zweifel.“ war sich Colette der Sache sehr sicher.

„Dann bin ich also Sonia nicht durch reinen Zufall begegnet?“ wollte Inga erstaunt wissen.

„Ja, ich denke, es war Vorbestimmung. Eure Seelen sind seit Jahrhunderten mit einander verbunden. In diesem Leben nun habt ihr euch manifestiertet und seid euch wieder begegnet. So wie viele andere Paare auch.“

„Wenn alles Vorbestimmung ist, warum rutschen wir dann immer tiefer in diese Krise? Oder ist die am Ende auch vorherbestimmt.“ mutmaßte Betül.

„Deine Einschätzung ist richtig. Die derzeitige gespannt Situation will uns eine ganz besondere Botschaft vermitteln. Auch ich bin erst vor nicht allzu langer Zeit darauf aufmerksam geworden.

Jetzt sehe ich klar. Akratasien ist überall. Die akratasische Idee ist nicht an einen Ort, eine Region, ein Land, oder eine Nation gebunden. Wir können sie überall auf der Welt verwirklichen, auf jedem Kontinent. Wir sind international, nein, universell.“

„Und? Was heißt das jetzt konkret?“ zweifelte Sonia noch immer.

„Das was ich euch jetzt eröffne, wird euch nicht gefallen. Wir müssen notfalls bereit sein, unsere Heimat zu verlassen, um in einem anderen Teil dieser Welt ganz neu anzufangen.“

Colettes Aussage schockierte die anderen auf sehr drastische Weise.

„Aber! Du…du meinst aus Akratasien fliehen? Ins Exil gehen? Alles was wir hier geschaffen haben aufgeben, zurücklassen?“ entsetzte sich Inga.

„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich so etwas wie ein richtiges Zuhause gefunden. Ich kann und will gar nicht daran denken!“ pflichtete ihr Sonia bei.

„Auch ich habe nach unendlich scheinender Wanderschaft endlich etwas gefunden, dass zu mir passt. Diese Gemeinschaft ist einzigartig auf der Welt. So etwas dürfen wir nicht aufgeben. Wir müssen es verteidigen, mit allen Mittel, die uns zur Verfügung stehen.“ schaltete sich nun auch Androgyna ein, die dem Gespräch bisher nur passiv beiwohnte.

„Ich verstehe eure Aufregung nur zu gut. Glaubt mir, ich habe sehr intensiv darüber nachgedacht.

Noch ist es nicht soweit. Aber es könnte in absehbarer Zeit der Fall sein. Wir dürfen nicht wieder in eine Situation der völligen Isolation geraten, so wie damals, als wir von einer Mauer umgeben waren.“

„Ich war zur Zeit der Blockade noch nicht bei euch, kann es daher nicht beurteilen. Aber ihr habt es durchgestanden und seid am Ende als Sieger daraus hervorgegangen. Warum soll das nicht auch ein weiteres Mal funktionieren.“ wunderte Betül sich.

„Weil die Situation von damals eine völlig andere war.“ antwortet Colette und blickte betrübt zu Boden.

 „Verstehe ich nicht!“

„Ganz einfach! Cassian ist nicht Neidhardt!“

„Der eine war Diktator, der andere möchte es werden. Wo liegt da der Unterschied?“ hakte Inga nach.

„Passt auf! Bei Neidhardt handelte es sich um einen autoritären Herrscher. Bei Cassian ist zu befürchten, dass er ein totalitäres System anstrebt. Das ist ein gravierender Unterschied.“

„Jetzt versteh ich gar nichts mehr.“ ließ Androgyna erkennen.

„Demokraten, oder solche die sich für welche halten, neigen zu unsachgemäßen Vergleichen.

Ein autoritäres Staatssystem kontrolliert viele Bereiche des alltäglichen Lebens, aber nicht alle.

Es gibt Schlupflöcher und Nischen, es besteht die Möglichkeit sich dem System zu entziehen und unter Umständen im geheimen Alternativen aufzubauen. Im Totalitarismus ist das fast undenkbar. Hier unterbindet ein raffiniert funktionierendes Spitzelsystem fast jeden Widerstand. Totale Gleichschaltung. Führer geh voran, wie folgen dir. Bedingungslos, womöglich bis in den Tod. Das kennen wir aus der Geschichte.“

„Aber Neidhardt war ein Ideologe, ein Dogmatiker durch und durch, und ein Demagoge.“ erinnerte sich Sonia.

„Richtig! Aber genau das ist Cassian nicht!“

„Aber wieso?“ wollte Androgyna wissen.

„Neidhardt war ein Ideologe, ganz richtig erkannt, der Oberlehrer, so habe ich in oft betitelt. Stets und ständig bemüht, der Bevölkerung seine Ideologie aufzudrücken. Mit erhobenem Zeigefinger, die Menschen zu einer bestimmten Denkweise zu erziehen. Unpopuläre Maßnahmen, die das Gegenteil dessen erreichten, was sie ursprünglich bewirken sollten. Verbote, Gebote, Weisungen, beim Volke unbeliebt. Das führte zur Lethargie, einigte aber schließlich das Volk gegen ihn und führte letztendlich zu seinem Sturz.

