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Gefangene Seele
Früher Morgen, die Sonne hatte sich gerade aus ihrem Wolkennest erhoben und bereitete sich auf ihren Aufgang vor. Panische Aufregung im Hauptquartier der Amazonen. Etwas Ungeheuerliches hatte sich zugetragen.
Die Wachen am Eingang meldeten das Eindringen einer ungebetenen Person. Schon in den nächsten Augenblicken hatte sich vor dem Eingangstor eine kleine Schar eingefunden um in Erfahrung zu bringen was sich ereignet hatte. Unter ihnen Daraya, Gomela, Hatifa ,Ayse und Manto.
Die beiden wachhabenden Posten schleiften eine Person zum Tor und warfen sie den versammelten Kriegerinnen vor die Füße. Die Gestalt verbarg ihr Gesicht im beigefarbenen Sand, der das gesamte Anwesen umgab, so als suche sie dort Schutz.
„Hebe deinen Kopf! Zeige uns dein Antlitz!“ Befahl Daraya.
Langsam, ganz zaghaft kam das Wesen der Aufforderung nach. Langes, schwarz glänzendes glattes Haar. Tiefblickende hellblaue Augen, fein geschnittene Gesichtszüge. Dazu ein schlanker, aber muskulöser Körper. Auf den ersten Blick konnte sie durchaus als Frau erscheinen, doch bei näherer Betrachtung fielen die Ungereimtheiten sofort ins Auge. Weniger im Gesicht, das durchaus als feminin betrachtet werden konnte. Vielmehr am Körper. Feine, aber für eine Frau zu groß geratenen Hände und Füße, schmale Hüften und eine flache Brust. Nein, es konnte sich hier nur um ein eindeutig männliches Wesen handeln.
Bekleidet war sie in der traditionellen Reitertracht der Schwestern. Enganliegende braune Wildlederleggins und einem gleichfarbenen, ärmellosen, zum Hals hochgeschlossenen Lederwams.
„Wo habt ihr sie gefunden?“ Wollte Daraya von den Wachen wissen.
„SIE? Äh… ja.. äh. Wir haben SIE erwischt, als SIE im Begriff war über eine unserer Leitern auf die Dachterrasse zu gelangen. Es war ein Eindringen. Damit hat… ER sich schuldig gemacht. Es ist doch ein Mann. Seid ihr denn blind? Er ist eingedrungen. Damit hat er gegen unser ehernes Gesetz verstoßen. Männer, die in eine Siedlung der Töchter der Freiheit eindringen, werden mit dem Tode bestraft.“ Antwortete Lygia, eine der Wachhabenden.
„Das stimmt natürlich. Aber zunächst müssen wir uns genau überzeugen. Ihr wisst auf was ich hinaus will?“ Erwiderte Hatifa.
„Klar! Runter mit der Kleidung!“ Antwortete Daraya im Befehlston.
„Du hast gehört was Daraya befohlen hat. Sie ist derzeit unsere Anführerin und für alle militärischen Angelegenheiten zuständig, weil unsere Königinnen Inanna und Aradia sich außerhalb der Siedlung auf einem Ausritt befinden, auch Ajana ist bei ihnen, die üblicherweise ihre Stellvertreterin ist.“ Versuchte Gomela im freundlichen Ton aufzuklären. Doch die angesprochene tat nicht dergleichen und schwieg. Kauerte sich nur auf dem Sand und blickte voller Demut zu Boden.
„Tust du es freiwillig, oder müssen die Schwestern nachhelfen? Ich rate dir es aus freien Stücken zu tun.“ Gab Daraya unmissverständlich zu verstehen und stemmte dabei die Fäuste in ihre Hüften.
Eine gespannte Situation. Peinlich zudem, für alle Anwesende. Was würde der/die Fremde tun?
„Ich zähle bis zehn. Solltest du bis dahin weiter im Nichtstun verharren, werden wir nachhelfen.“ Darayas Stimme klang bedrohlich.
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben…“
Langsam, ganz langsam begann die Person sich aufzurichten. Zunächst entledigte sie sich ihrer Weste und entblößte ihre nackte Männerbrust. Zaghaft streifte sie die Hosen nach unten und kroch aus den Hosenbeinen bis sie vollständig nackt vor den Frauen stand.
Nun gab es keinen Zweifel mehr. Es handelte sich unzweifelhaft um eine männliche Person, mit stark femininer Aura zwar, aber die bewussten Körperteile sprachen Bände.
„Tatsächlich, ein Mann. Schade. Ich hatte meine Zweifel und hoffte, dass sie sich nicht bestätigten. Damit ist wohl das Urteil gesprochen?“ Bedauerte Ayse.
„So ist es! Du bist ein Mann und in unser Territorium eingedrungen. Erwachsenen Männern aber ist es bei Todesstrafe verboten eine unserer Siedlungen zu betreten. Als vorübergehende Anführerin obliegt es mir das Urteil zu sprechen und den Zeitpunkt für die Hinrichtung festzulegen:“ Lautete Darayas Anordnung.
Die Person warf sich Daraya zu Füßen. Im Angesicht der drohenden Gefahr schien sie nun ihre Sprache wiedergefunden.
„Bitte! Ich flehe um Gnade! Es ist nicht so wie ihr denkt. Ja, ich sehe aus wie ein Mann. Ich wurde so geboren, so dass es alle glaubten. Aber ich versichere euch, ich bin kein Mann. Ich war nie einer und werde nie einer sein. Meine Seele ist weiblich. Ich denke, ich fühle, ich handele wie eine Frau. Und ich bewundere die Töchter der Freiheit. Ich verehre Inanna und Aradia. Ich wollte immer so sein wie ihr, seid ich denken kann. Ich bin zu euch gekommen, um eine von euch zu werden. Das ist mein Herzenswunsch. Ich kann mir vorstellen wie ihr darüber denkt. Aber ich versichere, dass es die ganze Wahrheit ist.“
Die umstehenden Schwestern nahmen diese Beichte mit Erstaunen zur Kenntnis. Darauf waren sie nicht gefasst. Ein Umstand der seinesgleichen suchte.
In der Vergangenheit kam es immer wieder vor, dass sich Männer in eine der Siedlungen schlichen, vor allem aus voyeuristischen Gründen, um die athletischen Kriegerinnen zu begaffen. Um zu sehen wie sie lebten, vor allem um Frauenpaare bei sexuellen Handlungen zu beobachten. Nicht selten wurden, vor allem jüngere, unerfahrene Schwestern entführt Sie galten als begehrte Trophäen und brachten einen hohen Preis auf den Sklavenmärkten der Fürstenstädte.
Viele Herrscher lechzten geradezu danach, sich eine Amazone in ihrem Harem zu halten.
Doch diese Geschichte war ein absolutes Novum.
„Was ist denn das für eine Ausrede? Du bist kein Mann? Natürlich nicht. Und was ist das hier?“
Daraya umgriff den Penis und zog die Person mit einem Ruck zu sich.
„Gib dir keine Mühe. Mich überzeugst du nicht mit dieser Geschichte. Und ich gehe davon aus, die anderen ebenfalls nicht.“
Noch immer hielt Daraya das Glied in ihrer kraftvollen Hand.
„Sag mir deinen Namen!“
„Ich… ich bin Ganymea*!“
„Daraya wollte deinen wirklichen Namen wissen und nicht jenen, den du dir ausgesucht hast.“
Forderte Hatifa auf.
„Aber… es ist mein richtiger Name! Einen anderen habe ich niemals anerkannt. Schon als Kind gab ich ihn mir und werde nie einen anderen benutzen.“
Daraya lies los und Ganymea sank niedergeschlagen auf den Boden zurück.
„Also, wenn ihr mich fragt, hört sich das alles recht überzeugend an. Ich glaube ihr.“ Bekannte Manto plötzlich. Eine Tatsache, die bei den anderen eine gewisse Ratlosigkeit auslöste.
„Hmm..,. da könnte durchaus etwas dran sein.“ Schaltet sich nun auch Ayse ein.
„Sie ist gekleidet wie eine von uns und ihr Gesicht wirkt tatsächlich nicht sonderlich männlich.
Was ist wenn sie …äh.. er.. wenn dieses Wesen die Wahrheit spricht?“
„Ach Unsinn, das beweist gar nichts. Sie ist hier eingedrungen und hat sich die Sachen einfach angeeignet, um uns zu täuschen. So ist es. Nein, unsere Gesetze sind eindeutig und danach müssen wir handeln.“ Lehnte Daraya streng ab.
