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Exodus
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Elena ihre ersten Tage in Neidhardts Bunker verlebte und darüber sinnierte, ob es überhaupt noch Sinn machte, weiter am Leben zu bleiben, rüsteten sich die Bewohner von Anarchonopolis zum Exodus, zum Auszug ins Exil nach Deutschland.
Während die an das Bad in der Menge gewohnte und souveräne Ex-Kanzlerin damit klar kommen musste, auf unbestimmte Zeit ein Leben in Stille und Abgeschiedenheit auf dem Land zu führen, musste sich Colette, die Königin, die sich genau nach einem solchen zurückgezogenen Leben sehnte, darauf vorbereiten, in Zukunft im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen.
Noch drei Tage, nur noch drei Tage den ganz besonders Duft von Anarchonopolis genießen dürfen. Dann kam das Exil. Colette wollte es noch immer nicht glauben und die anderen ebenso wenig. Noch einmal alle Eindrücke einfangen und speichern für die Zeit des Exils.
Cassians Ultimatum kannte keine Gnade. Nicht einen Tag länger würde er die Schwesternschaft in der Abtei dulden. Das hatte er mehrmals in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben.
Der innere Zirkel der Töchter der Freiheit, sowie deren unmittelbarer Anhang hatten das Land zu verlassen, somit also jene Führungselite, die dem Land seine entscheidende Prägung gaben und es de facto regierte.
Nun ging es nach Deutschland, genau nach Köln. Dort würde sie sich auf unbestimmte Zeit einrichten. Wie es dort konkret weitergehen sollte, stand in den Sternen.
Der Auszug war bereits im vollen Gang und erfolgte in mehreren Schüben. Eine kleine Vorhut hatte sich bereits vor einigen Tagen auf den Weg gemacht um zu kontrollieren, ob alles reibungslos über die Bühne ging, sowie die Ankunft der Übrigen vorzubereiten.
Es konnte eine größere Lagerhalle angemietet werden, um die vielen Utensilien unterzustellen, die mitgenommen werden mussten. Wohnen würden sie in verschiedenen Unterkünften, verteilt über die ganze Stadt. Die Gemeinschaft würde also auseinander gerissen, ein Umstand, der am meisten schmerzte. Natürlich wollten sie Ausschau halten nach etwas geeignetem, um wieder zusammen zu kommen, doch das würde sich als außerordentlich schwierig erweisen.
Die deutsche Regierung hatte sich zwar bereit gefunden, die Exilanten aufzunehmen, doch nur unter Zähneknirschen. Einer Königin und ihrem Gefolge Exil zu gewähren war unter anderen Bedingungen eine Ehre und ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse. Doch Colette war eben keine gewöhnliche Königin. Eine anarchistische Königin, so etwas kannte man hierzulande nicht und konnte entsprechend kaum etwas damit anfangen. Anarchie, Akratie und alles, was damit zusammenhing stand von vornherein unter Verdacht. Die Gefahr die einheimische deutsche Bevölkerung mit dem Virus der echten Freiheit zu infizieren nicht zu unterschätzen. Der Verfassungsschutz würde mit Sicherheit ein besonderes Auge auf die ungewöhnlichen Neuankömmlinge werfen.*
Die Vorhut sollte auch in dieser Hinsicht ihre Fühler ausstrecken, um die Lage zu peilen.
Diese bestand aus Leuten, die sich mit den örtlichen Gegebenheiten auskannten. Allem voran natürlich Eve, die hier ursprünglich zuhause war und Chantal, die hier auch eine Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Alexandra kannte die Stadt ebenfalls, sie hatte Kyra mitgenommen, die sich hartnäckig geweigert hatte, ihre Frau allein gehen zu lassen. Ihre Kinder hatten sie bei ihren Männern gelassen, die mit dem Hauptschub nachkommen sollten.
Eine kleine Weile das Leben unbeschwert genießen, bevor sie mit einem neuen Alltag konfrontiert würden, der viele Schwierigkeiten im Gepäck hatte.
Kontakte festigen, die schon aus der Ferne geknüpft wurden. Gespräche führen, Verhandlungen. So sah die Aufgabe für die Zukunft aus.
Die Unterbringung für die nächsten Tage war erst einmal gesichert. Die Schwesternschaft nebst Gefolge brauchte also nicht auf der Straße zu campieren. Doch was kam danach? Es gab diverse Angebote von alternativen Gruppen. Doch die würden bei weitem nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Gut gemeint, aber auch nicht mehr.
Chantal, Eve, Alexandra und Kyra wohnten in einer WG, die Eve noch gut in Erinnerung hatte. Die waren sehr erfreut über den ungewöhnlichen Besuch und hatten eigens dafür Raum geschaffen. Für eine kleine Gruppe erst einmal kein Problem, doch für eine größere? Da musste notgedrungen mit den öffentlichen Ämtern verhandelt werden.
„Mensch, dass ich dich noch mal wiedersehe, Eve. Ich hatte es nicht geglaubt.“ wurde sie von Ronga begrüßt, als sie nebst Begleiterinnen vor der Tür zu der kleinen Gemeinschaft stand.
Diese befand sich in einer alten umgebauten Kfz-Werkstatt.
„Na, kommt doch erst mal rein. Setzt euch. Wir sind gerade noch dabei, eure Zimmer herzurichten. Wie lange gedenkt ihr denn zu bleiben?“ wollte Ronga weiter wissen.
„Na, es werden ein paar Tage sein, denke ich. Bis die anderen eintreffen, dann ziehen wir mit denen in verschiedene Hotels der Stadt.“ antwortete Eve.
Chantal blickte sich etwas irritiert um. Der Gemeinschaftsraum war sehr einfach im alternativen Stil hergerichtet, rustikal und gemütlich. Die Möbel hatten die Bewohnerinnen auf verschiedenen Aktionen erworben, bei Wohnungsauflösungen, nicht wenige direkt vom Sperrmüll. Die Wände waren mit Holz abgeschlagen. Eine Treppe führte in ein oberes Stockwerk, wo sich die einzelnen Zimmer befanden.
Die Mitte des Raumes zierte ein großer gusseiserner Herd, der sich dem Anschein nach aus Großmutters Zeiten hierher verirrt hatte.
Dahinter eine Küche mit allem, was dazu gehörte.
„Habt ihr Hunger? Wenn ihr wollt können wir bald etwas essen. Wir haben erst heute frisches Zeug kontainert. Das heißt natürlich so gut wie frisch.“ lud Ronga ein.
Die Lebensmittel befanden sich in Stoff-und-Kunststoffbeuteln auf dem Boden.
„Ja gern! Tu doch einfach was auf den Tisch.“ meinte Eve. Danach nahmen alle an einem großen runden Holztisch in einer Ecke Platz, der sich unter einem Fenster befand.
Chantal hatte einige Schwierigkeiten damit, versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Doch Eve konnte sie nichts vormachen.
Die griff deren Hand und drückte sie.
„Lass mich raten! Das ist deine Eroberung? Chantal, wie ich vermute?“ wollte Ronga wissen, nachdem sie den Tisch mit einigen Packungen Käse bestückt hatte.
„So ist es! Ich bin Chantal!“ gab die Angesprochene zaghaft zur Antwort.
„Ja und das sind Alexandra und Kyra! Wie du unschwer erkennem kannst, sind die beiden auch ein Paar.“ stellte Eve die anderen vor.
„Hallo!“
„Hallo!“
gaben Alexandra und Kyra nacheinander von sich.
Nach und nach kamen auch noch andere WG-Bewohnerinnen und gesellten sich kurzzeitig hinzu.
„Das ist Sascha, mein Geschwisterchen!“ Ronga wies auf eine junge Frau, mit kurzen Haaren und männlichem Outfit. Unschwer als transmännlich/nicht-binär zu erkennen.
„Hallo Eve! Toll, dass du dich mal wieder zu uns verirrt hast. Freust du dich, wieder hier zu sein?“ wollte der/die Angesprochene von Eve wissen.
„Aber ja, natürlich Ich konnte es kaum erwarten euch alle wieder zu sehen. Ist ja schon ne Weile her. Ihr seid immer noch die alten. Alles ist noch so wie ich es in Erinnerung habe.“
erwiderte Eve, sich dabei nach allen Seiten umdrehend.
„Aber du hast dich verändert. Bist ja eine richtige Persönlichkeit geworden. Wenn man sich so umhört. Wir sind stets auf dem Laufenden. Eure Gemeinschaft genießt nach wie vor Kultstatus bei uns. Wenn ihr auch in manchen Dingen Wege eingeschlagen habt, die wir nicht so recht nachvollziehen können.“ entgegnete Sascha.
„Zum Beispiel? Wollte Eve wissen.
„Na, seit ihr noch Anarchistinnen oder habt ihr das aufgegeben? Also die Sache mit der anarchistischen Monarchie will mir nicht so recht in den Kopf. Meiner Meinung nach passt das nicht zusammen. Obgleich ich natürlich die besondere Situation in Betracht ziehe.“
„Na, überfalle unsere Gäste nicht gleich mit politischen Anspielungen, BruderSchwesterchen.“
hielt Ronga entgegen.
„Nein, nein! Ist schon in Ordnung! Ich denke es ist gut, wenn wir über solche Dinge reden. Wir werden das ohnehin tun müssen, die nächste Zeit. Ich habe mich früher auch als radikale Anarchistin bezeichnet und kam infolge dessen mit dem Begriff ebenfalls lange nicht zurecht. Ich habe aber einsehen müssen, dass es der einzig gangbare Weg war. Wir mussten so handeln. Damals, als es Zeit dafür war. Wie es nun weitergeht? Ich weiß es nicht. Wir sind im Exil, da könnten sich erneut gravierende Änderungen anbahnen.“ schaltete sich nun Kyra ein.
„Wir konnten unser Konzept nicht durchsetzen. Die Bevölkerung Akratasiens hatte ebenfalls große Schwierigkeiten damit. Deshalb sind wir hier gelandet. Wir haben einige Fehler begangen. Das wurde uns erst im Nachhinein so richtig bewusst. Aber nun werden wir Zeit und Muße finden, alles auszudiskutieren.“ fügte Chantal hinzu.
„Wir machen euch das keineswegs zum Vorwurf. Das steht uns gar nicht zu. Keine von uns hier hat darauf eine Antwort. Theorien machen können alle, doch sie in die Praxis umsetzen, das sind ein anderes Paar Schuhe.“ antwortete Ronga.
„Trotz alledem seid ihr willkommen! Wir freuen uns dass ihr ausrechnet uns aufgesucht habt. Nicht böse sein, wenn wir euch hin und wieder mit Fragen bombardieren. Aber wir möchten natürlich einiges wissen. Wann haben wir es schon mal mit lebenden Legenden zu tun.“ meinte Sascha weiter.
„Danke! Oh, ich weiß nicht, ob mir die Ehre gebührt, eine lebende Legende zu sein. Ich kenne solche und ähnliche Bezeichnungen schon aus meinem früheren Leben. Heute gehe ich damit einfach gelassener um. Die Gefahr besteht, dass einem die Ehre zu Kopfe steigt, wenn man nicht versteht damit, umzugehen.“ meldete sich Alexandra zu Wort.
„Stimmt! Du warst früher mal ne berühmte Schauspielerin. Hab einige deiner Filme gesehen. Die waren eher etwas antiquiert und machomäßig. Du aber hast mir darin sehr gefallen.“ erinnerte sich Sascha.
„Stimmt genau! Ich sehe, dass heute ganz ähnlich! Schön dass wir einer Meinung sind.“ stimmte Alexandra zu.
„Aber ihr esst ja gar nicht! Langt doch zu! Ist der Käse nicht nach eurem Geschmack?“
erkundigte sich Ronga.
„Hmm… ein bisschen zu sehr durch, würde ich sagen, aber sonst noch ganz genießbar.“ stellte Chantal fest, während sie den Camembert in ihrer Hand betrachtete.
„So ist das nun mal mit containerten Sachen, da gibt es kaum so etwas wie eine Frischhaltegarantie.“ Erwiderte Ronga.
„Wir werden uns schon dran gewöhnen. Ja, ich hab dass alles noch in genauer Erinnerung, war immer ein Wagnis auf Containertour zu gehen.“ erinnerte sich Eve wieder.
„Ihr ward Besseres gewöhnt. Ich gehe doch sicher recht in der Annahme, dass ihr euch eure Lebensmittel auf andere Art besorgen konntet.“ stachelte Sascha.
„Das haben wir in der Tat!“ antwortete Eve.
„Und was war mit den Leuten im Land? Gab es da auch solche, die wenig zu beißen hatten. Konntet ihr den Mangel beseitigen?“
„Niemand war gezwungen, betteln zu gehen, wenn es dass ist, worauf du hinaus willst. Es ist uns tatsächlich gelungen, die größte Not für eine Weile zu lindern. Containert haben bei uns nur solche, die das aus freiem Stücken wollten.“ klärte Kyra auf.
