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Frühlingsgefühle
Auch Madleen verbrachte den Vormittag allein.
Wenn sich bei ihr auch keine transzendente Erfahrung von spirituellem Tiefgang einstellte, so stieg auch sie in ein Wechselbad der Gefühle. Ihr wurde bewusst, dass es sich um einen totalen Wendepunkt in ihrem Leben handelte.
Wie lange hatte sie diesem Augenblick entgegengefiebert, längst jegliche Hoffnung aufgegeben. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die endlosen Rückschläge, das maßlose Leid das ihr widerfuhr, nun würde sie reich entschädigt.
Zärtlich und leidenschaftlich war ihre Liebe. Elena erwiderte diese Gefühle. Traum oder Realität? Noch immer bewegte sie sich in einer Art geheimnisvoller Ekstase. Möglichst in der Einsamkeit die Eindrücke verarbeiten und niemanden sehen.
Sie kletterte auf den alten Findling, den Lieblingsplatz aus den unbeschwerten Kindertagen. Dort hatte sie früher mit ihren Brüdern ausgelassen gespielt und getobt. Sie streckte sich aus und ließ sich von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen verwöhnen. Der Tag schien wie kaum ein anderer geeignet, das zu widerspiegeln, was sie innerlich bewegte.
Endlich Sonne, Wärme nach langer eisiger Starre tat ihr das besonders gut. Es kam ihr so vor als habe sie gerade einen langen Winterschlaf beendet.
Sie war benommen vor Glück. Sie durfte das Herz ihrer Geliebten schlagen hören und das würde sich hunderte Male wiederholen. Ihr wurde ein neues Leben geschenkt. Ein neuer Anfang.
Madleen war sich der Tatsache bewusst, dass turbulente Zeiten auf sie warteten. An Elenas Seite konnte es kaum so etwas wie ein geregeltes, beschauliches Privatleben geben. Öffentliches Interesse würde nun auch ihr zuteil. Langeweile ausgeschlossen. Als Preis dafür musste sie Elena mit großer Wahrscheinlichkeit mit vielen anderen teilen.
Erst um die Mittagszeit machte sie sich auf den Rückweg.
Nach dem Mittagessen begab sich das Liebespaar auf Erkundungstour. Mit großem Interesse nahm Elena alle Eindrücke, die sich ihr boten, auf.
Sie lernte eine fast autarke Welt der Selbstversorgung kennen.
Die Menschen hier hatten aus der Not eine Tugend gemacht.
Durch den scheinbar nicht enden wollenden Bürgerkrieg von der Außenwelt fast völlig isoliert, trotzten jene, die sich nicht zur Flucht entschließen konnten dem Chaos und begannen ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Auch wenn das mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Mangel herrschte überall. Aber irgendwie gelang es ihnen zu überleben und das wenige miteinander zu teilen.
Der Hof, den Madleens Familie bewirtschaftete, bildete eine Art inneren Kreis, eine Zelle, um die sich die verstreut liegenden Siedlungen gruppierten.
Es wurde improvisiert, was das Zeug hielt. Allerlei Werkstätten befanden sich hier. Die Handwerker, alles Menschen ohne besondere Bildung entwickelten eine funktionierende alternative Ökonomie. Waren des täglichen Bedarfes wurden unter schwierigsten Bedingungen produziert. Recycling war oberstes Prinzip. Auch der auf den ersten Blick wertloseste und unscheinbarste Gegenstand konnte an anderer Stelle noch Verwendung finden.
Es war atemberaubend, Elenas Augen weiteten sich. Sie, das einst verwöhnte mondäne Glamourgirl, das in ihrem Haushalt Berge von vermeidbaren Müll produziert hatte, wurde Zeuge dieses Wunders. Wahre Meister der Improvisation.
Elena wollte sich über die Sorgen und Probleme ein detailgetreues Bild verschaffen. Sie nutzte viel Zeit für Gespräche, dementsprechend zog sich die Visite in die Länge.
Madleen, über die Abläufe durch jahrelanges Erleben hinreichend geschult, wurde schnell von Langeweile heimgesucht.
Viel lieber hätte sie ihre Geliebte auf der Stelle in ein stilles Eckchen gezogen und mit Küssen eingedeckt.
Andererseits bewunderte und liebte sie ihre Angebetete gerade ob ihrer Anteilnahme an dem Geschehen hier.
Zu großer Freude ihrer Gefährtin entschloss sich Elena endlich zu einer kleinen Pause.
Sichtlich geschafft, nahmen beide auf einer Holzbank im Innenhof Platz.
In Elenas Kopf wimmelte es von Bildern. So viele Eindrücke und das in gerade einmal 24 Stunden.
„Na, wie gefällt dir unser Proletenleben ?“, wollte Madleen wissen. „Wie ich sehe, scheinst du beeindruckt.“
„Phantastisch! Ich bin überwältigt. Kaum zu glauben! Du bist hier aufgewachsen, für dich ist das alles vertraut. Ich lerne eine neue,mir unbekannte Welt kennen. Es muss großartig sein, so zu leben.“ begeisterte sich Elena.
" So berauschend ist das auch wieder nicht. Da steckt eine Menge Arbeit drin. Die Leute haben lediglich aus der Not eine Tugend gemacht. Du kannst resignieren und aufgeben oder die Ärmel nach oben krempeln und zupacken. Eine Garantie gibt es aber nie. Was meinst du, warum ich von hier flüchtete?
Einfach, weil ich die Nase gestrichen voll hatte.
Nein, mit Romantik hat das alles nur sehr wenig zu tun.
Versuchte Madleen Elenas Enthusiasmus einen Dämpfer zu erteilen.
„Das glaube ich dir gern! Du hast den richtigen Weg gewählt. Ich möchte dir und den Menschen im allgemeinen helfen. Was ich hier zu Gesicht bekommen habe, birgt eine Hoffnung in sich. Könnte so was denn nicht als Modell für etwas viel größeres dienen? Noch bin ich mir nicht sicher. Ich möchte tiefer eindringen. Möchte erfahren, was die Menschen bewegt und meine Schlüsse ziehen, du kannst mir dabei helfen!“
„Ja, und was willst du tun?“ erkundigte sich Madleen.
„Vielleicht klingt es verrückt und womöglich wirst du mich sogar auslachen. Ich möchte eine Zeit lang bei euch mitarbeiten. Mir alles an sehen, ein objektives Bild von allem machen. Das funktioniert am Besten bei der gemeinsamen Arbeit.“
Du beliebst zu scherzen?“ konterte Madleen. „Du kannst doch nicht die Arbeiten von Landarbeitern oder Mechanikern übernehmen? Wie stellst du dir das vor? Du hast doch keinen blassen Schimmer von all dem."