„Bitte glaubt mir! Ich möchte doch nur eine von euch werden, das ist alles. Mit euch an der Seite kämpfen, gegen die Tyrannei, für die Freiheit aller versklavten und für die Freiheit der Frauen.“ Beschwor Ganymea weiter.
„Ich möchte nichts mehr hören. Ab mit ihr in unser Gewahrsamshaus. Dort wird sie bleiben bis wir uns entschieden haben. Ich möchte es nicht alleine tun. Wir warten auf Inanna und Aradia. Die sollen die Entscheidung treffen.“ Bestimmte Daraya. Daraufhin wurde Ganymea von den Wachhabenden weggeführt. Die Schwestern gingen derweil ihrer Wege.
„Ein weiser Entschluss Daraya! Ich bin froh, dass du dich so entschieden hast. Gerechtigkeit und kein unnötiges Blutvergießen, so lautet ein anderer wichtiger Grundsatz unserer Gemeinschaft.“ Erinnerte Gomela.
„Richtig! Ich wollte mein Gewissen nicht mit Blut beflecken. Einige unter uns scheinen ihm… äh… ihr zu glauben. Siehst du? Jetzt werde auch ich schon unsicher, als was ich sie betrachten soll. Ist sie nun Mann oder Frau?“ Gestand Daraya.
„Womöglich beides!“ Antwortete Gomela.
„Gibt es so etwas? Ich habe noch nie davon gehört?“
„Ich schon! Weißt du, im Palast meines Vaters fanden sich manchmal recht merkwürdige Gestalten ein. Einige waren wie Ganymea. Komisch, dass mir das gerade jetzt einfällt.“
Erinnerte sich Gomela.
„Inanna wird wissen was zu tun ist. Ich kann die Entscheidung getrost ihr überlassen. Damit ist die Sache für mich beendet.“ Erwiderte Daraya. Währenddessen erreichten beide ihr Haus.
Bange Stunden begannen nun für Ganymea, die in einem der Häuser untergekommen war die für gewöhnlich für Gäste zur Verfügung standen. Eigentliche Gefängnisse gab es bei den Amazonen nicht.
Wer würde wann welche Entscheidung treffen? Der Druck auf ihrer Seele wog wie eine tonnenschwere Last. Tod oder ein Leben in vollendeter Freiheit, einer Freiheit die sie sich nie wirklich hatte vorstellen können. Alles oder nichts.
Doch Ganymea war es im Grunde gleich. Besser ein schneller Tod, als weiterleben müssen wie bisher. Die Entscheidung stand schon lange fest. Nie würde sie in die Welt zurückkehren aus der sie gekommen war. Allein mit sich selbst, hatte sie viel Zeit zum Nachdenken. Nur selten sah eine der Wachhabenden nach ihr, versorgte sie mit Essen und Trinken.
Die Göttin hatte sie hierher geführt. Daran glaubte sie. Das gab ihr Trost und Zuversicht im Angesicht der drohenden Gefahr.
Zum Glück sollte Ganymeas Gefangenschaft nicht allzu lange währen. Bereits zwei Tage später kehrten Inanna, Aradia, Ajana und ein Tross weiterer Schwestern von ihrem Erkundungsritt zurück. Gleich nach ihrem Eintreffen berichtete Manto über die seltsame Gefangene in den Mauern.
Inanna berief für den Folgetag den Rat ein. Dort sollte eine endgültige Entscheidung getroffen werden.
Am Abend des Tages kam der Schwesternrat in Inannas Haus zusammen. Neben den beiden Königinnen hatte sich auch noch Ajana, Daraya, Gomela, Ayse , Hatifa und Teleri eingefunden. Manto war ebenfalls zugegen. Zwar gehörte sie nicht zum inneren Zirkel, doch hatte sie darum gebeten gehört zu werden.
Die Wachhabenden führten Ganymea in das Haus. Umgehend warf sich diese vor Inanna auf den Boden und küsste deren Füße. Alle Anwesenden, einschließlich Inanna selbst waren von dieser Geste angetan. Ganymea richtet sich auf, blieb aber auf dem Boden sitzen.
„Du bist also das männliche Wesen, das bei uns eingedrungen ist und behauptet, eine von uns werden zu wollen. So etwas hat sich bisher noch nie ereignet. Ich muss zugeben, dass mich das ganze etwas ratlos macht. Aber von mir, das heißt von Aradia und mir erwarten alle eine Entscheidung. Dein Leben liegt in unserer Hand, dessen bist du dir bewusst?“
Begrüßte Inanna den Eindringling.
„Absolut! Verfüge über mich wie es dir beliebt. Ich nehme dein Urteil an, wie es auch ausfallen mag. Der Tod könnte nicht schlimmer sein, als jenes Leben das hinter mir liegt. Aber ich möchte dir noch einmal bekunden, wie sehr ich euch bewundere und wie gerne ich eine von euch wäre. Leider kann ich es nicht beweisen.“ Lautete Ganymeas Appell.
„Doch! Das hast du schon getan! Indem du zu uns gekommen bist und in unsere Gewandung kleidest. Ich glaube dir.“ Bekundete Manto ihre Zustimmung, auch wenn sie sich dafür tadelnde Blicke der anderen einhandelte.
Inanna ging nicht weiter darauf ein, sondern setzte sogleich ihre Befragung fort.
„In dieser Siedlung haben Frauen und Mädchen Zuflucht gefunden, die unter der Herrschaft von Männern zu leiden hatten. Sie wollen frei sein von jeglicher Bevormundung und Demütigung. Hier können sie es. Ungestört von männlicher Einflussnahme. Die Natur hat dich zum Mann gemacht. Warum willst du wie eine Frau leben, da du doch die Vorzüge des Mannseins zu jeder Stunde genießen kannst.“
„Weil ich kein Mann bin. Mein Körper ist männlich, meine Seele aber war schon immer eine Frau.
Ich litt ebenso wie ihr unter der Herrschaft der Männer. Sie wollten mich zu einem der Ihren machen, mit allen Mitteln die ihnen zur Verfügung standen, aber es ist ihnen nicht gelungen.
Ich blieb standhaft, wenn sie mich auch noch so demütigten. Ich gehöre zu euch und möchte an eurer Seite für eure Rechte kämpfen.“ Entgegnete Ganymea volle Entschlossenheit.
„Aber warum solltest du das tun? Warum sollte ein Mann für unsere Rechte kämpfen? Warum sollte ein Mann auf seine Privilegien verzichten, die ihm aufgrund seines Körpers zustehen? Das ergibt für mich keinen Sinn?“ Wunderte sich Aradia.
„Für mich ebenfalls nicht!“ Stimmte ihr Ajana zu
„Versteht doch! Ich bin kein Mann, ich war nie einer und werde nie einer sein.“ Versuchte Ganymea den komplizierten Sachverhalt verständig zu machen.
„Ich weiß, dass es absonderlich klingt, aber es ist so. Wenn ich es euch doch nur beweisen könnte.“
„ Sie hat Inanna die Füße geküsst. Es heißt, ein Mann der unsere Königin berührt, würde auf der Stelle tot umfallen.“ Flocht Manto spontan die alte Legende ein. Von den Schwestern glaubte im Grund kaum eine daran. Für die Leute aus den umliegenden Dörfern aber handelte es sich um einen realen Fakt.
„Ach Manto, lass doch diese Geschichten weg. Legenden, Märchen, ersonnen von Leuten die uns schlecht reden wollen.“ Konterte Aradia, während Inanna selbst ins Grübeln kam.
„Wie ich schon zu Daraya sagte, gab es am Hofe meines Vaters immer wieder Besucher bei denen man ebenfalls nicht eindeutig entscheiden konnte ob es sich dabei um Männer oder Frauen handelte. Ganymea scheint also nicht die einzige ihrer Zunft zu sein. Es gibt andere.“
Schaltete sich Gomela ein.
„Na seht ihr, da haben wir`s . Damit wäre doch alles gesagt. Ganymea spricht die Wahrheit!“
Begeisterte sich Manto wieder.
„Außerdem dürft ihr nicht vergessen wie häufig man mich schon für einen Jungen hielt und da bin ich bei weitem nicht die einzige. Hier in unserem Lager gibt es eine ganze Reihe von Frauen, die sich ausgesprochen männlich geben.“
„Nun, das mag stimmen! Aber das ist doch etwas anderes. Auch wenn sie sich männlich geben, sie sind und bleiben Frauen. Ihre Körper sprechen eine deutliche Sprache.“ Erwiderte Ajana.
„Aber warum sollte das etwas anderes sein?“ Empörte sich Manto.