„So sollte es auch sein! Ich finde das in Ordnung!“ stimmte Ronga zu.
„Sagt mal, was wollt ihr eigentlich machen, die nächsten Tage? Habt ihr schon einen genauen Plan?“ lenkte Sascha schließlich vom Thema ab.
„Na, umsehen vor allem, die Lage auskundschaften. Alles vorbereiten, bevor in etwa einer Woche der große Schub aus Akratasien eintrifft. Die staatlichen Stellen beäugen uns mit Misstrauen.“ gab Eve zu verstehen.
„Das tun die bei uns auch. Versteht sich von selbst. Da seit ihr bei uns an der richtigen Adresse.“ meinte Sascha.
„Wir werden sicher in der einen oder anderen Angelegenheit eure Hilfe benötigen. Das was wir vor allem brauchen, ist eine Welle der Solidarität. Es wäre nicht schlecht, wenn sich die Szene mal ordentlich ins Zeug für uns legt.“ glaubte Eve zu wissen.
„Darauf könnt ihr euch verlassen. Wir haben schon in den zurückliegenden Tagen und Wochen alles organisiert. Seit du uns mitgeteilt hast, dass ihr kommt. Der Untergrund ist schon dabei, ne richtige Kampagne zu starten. Von unserer Seite kann es bald schon damit losgehen.“ sicherte Ronga zu.
Die Gespräche gingen weiter und drehten sich um dies oder das. Es wurde ein netter Abend.
Schließlich war es soweit, dass sich alle zurückziehen konnten. Chantal war über diesen Umstand erleichtert.
„Was ist mir dir, Traumfrau? Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt. Du warst so zurückhaltend die ganze Zeit, ist doch gar nicht deine Art.“ bemerkte Eve diesen Umstand.
„Ich kann mir nur nicht erklären, warum wir hier sind und nicht gleich in ein Hotel abgestiegen sind.“ kam die spontane Antwort.
„Hast du Probleme mit der Gemeinschaft hier?“
„Nein, nein, nicht direkt. Es ist nur so, dass die Umgebung etwas gewöhnungsbedürftig ist. Ich muss mich erst zurechtfinden, dass ist alles.“
Chantals Antwort schockierte Eve etwas.
„Du bist was Besseres gewöhnt! Klar, das ist es. Hätte ich mir denken können.“
„Darum geht es nicht! Das verstehst du falsch!“
„Warum geht es dann? Ich… ich wollte dir doch nur zeigen, wo ich früher mal gewohnt habe. Wie ich gelebt habe und so. Wir sind nun schon eine ganze Zeit zusammen. Du solltest dir einfach nur ein Bild davon machen können.“ versuchte Eve den Sachverhalt zu klären.
„Aber das weiß ich doch! Als wir uns kennen lernten war ich doch auch Gast in so einer Gemeinschaft, oder ist dir das entfallen?“
„Nein, natürlich weiß ich das noch. Aber es war eben nur eine WG von vielen, die ich durchlaufen habe. Nun kennst du also eine weitere.“
„Dann bin ich wieder um eine Erfahrung reicher.“ stellte Chantal fest und die Art, wie sie es sagte, ließ darauf schließen, dass sie damit keine große Begeisterung verband.
„Sieh doch mal Eve, du bist in deine Heimat zurückgekehrt. Du kennst hier viele Leute, alles ist dir vertraut. Für mich hingegen beginnt nun ein Exil, eine Tatsache, die ich akzeptieren muss. Das ist nicht leicht für mich. Was werde ich tun, die ganze Zeit, wie sieht mein Alltag aus. Fragen über Fragen. Ich habe einfach ein wenig Heimweh, das ist alles.“
Eve nahm Chantal in den Arm und streichelte deren langes blondes Haar.
„Ich bin schon eine Egoistin. Daran habe ich nicht gedacht. Verzeih mir! Ich werde dich mit allem vertraut machen, dich herumführen. Alle sollen sehen, welch tolle Frau an meiner Seite lebt. Das werden wir tun und damit sind die Folgetage ausgefüllt. So lange, bis der Hauptschub eintrifft.“
„Du willst mit mir angeben?“
„Ja, natürlich! Pass auf, es ist doch so. Mein Leben hier war alles andere als ein Vergnügen. Ich wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen. Konnte es nie lange irgendwo aushalten, zog von einer Bleibe zur anderen. Keine richtige Familie mehr, kein wirkliches Zuhause. Keine sinnvolle Beschäftigung, kein Lebensinhalt, wenn du so willst. So wäre es weitergegangen. Ich weiß nicht wo ich heute stände. Wo ich gelandet wäre, wenn du mir nicht zufällig über den Weg gelaufen wärst. Du hast meinem Leben einen Sinn gegeben, hast mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Wie es jetzt weitergeht? Ich weiß es auch nicht. Alles steht in den Sternen.
Gibt es ein neues Akratasien? Großes Fragezeichen. Aber wir haben uns. Wir stehen nicht allein. Das ist doch das Wichtigste.“
„Danke dir! Das hast du schön gesagt. Ich werde an mir arbeiten. Ich lerne schon damit fertig zu werden, wenn du mir dabei hilfst. Wir haben einen Auftrag, wir dürfen uns nicht gehen lassen. Sonst sind wir verloren.“
Ein Zimmer weiter waren auch Alexandra und Kyra damit beschäftigt, sich einzurichten und auf die Nacht vorzubereiten.
„Nicht gerade das Hilton-Hotel, aber gemütlich. Wirklich sehr gemütlich!“ stellte Alexandra fest.
„Hast du auch Probleme mit der Umgebung? Geht es dir so wie Chantal? Konnte ja jeder sehen, wie die mit sich kämpfen musste.“
„Ach was! Da braust du dir keine Gedanken zu machen. Ich bin in dieser Hinsicht abgehärtet.
Oder hast du vergessen, dass ich im Gegensatz zu Chantal Gründungsmitglied der Urkommune bin. Ich habe es damals in der Laubenkolonie ausgehalten, dort sogar einen Winter überstanden. Da werde ich jetzt nicht vor ein wenig Unordnung kapitulieren.“
„Stimmt! Jetzt da du es sagst, fällt es mir wieder ein. Chantal stieß ja erst zu uns, als wir schon in der Abtei lebten.“ erinnerte sich Kyra.
„Genau! Comtesse Alexandra existierte damals schon nicht mehr, sie wird auch unter anderen Lebensverhältnissen nicht wieder auferstehen. Ich bin froh, mich entschlossen zu haben, bei der Vorhut zu sein. Endlich mal ein paar Tage allein. Mal für ne Zeit lang unsere Männer los zu sein. Und keine kleinen Quälgeister um uns. Jetzt können die Männer mal beweisen. dass sie verstehen, damit umzugehen. Endlich habe ich dich mal ein paar Tage und Nächte für mich allein und brauch dich nicht zu teilen.“ erwiderte Alexandra und begann voller Ungeduld Kyras Blusenknöpfe zu öffnen, bis sie deren Brüste entblößte.
„Aha! Daher weht der Wind! Hey, du bist aber heiß heute. Habe ich schon lange nicht mehr erlebt.“
„Die Nächte gehören uns. Uns allein. Tagsüber werde ich dich mit der Stadt bekannt machen, mit allem, was wichtig ist. Ist zwar schon ne Weile her, als ich hier kurzzeitig lebte, aber die Erinnerung ist noch da und soviel hat sich nicht verändert.“
„Du kennst die Stadt, ich kenne das Milieu, in dem wir derzeit verkehren. Ist doch ne gute Mischung.“ glaubte Kyra zu wissen.
„Eben! Aber lass uns darüber morgen früh sprechen. Jetzt möchte ich mich gern den sinnlichen Dingen des Lebens widmen.“
„Da sag ich nicht nein!“
Der Morgen kam schneller als gedacht. Alle machten sich daran den Tag zu begrüßen, auch wenn sie sich Zeit damit ließen.
„Geht es dir besser mein Schatz!“ Wollte Eve von Chantal wissen.
„Ja, es geht schon. Ich muss nur immer an Lizzy denken. Ich mache mir Gedanken. Ich habe sie nur ungern zurückgelassen.“
„Das kann ich verstehen. Aber ich denke, bei Kristin ist sie gut aufgehoben. Sie und Gabriela sorgen gut für unsere Kleine. Außerdem sind es ja nur ein paar Tage. Wenn der Rest aus Anarchonopolis eintrifft sind wir wieder zusammen.“
„Natürlich! Ich kann es kaum erwarten. Andererseits stellte sich dann die Frage, wo und auf welche Weise wir wohnen werden. Das alles wird mir einer Menge an Schwierigkeiten beginnen. Wenn man Kinder hat, auf die man achten muss, ist das umso schwerer.“
„Uns wird schon etwas einfallen. Nur nicht den Kopf hängen lassen.“ Versuchte Eve zu beruhigen.
„Ach wäre doch Elena noch bei uns. Ich vermisse sie so sehr.“ Klage Chantal und es hatte den Anschein, dass sich eine Träne aus den Augen stahl.
„Ich vermisse sie auch unendlich. Ich glaube, es gibt keine unter uns, die nicht fortwährend an sie denken muss. Aber wir haben Colette und die weiß sicher einen Rat.“
Chantal und Eve suchten nacheinander das Badezimmer auf, dass ich am anderen Ende des Flures befand. Dabei stießen sie unwillkürlich mit den anderen zusammen.
„Na? Gut geschlafen?“ Wollte Eve von Alexandra wissen, als die ihr entgegenkam.
„Wenig, sehr wenig! Wir waren einfach zu beschäftigt und schon war es Morgen!“
„Wie? Ach so, dass meinst du! Ja bei uns war es ähnliches. Wenn wir schon mal Strohwitwen sind, sollten wir das auch ausnutzen.“
Nach einer Anlaufzeit hatten sich alle vier Gäste unten im Gemeinschaftsraum eingefunden. Ronga war gerade dabei Kaffee zu kochen. Alles sehr improvisiert, doch sie würden sich daran gewöhnen.
„Bedient euch nur, ist genug für alle da.
Ronga nahm bei den anderen Platz.
„Und was wollt ihr heute machen?“ Versuchte sie in Erfahrung zu bringen.
„Zunächst einmal müssen wir uns um die Unterkünfte bemühen. Wir haben bei verschiedenen Hotels nachgefragt, aber da müssen wir uns noch was einfallen lassen, alle unterzukriegen dürfte sehr schwierig werden.“ Antwortete Alexandra.
„Warum eigentlich in Hotels. Ist doch viel zu teuer!“ Wollte Ronga wissen
„Und wo sollten wir sonst hin?“ entgegnete Chantal.
„Hey Leute, auch hier ist in den letzten Jahren einiges geschehen. Es haben sich über all im Lande Gemeinschaften gebildet, die eurem Lebensstil nacheifern. Klein-Akratasien nennen wir sie aus Spaß. Auch hier in der Stadt und der Umgebung gibt es eine Menge davon. Ich habe schon vor einiger Zeit bei denen nachgehakt um zu erkunden welche in der Lage sind euch aufzunehmen. Ich habe von fast allen eine positive Zusage erhalten. Die freuen sich auf euch.“
„Aber das wäre ja toll. Da können wir uns viele Laufereien sparen. Zumindest fürs erste wären wir unter. Wir möchten möglichst bald wieder zusammenleben, als ganze große Gruppe.“ Begeisterte sich Eve, wofür Chantal nur wenig Verständnis hatte.
„Alle zusammen? Nun das dürfte in der Tat schwierig werden. Da bräuchtet ihr schon ein großes Gehöft. In solchen Dimensionen haben wir kaum etwas anzubieten.“ Bedauerte Ronga.
„Selbst wenn wir fündig würden wird es haarig. Wir haben kaum noch Geldreserven zur Verfügung. Wir müssen sparen. Von was sollten wir leben? Brachte Kyra in Erinnerung.
Eine Tatsache die Chantal noch mehr betrübte.
Damit hatte sie einen wunden Punkt angesprochen. Wovon sollten die Schwestern und all jene die mit ihnen kamen, leben. Das Ersparte reichte noch für eine kurze Weile und dann?
Vom Gaststaat Unterstützung beantragen? Eine demütigende Sache.
„ Seht ihr! Ein Grund mehr unser Angebot in Erwägung zu ziehen. Eve, wir können dann wenn ihr gefrühstückt habt, gleich damit beginnen rumzutelefonieren. Wie gesagt, wir haben in der Zeit für euch gearbeitet. Ihr braucht nicht bei Null zu beginnen.“ Erbot sich Ronga noch einmal.
„Können wir machen! Ich denke es wäre auch wichtig all die Leute im Anschluss persönlich aufzusuchen. Da werden wir viel unterwegs sein in den verbleibenden Tagen.“ Lies die angesprochene erkennen.
In der Zwischenzeit trafen auch noch andere Bewohner der Gemeinschaft ein und gesellten sich kurzzeitig hinzu.