" Du konntest mich in letzten Monate kennen lernen. Führe ich dort etwa das Leben einer Müßiggängerin?“
„Nein, natürlich nicht!“ musste sich Madleen geschlagen geben.
„Na, siehst du! Es war mir in den zurückliegenden Jahren möglich, viele Arbeitsweisen kennenzulernen. Seit es eine Kommune gibt, bzw. gab. Begonnen in der Gartensiedlung am Stausee, später im größeren Stil in der Abtei. Überall konnte ich Erfahrungen sammeln.
Es gab viele Helfer. im Moment ist mein soziales Hilfsprojekt mein dominierender Lebensinhalt. Und hier werde ich auch versuchen mich ein zu bringen. Ich denke, es gibt eine Menge zu lernen. Die ganze Art, wie deine Familie lebt, fasziniert mich. Wie sie ihr Leben in die Hand nehmen und allen Widerständen trotzen. Das ist es! “ Begeisterung sprach aus Elenas Worten.
„Tut mir leid, ich kann dir nicht folgen. Wovon sprichst du?“
„Ich meine die ökonomische Grundlage . Sieh mal, wir haben in der Abtei alles mögliche ausprobiert, schon vor der Revolution, gut, da verfügten wir noch über reichlich finanzielle Rücklagen, später, während draußen Revolution und Bürgerkrieg das Land lähmten, ging es uns wie vielen anderen zunächst einmal ums nackte Überleben. Danach folgte der schwierige Neubeginn. Wir haben nie wirklich einen Einstieg gefunden. Zugegeben, das Hilfprojekt läuft gut, aber warum?
Weil wir im Grunde auf Pump leben, von der Unterstützung anderer abhängig sind, vor allem von Cornelius`Gnade. Das ist keine Dauerlösung . Wir müssten dazu übergehen uns ökonomisch unabhängig zu machen.“ schwärmte Elena unvermindert.
„Ach, und wie willst du das anstellen, wenn die Frage gestattet ist?“
„Sie ist es, Liebste. in dieser Kooperative finde ich eine gelebte Praxis. Deine Leute haben, ohne es zu wissen, damit begonnen, Kovacs Traum in die Tat umzusetzen. Ich bin hier, um zu lernen. Und ich lerne schnell, wie du inzwischen herausgefunden haben dürftest. Ich habe einen Traum. Ich möchte ähnliches auf dem Gelände der Abtei aufbauen und vielleicht darüber hinaus. Wer weiß. Deshalb muss ich so intensiv wie möglich Ausschau halten statt mich nicht im Müßiggang zu verlieren.“
Die sichtlich Enttäuschte musste sich wohl geschlagen geben.
Niedergeschlagen konnte sie ihre Enttäuschung kaum noch verbergen.
„Wir hatten vereinbart dass du vor allem mit mir kommst um dich ein wenig zu erholen.
Offensichtlich hast du das vergessen. Wann hattest du denn in letzter Zeit mal Gelegenheit richtig auszuspannen? Und jetzt willst du hier… Nein wirklich, Elena! Und was ist mit mir? Was ist mit uns? Gerade nach der letzten Nacht hoffte ich, das wir ein wenig Zeit für uns hätten.“
Elena rückte näher an ihre Geliebte, legte den Arm um deren Schulter und drückte sie an sich.
„Aber das möchte ich doch auch. Glaubst du, ich will den ganzen Tag rackern? Ich denke ein paar Stunden am Vormittag genügen. Uns bleibt noch genug vom Tag, Abende und Nächte ohnehin. Auch ich möchte an die vergangene Nacht anknüpfen.“
Madleens Augen begannen wieder zu leuchten.
„ Du bist so stur! Dich kann man auch mit dem stichhaltigsten Argument nicht überzeugen. Aber wenn du merkst, das es zuviel für dich ist, hörst du auf damit! Versprochen?“
„Versprochen! Ganz großes Ehrenwort!“ erwiderte Elena und gab ihr einen Kuss.
Das entlockte der Geliebten ein Lächeln.
„Was wird Tessa jetzt gerade tun?“, lenkte diese ab. “Wir müssen auch an sie denken. Verewigen können wir uns hier nicht . Irgendwann müssen wir zurück!“
„Zum Glück funktioniert die Kommunikation wieder. Ich spreche jeden Tag mit ihr. Sie wird ganz schön verwöhnt. Trotzdem vermisst sie mich. Auch nach dir hat sie sich erkundigt. Ich war egoistisch. Ab jetzt kommunizieren wir gemeinsam mit ihr. Ich weiß doch, wie ihr ineinander vernarrt seid.
Ich beginne zu bereuen, sie nicht mitgenommen zu haben. Es ist doch bedeutend friedlicher, als wir erhoffen konnten.“
„Sie würde sich wohl fühlen. Spielkameraden hat sie hier wahrlich genug. Aber wir konnten nicht ahnen, dass alles so problemlos verläuft. Ich habe alles noch in anderer Erinnerung.“ bestätigte Madleen.
„Beim nächsten Mal kommt sie auf jeden Fall mit. Dann können wir solang bleiben, wie es uns beliebt.“ schlug Elena spontan vor.
„Beim nächsten Mal. Du meinst, dass wir des Öfteren in diese Gegend reisen?“
„Na, was dachtest du denn. Es ist deine Familie. Ich bin gerade dabei, mich in diese Lebensweise zu verlieben. Doch für das nächste Mal müssen wir alles besser organisieren .“
Elena lehnte sich an die Banklehne, strich sich die Haare zurück und blickte den am Himmel dahin ziehenden Wolken nach. Was für ein schöner Tag.
„Ach ja, wir dürfen auch die Versammlung heute Abend nicht vergessen,“ erinnerte sie sich.
„Du bist unmöglich, Elena. Du kannst an gar nichts anderes denken, als an den nächsten Schritt.“
Ich hatte mir eine andere Gestaltung des Abends vorgestellt. Aber du hast zugesagt, also werden wir auch erscheinen müssen. Ich will nur hoffen, die verzetteln sich nicht wieder so mit ihren Kleinkram. Die sind alle für ihre ausufernde Disskussionsfreudigkeit bekannt.“
„Wo findet der Abend statt? Hier bei euch?“
„Nein, dafür würde der Platz nicht ausreichen. Die haben auch die Anwohner der entlegenen Siedlungen informiert Es gibt eine große Kulturhalle, etwa zwei Kilometer von hier entfernt, die wird für alle möglichen Anlässe genutzt.