„Manto es genügt. Halte dich bitte raus. Im Grunde dürftest du hier gar nicht das Wort ergreifen. Du bist kein Mitglied des Rates. Wir dulden dich hier nur, weil wir es gut mit dir meinen.“ Glaubte Aradia sie zurechtweisen zu müssen.
„Inanna, du musst entscheiden. Ich habe es nicht getan, obwohl ich dazu befugt gewesen wäre, weil ich auf dein Urteilsvermögen vertraue. Deine Entscheidungen sind immer durch Weisheit begründet.“ Mahnte Daraya die Königin und weckte sie dadurch aus ihrem Tagtraum.
„Ich soll also nach eurer Meinung über Leben und Tod entscheiden. Ihr wisst, dass mir das ganz und gar nicht liegt.“ Antwortete die Königin mit einem Seufzer in der Stimme.
„Aber du musst es tun, du bist unsere Anführerin. Bei dir liegt es ein Urteil zu fällen.“
Forderte Aradia.
„Warum tust du es nicht Schwester? Auch du bist Königin, so wie ich. Ich bin mir bewusst warum du es nicht willst. Auch du hast Zweifel, deshalb schiebst du die Aufgabe mir zu. Und ihr anderen zweifelt auch, wenn ich mich nicht irre.“ Gab Inanna zu verstehen.
Schweigen senkte sich herab. Die Königin hatte einen wunden Punkt angesprochen. Gesetz war nun einmal Gesetz. Ganymea hatte ein heiliges Gebot gebrochen, dass üblicherweise mit dem Tode bestraft wurde. Lange schon wurde es nicht mehr verhängt und wenn, dann auch nur bei Männern, die sich gewaltsam Zutritt verschafften. Durfte eine der Königinnen aber einfach ein ehernes Gebot außer Kraft setzen?
„Es ist befremdlich einen Menschen zu verurteilen, den ich nicht einmal richtig kenne. Wir alle müssen uns erst einmal ein richtiges Bild von ihm verschaffen.“ Fuhr Inanna fort.
„Und wie willst du das machen?“ Wollte Ajana wissen
„Sagen wir mal so. Das Urteil ist noch nicht aufgehoben. Es wird aber auch noch nicht vollstreckt. Ganymea wird bei uns bleiben und die Möglichkeit erhalten zu beweisen, dass sie die Wahrheit gesprochen hat. Sie soll sich bewähren. Sie wird mit uns Seite an Seite kämpfen und ihr Können unter Beweis stellen. Wenn ihr das gelingt kann sie bei uns bleiben. Wenn nicht….“
Inanna stoppte. Sie brauchte nicht weiter zu sprechen, alle konnten sich ausmalen, was es bedeutete.
„Bist du bereit dich diesen Prüfungen zu stellen und an deren Ende das Urteil zu akzeptieren, das Inanna über dich sprechen wird?“ Wollte Aradia wissen.
„Ich bin bereit. Ich werde mich allen Aufgaben stellen und versuchen sie zu bestehen. Ich nehme jedes Urteil an. Lieber sterben, als auf diese Weise weiter zu leben.“ Antwortete die Angesprochene und es schien als habe sie ihren Mut wieder erlangt.
„Ein weises Urteil unsere Königin. Ich denke damit können wir alle leben. Am Ende wird die Göttin selbst das Urteil sprechen.“ Glaubte Gomela zu wissen.
„Ich finde es ungerecht!“ Beschwerte sich Manto.
„Aber warum denn? Ich denke Ganymea hat eine faire Chance bekommen. Sie kann sich glücklich schätzen.“ Entgegnete ihr Hatifa.
„Wenn eine Frau zu uns kommt oder ein Mädchen, werden sie sofort aufgenommen, ohne sich beweisen zu müssen. Ich finde das ungerecht, total ungerecht.“ Schmollte Manto weiter.
„Ja aber das ist doch etwas anderes. Es sind Frauen und dies ist eine Frauengemeinschaft. Das liegt doch auf der Hand.“
Lehnte Daraya Mantos Einwand entschieden ab.
„Ganymea ist auch eine Frau, auch wenn ihr Körper männlich ist. Warum soll das etwas anderes sein:“ Manto lies nicht locker.
Der Beginn einer endlos scheinenden Debatte kündigte sich an, deren Ende in einem undurchdringlichen Nebel lag. Auf diese Weise hätte die kleine Runde noch Stunden weiter diskutieren können, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.
Inanna blickte an die Decke ihres Hauses direkt zum Ausgang, über den sich der blaue Abendhimmel wölbte. Was für ein schöner Tag. Viel zu schön, um ihn mit sinnlosen Gerede zu füllen. Doch mussten sie sich andererseits dieser Problematik stellen.
„Es stimmt nicht das Frauen und Mädchen sofort aufgenommen werden, Manto. Auch sie müssen eine Probezeit durchlaufen, bevor sie sich uns endgültig anschließen können. Auch du hast eine solche hinter dir. Oder hast du das vergessen?“ Versuchte Aradia gegenzusteuern.
„Ach, und wie viele davon wurden am Ende fortgeschickt?“ Hakte Manto nach.
Wieder senkte sich Schweigen herab.
„Keine!“ Lautete schließlich Inannas Antwort. Dem brauchte man nichts hinzuzufügen.
Ganymea wurde einfach mit anderen Maßstäben gemessen.
Manto breitete die Arme aus und blickte in die Runde.
„Albern, das ganze Gerede ist einfach nur albern. Ist Ganymea eine Frau oder ein Mann. Blödsinn, einfach nur Blödsinn:“ Schimpfte Ajana laut.
„Ach und was würdest du tun, wenn du die Entscheidung treffen müsstest.“ Wollte Gomela wissen, die allem Anschein nach ebenfalls in Zweifel geraten war. Ihr sozialer Weitblick, den ihre Herkunft als Prinzessin ihr gewährte, begünstigte natürlich diese Einstellung.
Ajana erhob sich vom Boden.
„Ganz einfach, ich würde so handeln, wie es unser Gesetz vorschreibt. So und nicht anders. das ist meine Meinung. Ihr könnt von mir aus bis zum Nachmittag weiterreden. Ich werde mich daran nicht mehr beteiligen. Ich habe noch einiges zu tun.“
Schnurstracks verließ sie das Haus über die lange Leiter auf die Dachterrasse.
„Ajana hat Recht. Auch ich denke, dass wir nur unsere Zeit verschwenden. Tue das, was du für richtig hältst meine Königin. Ich beuge mich deinem Urteil, ganz gleich wie es ausfallen mag, auch wenn ich dem selbst nicht zustimmen würde.“ Stimmte Daraya zu und machte Anstalten ebenfalls den Raum zu verlassen.
„Aber der Rat ist noch nicht beendet.“ Mischte sich Ashe ein. „Ihr könnt doch nicht einfach alle gehen, bevor wir eine letztgültige Entscheidung getroffen haben.“
„Lass sie nur gehen. Wir sind im Grunde fertig. Es ist so wie es ist. Ich habe eine Entscheidung getroffen und danach werden wir vorgehen.“ Erwiderte Inanna.
„Aber wir haben noch nicht entschieden, wer über Ganymea wachen soll, während ihrer Bewährungszeit. Das sollte eine der erfahrenen Schwestern tun, eine aus dem inneren Kreis.“
Mahnte Aradia.
„Die Sache ist so brisant, dass es eine von uns Königinnen tun sollte. Ich würde es gerne selber tun, oder möchtest du diese Aufgabe übernehmen, Aradia?“ Erklärte sich Inanna schließlich bereit.
„Nein, ich lass dir gern den Vortritt, Schwester.“
„Gut! Also Ganymea, möchtest du mit mir kommen? Du wirst in meinem Hause wohnen und das Leben mit mir teilen.“ Lautete das grandiose Angebot.
„Ja! Ja das will ich! Es wird mir eine Ehre sein. Es gibt keine größere Auszeichnung für mich, als an deiner Seite zu leben.“ Begeisterte sich Ganymea wie ein kleines Kind, das sich über sein Lieblingsspielzeug freut.
Eine größere Erfüllung konnte es kaum geben im Leben einer von Schlage Ganymeas. Nie hätte sie sich träumen lassen der großen Inanna einmal so nahe zu kommen. Sie würde ihr dienen mit all ihren Kräften. Am Tische einer Göttin Platz zu nehmen schien kaum ein größeres Privileg.
Doch bei den verblieben Schwestern löste diese Ankündigung nur Erstaunen, wenn nicht gar Entsetzen aus. Ein männliches Wesen im Hause der Amazonenkönigin, das kam einem Sakrileg gleich. Bei allem Respekt und aller Einsicht, soweit sollte Inanna nun wirklich nicht gehen.
„Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein, Königin. Das darfst du nicht! Weißt du was das bedeutet? Ein Mann in deinem Haushalt, in direkter Nähe? Unmöglich!“ Empörte sich Daraya, die sich schon kurz vor dem Ausstieg aus der Dachluke befand und abrupt stoppte.
„Ich kann Daraya nur zustimmen. Das empfinde auch ich als Zumutung. Das untergräbt unsere Moral auf das Tiefste.“ Stimmte Hatifa zu.
„Auch ich finde es ganz und gar nicht in Ordnung! Schloss sich schließlich Ayse den Kritikerinnen an.
Aradia schwieg verwirrt. Was sollte sie tun? Sich ebenfalls gegen ihre leibliche Schwester stellen. Nein, das hatte sie noch nie in Anwesenheit anderer getan. Trotzdem erwarteten alle von ihr eine Stellungnahme.
„Ich respektiere Inannas Entscheidung, auch wenn ich sie nicht ganz nachvollziehen kann. Die große Königin ist weise und weiß genau was sie tut. Es mag gegen unsere Gebote verstoßen, könnte sich aber am Ende als heilbringend erweisen.“ Lautete die salomonische Aussage. Damit hatte sie sich geschickt aus der Affäre gezogen.
Die beiden Königinnen waren sich einig, damit war es beschlossene Sache. Die Gegenargumente der Schwestern wurden zur Kenntnis genommen und deren Meinung akzeptiert. Damit war allen genüge getan.
Der Rat war beendet, nach und nach entfernten sich die Schwestern. Zum Schluss verabschiedete sich auch Aradia, nachdem sie Ganymea mit einem letzten prüfenden Blick
genau gemustert hatte.
Nur Manto blieb noch eine Weile. Sie beschloss solange zu verharren, bis die, von ihr verehrte Königin,ihr zu verstehen gab, dass es an der Zeit zu gehen sei. Manto besaß im Umgang mit Inanna eine Art von Narrenfreiheit. Bei einem heranwachsenden Teenager konnte die Königin ohne weiteres ein Auge zudrücken. Inanna sah in ihr eine Art Tochter und genoss deren Nähe.
Ganymeas Gefühle schwankten. Auf der einen Seite war sie froh über Mantos Verbleib, sah sie in ihr doch von Anfang an eine Seelenverwandte und Verbündete. Mantos knabenhaftes Erscheinungsbild, die kleinen Brüste, die schmalen Hüften, der rassige Kurzhaarschnitt ließen darauf schließen, dass sie in eine ähnliche Richtung tendierte und ihrem angeborenen Geschlecht nicht allzu viel Bedeutung beimaß.
Andererseits konnte es Ganymea auch nicht erwarten mit dem unangefochtenen Leitstern der Amazonen unter vier Augen zu sprechen. Sie hatte ihr so viel zu sagen, ein Abend würde kaum ausreichen, um ihr Herz zu öffnen.
Inanna erhob sich von ihrem Sitz und schritt zu einem großen rechteckigen Korb, öffnete diesen und holte ihre schlichte graue Leinentunika hervor. Danach begann sie ihre Reitertracht auszuziehen und die Haustracht über ihren athletischen Körper zu streifen. Eleganten Schrittes näherte sie sich wieder der Mitte des Raumes.
„Nun Manto hast du draußen nicht noch was zu tun? Zum Beispiel nach den Pferden sehen und sie ,wenn nötig, versorgen? Das tust du doch üblicherweise um diese Zeit.“
„Du willst mich loswerden, stimmts? Lass mich raten. Du möchtest allein mit Ganymea quatschen? Hab ich recht.“ Erkundigte sich Manto in ihrer gewohnt lässigen Art.
„Erraten! Du kannst dir sicher vorstellen, dass es da eine ganze Menge zu bereden gibt.“
„Schon verstanden!“ Schwungvoll schoss die Angesprochenen in die Höhe und sprang wie ein kleines Äffchen auf die Leiter.
„Ich gehe! Aber ich komme wieder, um nachzusehen wie weit ihr gekommen seid! Lass dich nicht unterkriegen Ganymea. Bleib stets standhaft und ehrlich. Das beeindruckt Inanna.“ Dann erklomm sie die Leiter bis zur Dachluke.
„Sie hat dich gern! Wenn sie`s auch noch nicht zugeben will.“ Fügte sie im Flüsterton und vorgehaltener Hand hinzu bevor sie durch die Luke entschwand.
Nun waren die beiden endlich allein.
Ganymea kam sich recht verloren vor und starrte nur verlegen zur Decke des Hauses.
„Steh doch nicht da und starre Löcher in die Luft. Setz dich! Mach es dir bequem. Wenn du durstig bist, dort in dem Krug findest du frisches Wasser. Bediene dich einfach.“ Bot Inanna an und wies auf den Wasserkrug auf dem Tisch an der Wand.
Danach nahm sie selbst auf der aus einem Baumstamm geschnitzten Holzbank Platz, in halb liegender Stellung streckte sie ihre muskulösen, aber eleganten Beine aus.
Ganymea folgte der Einladung und setzte sich auf den mit einem flauschig weichen Schaffell bedeckten Boden, zog die Beine an ihren Körper und blickte zur Königin.
Sie war ,trotz aller Freundlichkeit ihrer Gastgeberin, deren Gefangene.
„Nun sind wir für die nächste Zeit zusammen. Wir müssen uns auf einander abstimmen. Bisher weiß ich noch nicht viel über dich und möchte mehr über dich erfahren. Das verstehst du doch?“
„Hast du die Sprache verloren? Vorhin, da warst du außerordentlich redselig.“
„Ich… ich bin einfach nur überwältigt. Nie hätte ich es mir träumen lassen einmal Gast in deinem Haus zu sein und zu deinen Füßen zu sitzen.“ Erwiderte Ganymea, noch immer voller Ehrfurcht in der Stimme.
„Du kannst dich gerne zu mir auf die Bank setzen. Niemand braucht zu meinen Füßen zu sitzen. Ach ja, Füße. Die hat mir noch keine geküsst. War ein neue Erfahrung für mich.“
„War es dir unangenehm?“ erkundigte sich Ganymea.
„Nein, nein. Ganz und gar nicht. Es ist nur nicht üblich, zumindest nicht in der Öffentlichkeit.
Ich bin eine Königin, die Schwestern respektieren mich als ihre Anführerin, aber sie sind mir Gefährtinnen und nicht meine Untertanen. Ich bin Gleiche unter Gleichen, genau wie Aradia auch. Unterwürfige Gesten sind nicht erforderlich. Ehrerbietung gilt ausschließlich der Göttin.“
Erwiderte die Königin.
„Das war mir nicht bekannt. Ich glaubte das eine Königin auch wie ein behandelt werden möchte.“ Wunderte sich Ganymea.
„Bist du jetzt enttäuscht?“
„Nein! Nein, eigentlich nicht. Ganz im Gegenteil. Das steigert die Bewunderung für dich nur noch umso mehr. Ja, du bist ein Mensch. Ein ganz normaler Mensch, aber was für einer.“
„Danke! Zu viel der Ehre.“
„Nein, dich kann man nicht genug ehren, für das was du den Menschen Gutes getan hast. Auch wenn ich deine Gefangene bin, bin ich mir dessen bewusst.“
„Du scheinst über einer gewisse Bildung zu verfügen.“ Stellte Inanna fest. Es war ihr sofort aufgefallen.
„Wo hast du sie dir erworben? Nur wenigen Menschen ist ein solches Privileg vergönnt. Wir achten in unserer Gemeinschaft darauf das die Schwestern zunächst lernen ihren Kopf zu benutzen, bevor sie mit dem Schwert zu üben beginnen.“
Eine direkte Frage, auf die es einzugehen galt. Das war nicht einfach, denn die Beantwortung würde ein Geheimnis offenbaren.
Damit würde sich Ganymea der Anführerin der Amazonen endgültig ausliefern.
„Ich.. ich habe es von den Tempelpriestern gelernt!“
„Von den Tempelpriestern. Du warst in deren Schule? Etwa bei Lato?“ Inanans Tonfall steigerte sich. Schon sah Ganymea ihren Schutzwall zusammenbrechen.
„Ja! Leider. Es war mir bestimmt selbst Priester zu werden. Eine Zeitlang hielt ich es aus und lernte begierig. Mir kam es aber vor allem darauf an Wissen zu erwerben. Ich wollte nie wirklich zu den Priestern gehören. Auf keinen Fall wollte ich am Opferdienst teilnehmen.