Es war hier ohnehin ein kommen und Gehen. Ein regelrechter Durchgangsbahnhof. Viele lebten nur kurzzeitig hier, wo hingegen die Kerngemeinschaft nur aus wenigen Leuten bestand.
Platz für Neuankömmlinge also auch schon hier.
Chantal musste sich also mit dem Gedanken vertraut machen länger als geplant hier zu wohnen. Sie konnte nur auf ein Wunder hoffen. Doch stellten sich solche in der Regel gerade dann nicht ein, wenn man ihrer am dringendsten bedurfte.
Keine rosigen Aussichten.
Während die anderen weiter sprachen und Pläne für die Zukunft schmiedeten, erhob sich Chantal und betrat den Innenhof, der ein wenig unordentlich wirkte. Verstohlenen Blickes musterte sie die Umgebung.
Ein kleiner Dackel kam auf sie zu, wedelte mit dem Schwanz und begann sie zu beschnuppern.
Chantal bückte sich um ihn zu streicheln, das lenkte sie ein wenig ab.
Das Wetter trübe und Wolkenverhangen, zum Glück noch mild und trocken. Ende November. Der Winter stand vor der Tür. Dieser Umstand kam erschwerend hinzu. Wäre es jetzt Frühling, vieles lies sich leichter tragen.
Nach einer Weile erschien Alexandra.
„Na, wie ist es? Du machst so einen niedergeschlagenen Eindruck. Geht es dir nicht gut?“
„Es wird schon wieder. Ich weiß auch nicht was mit mir los ist. Früher hätte mir so was nichts ausgemacht. Dieser Wechsel. Das Exil, all das macht mir Angst.“ Gab die Angesprochenen zu verstehen.
„Das geht uns wohl allen so. Manche stecken es besser weg, andere brauchen eben eine gewisse Zeit. Unsere beiden Frauen kommen da bedeutend besser damit klar. Für die ist das neue Leben, das uns erwartet ein Heimspiel.“
„Das mag sein! Da hast du Recht. Eve stammt ja von hier. Ist ihre alte Heimat. Sie ist somit wieder zurückgekehrt. Aber ich lebte hier auch mal na ganze Zeit. Ich hätte mir das wiedersehen einfacher vorgestellt.“ bedauerte Chantal.
„Ich kenne die Stadt auch von früher. Aber damals betrachte ich sie aus einer anderen Perspektive. Das ist der Unterschied.“ Versuchte Alexandra den Sachverhalt zu deuten.
„Glaubst du dass wir bald etwas Geeignetes finden.“ Chantals Frage schien aus der Hilflosigkeit des Augenblickes geboren.
„Ich hoffe! Ich hoffe genau wie du. Aber wir müssen uns auf einen längere Zeit einrichten. Da geht wohl kein Weg daran vorbei.“
Schweigen, eine Weile standen beide nur da und schwiegen sich und die Umgebung an.
„Komm las uns wieder reingehen. Mal sehen was die anderen inzwischen tun.“ Forderte Alexandra und Chantal folgte.
Drinnen herrschte schon geschäftiges Treiben. Ronga und Eve telefonierten mit ihren Handys und konnten schon die ersten Erfolge aufweisen.
Chantal schritt durch den Raum, dann die Treppe hinaus, den schmalen Gang entlang bis zu dem Zimmer kam indem sie samt Kyra untergebracht war. Sie kletterte die Leiter zum Hochbett hinauf und streckte sich dort aus, harrte der Dinge, die noch kommen sollten. Was hätte sie auch sonst tun können?
„Chantal wo bleibst du denn? Wir wollen starten und warten nur noch auf dich. Oder hast du etwa keine Lust mitzukommen.“ Wurde sie von Eve plötzlich aus dem Tagtraum gerissen.
„Was ist denn nur mit dir? Immer noch nicht gut?“
„Nein, nein, schon gut! Ich komme!“ Antwortete Chantal und erhob sich rasch von der Matratze.
„Wir fahren jetzt erst mal in die Stadt, sehen uns ein wenig um. Es wird dir sicher gut tun. Die rüsten die Schaufenster schon um auf weihnachtlich. Später am Nachmittag sehen wir uns eine Gemeinschaft an, die erst kürzlich hier entstanden ist. Die scheint relativ groß zu sein und könnte einigen von unseren Leuten Obdach gewähren.“ Kläre Eve auf.
„Fahren wir alle?“ Wollte Chantal wissen während sie die Leiter nach unten stieg.
„Ja, Ronga wird uns begleiten. Sie kennt die Leute. Stell dir vor, die haben ihre WG doch tatsächlich Elena-Kommune genannt.“
Beim hören des Namens Elena stach es gewaltig in Chantals Herzgegend. Nun war es also schon soweit. Projekte, Initiativen, Gemeinschaften trugen Elenas Namen, während die Person selbst nur noch ein Schatten der Vergangenheit war. Chantal wollte sich mit dieser harten Tatsache nicht abfinden und teilte Colettes Ansicht, dass Elena noch am Leben war, während einige andere sie schon abgeschrieben hatten.
Im Anschluss begaben sich alle nach draußen, liefen die Straße des wenig belebten Vorortes hinab und hielten auf die Straßenbahnhaltestelle zu, dort erwarteten sie die Linie 18, die sie in die Innenstadt brachte.
Erst einmal ins pulsierende Stadtleben stürzen. Eve und Kyra schien das zu gefallen. Die waren in ihrem Element.
Deren elegante Partnerinnen waren etwas zaghafter und zurückhaltender im Umgang mit der neuen Welt, die sie umgab. Sie hakten einander unter und ließen ihre beiden burschikosen Frauen den Vortritt. Wer sie nicht kannte, war geneigt anzunehmen Chantal und Alexandra wären ein Paar, so wie Eve und Kyra.
In Anarchonopolis stand der Auszug unmittelbar bevor. Im Prinzip saßen alle auf gepackten Koffern und warteten nur noch auf den Startschuss. Cassian hatte einen Sonderzug bereitstellen lassen. Er konnte es gar nicht erwarten, die lästigen Bewohner loszuwerden.
Wie sich Madleen dabei fühlte konnte niemand in Erfahrung bringen.
Bis zuletzt hofften viele noch auf ein Wunder, doch es kam nicht.
Colette hatte sich in die Eremo zurückgezogen. Sie wollte den letzten Tag allein verbringen.
Noch einmal diese Stille, diese Abgeschiedenheit genießen. Noch einmal eintauchen in die Mystik dieser einmaligen Landschaft, die ihr solange eine Heimat war und die sie nun auf unbestimmte Zeit verlassen musste. Würde sie sie je wieder sehen? Darauf lies sich keine Antwort finden. Schwermut bemächtigte sich ihrer. Jetzt nur nicht schwach werden. Sie benötigte alle Kraft um die Schwestern und ihren Anhang außer Landes zu führen um dort einen Neubeginn zu starten. Es war ihr auferlegt die Kraft von Zweien in sich zu vereinen, denn auf Elena konnte sie nicht mehr zurückgreifen. Der Verlust der Heimat wog schon schwer genug, doch der Verlust der kleinen Schwester stellte alles in den Schatten. Wären sie jetzt zu zweit, alles halb so schlimm. Doch Elena stand nicht zur Verfügung.
Wo nur konnte sie sein? Sie lebte, dessen war sich Colette sicher. Das tiefe Band das beide vereinte, war noch nicht durchtrennt.
Doch warum suchte sie dann nicht den Kontakt zu ihr? Wenn auch nur mental, so wie sie es früher des Öfteren getan hatte.
All das musste die Königin verarbeiten. Erschwerend kam hinzu, dass sie sich gesundheitlich nicht gut fühlte. Sie bedurfte dringend der Ruhe und die gedachte sie sich heute noch einmal zu gönnen.
Sie schritt durch den kleinen, von einer Mauer umgebenen Garten, blickte kurz zum Grauhaargebirge, das sich vor ihr in den Himmel streckte und lauschte dem Wind, der sein Lied durch die blattlosen Baumäste sang.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
„Melde dich kleine Schwester. Sende mir ein Lebenszeichen. Sage mir ob es dir gut geht. Mehr will ich doch gar nicht wissen.“ Formte Colette jene Worte die sie aber nur im Geiste über ihre Lippen brachte.
„Ich schaffe es nicht. Ohne dich bin ich verloren. Nur im Verein sind wir stark genug, die Aufgabe die jetzt vor uns liegt zu erfüllen.“ Fügte sie noch hinzu.
Sie öffnete nach einer Weile die Augen und fühlte sich schwindelig, so dass sie auf dem kleinen Klappstuhl Platz nehmen musste, der an der Wand lehnte.
Der Blick zur Uhr an ihrem Handgelenk. Schon wieder 5 min vergangen. Wertvolle Zeit die für immer verloren war. Die Zeit war ihre Feindin, sie rann wie Sand durch ihre Finger. Mit jedem Augenblick der verstrich, rückte das unvermeidliche Ereignis näher, der Auszug aus Anarchonopolis, der Exodus hinaus in die Fremde, in das Unbekannte. Gäbe es doch eine Möglichkeit die Zeit anzuhalten. Für immer, stehen bleiben bei diesem Augenblick, der doch so friedlich schien, so frei und allem enthoben. Hier verweilen können und nie mehr von hier weichen. Sie wusste, dass es unmöglich war.
Sich vorzustellen, nie mehr hier laufen zu können, nie mehr den Anblick der Berge genießen zu dürfen, nie mehr den Frieden des Ortes zu spüren, wollte nicht in ihren Kopf.
Colette betrat das Innere des Eremitenhauses und setzte sich an den Schreibtisch. Sie hatte vor noch einige Zeilen zu schreiben. Worte an Cassian. Appelle an dessen Vernunft. Doch sie brachte nichts zustande, musste erkennen das Worte wie Cassian und Vernunft nicht miteinander harmonierten.
Eine ganze Weile saß sie nur so da und blickte apathisch vor sich hin. Die Zeit, diese ständig an ihr nagende Feindin plätschert an ihr vorbei, so als könne sie ihr am Ende doch nichts anhaben.
Warum nur hatte alles so kommen müssen? Sie suchte und fand doch keine Antwort.
Sie fühlte sich müde, alt und verbraucht. Eine tiefe Sehnsucht nach Ruhe und Einkehr hatte sie schon vor Tagen erfasst. Einfach alles hinschmeißen und fortlaufen. Genau so wie es Elena dem Anschein nach getan hatte. Warum tat sie es ihr nicht gleich? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie konnte und wollte die ihr Anvertrauten nicht ihrem Schicksal überlassen. Sie war Akratasiens Königin noch immer. Die Schwestern hatten sie auf Lebenszeit gewählt und nur die konnten sie absetzen. Einem Cassian kam das nicht zu.
„Ich bin die Königin, hörst du mich Cassian? Komm doch her und hole mich! Mach ein Ende! Nur auf diese Weise wirst du mich wirklich los. Ich werde dich bekämpfen von welchem Platz auch immer auf diesem Planeten. Keine Sekunde Ruhe sollst du fortan haben!“
Schrie sie die Worte hinaus ins Leere, in dem Bewusstsein, dass sie keiner hörte ...
Sie erhob sich und schritt bedächtigen Schrittes in das Nachbarzimmer, dort wo sich ihr Bett befand. Sie spürte den Wunsch auszuruhen, löste die Schuhe von den Füßen, zog die Jacke aus und streckte sich nieder. Das tat gut. Sie atmete schwer. Es schnürte ihr die Kehle zu. Hass, unbändiger Hass auf Cassian und seine Gefolge. Sie ballte die Fäuste.
„Lieber tot als mit der Demütigung leben! Lass mich sterben, große unbekannte Göttin, du da draußen, hörst du mich? Lass mich sterben!“
Konnte das die Lösung sein? War es wirklich jene ewige Ruhe, nach der sie sich verzehrte?
Sie bewegte den Kopf hin und her. Nach einer Weile versank die unmittelbare Umgebung vor den Augen und sie schwebte fort in das geheimnisvolle Land jenseits des Nebels.
Tiefe Nacht senkte sich über die Amazonensiedlung. Der Himmel breitete seine Sterne weit über das Land. Die Zeit schien still zu stehen.
Im einzigen Innenhof, den es in der Siedlung gab, hatten die Schwertschwestern Inannas Lager hergerichtet. Die sterbende Königin ruhte auf den Decken und war kaum noch imstande sich zu bewegen. In den zurückliegenden Wochen schien sie jegliche Kraft verloren. Ihr Gesichtsausdruck müde, verbraucht und um Jahre gealtert. Es ging zu Ende, daran bestand kein Zweifel mehr. Alle Hoffnung auf Genesung hatte sich in Luft aufgelöst, das Wunder, um das Aradia so innig gebetet hatte, war ausgeblieben.
Der gesamte innere Führungskreis hatte sich direkt am Lager versammelt, die anderen harrten auf den Dachterrassen aus, um einen Blick zu erhaschen. Die Bewohner der umliegenden Siedlungen kamen in Scharen und lagerten rund um das Amazonenhauptquartier.