Da passen gut 500 Leute rein. Ich denke, so viele werden auch erscheinen. Wann bekommen die schon mal so eine Attraktion präsentiert?“
„So viele? Sagtest du nicht, dass ein Großteil der Bewohner vor den Kämpfen in den Süden geflohen ist?“
„Schon! Geblieben sind die Hartnäckigen. Alles in allem sture Köpfe, denen auch der heftigste Gegenwind nichts anzuhaben scheint. Vor der Revolution lebten hier gut dreimal so viel. Da konnten wir sogar einen permanenten Zuzug verzeichnen. Die Leute kamen aus allen Gebieten des Landes, weil hier noch eine relative Freiheit herrschte. es ist sicher nicht vermessen von Autonomie zu sprechen. Den Regierenden war das natürlich ein Dorn im Auge. Die setzten alles daran, uns möglichst viele Steine in den Weg zu legen. Widersprachen wir doch der allgemein gültigen Doktrin, dass es zu ihrem Wirtschaftskonzept keine Alternative geben durfte.“ klärte Madleen auf.
„ Ich erinnere mich. Ich muss dir gestehen, dass ich in meinen wirtschaftspolitischen Sendungen oftmals gegen den ausufernden Kommunismus im Norden gewettert habe.“ gestand Elena mit einem Anflug von tiefem Bedauern.
„Mit eigens dafür ausgesuchten Experten versuchte ich damals eine aggressive Stimmung zu schüren. Auch eine noch so kleine Alternative zur Wirtschaftshegemonie bedeutete schon Gefahr für die innere Ordnung. Wir forderten gezielte Gesetze für den eigenmächtig handelnden Norden. Doch was das Schlimmste an der Sache war. Indirekt forderte ich sogar den Blauen Orden auf sich dieser Sache anzunehmen.“
„Und der hat seine Leute in Bewegung gesetzt. Einer davon war Rolf.“ erinnerte sich Madleen. Beim Vernehmen dieses Namens bemerkte Elena einen bohrenden Schmerz in der Herzgegend. In ihr Bewusstsein drang die wenig schmeichelhafte Erkenntnis, dass sie durch ihre unqualifizierten Äußerungen indirekt ihren Beitrag zum Leidensweg ihrer zukünftigen Frau bei gesteuert hatte.
Schweigend richtete Elena ihren Blick zu Boden.Nach einer kurzen für sie sehr quälenden Stille durchbrach Madleen das Schweigen.
„Ich nehme an, Mutter hat ein wenig geplaudert. Deine Reaktion verdeutlicht das. Das hatte ich ihr zwar ausdrücklich untersagt, da es ausnahmslos mir obliegt, wann und wem ich meine Vergangenheit offenbare. Andererseits ist es in Ordnung, dann brauche ich es nicht zu tun. Ich… ich möchte nicht darüber sprechen. Noch nicht! Später, ja ich denke später. Im Moment bin ich einfach noch von einer Freude erfüllt, die ich mir nicht zerstören lassen will. Das verstehst du doch?“
„Selbstverständlich! Ich werde das Thema nicht an schneiden. Aber sei gewiss, wenn du einmal dein Schweigen brechen willst, findest du mich bereit.“
Elena bemühte sich unter Anstrengung, die Fassung nicht zu verlieren.
„Ach, wenn du möchtest, können wir einen kurzen Gang zur Kulturhalle unternehmen.“ meinte Madleen, sichtlich darum bemüht, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.
„Gern, wenn du meinst.“
Madleen griff nach der Hand der Geliebten, fast ruckartig zog sie diese von der Bank..
Hand in Hand schlenderten sie den Innenhof entlang und entschwanden durch den Torbogen ins Freie
Als Elena am Abend die große Kulturhalle betrat, war diese, wie nicht anders zu erwarten, bis auf den letzten Platz gefüllt. Es mussten sogar noch zusätzliche Sitzgelegenheiten bereitgestellt werden.
Nachdem sie die eigens installierte Tribüne betrat, erstarb das intensive an einen Bienenschwarm erinnernde Gemurmel. Stattdessen hätte man problemlos eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.
Offensichtlich schenkten viele dem Gerücht, das ihr Idol heute hier sprechen würde bis zu diesem Augenblick keinen rechten Glauben. Entsprechend groß war die Überraschung als sie ihrer ansichtig wurden,.
Schon nach kurzer Zeit machte die gespannte Stille einem tosenden Jubel Platz, der ihr einer Flutwelle gleich, entgegenbrandete.
Es war Elena, jene Elena,die in früheren Zeiten so viel an Schmutz über sie ausgegossen hatte. Verleumdungen, Verdächtigungen, bar jeglicher Logik. Das Verderben eines jeden liegt auf seiner Zunge. Worte sind nun mal wie Vögel, einmal freigelassen, bringt sie nichts mehr zurück. Wenn das je auf einen Menschen zutraf, dann auf Elena.
Doch dann gab es die veränderte Elena, die Hoffnungsträgerin, die Lichtgestalt der unmittelbaren Vorrevolutionszeit, die Siegerin der bisher einzigen wirklich freien Wahl in Melancholanien. Jene Elena, die so sehr hatte leiden müssen durch den Tod ihres Mannes und der anderen Gefährten und die lange Zeit der geistige Umnachtung anheim gefallen war.
Jene Elena, die nun im Süden des Landes in der nun wieder neu entstehenden Hauptstadt ein Hilfsprojekt ins Leben gerufen und langsam wieder ins Geschehen eingriff, auch wenn sie noch davon überzeugt werden musste, sich wieder in die Politik einzumischen.
Das eiskalte Herz aus der Tiefkühltruhe hatte schon vor Jahren damit begonnen, Wärme zu spenden, eine Wärme, die auch den größten Zweifler in den überzeugen konnte. Die alte Elena hatte sich im Nebel der Geschichte aufgelöst.
Elena vermisste ihre Gefährtin. Sie erschien nicht mit auf der Tribüne, hatte sich stattdessen unter die Massen gemischt. Dieser Abend gehörte einzig dem prominenten Gast aus dem Süden, sie wollte sich nicht in den Vordergrund drängen. Auch besann sie sich der alten Regel, dass ein Prophet in seiner Heimat nur sehr wenig gilt. Es schien daher angebracht, sich vorerst im Hintergrund zu bewegen.