Als sie es dann doch von mir verlangten, bin ich geflohen.“ Offenbarte sich Ganymea.
Für einen kurzen Moment wirkte Inanna geschockt. Doch hatte sie schnell ihre Fassung wieder gefunden.
Da saß doch tatsächlich einer von Latos Schülern vor ihr. Hier in ihrem Haus, das von vielen Schwestern als Heiligtum betrachtetet wurde. Lato der übermächtige Hohepriester war einer ihrer Todfeinde. Doch was konnte Ganymea dafür?
„Das ist ein Ding. Das hätte ich nicht erwartet.“
„Bist du jetzt böse? Wirst du dich an mir rächen?“ Entsetzen sprach aus Ganymeas Worten.
„Sei ohne Furcht! Es gibt keinen Grund dich für die Gräueltaten verantwortlich zu machen, die in Latos Namen geschehen. Du bist aus seinem Einflussbereich geflohen, das spricht eindeutig für dich.“
Eine ganze Lawine rollte von Ganymeas Herzen.
„Ich danke dir große Königin der Schwertschwestern. Es war eine große Last, die ich mit mir herumtrug. Ja, ich sollte zu einem eurer Feinde gemacht werden. Aber für mich war jede Stunde in Latos Haus die Hölle. Ich musste einfach fliehen, denn im Herzen gehörte ich immer nur zu euch.“
„Ich kann nicht sagen wie die anderen Schwestern darauf reagieren. Deshalb schlage ich vor, dass du mit keiner anderen darüber sprichst, auch nicht mit Aradia. Ansonsten gibt es keine Geheimnisse zwischen mir und meiner leiblichen Schwester, aber in diesem besonderen Fall muss ich eine Ausnahme machen. Deine Offenbarung bleibt unter uns.“ Bot die Königin an.
Erneut küsste Ganymea die Füße der Königin. Sie war so vertieft in ihr Tun, dass sie gar nicht mehr davon ablassen konnte.
„Nana. Genug des Guten. Du brauchst meine Füße nicht gleich zu baden. Komm! Komm hier rauf! Setz dich einfach zu mir.“ Forderte Inanna ihren Gast auf.
Nur zaghaft kam Ganymea der Bitte nach, so als könne sie es noch immer nicht recht glauben.
„Darf,,, darf ich dich noch einmal berühren?“ Wollte Ganymea wissen.
„Aber das tust du doch die ganze Zeit. Und du siehst es ist nichts geschehen. Kein Blitz aus der Höhe der dich zu Asche verbrennt. Nein, unsere Göttin ist eine Göttin des Friedens und der Liebe, eine Göttin der Harmonie und Verständigung. Keine jener Rachegötter mit denen euch Lato Angst machen wollte. Sie ist anders. Sie trägt nicht einmal einen Namen, damit niemand ihre Kräfte missbrauchen kann.“ Kläre Inanna auf.
„Ich möchte gerne deine Hand halten, Königin.“
Inanna hielt ihr die rechte Hand entgegen und Ganymea griff nach ihr, drückte sie ganz sanft und begann sie zu liebkosen. Inanna schien von dieser Geste ergriffen. Nein, bei Ganymea handelte es sich nicht um ein männliches Wesen. Deren Seele war weiblich, davon konnte sie sich überzeugen. Es war gut möglich, dass die Göttin dieses Wesen gesandt hatte, um die ganze Schwesternschaft auf die Probe zu stellen?
„Bin ich dir zu aufdringlich?“ Erschrak sich Ganymes schließlich.
„Nein, nein, keineswegs. Ich finde es angenehm. Aber wir wollen es nicht in die Länge ziehen.“
Auf der Stelle ließ Ganymea die Hand der Königin los.
„Na, so war das auch wieder nicht gemeint. Du hast nichts Falsches getan. Es ist nur so ungewöhnlich. Ich denke wir sollte es im Moment dabei belassen. Gab Inanna zu verstehen.
Ganymea nickte und signalisierte ihr Verständnis.
Die Königin erhob sich von ihrem Sitz und schritt im Anschluss langsam durch den Raum, den Blick dabei nach unten gerichtet.
„Ich muss nachdenken. Verstehst du? Ich muss gründlich über alles nachdenken. So einen Fall hatte ich noch nie zu entscheiden. Aus diesem Grunde muss ich ganz besonders achtsam sein.“
Nach einer kurzen Zeit des Schweigens richtet sie ihren Blick nach oben, Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt.
Sie wandte ihren Kopf und blickte wieder zu Ganymea.
„Manto hat Recht. Ich mag dich. Ich mag dich von Anfang an. Aber ich darf es nicht zu deutlich zeigen. Das ist ein Dilemma. Ich muss ein Urteil über dich sprechen und fühle mich schon jetzt befangen. Du bist eine Frau, andererseits auch wieder nicht. Es stimmt, dieses Haus hat noch nie ein männliches Wesen betreten.“
„ Die Göttin hat mich anerkannt. Sie hat meine wahre Seele erkannt.“
Glaubte Ganymea zu wissen.
„Das mag sein! Ich werde keinen Menschen zurückweisen oder gar töten lassen, auf dessen Schultern der Segen der Göttin ruht. Es kommt mir nicht zu ihr Urteil anzuzweifeln. Doch nicht alle Schwestern sehen das so. Du musst dich den Prüfungen stellen. Ich werde dir dabei helfen. Morgen beginnen wir zunächst damit deine Kräfte zu erkunden. Wir werden uns in allen Kampftechniken üben.“
Entschied die Königin, danach nahm sie wieder ihren Platz neben Ganymea ein.
„Ich bin bereit. Verlange von mir was du willst. Ich werde es tun. Ich werde um die Anerkennung der Schwestern kämpfen und ich bin davon überzeugt, dass mir diese am Ende teilhaftig wird.“ Gab Ganymea selbstsicher zur Antwort.
„In Ordnung! Du schläfst wie beschlossen bei mir im Haus. Ich werde dich keineswegs in die nächtliche Wüstenkälte verbannen, auch wenn andere es von mir erwarten.
Du kannst dir dein Nachtlager dort drüben an der Wand herrichten.“ Gebot Inanna und wies mit dem Zeigefinger in die Richtung.
„Wir sollten morgen früh ausgeschlafen zu unserem ersten Kräftemessen gehen.“ Fügte sie noch hinzu.
Ganymea tat wie ihr geheißen, noch immer voller Zweifel darüber, ob sie das alles real erlebte oder ob es ein Traum sei, aus dem sie möglicherweise schon bald unsanft und voller Enttäuschung erwachen müsse.
In der Nacht wollte sich kein Schlaf einstellen. Wen wundert`s! Zu viel stand auf dem Spiel. Obwohl sie sich offensichtlich das Vertrauen der Königin erworben hatte, war der Ausgang offen.
Immer wieder hob Ganymea den Kopf und blickte zur gegenüberliegenden Wand, dort wo Inanna ihr Nachtlager hatte.
Unerfüllte Sehnsucht nach einem Leben, dass das ihre hätte werden sollen. Doch dem war nun einmal nicht so. Ein Traum, es würde für immer ein Traum bleiben.
Inanna war Frühaufsteherin. Schon bald nach dem ersten Hahnenschrei erhob sie sich, um ihr Tagwerk zu beginnen. So war es auch an diesem Morgen. Sie fand Ganymea ebenfalls bereit.
Ohne Verzögerung machten sie sich auf den Weg.
Ein Stück harter Arbeit wartet auf den ungewöhnlichen Neuzugang. Inanna prüfte genau welche Kampftechniken Ganymea beherrschte. Sie begannen ihre Kräfte zu messen.
Aufgrund ihres männlichen Körpers war Ganymea den Schwestern gegenüber zunächst im Vorteil.
Doch das hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Gegen die kampferprobten Amazonen schien sie eindeutig die schlechteren Karten.
Trotzdem gelang ihr es sich gut zu schlagen, ein Umstand, der auch den Schwestern einen gewissen Respekt entlockte.
Schließlich konnte sich Ganymea sogar in echten Kampfeinsätzen bewähren, aufgrund der Tatsache das es in letzter Zeit immer wieder zu Aktionen verschiedener feindlicher Verbände kam. Es schien gut zu laufen, trotzdem schwebte über Ganymeas Haupt eine ständige Angst, gleich einem großen schwarzen Vogel, der seine Schwingen bedrohlich kreisen lässt.
Sie war und blieb ein Fremdkörper und das im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Umstand würde ihr dauerhaft zum Nachteil gereichen.