Alle wollten Abschied nehmen. Nur einmal noch einen Blick werfen, auf jene Frau, der sie so viel verdankten. Inanna war der Inbegriff der Freiheit. Ohne ihre natürliche Autorität hätte es nie eine Schwesternschaft gegeben, in Folge dessen auch keine Föderation freier Siedlungen, die sich um die Töchter der Freiheit gebildet hatten.
Allen war auf schmerzliche Art bewusst, dass heute, hier und jetzt eine Ära zu Ende ging.
Das Gemeinwesen schien ohne die tief verehrte Königin kam noch lebensfähig. Die Angst vor dem, was nun kommen würde, entsprechend groß.
Auch wenn sich die Königin schon lange zurückgezogen hatte und die gesamte militärische Organisation in die Hände ihrer jüngeren Schwester Aradia gelegt hatte, die Siedlung kaum noch verließ und sich weitgehend zurücknahm.
Sie war einfach nur da, Inanna war das spirituelle und geistige Oberhaupt, die Verkörperung der göttlichen Mutter auf Erden. In ihr vereinigten sich alle positiven Energien. Sie war der Punkt zu dem alles strebte. Ohne ihre positive Aura würde sie das Glück schon bald verlassen.
Aradia war eine ausgezeichnete Kriegerin und Strategin. Die Schwesternschaft stand geschlossen hinter ihr, doch ohne die Kraft und die Liebe der älteren Schwester drohte sie den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Einige Schwestern, die sich direkt um das Krankenlager versammelt hatten, schlugen ihre Tamburine, die kleinen Handtrommeln, kreisrund, aus biegsamen Holz gefertigt und mit Tierhäuten bespannt. Ein sanfter, gleichmäßiger Trommelschlag, der das Bewusstsein in eine andächtige Stimmung versetzte. Brennende Fackeln erleuchteten das Geschehen rundum.
Die meisten Schwestern hatten ihre bronzenen Kampfausrüstung angelegt.
Kasuba saß am Kopfende des Lagers und bettete das Haupt der Königin in ihrem Schoß, streichelte sanft deren Wangen und ihr nun fast vollständig graues Haar.
Aradia, die sich noch auf einem Erkundungszug in der Gegend befunden hatte, schritt langsam durch die Reihen, bis sie die Lagerstatt erreicht hatte. Alles in ihrem Inneren schien wie verkrampft. Sie wollte kämpfen, wollte dem Untier, dass die ältere Schwestern töten wollte, zur Strecke bringen. Doch sie musste sich eingestehen, dass hier auch die härteste Waffe ohne Nutzen war.
Langsam sank sie auf die Knie um sich schließlich voller Verzweiflung auf das Krankenlager zu werfen. Sie konnte die Tränen nicht mehr halten. Als ob der Verlust, den sie durch Leylas Tod zu verkraften hatte, nicht schon schlimm genug wäre. Der Tod der Schwester, die ihr alles war, drohte sie vollständig aus der Bahn zu werfen.
Ajana, Daraya, Manto, Ashe, Gomela, Hatifa, Teleri, Uratha und wie sie alle hießen, hatten sich um das Lager versammelt. Alle mit Tränen in den Augen. Einige der älteren konnten sich noch beherrschen. Andere, wie Manto oder Urtatha schluchzten offen ihre Verzweiflung in den Nachthimmel.
„Aradia, Schwester, komm zu mir. Lass mich noch einmal deine Augen sehen.“
Bat die sterbende Königin mit heiserer Stimme. Das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer.
Aradia tat wie ihr geheißen und rückte nach oben auf.
Inanna versuchte nochmals sich aufzurichten, doch es gelang ihr nicht, so dass sie sich auf die Decken zurückfallen ließ.
„Nun ist es soweit. Ich werde meine letzte Reise antreten. Ich bin bereit. Dieses Leben hat für mich keine Bedeutung mehr. Ich gehe heim, nachhause, zu unseren Eltern, die wir so früh verloren haben, zu all den Schwestern, die uns vorausgingen, die uns lieb und teuer waren und dort am anderen Ufer bereits auf uns warten. Und nicht zuletzt gehe ich zur Göttin, die welche keinen Namen hat und die immer bei uns war. Sie ist auch jetzt in unserer Nähe, ich spüre ihre Kraft ganz deutlich. Ich habe keine Angst vor dem Tod, denn ich weiß mich in ihren Armen sicher geborgen.
Angst habe ich um dich kleine Schwester und um die anderen, die mir anvertraut waren. Ich lasse euch zurück und kann euch keinen Beistand mehr geben. Das macht mich tief traurig und den Abschied schwer.“
Mit letzter Kraft nahm sie Aradias Hände und drückte sie so fest sie es noch vermochte.
„Du wirst jetzt die alleinige Königin aller Schwertschwestern! Sei stark, sei klug und sei gerecht in allem was du tust. Ich weiß, dass du dazu imstande bist. Du hast es schon bewiesen.
Du bist eine mächtige Königin. Vor dir werden unsre Gegner zittern. Doch eines darfst du nie vergessen! Erkenne auch deine Schwächen. Gehe ihnen nicht aus dem Weg, sondern stell dich ihnen, sonst drohen sie dich zu verschlingen. Arbeite weiter an dich und höre stets auf den Rat der Schwestern. Wir waren es immer und werden es immer sein, Gleiche unter Gleichen.
Unternimm nie etwas im Alleingang. Stimm dich stets mit den anderen ab.
Willst du mir dieses Versprechen geben?“
„Ja, ich will es! Wir sind eine Schwesternschaft. Nichts und niemand kann uns trennen. Wir stehen fest zusammen, bis zu unserem Ende. Ich gelobe es bei allem was mir heilig ist.“
leistete Aradia ihren Schwur.
„Ihr anderen habt es gehört. Steht an Aradias Seite, unterstützt sie und helft ihr. Haltet sie zurück, sollte sie im Unrecht sein.“
Wandte sich die Königin nun mit letzter Kraft an die anderen Umstehenden.
„Ja, wir geloben es! Wir leben gemeinsam, wir kämpfen gemeinsam und gemeinsam werden wir untergehen!“ kam es wie aus einer Kehle.
„Kasuba, meine Geliebte, die mir die letzte Zeit mit ihrer Zärtlichkeit versüßte. Auch von dir muss ich Abschied nehmen. Ich danke dir für alles was du für mich getan hast, für deine grenzenlose Liebe und die wundervollen Nächte die wir zusammen verbringen durften. Ich lasse dich nicht verwaist zurück. Diene von nun an Aradia so, wie du mir gedient hast. Schenke ihr die gleiche Liebe und das gleiche Vertrauen. Sei stets an ihrer Seite bis auch ihr aus dieser Welt zu gehen habt.
Aradia wird dich brauchen, in der Zeit die nun folgen wird. Ihr werdet einander brauchen.
Deshalb wünsche ich, dass ihr von nun an euer Leben miteinander teilt. Willst du mir dieses Versprechen geben?“
„Ich gelobe es bei meinem Leben. Ich folge von nun an Aradia. Oder ich folge dir in den Tod, Eine andere Möglichkeit kann es nicht geben. Der Tag, an dem ich dieses Versprechen breche, soll der letzte meines Lebens sein.“ leistete Kasuba ihren heiligen Schwur.
„Wenn dass so ist, dann kann ich in Ruhe meine Reise zu den Sternen antreten.“
Inanna atmete immer schwerer. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis sie ihr Leben aushauchte. Wenn die Sonne am Morgen über den Horizont kletterte, würde sie bereits in der Anderswelt verweilen.
„Haltet durch, solange ihr es vermögt. Mit euch stirbt die Gerechtigkeit in dieser Welt. Dann beginnt das dunkle Zeitalter, es wird mehrere tausend Jahre währen. Tiefe Schatten werden sich senken auf die Welt. Kämpft weiter, denn ihr habt keine Wahl. Kämpfen oder Sklaverei, etwas anderes gibt es nicht in eurem Leben. Sterbt, oder lebt als Sklavinnen schlimmer als die Hunde.
Doch der Tag wird kommen, da werdet ihr wieder auferstehen. In einem Land jenseits unserer Vorstellung von Raum und Zeit. In diesem Land werden wir einander begegnen und unsere Mission fortsetzen. Dort können wir uns ein neues Zuhause schaffen und es besser verteidigen. Glaubt fest daran, wir werden uns wiedersehen. Vertraut auf die Kraft der Freiheitsgöttin. Wenn ihr das tut, seid ihr nicht verloren.
Und denkt immer daran: Ich bin immer bei euch alle Tage eures Lebens.“
Aradia presste ihr Gesicht auf die Denke die über Inanna ausgebreitet war und lies den Tränen freien Lauf. Nach einer Weile taten es ihr die anderen gleich und bald wurde die ganze Umgebung von einem großen Wehklagen erfasst. Eine Zeitlang hatte es den Anschein, dass selbst die Tiere in den umliegenden Wäldern in die Klage einstimmten.
Lura, Inannas treue Stute, mit der sie so lange Zeit wie verwachsen war, hielt es in ihrem Stall nicht mehr aus. Wild um sich tretend, gelang es ihr schließlich die Vergatterung einzuschlagen. Wie von einem Dämon besessen stürmte sie laut wierend auf die Versammlung zu. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es einigen Schwestern sie zu bändigen.
Als sie ihr Pferd sah, richtete sich Inanna noch einmal auf, streckte die Hand nach Lura aus. Die Schwestern führten die Stute an das Krankenlager. Noch eine letzte Berührung. Sanft glitt die Hand der Königin über das blütenweiße Fell.
„Leb wohl meine Schöne!“
Die Königin sank zurück und tat den letzten Atemzug.
Inannas Geist schwebte gen Himmel und betrachtete das Geschehen aus der Vogelperspektive.
Stille, Totenstille ringsum. Niemand vermochte in den folgenden Augenblicken etwas zu sagen.
Nach einer Weile schien sich Aradia gefasst, obgleich der Schock tief in ihrem Inneren saß, doch das ganze Ausmaß dessen, was sich hier gerade ereignet hatte, würde ihr ohnehin erst in den Folgetagen bewusst.
„Unsere Königin Inanna ist zu den Sternen gegangen. Dort wird sie ewig leben. Lasst sie uns in aller Würde betrauern, so wie es einer Königin gebührt. Große Schwester, du bist uns allen unersätzlich. Der Schmerz sitzt tief in unser aller Herzen. Die Lücke, die du hinterlassen, ist kaum zu füllen. Doch das Leben geht weiter für uns, die wir zurückgeblieben. Die Feinde lauern überall. Wir müssen stets gewappnet sein. Ich weiß genau, dass dieses Denken, in deinem Sinne wäre.“
Danach senkte Aradia das Haupt, wieder war sie den Tränen nahe, doch sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen.
„Kasuba und ich werden die ganze Nacht am Lager der Königin wachen und all jene aus dem inneren Kreis die es ebenfalls wünschen können sich anschließen. Ab den frühen Morgenstunden haben alle Schwestern die Möglichkeit sich von der Königin zu verabschieden, indem sie kurz an ihre Bahre treten und dann weitergehen. So wird es geschehen bis zum morgigen Abend.
Wenn die Nacht angebrochen ist, werden wir die Königin zur Grabstätte geleiten. Am Heiligtum unten am See, jene Stätte die sie so sehr liebte.“
bestimmte Aradia weiter.
Alle Umstehenden bekundeten nickend ihre Zustimmung.
Nach einer kurzen Weile begannen Aradia und Kasuba, unterstützt von Manto, Ajana und Gomela, die Königin für ihre letzte Reise auszustatten.
Zu diesem Zweck wurde sie gesäubert und in ihre Kampfrüstung gekleidet. Brennende Fackeln wurden rings um die Bahre befestigt. Viele Schwestern kamen und brachten spontan Blumen die im Kreis um die Totenstätte verteilt wurden.
Als jene Arbeiten verrichtet waren begann die Totenwache.
Die Nacht schien unendlich und wollte kein Ende nehmen. Kasuba schien die einzige, die imstande war Haltung zu bewahren. Alle anderen konnten sich nicht beherrschen, weinten bittere Tränen.
War es nur ein Traum? Wann würde sich Inanna von ihrem Lager erheben und gesund und munter wieder in die Runde treten? Es geschah nichts dergleichen. Es war endgültig. Von dieser Reise gab es keine Wiederkehr.
Endlich vernahmen die Wachenden den ersten Hahnenschrei. Bald darauf begann die lange Prozession der Schwestern, die sich über den ganzen Tag hinzog. Alle wollten wenigstens noch einen kurzen Blick auf jene Frau werfen, die ihrer aller Leben so nachhaltig bestimmt hatte und ohne die sie sich ein Weiterleben kaum vorzustellen wagten.