Ein kleiner untersetzter und kahlköpfiger Mann bewegte sich auf Elena zu und machte Anstalten an ihrer Seite Platz zu nehmen. Er gab sich als Bürgermeister der zu einer Einheitsgemeinde zusammengefassten Siedlungen zu erkennen.
Er räusperte sich demonstrativ, als aber nach wie vor keine Ruhe einkehren wollte, holte er aus seiner Aktentasche eine alte Messingglocke hervor und begann wild gestikulierend damit zu läuten. Nach einer Weile verloren sich auch die letzten Gesprächsfetzen in der Stille.
„Hmm, nun ja, meine lieben Freunde, die ihr heute so zahlreich erscheinen seid …“ begann er auf recht umständliche Art eine Begrüßung.
„… Wie ihr bereits unzweifelhaft vernommen habt, ist unserer Gemeinde eine große Ehre zuteil geworden. Wir können heute einen sehr wichtigen Besucher in unserer Mitte begrüßen.
Auch ich wollte dem Gerücht anfänglich keinen rechten Glauben schenken, dass sie sich tatsächlich unter uns aufhält. Aber nun sitzt sie leibhaftig vor euch. Ich möchte Elena ganz herzlich willkommen heißen.“
Erneut setzte tosender Beifall ein. Die Angesprochene verspürte eine leichte Röte im Gesicht. Es war ihr peinlich. Was erwarteten diese Menschen von ihr? Ein Wunder? Da plötzlich erinnerte sie sich Kovacs Lieblingslegende, die er so oft zum Besten gab, immer dann, wenn sie in gemütlicher Runde beisammen waren. Die Legende von der bald auf Erden zu erwartende Avatarin, die alles richten könnte und die Menschheit in eine Art Goldenes Zeitalter zu führen gedachte. Hatten diese Menschen dort unten überhaupt Kenntnis von jener Legende? Bezogen sie diese etwa auf sie? Schnell wischte Elena diesen Gedanken beiseite. Einfach nur lächerlich. Hier ging es um handfeste ökonomische Fragen. Doch die passenden Antworten konnte sie nicht einfach aus dem Hut zaubern.
Erneut hatte der Bürgermeister alle Hände voll zu tun, um für Ruhe zu sorgen und musste sich wieder seines metallischen Hilfsmittels bedienen.
„Ich kann euren Enthusiasmus durchaus nach vollziehen, aber ich möchte doch um Ruhe bitten, Leute. Lasst Elena zu uns sprechen. Wir alle brennen darauf zu erfahren, was sie uns zu sagen hat. Welchen Rat sie uns auf dem Weg geben kann. Elena ich denke, ergreife doch einfach das Wort.“
Plötzlich wurde sich Elena schmerzlich der Tatsache bewusst, dass sie überhaupt nicht vorbereitet war. Nun sollte sie einfach zu den Menschen sprechen. Früher bereitete ihr das keine Mühe ,da sprach sie einfach aus dem Stehgreif, sich immer der richtigen Worte bedienend.
Und nun? Sie war einfach schon zu lange aus der Übung. In der zurückliegenden Zeit bot sich kaum eine Gelegenheit, ihr Redetalent zu schulen. In ihrem Inneren wimmelte es von Bildern, sie musste ihren Verstand ordentlich strapazieren um die rechte Worte zu finden.
„Entschuldigt, aber eure Einladung kam so überraschend, dass ich mich gar nicht recht vorbereiten konnte. Ihr seht mich also in einer etwas prekären Lage.
Mit Sicherheit gäbe es eine Menge, über das ich sprechen könnte, aber die Frage ist, ob ich euren Anliegen damit gerecht werde. Es wäre das einfachste, wir würden erst einmal eure Fragen sammeln. Was liegt euch auf den Herzen? Was interessiert euch am meisten? Wo und auf welche Weise bin ich imstande Rede und Antwort zu stehen? “
Der Bürgermeister signalisierte nickend seine Zustimmung.
„Eines aber dürft ihr auf keinen Fall von mir erwarten und das sind Wunder. Auch ich bin nur ein Mensch aus Fleisch und Blut. Zaubern kann ich nicht. Weder bin ich imstande, die sich bekämpfenden Truppenabteilungen verschwinden lassen, noch in Null Komma Nichts für blühende Landschaften zu sorgen. Setzt nicht zu große Hoffnungen auf meine Anwesenheit. Aber ich verspreche euch, ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um mich für eure Anliegen zu verwenden.“
Elena nahm wieder Platz, eisiges Schweigen erfüllte den Saal, ein Schweigen tiefer Beklemmung. Machte sich da etwa Enttäuschung bemerkbar? Mit was für Erwartungen waren die Leute gekommen? Hofften sie tatsächlich auf so etwas wie ein Patentrezept?
Das wäre fatal. Dem hatte sie kaum etwas entgegenzusetzen. Immer wieder begegnete sie solchen oder ähnlichen Situationen. Die Menschen begaben sich in eine geradezu infantile Abhängigkeit.
Ein älterer Mann mit eisgrauen bis zum Nacken reichenden Haaren und verhärmtem Gesichtsausdruck erhob sich und ergriff das Wort.
„Ich möchte einfach nur wissen, was aus der Elena der vorrevolutionären Zeit geworden ist. Ich denke noch immer an den Wahlkampf, den du damals so enthusiastisch führtest. Zu jener Zeit wußtest du immer ganz genau, was zu tun sei und du verstandest dich darauf deinen Vorstellungen rüber zu bringen, deshalb vertrauten dir die Menschen und gaben dir schließlich ihre Stimme. Wir alle sind im Bilde, wie es danach weiterging. Doch das ist nicht unser Thema. Wo, so frage ich dich, ist dein Enthusiasmus von einst geblieben? Alles schon vergessen? Damals hattest du Visionen. Hast du sie verloren? Oder warum glaubst du uns heute die Antwort schuldig bleiben zu müssen?“
Der Alte nahm wieder Platz und Elena fühlte sich in die Ecke gedrängt, denn sie musste sich eingestehen, dass er die Wahrheit sprach. Hier stand sie nun und rang nach Worten. Der Mann konnte nicht nachvollziehen, worum es damals wirklich ging. Ihr Wahlkampf war darauf ausgerichtet, die alten Machthaber vom Sockel zu stoßen, nur darauf kam es an. Ein eigentliches Programm gab es auch in jenen bewegenden Zeiten nicht, alles reine Strategie. Leere Versprechen, wie ihr Kovacs damals entgegenhielt. Wie Recht er doch damit hatte. Durch die unmittelbar auf die Wahl folgenden Ereignisse wurde Elena aus der Schusslinie genommen, hatte ihr Können nie unter Beweis stellen müssen. Aus diesem Grund war ihr Image als Lichtgestalt noch immer ohne Blessuren. Andere hatten den Kopf dafür hinhalten müssen.