Wenn sie sich auch noch so bemühte und alles geduldig annahm was man ihr auferlegte. Ihre Seele blieb gefangen in einen Leib, der nicht der Ihre war.
Die Zeit verging.
Schließlich kam der Tag der Entscheidung. Es konnte nicht ewig so weitergehen.
Einige der Schwestern aus dem inneren Kreis forderten einen Zweikampf. Würde Ganymea unterliegen hatte das unausweichlich ihren Tod zur Folge. Würde sie hingegen siegreich aus diesem Kampf hervorgehen, war sie gerettet und konnte für immer bei den Amazonen bleiben.
Für Inanna eine äußerst bedrückende Situation. Wer sollte gegen Ganymea antreten? Sie selbst lehnte es kategorisch ab. Wer aber dann? Es blieb am Ende nur Aradia.
Ein Dilemma.
Wem sollte Inanna den Sieg wünschen? Sie wollte unter gar keinen Umständen eine der beiden verlieren. Doch am Ende konnte es nur eine Siegerin geben. Aradia war ein Teil von ihr, die jüngere Schwester war unersetzlich. Zudem war sie bisher ungeschlagen und das musste auf jeden Fall so bleiben. Durch eine Niederlage würde Aradia ihren Respekt, den sie in der Schwesternschaft besaß, einbüßen. Andererseits war ihr Ganymea, diese geheimnisvolle Fremde mit dem männlichen Körper in den zurückliegenden Tagen so sehr ans Herz gewachsen, dass ihr auch dessen Verlust viele Schmerzen bereiten würde.
Eine Zeit lang zögerte die Königin ihre Entscheidung hinaus, doch schließlich nahte die Stunde der Wahrheit.
„Ich bin bereit für den Kampf, Schwester. Lege einfach einen Zeitpunkt fest und ich werde zur Stelle sein.“ Erklärte Aradia nachdem sie durch die Dachluke in Inannas Haus gestiegen war.
„Gut! Dann soll es so sein! Wie ich sehe bringt es nicht viel darauf zu hoffen, dass ihr eure Meinung doch noch ändert!“ entgegnete ihr Inanna .
„Ich fürchte nein!“
„Zweikampf mit scharfen Waffen! Du kennst meine Meinung darüber und unser Gesetz. Eine Schwester darf niemals eine scharfe Waffe gegen eine andere ziehen. So haben wir es bisher gehalten.“ Erinnerte Inanna die kleine Schwester.
„Richtig! Aber Ganymea ist keine Schwester. Mag sie sich auch noch so geben. Sie ist und bleibt männlich.“ hielt ihr Aradia entgegen.
„Nein, das ist sie nicht!“ widersprach Inanna.
„Du bist auch dieser Meinung? Hätte ich mir denken können. Schon die Tatsache, dass du sie in dein Haus aufgenommen hast spricht eine deutliche Sprache. Es gibt neben dir inzwischen eine ganze Reihe von Schwestern, die ähnlicher Meinung sind. Zumindest sind sie im Zweifel.“
„Na also, dann lass uns diesen Wahnsinn beenden. Ich will kein unsinniges Blutvergießen zwischen zwei Schwestern. Was wollt ihr denn noch? Sie hat sich bewährt in vielerlei Hinsicht, sogar im Kampf. Dabei sollten wir es belassen.“ empörte sich Inanna
„Ja glaubst du denn mir würde es Spaß machen? Ich halte ebenso wenig davon.“ Gestand Aradia.
„“Wir sind uns also wieder einmal einig. Das ist großartig. Dann wäre ja alles gesagt. Dann brauchen wir nur noch das notwendige zu veranlassen. Wir sind Königinnen, also liegt die letztendliche Entscheidung ohnehin bei uns.“ Erwiderte Inanna.
„Aber wir stehen nicht über dem Gesetz. Du betonst es ja selbst immer wieder. Sicher, viele Schwestern betrachten Ganymea mit ähnlichen Augen wie du, oder auch wie ich. Andere aber hängen eben sehr an den Überlieferungen. Um eine Frau zu werden muss Blut fließen. Ein Mädchen, das im Begriff ist zur Frau zu reifen blutet, regelmäßig einmal im Monat wenn sich der Mond rundet.** Ganymea aber blutet nicht. Wie also könnte sie sonst zur Frau werden? Wenigstens durch einmaligen Blutfluss.“
Aradias Antwort schockierte, doch sie entbehrte nicht einer gewissen Logik.
„Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit außer dem Kampf!“
„Was willst du damit sagen?“
„Nun, einige Schwestern sind der Meinung, dass sich Ganymea von ihrer Männlichkeit trennen sollte. Jenem Körperteil der sie zum Manne macht. Das würde ihr einen Kampf ersparen. Dann könnte sie tatsächlich zu uns gehören.“
„Aber das ist doch Wahnsinn! Dann würde sie erst recht sterben. Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Dann doch eher der Kampf, dann hat sie wenigstens eine echte Chance mit dem Leben davon zu kommen.“ Lehnte Inanna kategorisch ab.
„Die heilkundigen Schwestern meinen, dass Ganymea auch überleben könnte, wenn man ihr die Männlichkeit nähme. Dann, wenn die Göttin schützend ihre Hände über sie breitet. Stirbt sie hingegen, so sei das der Wille der Göttin und zu respektieren.“
„Schluss jetzt! Ich will nichts mehr hören. Für was soll denn die Göttin noch herhalten. Sie ist eine Göttin der Liebe, der Harmonie und des Friedens. Sie benötigt keine blutigen Rituale. Das solltet ihr eigentlich wissen.“ Widersprach Inanna erneut, während sie im Begriff war sich in ihrer Kampfestracht zu kleiden.
„Der Kampf findet schon morgen statt. Ich möchte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Noch länger zu warten wäre nicht klug. Ich bereite Ganymea darauf vor.“
„Gut! In Ordnung, ich richte mich ebenfalls darauf ein.“ Entgegnete Aradia, danach bestieg sie die Leiter und entfernte sich langsamen Schrittes aus dem Haus.
Inanna sah ihr lange nach. Sie kannte ihre jüngere Schwestern gut genug um zu wissen, dass diese einen ehrlichen Kampf führen würde.
Die Gedanken wirbelten nur so in Inannas Kopf. Es war schon erstaunlich mit welchen Dingen sie sich herumschlagen musste. Was machte eine Frau zur Frau? Was ist entscheidend. Der Körper oder die Seele? Sie wusste sich keinen Rat. Würde Ganymea tatsächlich zur Frau, wenn sie sich von ihrer Männlichkeit trennte? War das so einfach? Nein es war komplizierter, viel komplizierter. Und gerade deshalb musste sie ihre Entscheidung sehr genau abwägen.
Am Abend des Folgetages fanden sich eine ganze Reihe von Schwestern auf den Dachterrassen der Siedlung ein, um dem ungewöhnlichen Kräftemessen beizuwohnen.
Die Hitze des Tages war einer angenehmen Abendkühle gewichen. Das würde den Kämpfenden die Sache erleichtern. Das zerklüftete Bergmassiv ringsum bot die ideale Kulisse für dieses Schauspiel. Voller Aufregung fieberte Ganymea diesem Ereignis entgegen. Eigentlich sah sie sich überhaupt nicht in der Lage zu kämpfen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum imstande war das schwere Bronzeschwert in der Hand zu halten. Ihr Herz raste und ihr Puls hämmerte. Wie in aller Welt sollte sie so in den Kampf gehen. Mit Aradia hatte sie eine kaum zu bezwingende Gegnerin. Im Grunde war ihr Todesurteil schon gesprochen, bevor sie sich dem Kampf auch nur stellte.
Wo war Inanna? Warum hatte sie die Königin im Stich gelassen? Hatte sie nicht noch gestern versprochen an ihrer Seite zu stehen.
Den ganzen Tag war sie ihr aus dem Weg gegangen.
Die Schwestern bildeten einen undurchdringlichen Kreis. Ganymea kam sich ausgesprochen einsam und verlassen vor als sie in dessen Mitte trat. Warum lies ihre Gegnerin so lange auf sich warten. Das steigerte ihre Aufregung nur noch umso mehr.
Nach einer Zeit, die Ganymea wie eine halbe Ewigkeit vorkam, erschien Aradia und nahm bedrohlich Stellung vor ihr ein.
In ihrer Kampfausrüstung wirkte sie monströs und einschüchternd. Doch die schöne Frau war noch immer sichtbar.
Der Kreis weitet sich, um den beiden Kontrahentinnen genügend Spielraum zu belassen.