Jeweils zu viert traten sie an die Bahre, verneigten sich kurz und gingen dann weiter um den nächsten Platz zu machen. Dabei wurden beständig die Trommeln geschlagen.
Auch als die Sonne sich aus ihrem Wolkennest erhoben hatte und ihre Bahn am Himmel zog setzte sich der Aufmarsch fort.
Auch die sengende Mittagshitze ließ keine Pause zu. Es waren einfach zu viele.
Am Abend war es dann soweit, Inanna in ihre letzte Ruhestätte zu geleiten. Wieder erleuchteten brennende Fackeln den Weg, dazu der Silbermond, der noch nicht ganz gefüllt, sein Licht über die Landschafft ergoss, so, als wolle er auf seine Weise, der Königin ein letztes Geleit zukommen lassen.
Die kräftigsten Schwestern waren auserwählt die Bahre zu tragen, auf dem recht langen Weg wurden sie mehrere Male ausgewechselt. Aradia und Kasuba folgten als erste, danach die Schwestern des inneren Kreises. Danach schlossen sich die übrigen an. Der Weg wurde von vielen weitern Personen gesäumt, Menschen aus den Siedlungen, die sich alle kurzentschlossen auf den Weg hierher gemacht hatten. Außer den sanften Schlägen der Trommeln, die von einigen geschlagen wurden, die der Bahre voraus gingen, war kein Laut zu hören.
Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Der wohl schwerste Weg im Leben aller Beteiligten.
Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht.
Es war nicht einfach, mit der schweren Last das Steinheiligtum zu betreten. Aber es gelang, die Bahre am Bestimmungsort sicher abzustellen. In dieser kleinen Halle würde Inanna ihre letzte Ruhe finden. Der Eingang sollte nach Ende der kleinen Zeremonie, die noch folgte, mit einem schweren Stein verschlossen werden. Niemand sollte hinfort das Innere betreten. So hatten sie kurzerhand entschieden.
Aradia und Kasuba ließen sich zu Füßen der Bahre nieder, ferner Ajana, Daraya, Gomela, Hatifa, Teleri, Manto, Uratha, Ashe und einige weitere ausgesuchte. Der Raum war nicht groß genug für viele. Der übrige Tross wartete draußen, am See, auf den umliegenden Hügeln, am Rande des kleinen Waldes, der das Heiligtum umschloss.
Zunächst verharrten alle eine Weile in andächtiger Stille. Danach konnte jede, die noch etwas sagen wollte ein paar Worte an die verstorbene Königin richten.
„Du warst die beste Schwester, dich sich ein Mensch nur wünschen kann. Ich werde dich unendlich vermissen. Ohne dich wäre nie eine Königin aus mir geworden. Du hast mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Nur du allein. Ich versuche, dein Werk zu vollenden, aber ohne deine Nähe wird es mir unendlich schwerfallen.“ begann Aradia.
„Auch wenn ich dich nicht so lange kannte wir die anderen hier und erst spät zu euch gekommen bin. Ich war dir die letzte Zeit am nächsten. Es war die beste Zeit meines Lebens. Ich habe dich geliebt, große Königin und ich werde dich immer lieben, solange ich lebe.“ setze Kasuba den Reigen fort.
„Du hast mich als kleines Mädchen aufgenommen und wurdest mir zur Schwester. Ohne dich hätte ich das Kindesalter nicht lange überlebt. Durch dich und an deiner Seite wurde ich zur geachteten Kriegerin. Du wirst mir immer Schwester bleiben, so wie Aradia, der ich nun dienen werde.“ schloss sich Ajana an.
„Du hast mich aus dem Dreck geholt, mich und noch viele andere, denen es ähnlich erging wie mir. Durch dich lernte ich Achtung vor mir selbst zu bekommen. Durch dich lernte ich, dass es im Leben etwas gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt.“ sprach Daraya.
„Ich war eine Prinzessin, ich lernte in meinem früheren Leben viele Könige und Königinnen kennen. Doch alle verblassen im Vergleich zu dir. Nie haben meine Augen je etwas Würdevolleres geschaut. Ich danke dem Schicksal, dass es mich zu dir geführt hat.“ fügte Gomela hinzu.
„Ich habe dich unendlich lieb und werde dich nie vergessen, du hast mir die Mutter ersetzt, die ich nie kennen lernen durfte. Wie soll ich nur ohne deine Nähe leben?“ schluchzte Manto wie ein kleines Mädchen.
Auch viele andere hatten noch Worte loszuwerden. Das zog sich eine Weile in die Länge. Wieder einmal drängte sich ins Bewusstsein, dass es ein Abschied für immer war.
Schließlich war es soweit dass Ashe, die als Zermonienmeisterin fungierte, das Verabschiedungsritual zelebrierte.
Sie erhob sich vom Boden, streckte die Arme in die Höhe und schloss die Augen.
„Königin Inanna geh nach Hause, geh zur Göttin, jene, die keinen Namen hat und die noch keine von uns jemals zu Gesicht bekam. Nun wirst du ihr Antlitz schauen. Unsere Wünsche sollen dich begleiten. Wir werden dir eines Tages folgen und wieder mit dir vereint sein. Wir sind Schwestern und wir werden es immer bleiben, auch der Tod kann uns nicht trennen. Du wirst in unseren Herzen weiterleben, dein Rat und deine Liebe werden uns begleiten und uns Kraft und Zuversicht spenden.
Große Göttin, Mutter allen Lebens, nimm auf jene Frau, die einmal die größte aller Königinnen war. Wacht gemeinsam über uns und unser aller Leben.“
Dann senkte sie die Arme und verharrte noch eine Weile. Dann erhoben sich auch die anderen, verneigten sich tief und verließen dann eine nach der anderen die Grotte.
Als alle draußen waren, wurde die Öffnung mittels eines großen Steinblockes verschlossen. Zunächst notdürftig, in ein paar Tagen sollte alles sicher verriegelt und vermauert werden.
Aradia presste ihre Handflächen auf den Stein und schloss die Augen. Nie mehr würde sie in diesem Leben die Schwester zu Gesicht bekommen. Das nächste Leben? Wann kam es? Wieviel Zeit würde vergehen? Dimensionen, die jeden Verstand hinter sich ließen.
Die anderen erkannten schnell, dass Aradia jetzt allein sein wollte und gingen schweigend und mit tiefer Trauer im Herzen zur Siedlung zurück.
Nur eine blieb. Kasuba.
„Darf ich bleiben? Darf ich den Schmerz mit dir teilen?“ Wollte sie von Aradia wissen.
„Natürlich! Du warst ihre Gefährtin.“
„Und jetzt bin ich die deine, Aradia!“
„Ich danke dir, Kasuba! Deine Bereitschaft ehrt mich. Aber ich kann nie mehr eine Gefährtin haben. Zu tief sitzt der Schmerz in mir. Ich möchte allein leben für den Rest des Lebens, dass mir noch bleibt. Möge es rasch zu Ende gehen. Unsere Welt wird es schon bald nicht mehr geben. Ohne Inanna ist das nur noch eine Frage der Zeit. Dann wird sich senken Dunkelheit auf uns alle.“ lehnte Aradia das Angebot ab.
„Hast du Inannas Worte vergessen? Sie waren eindeutig und für mich sind sie bindend. Es ist meine Bestimmung. Ich diente ihr, nun werde ich dir zur Verfügung stehen, mit allem was ich habe. Mit meinem Rat, mit meinem Schwert, mit meiner Heilkunst und mit meinem Körper.“
„Ich habe es nicht vergessen! Aber ich kann es nicht annehmen. Du bist keine Sklavin. Du bist frei, frei zu entscheiden, wie und wo du leben willst.“
„Wenn du mich nicht willst hat mein Leben keine Bestimmung mehr. Dann gibt es nur noch eine Lösung. Ich gehe in den Tod, so wie ich es gelobt habe.“ Kasuba zog ihr Schwert und richtet es gegen ihre Brust.
„Ich werde sterben und an der Seite meiner Geliebten und Königin ruhen.“
Kasuba wollte zustoßen, doch Aradia hinderte sie daran und griff nach deren Handgelenk.
„Nein! Das erlaube ich nicht! Du darfst nicht sterben!“
Nach einer kurzen Zeit der Besinnung fügte sie hinzu.
„Einverstanden! Dann soll es so sein! Werde meine Gefährtin und Gemahlin. Teile fortan das Leben mit mir! Mein Haus, meinen Herd, mein Nachtlager!“
Aradia nahm Kasuba das Schwert aus der Hand und warf es zu Boden. Dann umarmten und küssten sich die beiden lange.
„Soviel Treue? Habe ich sie verdient?“ wollte Aradia wissen.
„Ja, das hast du! Nur der Tod kann uns noch trennen!“ antwortete Kasuba.
Hand in Hand gingen sie langsam zur Siedlung zurück, der Silbermond leuchtete ihren Weg.
Inanna wachte über allem und betrachtete die Szene mit Wohlwollen.
Aradia lag noch lange wach, allein in ihrem Haus. Sie hatte darum gebeten. Kasuba würde erst morgen zu ihr ziehen. Inannas Haus würde in Zukunft unbewohnt bleiben. Offensichtlich hegten alle die Hoffnung, dass die Königin doch noch aus dem Schattenreich zurückkehren würde.
Die Angst vor dem, was nun auf sie zukam und dem sie sich allein würde stellen müssen, ließen Aradia kaum zur Ruhe kommen.
Dann fiel sie in den Schlaf und träumte, dass Inanna auf ihrer weißen Stute Lura durch den Wald ritt. Sie hatte ihre ursprüngliche Schönheit und Stärke wiedererlangt. Die stahlharten Muskeln an den Armen und Beinen waren deutlich zu erkennen. Ihr rabenschwarzes Lockenhaar hing ihr weit über die Schultern. Die feingeschnittenen Gesichtszüge strahlten ihre majestätische Haltung aus.
Aradia folgte ihr, doch so schnell sie auch lief, konnte sie die Schwestern doch nicht mehr erreichen.
Immer weiter entfernte sich Inanna und ritt dem strahlendem Silbermond am Horizont entgegen.
„Inanna, halte an! Lass mich mit dir gehen!“
„Das geht nicht! Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Diesen Weg muss ich alleine gehen.
Auf dich wartet noch eine Aufgabe, die du zu erfüllen hast. Dann werden wir uns wiedersehen.“ antwortete Inanna, ohne sich dabei umzudrehen.
„Aber ich schaffe es nicht allein! Ohne deinen Rat bin ich verloren!“
„Du bedarfst meiner Ratschläge nicht mehr. Du hast dich bewährt. Nun bist du in der Lage, allein zu handeln.“ lautete die Antwort.
„Lass mich nicht allein. Bitte komm zurück. Ich fürchte mich ohne deinen Beistand!“
schrie Aradia wie ein kleines Mädchen, dass sich im Dunkel fürchtet.
Doch es kam keine Antwort mehr. Immer deutlicher entfernte sich die große Schwester, bis sie sich am Horizont verlor.
„Inanna! Inanna! Inanna!“
Ein Brausen erfasst die ganze Umgebung. Aradia verschwand, so als habe sie sich in Luft aufgelöst.
Dunkel, Stille, ein plötzlich auftauchendes Blitzlicht.
„Colette! Wach auf! Komm zu dir! Was ist denn nur mit dir?“
Drang eine Stimme aus dem Nirgendwo.
Colette lag noch immer auf ihrem Lager und wälze sich unruhig von der einen auf die andere Seite, dabei wild mit den Armen um sich schlagend.
Doch es war jemand in ihrer Nähe.
Sie öffnete die Augen und sah in Androgynas Gesicht, die sichtlich darum bemüht war, die Königin zu beruhigen.
„Was? Wie? Was ist los? An…Androgyna, wie… kommst du hierher. Was ist geschehen?“
„Ich nehme an, du hast ein Nickerchen gemacht und dabei schlecht geträumt. Ich bin schon eine Weile hier. Als ich eintraf fand ich dich bereits schlafend vor.“
„Es war schlimm! Es war entsetzlich, aber zugleich tief beruhigend. Ich… ich weiß gar nicht wie ich es erklären soll! Es ist so… Ich habe meinen Tod geträumt!“
„Du hast was?“ entsetzte sich Androgyna.
„Nicht direkt meinen. Ich war im Schattenland. Du verstehst, bei den Amazonen der Frühzeit. Ich war Inanna. Sie… sie ist gestorben. Die große Königin ist tot. Nun steht Aradia alleine da.
Es kam so wie es kommen musste. Am Ende hat die Krankheit sie besiegt.“
„Aber das ist ja furchtbar. Brrr… da läuft es mir eiskalt den Rücken runter.“
„Ja, ja, es war schlimm. Ich bin noch immer ganz durcheinander. Hilf mir auf. Ich muss versuchen auf die Beine zu kommen.“ bat Colette und versuchte dabei sich aufzurichten.
Es schwankte noch eine ganze Weile, doch nach einer Zeit fand Colette ihr Gleichgewicht wieder.