Je mehr die Regierung unter Neidhardt und Cornelius an Ansehen verloren, desto höher stieg Elenas Pathos. Ob sie wollte oder nicht, sie war nach der kurzen Unterbrechung während ihrer Krankheit wieder zu jenem Idol herangewachsen, das sie in der Vergangenheit verkörperte. Immer deutlicher konnte man dies spüren, wenn man verstand, das Ohr an der rechten Stelle zu postieren. Elena galt zunehmend als die rechtmäßig Regierende, auf deren Stuhl ein anderer widerrechtlich Platz genommen hatte.
Die Versammelten hier im Saal hofften denn auch, dass Elena hierzu Position bezog.
„Ich möchte nicht lang um den heißen Brei reden. Es ist richtig, ihr seht mich ratlos. Ihr müsst bedenken, ich war lange krank und somit außerstande, ins Geschehen ein zu greifen. Viel Zeit ging mir dadurch verloren. Zeit, die andere geschickt für sich zu nutzen wussten.“ Elena vermied es geschickt, Namen zu nennen.
„Das ist ein Grund! Weitaus wichtiger aber ist jene Tatsache, dass sich die Verhältnisse in unserem Land im Gegensatz zur damaligen Zeit grundlegend verändert haben. Es gibt kaum noch etwas zu vergleichen. Geänderte Situationen verlangen in Folge dessen auch nach geänderten Strategien.“ Unbewusst hatte sie damit eine von Neidhardts Lieblingsthesen aufgegriffen. Doch es lies sich nicht von der Hand weisen, das eine solche Ansicht nicht einer gewissen Logik entbehrte.
„Melancholanien ist ein geschundenes Land!“ fuhr Elena schließlich fort.
„Revolution und Bruderkrieg haben tiefe Spuren hinterlassen. Viel Schreckliches ist geschehen. Weite Teile der Bevölkerung hatten sehr zu leiden. Nichts ist mehr wie es einmal war. Wir können nicht so tun, als sei nichts geschehen und einfach dort weitermachen, wo wir vor dem Putsch des Blauen Ordens einmal standen. Vielmehr müssen wir uns auf die geänderte Situation einstellen und entsprechend handeln.“
„Ach, und was sollen wir deiner Meinung nach tun?“ wollte eine Frau wissen, die aus einer dunklen Ecke nach vorne sprach.
„Das richtige Schlagwort, Elena!“ Pflichtete ihr der Bürgermeister bei, dabei etwas nervös in seinen Papieren kramend.
„Konntest du eine Strategie entwickeln? Ich meine, wie sehen deine Vorstellungen aus. Wir leben hier oben in einer Art Niemandsland. Sind auf uns gestellt. Das hat Vor- und Nachteile. Die Regierung im Süden interessiert sich kaum für unsere Belange, die haben uns wohl schon lange abgeschrieben. Das hat den Vorteil, dass wir relativ frei unser Leben gestalten können, mit weniger Repression zu rechnen haben als etwa die Leute in der Hauptstadt. Der Nachteil, wir sind natürlich auch von der Versorgung abgeschnitten und können kaum auf Hilfe rechnen.“
„Du lieferst mir das Schlagwort, Bürgermeister. Ihr seid auf euch gestellt und hier liegt eure Chance. Versucht diese in eurem Rahmen zu nutzen. Baut eure Autonomie noch weiter aus. Wenn es auch schwerfällt, werdet Selbstversorger, macht euch so weit als möglich unabhängig, schafft am Ende etwas Dauerhaftes, stellt die Regierenden vor vollendete Tatsachen.“
Da flackerte Kovacs Geist über der Versammlung. Elena erinnerte sich seiner Worte. „Eine libertäre Gesellschaft existiert von dem Moment an, wo Menschen beginnen, ihr Leben in großem Maßstab selbst zu organisieren!“
Im Hier und Jetzt beginnen, den Samen säen, aus dem in späteren Zeiten die Frucht der Freiheit wächst. Die Menschen hier hatte es getan, ohne sich der Tatsachen bewusst zu sein. Es bedurfte ihrer Ratschläge deshalb gar nicht. Sie mussten lediglich dazu angehalten werden, niemals in ihrem Enthusiasmus nachzulassen.
„Ihr habt gehandelt, all die Zeit schon. Ihr braucht meine Ratschläge nicht. Im Gegenteil, ich bin es, die noch von euch lernen kann.“
Ein Grummeln durchzog den Saal. Offensichtlich passte vielen diese Antwort nicht.
Ein untersetzter Glatzkopf erhob sich um seinem Unmut kundzutun.
„Also ich meine, wir alle sind heute hierher gekommen um von dir etwas Ermutigendes zu hören. Etwas dass uns eine Richtung weist. Wie könnte es weitergehen in der Zukunft? Und nun willst du uns sagen, dass wir die Zukunft schon haben? Oder wie soll ich das verstehen?“
„Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Genau so ist es. Ihr habt es unbewusst getan. Aber ihr habt gehandelt und das ist das Entscheidende. Tut es weiter und ihr seid auf dem rechten Weg. Mehr kann ich euch nicht sagen.“
Die Ironie lag auf der Hand. Da hatten Menschen schon vor Zeiten den rechten Pfad eingeschlagen und waren sich dieser Tatsache nicht einmal bewusst. Erwarteten nun von einer Person, von ihnen als eine Art Übermensch betrachtet, einen Wegweiser.
Die Frau aus der dunklen Ecke erhob sich noch einmal.
„Ich war dabei, an jenem Tag vor der Wahl, als du im Park von Manrovia sprachst, damals, als du allen Hoffnung machtest und du deine Schwesternschaft aus der Taufe hobst. Wir alle waren erfüllt mit guter Zuversicht. Was ist aus deinem Werk geworden? Für alle Zeiten, habt ihr damals gelobt, wolltet ihr zusammenbleiben und eure ganze Kraft in den Dienst der Menschen stellen. Und nun? Was ist übrig davon? Sag mir, was ist aus dem Versprechen geworden? Wo sind die Schwestern? Du ermutigst uns, das Begonnene fortzusetzen. Das ist sicher richtig! Aber wie sieht es denn in deinem eigenem Hause aus? Wie geht es weiter mit dem was du dort begonnen?“
Nun rumpelte es gewaltig in Elenas Seele. Die Frau hatte ihren Finger in eine offene Wunde gelegt und ihr wahrgesagt. Wo waren die Schwestern? Die Schwesternschaft ist tot, so hatte sie einst zu Colette gesagt, zu jener Person, die als einzige noch an dem Versprechen festhielt. Es kam Elena so vor, als bohre jemand gerade einen Speer weit in ihr Herz, so weh tat jene Erkenntnis.