Endlich konnte Ganymea nun auch Inanna in der vorderen Reihe erkennen.
Mit ihrem bezaubernden Lächeln sendete sie Ganymea Mut und Gelassenheit herüber.
Die Königin schien dem Kampf nur aus einer passiven Perspektive beizuwohnen. Es war Ajana die in die Mitte trat und die Regeln des Kampfes erläuterte:
„Ihr kämpft solange bis eine von euch Blut vergossen hat. So haben wir es gestern beschlossen und so soll es geschehen. Ihr seid euch im Klaren darüber was das bedeutet. Es wird ein fairer Kampf, hart aber gerecht. Ihr seid ganz auf euch gestellt. Keine der anwesenden Kriegerinnen hat das Recht zugunsten einer von euch aktiv einzugreifen. Aber anfeuern dürfen sie euch. Der Segen der Göttin sei über euch beiden und beschütze euch. Möge die Bessere den Sieg davontragen:“
Danach erhob Ajana die rechte Hand und lies sie im Anschluss nach unten fallen. Der Auftakt. Aradia und Ganymea kreuzten die Bronzeschwerter. Dann begannen sie aufeinander einzuschlagen. Im Grunde war es allerdings nur Aradia die am laufenden Band Schläge austeilte. Ganymea schien vom ersten Augenblick an in der Defensive. Es stellte sich sehr schnell heraus, dass sie der Meisterin nichts entgegen zu setzen hatte. Doch dann bemerkte sie nach kurzer Zeit, das Aradia keineswegs ihr ganzes Können in die Waagschale warf. Täte sie es, wäre Ganymea schon nach wenigen Hieben in die Knie gegangen.
Auch den Zuschauern blieb dieser Umstand nicht verborgen.
„Hey Aradia! Was ist denn los mit dir? Du schläfst ja ein. Was lieferst du uns denn hier für einen Kampf?“ Rief ihr Daraya entgegen.
„Lass sie doch! Aradia weiß schon was sie tut!“ Mahnte Gomela ihre Geliebte.
„Aradia versucht ihre Gegnerin zu schonen, das sieht doch jeder.“ Flüsterte Daraya in Gomelas Ohr.
Auf diese Weise zog sich der Kampf noch eine ganze Weile in die Länge. Dann schien sich das Blatt zu wenden Ganymea und holte deutlich auf. Natürlich parierte Aradia gekonnten den Hieben und zahlte diese im Handumdrehen zurück.
Inanna blickte sorgenvoll auf die Auseinandersetzung vor ihr. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als deren baldiges Ende. Am liebsten wäre sie sofort eingeschritten, doch genau das suchte sie zu vermeiden.
Mehrmals ging Ganymea zu Boden, konnte sich aber stets wiederaufrichten und ließ Aradia nicht zu nahe an sich herankommen. Die schien jetzt deutlich aufzuholen und setzte scheinbar alle ihre Kraftreserven ein. Was würde nun als nächstes geschehen?
Haarscharf sauste das Schwert an ihrem Kopf vorbei, doch es gelang ihr rechtzeitig auszuweichen. Dann spürte sie die Spitze an ihrem Rücken, doch sie blieb unverletzt.
Langsam, aber sicher ließen Ganymeas Kräfte nach. Das war vorauszusehen. Lange würde sie sich kaum noch auf den Beinen halten können. War das nun das Ende? Musste sie sich dem Unvermeidlichen fügen?
Zu ihrem Entsetzen spürte Ganymea nun auch noch einen starken schmerzhaften Krampf in ihrer linken Wade. Nun war es vorbei. Sie stürzte zu Boden und wälzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht im Sand.
Der Kampf war entschieden. Wann würde Aradia ihr ein Ende bereiten? Bange Augenblicke folgten Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen.
„Mach ein Ende Königin der Schwertschwestern. Ich füge mich meinem Schicksal!“
Aradia näherte sich und hielt ihr das Schwert vors Gesicht. Dann holte sie aus, hielt aber plötzlich inne. Sie ritzte eine kleine Wunde in Ganymeas rechten Oberarm, sogleich floss Blut hervor.
Danach hielt Aradia das Schwert in die Höhe und sprach: „Blut ist geflossen! Ganymeas Blut. Somit ist der Kampf entschieden und braucht nicht weitergeführt zu werden. So lautet unser Beschluss. Ganymea hat vor unser aller Augen Blut vergossen. Damit erfüllt sie das Gebot und ist sie von aller Schuld gereinigt. Ganymea ist eine Frau und sie gehört ab diesem Augenblick in unsere Gemeinschaft. Ich fordere euch alle auf sie als unsere Schwester anzuerkennen und willkommen zu heißen.“
Danach warf Aradia das Schwert in den Sand und zog sich den Bronzehelm vom Kopf.
Ihr hellblondes Haar kam zum Vorschein, dass sie begann ausschüttelten. Auf ihrem Mund formte sich ein herzliches Lächeln. Ihren Blick auf die noch immer im Sand liegende gerichtet, schritt sie auf sie zu und half ihr auf die Beine. Sie umgriff Ganymeas Taille und verabreichte ihr den fünffachen Schwesternkuss.
„Na, das hätte ich mir denken können. Da hat uns Aradia aber wieder ganz schön an der Nase herumgeführt.“ Beschwerte sich Daraya.
„Was hast du denn? Ich finde es gut! Damit ist allen Genüge getan. Niemand braucht sein Gesicht zu verlieren.“ Erwiderte Gomala.
In der Zwischenzeit war auch Inanna auf dem Kampfplatz erschienen schloss Ganymea in ihre Arme und küsste diese ebenfalls auf fünffache Weise.
„Meine Schwester Aradia hat weise gehandelt und sich als wahre Königin erwiesen. Töten kann jede, aber nur Königinnen können Leben schenken. So habe ich es mir gewünscht. Ganymea gehört wahrhaftig zu uns. Kommt alle her und begrüßt eure neue Schwester!“
Nach und nach kamen alle der Aufforderung nach. Die Küsse wurden reichlich verteilt. Noch nie in ihrem Leben durfte Ganymea so viel auf einmal davon schmecken. Sie schien geradezu in einem Rausch der Sinne. Alle Wünsche wurden mit einem Mal Wirklichkeit oder war es nur ein Traum? Lauerte doch noch irgendwo das böse Erwachen? Nein, es war real, so real wie der Mond, der sich gerade am östlichen Horizont erhob und sein silbernes Licht auf die Leiber der versammelten Amazonen ergoss.
Ganymea fühlte sich plötzlich unendlich frei. Jetzt, erst jetzt in diesem Augenblick fühlte sie sich tatsächlich geboren. Nie würde sie den Tag vergessen, den sie in Zukunft als ihren Geburtstag betrachten würde.
Manto stürmte in den Kreis und fiel der soeben erwachten Schwester um den Hals.
„Ich habs gewusst. Ich habs von Anfang an gewusst, dass du eine von uns bist. Jetzt gehören wir zusammen. Dein Weg ist mein Weg. Wir werden zusammen gehen, wenn nötig bis zum bitteren Ende.“
Es bildete sich eine lange Schlange. Auch viele andere der Schwestern wollten die Neue in ihrer Runde willkommen heißen.
Der überwiegende Teil tat dies aus ehrlichem Herzen. Aber da waren auch einige, die sich schwer damit taten und ihre Zweifel und Ressentiments Ganymea gegenüber noch nicht ganz aufgegeben hatten.
Einfach würde es die neue Schwester auch in Zukunft sicher nicht haben. Es lag in der Natur ihrer Sache.
„Wir müssen noch klären wo du in Zukunft wohnen wirst!“ Rief Inanna Ganymes in die Realität zurück. Damit schlich sich auch gleich ein kleiner Hauch Enttäuschung in die überschwängliche Freude.
Sie würde also nicht bei der Königin bleiben können. Davon war auszugehen. Das wäre einfach zu viel des Guten.
„Na bei mir. Ich meine damit natürlich bei uns. Meru und ich haben noch genügend Platz, den wir teilen können.“ Bot Manto spontan an.
Meru war, wie Manto, auch, eine junge Kämpferin, die sich noch in der Ausbildung befand. Auch sie eine knabenhafte Erscheinung, die mehr oder weniger zwischen den Geschlechtern schwankte. Seit einigen Wochen bewohnte sie gemeinsam mit Manto ein eigenes Haus.
„Das halte ich für eine gute Idee. Ihr werdet sicher gut miteinander harmonieren. Der Segen der Göttin sei über euch allen.“ Wünschte ihnen die Königin.