„Geht es wieder? Fühlst du dich besser?“ Wollte Androgyna wissen.
„Ja! Es wird schon wieder. Ich muss das alles erst mal verarbeiten. Warum bist du überhaupt hier? Ich hatte doch ausdrücklich darum gebeten nicht gestört zu werden. Es ist mein letzter Tag hier. Wann werde ich meine Eremo wiedersehen?“
„Nun ich habe mir Sorgen gemacht. Das heißt wir haben uns Sorgen gemacht. Betül und ich.
Aber Betül ging es auch nicht gut. Sie hat sich gleich nach dem Mittag hingelegt. Da hab ich mich kurzentschlossen auf den Weg gemacht.“ gab Androgyna zu verstehen.
„Betül geht es nicht gut??“ erschrak Colette sichtlich besorgt. „Naja, ist sicher den Umständen geschuldet. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es irgendeinen oder einer von uns an einem solchen Tag besser geht. Wir verlieren morgen unser Zuhause.“
Colette schritt durch den Raum und blickte sich aufmerksam um, so als können sie die Eindrücke wie ein Gepäckstück unter den Arm klemmen und mit sich führen.
„Lass uns gehen! Ich habe genug gesehen. Je länge ich hier verbringe, desto schlimmer wird es.“ sprach Colette wie im Befehlston. „Ich möchte wissen, wie es Betül geht.“
Sie hakte sich bei Androgyna unter und gemeinsam begaben sie sich auf den Weg zurück ins Konventsgebäude.
Alles wirkte schon jetzt wie ausgestorben. Der morgige Tag warf seinen dunkeln Schatten weit voraus. Gedrückte Stimmung, wo sie auch hinkamen.
Die Treppe hinauf in die schon fast vollständig geräumte Wohnung. Es war nur noch das vorhanden, was sie unbedingt noch brauchten, für die letzte Nacht.
Im Schlafzimmer befanden sich nur Federkernmatratzen, sowie Aischas Kinderbettchen.
Betül kauerte auf dem Boden und starrte nur apathisch vor sich hin.
„Betül meine liebe, was ist mit dir?“ sorgte sich Colette aus tiefsten Herzen.
Eine Weile des Schweigens schloss sich an.
„Ich.. ich war auf der anderen Seite! Ich war in der mythischen Vorzeit, bei den Amazonen. Nun hat es also auch mich erwischt.“ klärte Betül auf.
„Aber das ist ja großartig. Solange hast du auf diesen Augenblick warten müssen. Ausgerechnet jetzt, in diesem negativen Moment kommt es über dich. Aber besser jetzt als nie.“ entgegnete Colette.
„So habe ich es mir nicht vorgestellt. Es war ganz und gar nicht positiv. Ich habe deinen Tod geträumt.“
„Waaas?“
„Du hast richtig gehört! Ich war Kasuba, so wie du es immer vermutet hast. Inanna starb so gut wie in meinen Armen. Es war furchtbar, zum Weinen.“ gab Betül mit Tränen in den Augen zu verstehen.
„Das kann nicht sein! Ich habe etwas Ähnliches geträumt. Ich war Zeuge von Inannas Tod.“
Im Anschluss berichteten beide nacheinander alles was sie gesehen hatten und an was sie sich noch erinnern konnten. Natürlich geschah das aus unterschiedlicher Perspektive.
„Ja, nun bist auch du ein Teil der legendären Schwesternschaft. Ich habe es mir stets gewünscht, aber das es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt sein muss. Aber wahrscheinlich gerade deshalb.“ meinte Colette.
„Was willst du damit sagen?“ wollte Androgyna wissen.
„Ich wünschte mir den Tod. Heute Morgen, als ich in die Eremo kam. Ich sagte mir, lieber tot, als von hier flüchten müssen. Ich hatte keinen Lebenswillen mehr, keine Energie, fühlte mich wie ausgebrannt.
Dann sah ich mich im Traum als Inanna sterben. Mir geht es nach wie vor schlecht, so wie uns allen, die betroffen sind. Aber die Kraft ist wieder da. Inanna starb, weil es damals ihre Bestimmung war. Ich aber lebe. Ich muss leben, um kämpfen zu können. Und das werde ich tun, von welchem Standort auch immer. Ich spüre Inannas Kraft im mir. So stark wie nie zuvor. In mir ist sie wieder auferstanden. Sie wird uns alle tragen.“
Die Nacht verlief in relativ ruhigen Bahnen, doch schon am Morgen war die Zuversicht dahin. Der Realitätssinn hatte sich sein Terrain zurückerobert. Der Tag des Aufbruches war da, das ließ sich nicht verleugnen. Entsprechend gedrückt die Stimmung bei den meisten Beteiligten.
Colette war trotz starker körperlicher Beschwerden früh auf den Beinen. Noch einmal durchs Haus gehen, alles noch einmal erfassen. Sich versichern, dass alles in geordneten Bahnen verlief. Kurze Gespräche, nur die nötigste Konversation.
Keine Nerven für ein richtiges Frühstück. Colette bekam kaum einen Bissen hinunter. Ihr war übel und sie spürte starke Schmerzen im Unterbauch, ständig musste sie die Toilette aufsuchen.
Aischa quengelte ebenfalls herum, so klein sie auch war, spürte sie doch, dass es etwas nicht in Ordnung war, dass man im Begriff war ihre heile Welt zu zerstören.
Schließlich bestimmte Hektik und Stress das Geschehen. Bis 12 Uhr hatte sie die Abtei zu räumen.
Cassian hatte eigens Busse zur Verfügung gestellt. Mit ihnen waren Wachmannschaften eingetroffen, die sicherstellen sollten, dass alle geschlossen ins Exil aufbrachen und nur ja keiner zurückblieb.
Im unteren Flur des Konventsgebäudes hatten sich alle eingefunden, abmarschbereit, auch jene, die in den umliegenden Häusern wohnten.
Sie alle erwarteten das Colette zu ihnen sprechen würde, obgleich ihr überhaupt nicht danach war.
Plötzlich erinnerte sie sich Inannas kämpferischer Rede, mit der sie die ihr Anvertrauten zu Mut und Entschlossenheit aufgefordert hatte.
„Ich weiß nicht, was ich euch noch sagen soll. Wir verlieren heute unsere Heimat, unser Zuhause und gehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Wir wissen nicht, was uns erwartet, wo, wie und von was wir leben sollen. Wir gehen ins Exil und ein Exil ist immer hart und entbehrungsreich. Aber nicht selten bietet es auch neue, ungeahnte Möglichkeiten. Uns bleibt nichts weiter übrig, als darauf zu vertrauen. Wenn wir jetzt schon den Mut verlieren, dann sind wir verloren, bevor wir überhaupt einen Schritt nach draußen getan haben.
Wir werden gehen, wir müssen uns dem Schicksal beugen. Aber wir kommen wieder. Wir lassen uns unser Zuhause nicht dauerhaft nehmen.
Höre gut zu, Cassian, du bist uns nicht los, du musst immer mit uns und unserer Entschlossenheit rechnen. Darauf kannst du Gift nehmen. Keine ruhige Minute sollst du fortan haben. Dein Triumph wird nicht von langer Dauer sein. Dein Sieg wird sich bald schon in eine schmachvolle Niederlage verwandeln. Akratasien wird leben, du aber bist dem Untergang geweiht.
Lasst uns in Gedanken auch bei denen sein, die heute nicht mit uns kommen, bei Elena, wo immer sie auch sein mag. Wir werden sie wiedersehen, davon bin ich überzeugt. Bei Madleen, sie wird sich Cassians Einfluss entziehen und ihren Platz in unseren Reihen wieder einnehmen, auch davon bin ich überzeugt. Auch Dagmar und ihr Gefolge werden sich besinnen, ihre Strategie ändern und an unserer Seite für das Recht kämpfen.
Damit ist alles gesagt. Denkt euch euren Teil dazu.“
Colette schritt voran, alle weitern folgten. Das Laufen viel ihr sichtlich schwer, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen. Sie musste Haltung bewahren, vor allem in Angesicht der aufgezogenen Wachmannschaften.
„Du hast wunderbar gesprochen. Keiner von uns hätte bessere Worte finden können.“ bekundete Ronald draußen auf dem Hof, bevor er gemeinsam mit Folko und den Kindern den Bus bestieg.
„Du bist und bleibst unsere Königin, wo immer wir in Zukunft leben werden.“ versicherte ihr Gabriela, bevor auch sie sich mit ihrer Begleitung zum Aufbruch rüstete.
Colette wartete gemeinsam mit Androgyna, Betül, der kleinen Aischa und Kim, bis alle verstaut waren.
„Nun ist es an uns. Wir sind die letzten.“ gab Betül zu verstehen.
„Ja, das sind wir in der Tat. Der Kapitän verlässt als letzter das Schiff.“ lautet die Antwort der Königin.
Noch ein kurzer Blick auf die so vertraute Umgebung, dann bestieg sie den Bus. Unmittelbar darauf setzte sich dieser in Bewegung. Die andern waren bereits unterwegs.
Es folgte eine Geisterfahrt. Die Straßen menschenleer. Um eventuelle Sympathiekundgebungen zu unterbinden, hatte Cassian für den gesamten Tag eine Ausgangssperre verhängt. In der ganzen Stadt patrouillierten Sicherheitskräfte.
Ebenso gespenstisch die Szene am Bahnhof. Der Sonderzug stand schon bereit. In aller Eile vollzog sich der Einstieg. Kim trug die kleinen Aischa, Colette hatte sich, mit gesenktem Haupt bei Betül und Androgyna eingehakt. Ihr schien es immer schlechter zu gehen. Schnell ins Abteil, dann platzieren.
Noch eine kurze Weile. Das Startsignal. Langsam begann der Zug zu rollen, wurde immer schneller und schneller. Hinaus in die Ferne, in die Weite, in die Ungewissheit. Hinaus in eine Freiheit, von der keine sagen konnte, was für Überraschungen sie bot.
„Leb wohl Akratasien! Leb wohl Traum der Freiheit!“ sprach Colette, dann schloss sie die Augen. Sie weigerte sich die Umwelt zu betrachten, die an ihr vorrüberzog.
Schweigen im Abteil. Betül, Androgyna und Kim respektierten Colettes Ruhebedürfnis und selbst Aischa schien es in ihrem kleinen Köpfchen begriffen zu haben.
Erst als der Zug nach einer gewissen Zeit abrupt auf freier Strecke zum Halten kam,
erwachte die angehende Exil-Königin aus ihrem Dämmerschlaf.
Bald darauf erschien Folko an der Eingangstür.
„Gibt es eine Möglichkeit den Grund für unseren Halt zu erfahren.“ erkundigte sich Betül mit sorgenvoller Stimme.
Noch befanden sie sich in Akratasien, dass nun wieder den Namen Melancholanien trug. Die Angst saß allen tief im Nacken. Was konnte noch geschehen, bis sie sich im sicheren Ausland befanden? Cassian war alles Mögliche zuzutrauen.
„Die Außentüren sind verschlossen, wir können den Zug nicht verlassen. Ich werde mich gemeinsam mit Ronald und ein paar andern nach vorne begeben. Vielleich finden wir etwas heraus.“ erwiderte Folko, schloss die Tür und ging den Gang nach vorne durch.
Bange Moment folgten. Colette blickte ständig auf ihre Armbanduhr, so als würde das etwas nutzen. Sie litt an Atemnot und die Schmerzen im Bauch waren immer noch präsent.
Im Abteil herrschte stickige Luft. Androgyna öffnete das Fenster und steckte ihren Kopf nach draußen.
„Nichts zu sehen!“ Meinte sie schließlich und fiel auf ihren Platz zurück.
Die Zeit schien still zu stehen. Endlich begann sich der Zug wieder in Bewegung zu setzen. Erleichterung machte sich bei allen bemerkbar.
Folko kehrte gemeinsam mit Ronald zurück.
„Kein Grund zur Sorge. Nur die üblichen Verspätungen, die es bei der Bahn nun einmal gibt.“
„Na, wollen wir hoffen! Nun, eilig haben wir es nicht gerade. Vielmehr alle Zeit der Welt.
Nichts läuft uns weg. Aber gerade, wenn man nicht weiß, was einem erwartet, ist jede zusätzliche Verzögerung belastend.“
stellte Colette fest.
Die Fahrt setzte sich fort. Es gab noch einige Verzögerungen, doch nach etwa drei Stunden hatten sie die Grenze überschritten. Dies geschah ohne besondere Vorkommnisse.
Erleichterung mischte sich mit Trauer. Sie waren in Sicherheit, hatten aber nun endgültig die Heimat hinter sich gelassen.
Die Stimmung lockerte sich ein wenig.
Betül glaubte ein richtiges Gesprächsthema gefunden, um die Langeweile zu vertreiben.