Wahr gesprochen! Sie hatte kaum das Recht anderen kluge Ratschläge zu erteilen in punkto durchhalten und weitermachen, wenn sie selbst nicht dazu imstande war. Es galt sich an die eigene Nasenspitze zu fassen.
Da plötzlich kam es über sie. Wie sie einleitend richtig feststellen konnte, war sie selbst heute die Lernende und nicht jene, die da unten zu ihren Füßen saßen und ihrer Antwort harrten.
Sie hatte ihr eigenes Werk verraten. Die Schwesternschaft war der Kern ihres Lebenswerkes. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Was wäre, wenn ...? Ja, was wäre, wenn die Schwestern wieder berufen würden? Ein Neubeginn? Der Acker, der so lange brach gelegen, nun würde er von neuem bestellt. Plötzlich sah Elena die Welt mit ganz anderen Augen. Es ging weiter. Sie musste sich einfach wieder ins Geschehen ein bringen. Aktiv, so wie in den alten Tagen. Und Madleen würde an ihrer Seite stehen. Sobald sie wieder in der Abtei war, gedachte sie zur Tat zu schreiten. Vorerst aber wollte sie sich niemandem offenbaren, nicht einmal ihrer Geliebten, musste erst ganz sicher sein, genau abwägen, was dafür und was dagegen sprach. Doch das große Projekt, in diesem Augenblick war es wieder geboren.
„Ihr werdet euren Weg weitergehen. Was ich euch auf jeden Fall versichern möchte ist mein Versprechen, dass ihr nicht alleine bleibt. Mir schwebt etwas ganz Spezielles vor. Eine Art, nennen wir es einfach Netzwerk. Euer Beispiel sollte Schule machen, sich weiter festigen und noch besser organisieren. Andere werden folgen. Überall im ganzen Land werden Gemeinschaften entstehen, wie die eure. Jede wird sich selbst verwalten und organisieren, aber es bedarf eines Netzwerkes, um besser nach außen agieren zu können.
Ich verspreche euch, mich darum zu kümmern, sobald ich wieder in der Hauptstadt bin.
Vorerst jedoch, solange ich noch unter euch weile, möchte ich eure Art zu leben besser kennen lernen und studieren. Ich bitte euch, mich dabei zu unterstützen.“
Man konnte deutlich spüren wie sich die Spannung im Saal zu lösen begann.
„Ich kann dir versichern, Elena, dass wir dich sehr gerne unterstützen. Ich denke, ich spreche im Namen der meisten Versammelten hier. Alle werden dir bereitwillig ihre Aufmerksamkeit schenken.“ bot sich spontan der Bürgermeister an.
„Ich fühle mich in eurer Gegend sehr wohl. Ich werde mit Sicherheit immer wieder kommen. Immerhin habe ich hier eine Familie gefunden und einen Menschen, mit dem ich mein Leben zu teilen gedenke.“
Alle Augen richteten sich auf Madleen, die wie eine Tomate errötete. Es hatte sich längst wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass die beiden ein Paar waren.
Es folgte Applaus von allen Seiten, der sie noch mehr in Verlegenheit brachte. Sie rang sich ein Lächeln ab, ärgerte sich aber über die Tatsache, dass Elena sie in eine solche Situation brachte.
„Madleens Familie wird in Zukunft Ansprechpartner für euch sein. Richtet alle Anfragen an ihre Angehörigen, diese werden alles zu mir weiterleiten.“ bot Elena an.
„Wir werden mit Sicherheit auf dein freundliches Angebot zurückkommen. Auf jeden Fall bedanke ich mich schon mal für deine Bereitschaft.“ bekundete der Bürgermeister.
„Sag uns, Elena, wann kommt der Tag, an dem Neidhardt und sein gesamter Klüngel endlich von dannen zieht? Wann kehrt in Melancholanien die Freiheit wieder?“ rief plötzlich ein junger Mann von der Empore über ihnen. Damit brachte er Elena in eine schwierige Situation. Sie hatte nicht die Absicht, die Regierung unnötig zu provozieren. Elena war sich der Tatsache bewusst, dass man vor allem mit Vernunft und Augenmaß handeln sollte.
„Leider verfüge ich über keine genauen Informationen darüber, wann, wo und auf welche Weise sich das Reich der Freiheit entfalten wird.“ versuchte sie sich geschickt aus der Affäre zu ziehen..
„Ob hier in Melancholanien oder anderswo, überall müssen die Menschen dafür arbeiten. Ich denke, auch Neidhardt wird einmal akzeptieren, wie wichtig es ist, ein Land in Freiheit zu regieren und womöglich die nötigen Schritte herbeizuführen. Tut er es nicht, ist es unsere Aufgabe, ihn darauf hinzuweisen. Ich für meinen Teil bin immer für ein Zusammenwirken aller fortschrittlichen Kräfte. Für einen Dialog. Aber, jener Dialog muss auf Augenhöhe geführt werden, das ist das Entscheidende.“
Schweigen erfüllte den Saal. Es leuchtete ein, dass sich Elena vorerst nicht in vollem Umfang mit der Staatsmacht anzulegen wagte.
Nervös hummelte Madleen auf ihrem Sitz herum. Sie war sich der Brisanz bewusst. Elena durfte sich nicht aufs Glatteis führen lassen. Es bestand ohnehin die Gefahr, dass Spitzel des Sicherheitsdienstes zugegen waren und sich entsprechend Notizen machten.
Noch hielt Cornelius seine schützende Hand über Elena und alles, was mit ihr zu tun hatte. Doch wie lange würde dieser Zustand währen? Keiner konnte das mit Sicherheit sagen. Es war nicht auszuschließen, dass es gerade die Provokateure waren, die versuchten, Elena mit ihren Fragen in eine Falle zu locken.
Endlich lenkten weitere Fragende vom Thema ab. Wollten Informationen zu alltäglichen und zwischenmenschlichen Sachverhalten. Das entschärfte die Situation erheblich. Madleen hingegen begann sich fürchterlich zu langweilen. Wann endlich sprach der Bürgermeister das Schlusswort damit sie ihre Liebste wieder für sich beanspruchen konnte?
Schließlich, nach über drei Stunden intensiver Diskussion löste sich die Versammlung auf.