Cassian hingegen ist Populist. Der redet den Menschen nach dem Munde. Verspricht ihnen das Blaue vom Himmel, wenn sie ihm nur folgen. Er will ihnen die Freiheit bringen, die wir ihnen angeblich nehmen. Doch im Gepäck hat er nur die pure Sklaverei. Der Wolf im Schafspelz. Das macht ihn so gefährlich. Die Bildungsfernen fallen reihenweise darauf rein. Oberflächliche Lösungsangebote für alle Probleme.“

Bei den anderen setzte das große Grübeln ein. Colettes Erklärungsversuch schien Wirkung zu zeigen. Rechtspopulisten sind leicht zu durchschauen, doch nur von denen die des kritischen Denkens mächtig sind.

„Also, wenn ich dich richtig verstanden habe, wollte Neidhardt ein Volk von Parteisoldaten, die seiner Linie folgen, zumindest offiziell, was sie privat dachten, spielte dabei keine so bedeutende Rolle. Cassian hingegen möchte Untertanen, die zwar de facto frei sind, in Wirklichkeit jedoch  zu Lohnsklaven mutieren.“ folgerte Betül.

„Und um ständig seinen Profit zu steigern, den er daraus schindet.“ fügte Androgyna hinzu.

„Das habt ihr absolut richtig gedeutet. Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können.

Aus diesem Grund kann es für uns auch kein Einigeln in der Abtei geben und ein Aussitzen von Problemen. Neidhardt respektierte den autonomen Status der Abtei. Immerhin gab es in jenen Zeiten auch noch den alten Cornelius, der seine Hände schützend über uns hielt, weil er uns, vor allem natürlich Elena, sehr zugetan war. All das gibt es heute nicht. Cassian wird vor der Pforte der Abtei nicht stehen bleiben. Er gleicht einer Dampfwalze, die alles niedermacht, was ihr in die Quere kommt. Es gibt keine Sonderzone unter deren Mantel wir Zuflucht finden könnten, keine Klausel, die einen exterritorialen Status sichert.“

„Also bleibt am Ende nur noch das Exil. Ich wage gar nicht daran zu denken. Wo sollen wir hin? Wo könnten wir etwas Vergleichbares aufbauen?“  Erwiderte Inga mit einer gewissen Trauer in der Stimme.

„Oh, es gibt Alternativen, mehr als ihr vermutet. Akratasien ist überall. Schon heute. Auf der ganzen Welt haben sich Gemeinschaften gebildet, die nach akratasischen Prinzipien leben und sich an unserem Vorbild orientieren.  Die Anfänge reichen zurück bis in der Zeit der Blockade, als zum ersten Mal eine größere Öffentlichkeit von unserer Existenz Notiz nahm.

In Deutschland, Frankreich, Schweden, England sogar Irland haben sich Kommunen gebildet, die uns nacheifern. An die werden wir uns halten. Wir bräuchten im Ausland nicht bei null zu beginnen.“ antwortete Colette, während sie sich erhob und das Fenster öffnete. Den Blick auf das Grauhaargebirge gerichtet fuhr sie fort.

„Glaubt mir, ich möchte meine Heimat auch nicht gern verlieren. Wir werden uns zur Wehr setzen, solange es angebracht erscheint. Erst wenn es sich abzeichnet, dass die neue Diktatur unausweichlich auf uns zukommt, werden wir entscheiden müssen.“

„Ich bin im Bilde über die Aktivitäten im Ausland. Aber die Dimensionen dort lassen sich doch nicht mit den unsrigen vergleichen. Die stecken noch in der Aufbauphase. Wie kannst du sicher sein, dass die uns auch wirklich alle unterbringen können und wollen?“ meldet sich Chantal zu Wort, die etwas später dazu gestoßen war.

„Sie werden es! Da könnt ihr ganz beruhig sein. Ich habe schon vor geraumer Zeit einige angeschrieben und die Antworten ließen nicht lange auf sich warten. Es gibt einige konkrete Angebote.“ klärte Colette weiter auf.

„Habt Zuversicht! Wir werden in kein schwarzes Loch fallen.“

„Wenn überhaupt würde ich Deutschland vorschlagen. Ich bin dort einige Zeit gewesen. Eve stammt von dort. Die Sprache ist der unsrigen sehr ähnlich. Ich beherrsche sie gut. Eve ist eine gute Lehrerin.“ brachte es Chantal auf den Punkt.

„Auch ich habe dort eine Zeit lang verbracht. Während meines Exils. Dort habe ich Betül kennen gelernt, sie ist zwar keine Deutsche, hat aber viele Jahre dort gelebt. Meine Gedanken gehen in die gleiche Richtung. Dir, Chantal und Eve kommt dabei eine ganz besondere Rolle zu.“ erinnerte sich Colette.