„Ich würde zu gern wissen, wie es im alten Amazonenland weitergeht. Jetzt, nach Inannas Tod. Werden Aradia und Kasuba tatsächlich ein Paar?“
„Das ist anzunehmen. Die beiden sind in Trauer vereint, das schweißt zusammen. Außerdem hat Kasuba ihr Gelübde. Sie dient nun der jüngeren der beiden Königinnen.“ versuchte Colette eine Erklärung zu finden.
„Das ist mir klar. Aber ich meine, ob sie tatsächlich ein Liebenspaar werden.“
„Sicher! Die legendären Schwertschwestern dachten sehr pragmatisch. Ihr Leben war kurz, hart und entbehrungsreich, da nahmen sie mit was sie bekommen konnten. Jeder Tag konnte der letzte sein und jede Nacht auch. Warum dann nicht noch eine sinnliche Erinnerung mit auf den Weg nehmen.“
„Das leuchtet ein. Ich denke, dass ist die richtige Entscheidung.“ bemerkte Androgyna.
„Also dann würde ich ja sozusagen die Geliebte Elenas werden, wenn die mit Aradia identisch ist.“ sinnierte Betül weiter.
„Ja und nein! Unsere Lebensläufe ähneln denen der legendären Schwestern, aber sie sind nicht 1:1 in unser heutiges Leben zu übertragen. Ich lebe ja noch. Und auch Madleen erfreut sich noch des Lebens und sie wird in absehbarer Zeit zu uns, zu Elena zurückkehren. Das ist der Unterschied zu den damaligen Verhältnissen.“
„Es wäre fatal, dich auch noch zu verlieren, Colette. Jetzt, da Elena nicht mehr bei uns ist. Bist du dir sicher, dass sie noch am Leben ist!“ wollte Kim wissen.
„Ja, das bin ich! Der Lebensfaden, der mich mit ihr verbindet, ist nicht durchtrennt. Ich spüre ihre Präsenz, ganz gleich, wie weit sie auch entfernt sein mag. Wäre sie tot, würde ich nur noch Leere empfinden.“
„Aber warum meldet sie sich dann nicht einmal und gibt uns ein kleines Lebenszeichen?“ versuchte Androgyna in Erfahrung zu bringen.
„Da bin ich überfragt. Nun, sie wird wohl ihre Gründe haben. Aber ich bin zuversichtlich, dass sie zu uns kommen wird, vielleicht schon bald. Das Gleiche trifft auch für Madleen zu.“
„Madleen? Ich komme nicht umhin, sie als Verräterin zu bezeichnen.“ entgegnete Kim hart.
„Das darfst du nicht sagen, Kim. Sie ist und bleibt unsere Schwester. Sie wird es schaffen, sie wird sich aus der Umklammerung dieses negativen Mannes befreien.“
Die Gespräche gingen weiter. Auf diese Weise fuhren sie in die Dunkelheit, die jetzt, Anfang Dezember, sehr früh über das Land hereinbrach.
Das Wetter hielt, es war noch ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Für eine Reise nicht das Schlechteste. Nichts fürchtete Colette so sehr wie Kälte, Frost und Schnee.
Als es Nacht wurde, versuchten alle so gut es eben ging zu schlafen.
Planmäßig würden sie in den frühen Morgenstunden in Köln einlaufen.
Doch es kam wie von vielen befürchtet. Es gab weitere längere Verzögerungen, die sich teilweise bis zu Stunden hinzogen. Die Verspätung war erheblich und äußerst belastend. Das brachte es mit sich, dass der Zug endgültig erst im Laufe des Vormittags seinem Ziel entgegensteuerte. Die Erwartungshaltung war entsprechend hoch. Was würde geschehen, nachdem sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten? Wie würde sich der Empfang gestalten? Würde überhaupt jemand Notiz von ihnen nehmen? Gab es Leute, die sich ihrer annahmen? Mussten sie gar mit Schwierigkeiten rechnen?
Fragen über Fragen. Niemand konnte es mit Gewissheit sagen. Alles lag offen vor ihnen.
Keiner aber konnte zu diesem Zeitpunkt den Empfang voraussagen, der ihnen nun bereitet wurde.
Bereits in den Nachtstunden hatten sich um das Bahnhofsgelände die ersten Schaulustigen eingefunden. Und ständig streben mehr Menschenmassen dem Bahnhofsviertel zu. Die Freunde Akratasien hatte in den letzten Tagen sehr gründlich mobilisiert und schlussendlich trug auch die Erwartungshaltung, die von den Medien verbreitet wurde, dazu bei. Aus allen Teilen des Landes kamen Menschen, die den Neuankömmlingen ihre Sympathie bekunden wollten und sogar aus dem Ausland, vor allem den angrenzenden Ländern kamen sie, aus Holland, Belgien. Luxemburg und Frankreich.
Dicht an dicht. Ein Drängen und Geschubse. Bald waren die umliegenden Plätze überfüllt und die ersten bahnten sich einen Weg in die Bahnhofshalle, dem bewussten Bahnsteig entgegen.
Mehrere Hundertschaften an Polizeikräften waren aufgezogen und versuchten die Leute von ihrem Vorhaben abzubringen. Am Anfang schien das noch zu klappen, doch je mehr Menschen nach vorne drängten, desto hoffnungsloser schien dieses Unterfangen. Bald wurden die Linien durchbrochen und es entstand ein heilloses Durcheinander. Schließlich waren die Gleise mit Schaulustigen überfüllt, so dass der Zugverkehr komplett eingestellt werden musste.
Davon war auch der Zug betroffen, auf den alle warteten.
Der Sonderzug aus Akratasien kam am Bahnhof Deutz zum Stehen und die Weiterfahrt über den Rhein, ansonsten knapp zwei Minuten, zögerte sich dahin und alle befürchteten, dass sie wohl auf unbestimmte Zeit festsaßen.
„Kannst du etwas sehen, Betül.“ rief Colette ihrer Gefährtin zu, die sich weit aus dem Fenster lehnte.
„Nein, nicht direkt. Es ist einfach zu weit entfernt. Ich höre aber etwas. Seit mal still. Hört sich wie lautes rufen an. So als seien viele Menschen zusammen gekommen.“
„Na, wer weiß was uns da erwartet. Ich habe da ein ungutes Gefühl.“ stöhnte Androgyna.
„Sei doch nicht so ängstlich. Was soll den schon passieren?“ hielt ihr Kim entgegen.
„Naja, ich kann mir denken dass da einige Dutzend, vielleicht auch Hundert, Zweihundert Leute gekommen, sind um uns zu begrüßen. Es gibt schon einige Anhänger. Chantal hat mir das mitgeteilt. Aber sehr viele werden es wohl nicht sein.“ glaubte Colette zu wissen.
Die Tür öffnete sich und Kristin betrat das Abteil.
„Seit ihr auch so aufgeregt! Diese Wartezeiten sind schlimm. Wären wir doch endlich an Ort und Stelle.“
„Komm rein und setz dich.“ lud Betül ein und machte den Platz neben ihr frei,
Kristin nahm Platz und schmiegte sich eng an Betül. Aischa zappelt auf den Knien ihrer Mutter, auch sie konnte es dem Anschein nach kaum noch erwarten, in die neue Heimat zu kommen.
Auf dem Gang herrschte reges Treiben Auch Gabriela, Inga, Sonja und andere traten kurz ein, um sich mit Colette auszutauschen.
In der Luft über ihnen tauchten die ersten Polizeihubschrauber auf und senkten sich herab.
Der Lärm der Rotoren drang in das Innere der Waggons und verursachte zusätzliche Aufregung.
Was hatten die vor, wen oder was gedachten sie auf diese Weise auszukundschaften?
Endlich, es schienen gefühlte Stunden vergangen, gab es den erlösenden Ruck und der Zug begann auf sein Ziel zu rollen. Langsam, ganz langsam, eine Schnecke hätte ohne Schwierigkeit mithalten können.
Es ging über den Rhein, auf dem wie so oft einzelne Schiffe verkehrten. Noch ein Stopp auf der Brücke, kurz vor Erreichen des Bahnhofs.
„Was ist denn jetzt schon wieder? Ob wir heute noch ankommen? Ich wage es zu bezweifeln.“ beschwerte sich Androgyna erneut.
Es vergingen wiederum einige Minuten, bis sich der Zug erneut in Bewegung setzte. Die Bahnsteige kamen ins Blickfeld und alle erhielten eine Erklärung für die Verzögerung.
Menschen, Menschen und nochmals Menschen. Schweigen, keiner hatte dafür eine Erklärung.
Transparente, Akratasische Fahnen, selbstgebastelte Pappschilder schwangen in der Luft, begleitet von Sprechchören, die ihre Solidaritätsbekundungen lauthals hören ließen.
„Was um alles in der Welt ist dass?“ Kim kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, den anderen ging es ebenso.
„Mit allem hätte ich gerechnet, damit nicht!“ gestand Colette, deren Aufregung sich ins Unermessliche steigerte.
„Was sollen wir jetzt tun? Etwa da raus gehen?“ wollte Androgyna wissen.
„Ja, was dachtet du denn? Sollen wir hier drinnen Wurzeln schlagen?“ hielt ihr Betül entgegen.
Die Tür öffnete sich und Ronald betrat das Abteil.
„Wie lauten deine Anordnungen, Colette. Darauf waren wir nicht vorbereitet. Wie sollen wir uns verhalten?“ Ronald war noch immer für die Sicherheit zuständig und das gedachte er auch weiter zu bleiben.
„Moment! Einen kleinen Moment. Natürlich müssen wir uns den Menschen zeigen, obgleich ich mir durchaus der Gefahr bewusst bin.“ entgegnete Colette.
„Gut, dann werde ich voran gehen und dir den Weg bereiten.“ bot Ronald an.
„Auf keinen Fall. Ich werde gehen, mich wollen sie und mich sollen sie bekommen. Ihr folgt mir. Betül, du kommst mit mir. Adrogyna und Ronald, ihr folgt. Kim und Kristin, ihr kümmert euch derweil um Aischa.“
Das Gedränge auf dem Bahnsteig war in der Zwischenzeit so groß, dass sich die Tür kaum noch öffnen lies.
Als die Umstehenden Colette erblickten, kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr.
Sie wollte etwas sagen, doch der Lärm der Massen erstickte dieses Ansinnen.
Etwa vier kräftige Männer bahnten sich ihren Weg durch die Masse, packten Colette an den Beinen und trugen sie nach draußen. Betül sprach ihnen nach.
„Hey, seid ihr von Sinnen?“
Dann schwangen die Männer Colette in die Höhe und balancierten sie in der Luft.
„Betül! Beeeetüüüül!“
„Was soll das? Lasst sie sofort runter! Colette ist nicht schwindelfrei. Außerdem gibt sie dort eine ideale Zielscheibe ab. Also, sofort runter mit ihr.“ protestierte Betül.
„Keine Sorge, wir haben alles im Griff! Wir sind Zirkusleute und in solchen Sachen geübt.“
versuchte einer der Männer freundlich zu beruhigen.
„Zirkusleute? Das gibs doch nicht! Ronald, sag du doch mal was.“ Betül drehte sich um, konnte den Angesprochenen aber nirgends entdecken.
Betül versuchte weiter durch die Massen zu rudern, wobei sie Ellenbogen und Knie auf teilweise unsanfte Weise einzusetzen wusste. Da bemerkte sie plötzlich wie sich Androgyna neben ihr postiert hatte.
„Um Gottes willen, wo ist denn Aischa? Hast du Kim gesehen?“
„Keine Sorge, die sind vorsichtshalber noch im Zug geblieben, Kristin auch und Gabriela. Es ist besser dort auszuharren, bis der Sturm an Kraft verloren hat.“ beruhigte Androgyna.
Vergeblich versuchten beide in Colettes Nähe zu gelangen, die noch immer auf dem starken Schultern balancierte.
Doch sie schien die innere Ruhe wiedererlangt zu haben.
„Betül, mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut. Es ist unvorstellbar. Ich glaube zu fliegen.“
Colette breitete die Arme seitlich aus, blickte nach oben und schloss die Augen.
„Du Schreck, was tut sie denn jetzt?“ Betül presste die Handflächen an den Mund.
Wie auf einen inneren Befehl begann der Lärmpegel zu sinken. Immer mehr eroberte sich Schweigen die Szenerie.
Offenbar erwarteten viele der Umstehenden und auch derer die in der Ferne ausharrten, eine Ansprache.
Nach und nach ebbten die Parolen immer deutlicher ab.
Währenddessen hatten Chantal, Kyra. Eve und Alexandra es aufgegeben in das Innere der Bahnhofsvorhalle vorzudringen. Es hatten sich einfach zu viele dort versammelt und der Strom der noch Hinzukommenden wollte einfach nicht abreißen.
Die vier zogen sich auf die Domstufen zurück und betrachteten das Geschehen aus sicherer Distanz.
„Meinst du nicht, wir sollten es noch mal versuchen?“ Wollte Kyra wissen.
„Ich glaube nicht, dass das sehr sinnvoll wäre. Wir schaffen es nicht durch. Das Gedränge ist zu groß.“ lehnte Chantal ab.