„Na endlich, ich hatte schon die Befürchtung, die quasseln durch bis morgen früh.“ beschwerte sich Madleen, als ihr Elena am Eingang gegenübertrat.
„Was is`n los? Warum bist du so brummig?“ wunderte sich Elena.
„Du nun wieder! Ich hab gedacht, ihr findet kein Ende. Musstest du denn immer neue Argumente einflechten?“
„Schade! Dann hat dir die Diskussion gar nicht gefallen?“ schien Elena zu bedauern.
„Mäuschen, wenn wir ein Paar werden wollen und ich denke, das begehren wir beide, musst du lernen, mit solchen Dingen umzugehen. Mir gefällt das auch nicht immer. Aber Elena besitzt eben nur ein eingeschränktes Privatleben.“
„Na, Prost Mahlzeit, da steht mir einiges ins Haus!“ ließ diese ihren Widerwillen erkennen.
„In der Tat! In unser Haus wohlbemerkt. Aber gut, dass du mich darauf ansprichst. Somit kann ich dir mein Vorhaben aus erster Hand offenbaren. Auch du wirst nämlich Teil dieses Lebens in der Öffentlichkeit sein.“
„Wie soll ich das nun wieder verstehen?“
„Ich war die Lernende heute und nicht die Lehrerin, wie es viele anwesende wohl erhofften. Denn während ich so auf dem Podium saß, überkam mich eine Erkenntnis. Ich habe einfach zu lange geschlafen. Ich muss wieder ins Geschehen ein greifen. Noch heute am Vormittag war ich mir sicher, dass es für mich keine Rückkehr in die Politik mehr geben kann, dass ich mich allein um das Hilfsprojekt kümmern möchte und das Leben in der alten Abtei wieder ein wenig zu gestalten gedenke. Nicht mehr und nicht weniger. Aber das war ein fataler Irrtum.“
„Ein Irrtum? Was meinst du damit? Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen?“
„Ich kann mich nicht länger raushalten. Ich stecke bereits seit geraumer Zeit tief drin. Ich werde wieder politisch. Die Kommune soll wiederbelebt und im alten Glanz erscheinen, angereichert durch die Erkenntnisse der letzten Zeit.“ klärte Elena weiter auf. Die Schwesternschaft erwähnte sie jedoch nicht.
„Ich... ich weiß nicht was ich sagen soll. Das klingt fantastisch und ich bin auch dafür, du wirst mich an deiner Seite finden. Andererseits jedoch bedeutet das noch weniger Privatleben, wie ich befürchte.“ stellte Madleen vorausschauend fest.
" Das befürchte ich auch! Diese Kröte werden wir schlucken müssen. Aber mit dir als meine Lebensgefährtin werde ich das alles mit Leichtigkeit bewältigen!“ erwiderte Elena, während sie den Weg hinunter zur Siedlung eingeschlagen hatte.
„Wie ich die Sache einschätze werde ich mich schon mal auf das Krötenschlucken einstellen Aber du hast Recht. Ich habe mich für dich entschieden. Die ganze Elena gibt es nicht. Aber wenn das Stück, das ich bekomme, das Größte von allem ist, trete ich den Rest gerne an die Allgemeinheit ab.“
Madleen schmiegte sich zärtlich an die Seite der Geliebten.
„Ich verspreche dir, es wird ein sehr großes Stück!“
„Sag mal, was ändert sich denn so alles in der Abtei, wenn du die Kommune reaktivieren willst. Ich meine auf was muss ich mich einstellen?“ wollte Madleen wissen.
„Es werden zunächst viele kommen, die dort leben möchten. Bisher haben wir nur einzelne ausgesucht. Das wird sich ändern. Wir müssen überlegen, wo wir die alle unterbringen. Es wird wieder so etwas wie eine feste Regel eingeführt. Regelmäßige Versammlungen, Zusammenkünfte. Vieles, was wir jetzt noch im Privatbereich tun, werden wir wieder in die Gemeinschaftsräume verlegen. Ich meine gemeinsame Mahlzeiten und sowas. Dann werden wir auch des Öfteren außerhalb unterwegs sein.
Aber das sind im Moment nur Skizzen. Wie sich alles entwickelt, kann ich nicht vorausplanen. Das wird uns die Zeit lehren. Im Moment bin ich einfach für vieles offen.
Ich werde alles präzise durchdenken, pardon, wir werden es durchdenken, wenn wir zurück sind. Jetzt bin ich erstmal hier mit dir. Nun werde ich mich erst mal umsehen, wie geplant.“
„Da kommt Gewaltiges auf uns zu. Du findest mich bereit. Aber hab Geduld mit mir. Nicht böse sein, wenn ich mal trotzig reagiere. Es ist doch nur so, weil ich dich so sehr liebe und ...“
Elena stoppte, zog die Gefährtin an sich und schloss sie in die Arme.
„Das weiß ich und ich liebe dich doch auch. Ich werde dir niemals böse sein. Nie im Leben, ganz gleich, was auch immer geschieht. Ich verspreche, es wird ausreichend Zeit für uns bleiben.“
Beruhig setzten die beiden ihren Weg fort. Natürlich ahnte sie zu jenem Zeitpunkt nicht, welch harten Prüfungen ihre Beziehung immer wieder standhalten musste und welch Übermenschliches gerade sie, Madleen, noch würde leisten müssen.
Als die beiden die rustikale Küche betraten, wurden sie von Annett schon in Empfang genommen.
Noch bevor Elena etwas sagen konnte, bestürmte sie die zukünftige Schwiegermutter.
„Sag mal, du willst die alte Komme neu beleben? Du gedenkst sie sogar noch ausweiten ? Eine tolle Idee, muss ich dir sagen. Hast du schon konkrete Vorstellungen?“
„Mutter, bitte! Was soll das? Lass Elena doch erst mal zur Ruhe kommen. Reine Theorie vorerst! Sie hat den Plan gerade erst entworfen!“ hielt ihr Madleen entgegen.
„Vielleicht lässt du Elena selber zu Worte kommen!“ beschwerte sich Annett.