„Wie darf ich das verstehen?“ wunderte sich Chantal.

„Langsam, langsam. Wir diskutieren hier so, als ob alles schon beschlossene Sache wäre. Wir müssen darüber abstimmen. Die anderen müssen eingeweiht werden. Wir sind hier nur ein kleiner Kreis.“ erhob Inga leisen Protest.

„Ja, und was ist mit Elena? Wir können sie auf keinen Fall übergehen! Mich interessiert, welchen Standpunkt sie in der Frage einnimmt. Ohne Elena? Das geht gar nicht!“ pflichtete ihr Sonia bei.

„Das stimmt natürlich! Akratasien ohne Elena ist wie eine Luxuslimousine ohne Motor.“ stimmte Colette zu.

„Wir sollten so bald als möglich eine Klausur der Schwesternschaft einberufen, um einen Diskussionsprozess in Gang zu bringen. Natürlich müssen auch die Männer mit einbezogen werden. Alle Bewohner von Anarchonopolis müssen gehört werden.“ schlug Betül schließlich vor.

„Das liegt auf der Hand. Ihr seid die ersten, denen ich Zugang zu meinen Gedankenspielen gewährt habe. Ich brauche ein breites Stimmungsbild von allen Beteiligten. Ihr werdet mir dabei helfen und das nötigste veranlassen. Informiert bitte umgehend Gabriela, Alexandra, Kyra, Kristin. Natürlich auch Eve, Kim, Luisa und alle, die dem inneren Kreis angehören oder nahestehen. Ich werde mich derweil um Elena kümmern.“ ordnete die Königin an.

„Was ist mit Dagmar und ihrem Anhang. Wie gehen wir mit denen um?“ wollte Androgyna wissen.

„Richtig! Auch die müssen wir informieren. Ich glaube zwar nicht, dass sie dem Ansinnen zustimmen, aber versuchen müssen wir es. Die Entscheidung liegt bei ihnen.“

„Da bliebe nur noch Madleen. Wir haben ihren Namen nicht einmal erwähnt.“ sprach Chantal schließlich den wundesten Punkt an.

Colette blickte voller Traurigkeit zu Boden.

„Madleen!“ Ja, was machen wir mit ihr? Sie hat schon eine Entscheidung getroffen. Sie wird mit Cassian gehen. Doch ich hoffe auf eine späte Einsicht ihrerseits. Auf jeden Fall wird sie stets ihr Zuhause bei uns haben. Die Tür steht immer offen. Vor allem die Tür zu unseren Herzen.“

Allen Beteiligten war es auf einmal zum Weinen zumute. Elena weg! Madleen weg! Die Lücke, die beide hinterließen, war kaum zu füllen, so sehr waren sie mit Anarchonopolis verbunden.

Keine konnte sich vorstellen, wie es ohne die tragenden Säulen der Schwesternschaft weitergehen sollte.    

 

In der nun folgenden Nacht hatte Sonia einen Traum. Dem ihrer Partnerin Inga sehr ähnlich. Sie wurde zu Teleri. Natürlich gestaltete sich der Ablauf ihres Traumgesichtes etwas anders. In einer kleinen Amazonenniederlassung wartete sie voller Angst und tiefer Sehnsucht auf eine Nachricht ihrer Hatifa. Umso größer war die Freude über deren endgültige Entscheidung.

 

 

 

 

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* Hatifa ist der Titel einer Erzählung des Schriftstellers Willi Meinck (1914-1993).

Diese Geschichte spielt im frühen Mesopotamien.

Darin geht es um das Sklavenmädchen Hatifa, das als kleines Kind geraubt und in die Sklaverei verkauft wird. Irgendwann gelingt es ihr zu fliehen und sie schlägt sich in die Stadt Ninive durch. Sie erlebt viele Abenteuer und die Hilfe anderer.

Als erwachsene Frau kehrt sie schließlich zu ihrer Familie zurück.

1960 wurde der Roman von der DEFA verfilmt.

 

* Teleri ist eine Person aus dem Roman „Die Herrin von Avalon“ von Marion Zimmer Bradlay.

Sie wird als junges Mädchen auf die geheimnisvolle Insel Avalon gebracht, um zur Priesterin der großen Göttin ausgebildet zu werden. Im Mittelpunkt der Handlung steht ihre Beziehung zur etwa 10 Jahre älteren Hohepriesterin Dierna. Ob es sich dabei um eine lesbische Liebe handelt kann man nur vermuten und entsprechend hineininterpretieren. Jedenfalls verlässt Teleri Avalon immer wieder, hat mit Männern der Zeitgeschichte Beziehungen, kehrt aber stets zu Dierna zurück. Irgendwann wird sie schließlich deren Nachfolgerin.

 

Lydo und Hannuh sind Personen, die ich aus der Kölner Non-Binary- Gruppe kenne.