„Ich glaube, es ist das Beste, wir warten einfach, denn irgendwann werden die hier draußen ankommen. Wenn wir sie sehen, müssen wir uns aber dann sofort zu ihnen durchschlagen, damit wie sie nicht erneut verlieren.“ stimmte Eve zu.
„Ich habe noch mal versucht, Colette mit dem Handy zu erreichen, aber sinnlos. Die geht nicht dran.“ meinte Alexandra, während sie noch auf der Tastatur herumfingerte.
„Kunststück, die wird das Signal bei dem Lärm gar nicht hören.“ erwiderte Kyra.
Weiter den Eingang im Visier erhoffen sie, ihre Gefährtinnen und Gefährten bald zu erhaschen.
Colette erkannte den Augenblick, und sah es nun für angebracht, ein paar Worte an die kraftvolle Demonstration zu richten.
„Ich bin kaum imstande, meine Empfindungen in Worte zu kleiden. Ich hätte nie gedacht, wie tief sich die akratasische Idee schon auf der Welt verbreiten konnte. Ich bin überrascht und tief gerührt. Ich danke euch allen für diesen Empfang. Ein gutes Omen für unser Exil. Damit macht ihr uns den Abschied aus unserer Heimat leicht. Wir werden uns bei euch sicher sehr wohl fühlen. Wir, meine Schwestern und alle Übrigen, die heute hier eingetroffen sind, werden stets ein offenes Ohr für euch haben. Ich freue mich auf viele gute Gespräche.
Aber ich sage es noch einmal. Dieses Exil ist nicht von Dauer. Wir alle werden in absehbarer Zeit in unsere Heimat zurückkehren. Cassians Diktatur wird fallen. Akratasien wird wieder leben und es wird stärker denn je.
Die neuen Machthaber werden das Gegenteil dessen erreichen, was sie beabsichtigten. Akratasien ist nicht mehr nur auf ein Land beschränkt. Akratasien ist überall. Hier in Köln, in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt.“
Stehende Ovationen folgten. Der Beifall übertönte jedes auch noch so laute Geräusch auf dem gesamten Bahnhofsgelände.
Die Männer ließen Colette langsam nach unten gleiten. Sie war erleichtert wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Sie schwankte ein wenig. Doch schon war Betül zur Stelle, sie in Empfang zu nehmen.
Inzwischen waren auch Ronald, Folko, Lukas und weitere Männer zur Stelle und begannen Colette abzuschirmen um ihr einen Weg nach draußen zu bahnen, der auch bereitwillig freigegeben wurde.
Betül und Androgyna nahmen die Königin wieder in ihre Mitte schritten hinter den Männern her. Kim folgte mit Aischa auf dem Arm, die mit großen Augen in die Menge blickte.
Die anderen schlossen sich an.
Blitzlichtgewitter von allen Seiten, die hiesige Presse wollte sich dieses Ereignis natürlich nicht entgehen lassen.
In wenigen Minuten hatten sie den Ausgang erreicht und befanden sich auf dem Bahnhofsvorplatz.
„Hey, da sind sie! Los auf, bevor wir sie wieder aus den Augen verlieren!“
befahl Eve als sie die Königin erblickte. Die anderen drei folgten und eilten ihren Freunden entgegen.
Kaum hatten sie Colette erreicht, fielen sie ihr auch schon nacheinander um den Hals.
„Na Chantal, wie ich sehe habt ihr gute Vorarbeit geleistet! Damit hätte ich nie im Leben gerechnet.“ begrüßte sie Colette.
„Nun, man tut was man kann! Ich bin selbst über die Wirkung überrascht.“ erwiderte die Angesprochene.
Plötzlich näherte sich ihnen eine Gruppe queerer Jugendlicher, die eine Fahrradrikscha bei sich führten.
„Hallo, wir wollen euch ganz herzlich begrüßen.“ sprach eine Colette und die Umstehenden an. Eine junge Frau, die sich aber dem Anschein nach zu keinem Geschlecht zugehörig fühlte.
„Wir haben uns gedacht, dass dir eine Fahrt mit einer Fahrradrikscha gefallen könnte. Auf diese Weise bist du auch gleich in der Masse der Schaulustigen angekommen.“
„Ich danke euch. Aber Colette ist sehr müde. Es war eine anstrengende Reise. Wir wollen möglichst schnell zu unsern Quartieren!“ entgegnete Betül.
„Ist schon in Ordnung! Ich freue mich über eure Überraschung. Ich werde das Bad in der Menge sicherlich genießen. Komm, gibt mir Aischa, der wird es mit Sicherheit Spaß machen.“ widersprach Colette.
Schon hatte sie die kleine Tochter im Arm und nahm auf der Sitzbank Platz.
Es dauerte nicht lange und schon setzte sich der Tross in Bewegung.**
In der Zwischenzeit waren viele Fahrzeuge eingetroffen, die sich um das Gepäck der Ankömmlinge kümmerten. Es oblag wiederum Ronald und Folko sich um einen reibungslosen Ablauf zu bemühen.
Die sich nun anschließende Fahrt durch die Stadt glich einem Triumph und entschädigte für all die schlimme Zeit, die hinter ihnen lag.
Betül, Androgyna, Kim, Denise, Kristin, ferner Chantal, Alexandra, Kyra und Eve schritten neben der Rikscha begleitet von dutzenden queeren Jugendlichen, die den Neuankömmlingen auf ihre Art ein sicheres Geleit boten.
Colette genoss das Bad in der Menge. Sie war wieder ganz sie selbst. Vergessen all die Angst und das Unwohlsein. Colette war auch hier die Königin.
Von allen Seiten brandete Jubel entgegen. Einen solchen Menschenauflauf konnte die Stadt Köln nur beim Rosenmontagsumzug oder der CSD-Parade im Sommer bieten. Es ging am Dom vorbei, die Hohe Straße hinauf. Allen war bewusst, dass der Zug einige Zeit in Anspruch nehmen würde.
Immer wieder kamen sie zum Stehen, weil viele der ungewöhnlichen Besucherin ihre persönliche Aufwartung machen wollten.
Ein unvergessliches Erlebnis. Ein gutes Omen für den Aufenthalt? Colette hoffte darauf.
Endlich, es war schon früher Nachmittag, erreichten sie ihr Ziel. In der großen Wohngemeinschaft in der Nähe des Chlodwigplatzes würde Colette und ihre direkten Kontaktpersonen in der nächsten Zeit ihre Bleibe finden.
Nun war es an der Zeit sich einzurichten. Somit begann für alle der Alltag unter den nun veränderten Bedingungen.
Die übrigen wurden in anderen Objekten, die sich über die ganze Stadt verteilten, untergebracht. Sie konnten also für die nächste Zeit nicht mehr zusammenleben. Damit hatten sie sich abzufinden. Trotzdem setzte Colette alles daran, den Gemeinschaftscharakter zu wahren.
Die nächsten Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Alle mussten sich erst einmal in ihren neuen Quartieren einleben und das Nötigste regeln.
Doch die Frage, wie in Zukunft der Alltag zu gestalten war, stand ganz oben auf der Tagesordnung.
Die finanzielle Reserven würden noch für einen kurzen Zeitraum reichen, doch schon bald mussten sie sich ernsthafte Gedanken machen, wie sie ihren Lebensunterhalten bestreiten sollten.
Colette kam kaum zur Ruhe, die Besuche wollten einfach nicht abreißen. Viele boten spontane Hilfe an.
Die politische Arbeit sollte so bald als möglich wieder aufgenommen werden, zu diesem Zweck musste die Öffentlichkeitsarbeit angekurbelt werden. Diese Aufgabe oblag Chantal und sie meisterte diese mit der gewohnten Professionalität.
Es wurden weitere Kontakte geknüpft, schon waren die ersten Solidaritätsaktionen in die Wege geleitet.
Es war vor allem wichtig in Erfahrung zu bringen, wie sich die Verantwortlichen des Gastlandes verhielten. Würden sie positiv zu ihnen und ihren Anliegen stehen? Das galt es heraus zu finden. Die redeten zwar viel von Freiheit und Freiheitsrechten, die es zu schützen galt. Doch wessen Freiheit meinten sie wirklich? War der Freiheitsbegriff mit jenem von Akratasien identisch?
Auch in diese Richtung wollten sie entsprechende Kontakte knüpfen.
Da aber eine eigentliche Zentrale nach wie vor fehlte, gestalteten sich all diese Aktionen als schwierig. Die Aussicht auf ein großes bewohnbares Objekt verfloss von Tag zu Tag immer mehr.
Sie hatten die Hoffnung beinahe aufgegeben, als auf einmal jenes Wunder geschah.
Nur wenige Tage nach Ankunft der akratasischen Exilanten, hatte der Erzbischof von Köln einen seltsamen Traum.
Er spazierte durch ein Waldstück, bis er zu einer Lichtung kam. Eine schöne Wiese mit viel Gras und bunten Frühlingsblumen. Auf einer Decke hatten sich die Göttin Anarchaphilia und Jesus zu einem Picknick eingefunden. Beide salopp in Jeans und T-Shirt gekleidet, den Wind im offenen Haar waren sie in ein intensives Gespräch vertieft.
Plötzlich wandte sich Jesus um und blickte dem Bischof in die Augen.
„Meine queeren Geschwister sind in Not und du tust nichts? Warum? Ergreife die Gelegenheit und handele. Jetzt hast du die Möglichkeit vieles wieder gut zu machen.
Wenn du das getan hast, kannst du wiederkommen und deinen Platz bei uns einnehmen.“
Der Traum verfehlte seine Wirkung nicht.
Als symbolhafte Geste für all das Negative, das die queere Community von Seiten der römisch-katholischen Kirche zu erleiden hatte, wollte der Erzbischof den Heimatlosen ein neues Domizil zur Verfügung stellen.
Sehr zum Leidwesen seiner konservativen Hardliner verfügte er, dass ab sofort das Gebäude des Kardinals-Schulte-Hauses in Bensberg, das eine katholische Akademie beherbergte, Colette und den ihren als Wohnstätte zur Verfügung gestellt werden sollte. Kostenlos und auf unbestimmte Zeit. Die Finanzierung würde die Erzdiözese Köln übernehmen.
Diese Nachricht schlug ein wie ein Bombe. Alle schienen wie vom Blitz getroffen.
Colette glaubte in den ersten Augenblicken an einen Scherz, doch es war keiner.
Damit hatten sie die Möglichkeit wieder zusammen zu wohnen, als Gemeinschaft, ein ungemein positiver Ausblick.
Doch wollte Colette die Sache nicht allein entscheiden. Zunächst gab es Diskussionsbedarf.
Sollten sie das Angebot wirklich annehmen? Auf diese Weise wären sie eines Großteils ihrer Probleme enthoben. Andererseits jedoch würden sie sich wieder in einer Fluchtburg einigeln und es drohte erneut ein abgehobenes Dasein wie in Anarchonopolis. Das wollten sie aber auf jeden Fall vermeiden.
Eine Entscheidung stand ins Haus und dass musste rasch geschehen.
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* Exilanten sind nicht immer willkommen. Bestes Beispiel ist Leo Trotzki (1879-1940)
Stalins Antipode und berühmtester Dissident aller Zeiten fand nach seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1929 nur schwer ein Land das bereit war ihm Asyl zu gewähren. Wäre er im Exil zum Kommunistenfresser mutiert und weichgespülten Sozialdemokraten, alles wäre in bester Ordnung. Doch Trotzki blieb knallharter Marxist mit allen Konsequenzen.
Es versteht sich von selbst dass die bürgerlichen Regierung kein großes Interesse zeigten, den Organisator der Oktoberrevolution aufzunehmen. Angefeindet wurde Trotzki aber auch von den Kommunistischen Parteien der westlichen Welt, die fast ausnahmslos stalinistisch orientiert waren. Ausnahme, die KP Mexikos, deren Vorsitzender, der berühmte Maler Diego Rivera war lange Zeit Anhänger Trotzkis. Durch dessen Intervention, erklärte sich die mexikanische Regierung schließlich bereit Trotzki Asyl zu gewähren
** die Autorin hat das selbst erlebt. Beim CSD im Jahre 2019 führte sie als non-binary-queen bei der Parade auf einer Fahrradrikscha sitzend den alternativen Transblock an
*** Bensberg ist ein Stadtteil von Bergisch-Gladbach
Das Kardinal-Schulte-Haus ist ein Tagungshaus und Hotel der Erzdiözese Köln und beherbergt die Thomas-Morus-Akademie. Das Haus liegt auf einer Anhöhe, von dort bietet sich ein guter Blick auf die Silhouette der Stadt Köln. Mit der Straßenbahnlinie 1 ist man in ca. 30 min im Zentrum von Köln.
Die Autorin hat hier im Jahre 1994 einige Monate zugebracht und ihre Ausbildung zur Organisationssekretärin abgeschlossen.