„Ruhig! Ruhig ihr beiden! Ihr bringt es noch fertig, euch meinetwegen zu zanken. Das möchte ich ganz und gar nicht. Es ist so, wie ich es gesagt habe, Annett. Die alte Abtei steht unter Cornelius Schutz, verstehst du? Die ist so eine Art Sonderwirtschaftsgebiet, oder wie immer man es bezeichnen will. Alle, die auf dem Gelände Zuflucht suchen, sind dort vor Neidhardts Nachstellungen sicher. Das betrifft zunächst das Gebiet der Abtei und der Ländereien, die ihr direkt angeschlossen sind. Wenn nun andere Körperschaften der Gemeinschaft bei treten wollen, müssen wir eine Regelung finden.“
„Du willst damit sagen, dass sich ein x-beliebiges Gebilde eurer Kommune an schließen kann, sagen wir mal eine Fabrik, eine Agrar-Kooperative, womöglich auch ein ganzes Dorf oder ein Stadtteil, ganz gleich wo auch immer in Melancholanien.“
„Hm, gar nicht schlecht deine Überlegungen, komisch, das ich selber noch nicht darauf gekommen bin. Gut, dass du das sagst, das bringt mich auf eine Idee. Ja ... Richtig, so könnte es tatsächlich funktionieren. Prima Vorschlag, Annett.“ lobte Elena.
In Annetts Augen leuchtet die Begeisterung.
„Mutter, du willst damit andeuten ... Ja klar ... Du denkst daran, dass eure Agrargenossenschaft sich der Kommune direkt angliedert?“ mutmaßte Madleen.
„Ich denke, es kommt auf den Versuch an. Wir sollten es wagen. Wenn es klappt, könnte das Schule machen und einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“ meinte Annett.
Elena schwieg, aber man konnte ihr förmlich anmerken, wie es in ihrem Inneren arbeitete.
„ Wir sollten den Versuch wagen, als eine Art von Versuchsballon. Zu euch habe ich Vertrauen. Wir haben uns kennen gelernt und mögen uns. Und deine Tochter ist das Bindeglied. Wir im Süden, ihr im Norden, wir werden im regen Austausch miteinander treten, einander helfen, unsere Erfahrungen teilen.
Aber zunächst musst du selbstverständlich deine Familie in Kenntnis setzen und die anderen Mitglieder der Kooperative auch.“ schlug Elena vor.
„Na, die lass meine Sorge sein, die werde ich schon auf Linie bringen.“
„Das kann ich mir vorstellen! Weißt du, Elena, Mutti pflegt in solchen Situationen immer die Familie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Gut, in diesem Fall hat sie mich ausnahmsweise mal auf ihrer Seite.“ gab Madleen zu Besten.
„Das hat Seltenheitswert, Tochter! Aber gut zu wissen. Im Grund sind wir uns doch in den meisten Fällen einig, Madleen gibt das nur nicht gerne zu.“ erwiderte Annett.
„Spaß beiseite. Ich rede entweder noch heute Abend, spätestens aber morgen mit allen.
Ich gehe davon aus, dass es keinen Widerstand gibt. Im Gegenteil, die sind doch ebenso interessiert wie ich. Etwas Besseres kann uns gar nicht geschehen.“
„Wunderbar, dann nimmt unser Projekt schneller Formen an als erwartet.“ begeisterte sich Elena.
„Du wirst uns in allem unterrichten. Jeder und Jede ist hier gespannt, von dir zu lernen.“ fuhr Annett fort.
„Langsam, langsam, Annett. Zunächst einmal bin ich hier, um etwas von euch zu lernen. Das brachte ich schon deiner Tochter bei. Sag nicht, ich bräuchte das nicht. Es gibt eine Menge von Dingen die ich mir aneignen möchte und das kann ich hier auf hervorragende Weise.“ bog Elena schnell ab. Sie wollte vermeiden, dass sich hier schon wieder Menschen an sie klammerten.
„Kannst du dich denn solange freimachen von deinen Verpflichtungen zu Hause und möchtest du denn nicht deine Tochter wieder sehen“ wollte Annett wissen.
„Letzteres schon! Zugegeben! Das belastet mich. Aber ich werde es überstehen. Was die Verpflichtungen an geht, habe ich genügend Leute, auf die ich mich verlassen kann.“
Beim Sprechen dieser Worte spürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust. Denn sie musste sich eingestehen, dass sie gar nicht so sicher sein konnte, denn eine Person fehlte ihr besonders, Colette. Immer deutlicher wurde sich Elena der Tatsache bewusst, welch große Lücke Colette durch ihre Flucht hinterlassen hatte, wie sehr sie gerade diese "Große Schwester" vermisste. Wäre Colette noch in der Abtei, Elena bräuchte sich keine Sorgen zu machen. Wo mochte sie jetzt sein? Kein Lebenszeichen kam von ihr. Ich werde dich suchen, treue Freundin, die ich unbewusst so sehr verletzte und ich werde dich finden, dann bringe ich dich nach Hause und mache tausendfach gut, was ich an dir verbrochen habe.
Noch eine Aufgabe mehr, die sich Elena aufbürdete.
„Lasst uns darauf einen trinken!“ schlug Annett vor, öffnete die Tür des geschmackvoll gestalteten Küchenschrankes und holte eine kleine Flasche hervor.
„Aha, einen Schluck von Muttis bestem Kirschlikör. Weißt du, Elena den gibt’s bei ihr nur zu ganz besonderen Anlässen!“ klärte Madleen auf.
„Sehr richtig, Tochter! Und heute haben wir allen Grund um hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.“ meinte Annett und goß drei Gläser voll.
„Also auf das Neue, das vor uns liegt! Auf die Zukunft!“ lud Annett ein.
„Auf die Zukunft!“
„Auf die Zukunft!“
Dann leerten alle drei auf einmal ihre Gläser.
Annett trommelte die Familie noch am Abend zusammen und schwor diese auf das Vorhaben ein. Es gab kaum Widerstand. Lediglich Jörg hatte etwas auszusetzen. Es hatte den Anschein, dass er Elena nicht mochte. Dafür konnte er sich später von seiner Mutter eine Standpauke anhören. Sonst waren alle sehr zufrieden mit dem Plan und gespannt, wie sich alles entwickeln würde. Man wollte sich Zeit lassen, nichts überstürzen. Statt dessen mit Vernunft und Augenmaß vor gehen.
Fingerspitzengefühl war dringend geboten, Elena wollte Neidhardt nicht unnötig provozieren und es war zu erwarten, dass der sich ganz und gar nicht für ihren Plan begeisterte. Es bedeutete nichts geringeres als ein Staat im Staate, was Elena da im Schilde führte.
Und welcher Staatsmann lässt sich sein Land schon Stück für Stück aus der Hand nehmen?
Noch aber war es nicht soweit.
Elena war hier und würde sich zunächst in das Tagwerk ein bringen.
Und sie war frisch verliebt. Madleen forderte zu Recht ihren Anteil und den wollte sie ihr mit großer Freude geben.