Nach einiger Zeit folgte Ganymea Manto in ihr neues zuhause. Es gefiel ihr auf den ersten Augenblick und auch mit Meru gab es keine Komplikationen. Die kümmerte sich sogleich um Ganymeas Wunde am rechten Oberarm. Jene Wunde, die Ganymea quasi zur Frau geschlagen hatte.
War sie nun am Ziel ihrer Träume? Niemand konnte das mit Gewissheit sagen. Nun würde der Alltag beginnen und sie hatte sich erneut zu bewähren. Doch mit den beiden neuen Gefährtinnen an ihrer Seite würde es ihr gelingen.
„Sei willkommen Ganymea. Jetzt gehörst du zu uns, zu uns, zu uns, zu uns….
Androgyna erwachte abrupt aus dem Schlaf. Sie atmete schwer, es schien als sei sie in ein Korsett gezwängt. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und blickte verwirrt in ihrem Zimmer herum.
Ein Traum. Sie war in der mythologischen Vorzeit der Amazonen. Nun hatte es also auch sie erwischt. Noch war der Traum in bester Erinnerung. Schnelles Handeln war geboten. Sie griff zum Diktiergerät, das sich stets griffbereit auf ihrem Nachtisch befand und schaltet es ein. Dann sprach sie hastig und ohne Pausen ihre Erinnerungen auf Band, dabei ständig von der Angst getrieben, wichtiges schon vergessen zu haben.
Sie war Ganymea, zweifellos. Damit stand wohl eindeutig fest, dass auch sie zum Stamm der legendären Amazonenschaft gehörte.
Was würde wohl Betül dazu sagen. Die war bisher noch immer nicht in diese mysteriöse Traumwelt eingetaucht. Androgyna lies ihre Gedanken rotieren. Nein, Kasuba war ihr nicht begegnet. Inanna war zu jenem Zeitpunkt noch nicht erkrankt und bedurfte keiner ständigen Hilfe. Kasuba würde erst später in deren Leben treten.
Die Unterschiede zur diesseitigen Welt waren offensichtlich. Inanna hatte sich als Colette manifestiert. In diesem Leben war die große Königin der Amazonen selbst in einem Männerkörper wiedergeboren und teilte ihr Schicksal. Welch eine Ironie des Schicksals. Was aber hatte das zu bedeuten. Das galt es herauszufinden. Androgyna würde in den Folgetagen einige tiefschürfende Gespräch zu führen haben.
Sie erhob sich und ging ins Badezimmer, hielt ihre Handflächen unter den Wasserhahn, um sich im Anschluss das Gesicht zu befeuchten. Sie bemerkte, dass sie durstig war und trank einen großen Schluck Mineralwasser.
Danach ging zu ihrem Bett zurück und setzte sich auf dessen Kante.
Wann konnte sie mit Colette darüber sprechen? Die würde kaum imstande sein die nötige Zeit dafür aufzubringen, denn die Ereignisse in Akratasien begannen sich zu überschlagen.
Warum wurden die Schwestern gerade jetzt, in dieser hochexplosiven Situation von diesen Traumvisionen heimgesucht? Jetzt, wo sie doch alle Hände voll damit zu tun hatten, zu retten was noch zu retten war.
Auf den ersten Blick schien das keinen Sinn zu ergeben. Doch blickte man tiefer, entschlüsselte sich der Grund im Handumdrehen. Die Schwestern aus der grauen Vorzeit hatten allesamt eine Botschaft, die sie an ihre diesseitigen Manifestationen weiterzureichen gedachten.
Auch die Urtöchter der Freiheit lebten in permanenter Gefahr. Ständig drohte die Schlinge um ihren Hals enger zu werden. Und schlussendlich kam es dann tatsächlich zur großen Niederlage und dem Untergang des frühzeitlichen Amazonenstaates.
Die Botschaften aus der Traumwelt enthielten allesamt Warnungen. "Seit wachsam!" "Haltet stets zusammen!" "Lasst euch nicht entzweien!" "Erkennt die Wölfe, dies sich, gekleidet in Schafspelzen bei euch eingenistet haben!" "Trennt Privates vom Gemeinschaftlichen!" "Lebt nicht abgehoben, wie in einem Wolkenkuckucksheim!"
So oder ähnlich ließen sich die Warnungen zusammenfassen.
"Lernt aus unseren Fehlern!" „Die Ahninnen fechten`s besser aus!“***
Androgyna wäre am liebsten gleich zu Colette gegangen. Doch der Blick auf den Radiowecker verdeutlichte ihr das sie damit noch zu warten hatte. Erst 3.30 Uhr. Betül würde von der nächtlichen Besucherin wenig begeistert sein. Die wachte stets an Colette Seite und hatte sicher ohnehin längst Verdacht geschöpft. War Betül eifersüchtig auf sie?
Das konnte sein. Doch lag nicht gerade hier der Kern des Problems? Waren nicht auch die Ahninnen aus Urakratasia an solchen Dingen gescheitert?
Umso wichtiger sich sobald als möglich mit den anderen auszutauschen.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Androgyna wälzte sich unruhig in ihren Kissen und ersehnte das Morgengrauen, dass jetzt, im tristen November ohnehin recht lange auf sich warten lies.
Akratasien taumelte in zusehendem Maße in sein Verderben. Seit Dagmar auf Cassian geschossen hatte, schien die Lage außer Kontrolle. Der neu in sein Amt erhobene Kanzler Dagobert sah sich gezwungen, nach längerer Hinhaltetaktik, dem Drängen der Patrioten nachzugeben und leitete gegen Dagmar und ihr Gefolge ein Verfahren ein. Die Beschuldigten entzogen sich der Verantwortung durch Flucht und gingen endgültig in den Untergrund, bereit jederzeit erneut zuzuschlagen, um Verwirrung und Chaos zu stiften. Sie verfügten über eine beachtliche Zahl von Anhängern, die ihnen sicheren Unterschlupf gewährten.
Elena blieb weiter verschwunden. Niemandem war es gelungen zu ermitteln, wo sie sich aufhielt. Befand sie sich noch in Akratasien, oder hatte sie sich an einen unbekannten Ort irgendwo in der Welt niedergelassen, um zur Ruhe zu kommen, um mit all den Querelen nicht mehr konfrontiert zu werden?
Madleen, blieb weiter an Cassius Seite dessen Aufstieg unvermeidlich schien. Ob sie sich dabei wohl fühlte konnte niemand in Erfahrung bringen, es schien auch keinen zu interessieren.
Colette trug die gesamte Verantwortung für die Schwesternschaft auf ihren Schultern und repräsentierte das untergehende Akratasien, obgleich ihr angeschlagener Gesundheitszustand eindeutig dagegen sprach.
Gabriela hatte sich überreden lassen nun doch als Spitzenkandidatin der Akratasischen Allianz in den bevorstehenden Wahlkampf zu ziehen, doch auch sie war nicht gesund und daher wenig vorbereitet.
Der Wahlkampf kam nur schleppend in Gang. Die Luft schien schon am Anfang auszugehen. Noch immer verfügte die Schwesternschaft über ein beachtliches Ansehen, vor allem bei den Gebildeten und Bessergestellten
sowie den zahlreichen ins Land gekommenen vor allem queeren Neubürgern, denen, sehr zum Ärger der Patrioten, in einer Blitzentscheidung das Wahlrecht zugestanden wurde.
Die Bildungsfernen, die Abgehängten, Enttäuschten, jene die sich benachteiligt und unverstanden fühlten, konnte sie nicht mehr erreichen, die hatten mit Cassian ihren neuen Heilsbringer, der ihnen beflissentlich nach dem Munde redete.
Elena war und blieb unersetzlich. Ohne sie machte es überhaupt keinen Spaß. Hätte sie aber tatsächlich das Ruder noch einmal herumreißen können? Das würde wohl auf ewig ein Rätsel bleiben.
Androgyna wollte helfen, irgendetwas tun. Auch wenn sie eine Ausländerin war und noch nicht all zulange zur Schwesternschaft gehörte, fühlte sie sich hier zuhause und geborgen. Die Vorstellung, diese Insel der Glückseligen bald wieder verlassen zu müssen ,schmerzte zutiefst. Als sie an die Wohnungstür der Königin klopfte war es noch sehr früh. Doch Colette war Frühaufsteherin und mit Sicherheit schon auf den Beinen.
Betül öffnete die Tür. Ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie nicht sonderlich begeistert war, die Nebenbuhlerin zu sehen.
„Ist Colette da? Ich müsste dringen mit ihr sprechen!“ Trug Androgyna kurz und knapp ihr Anliegen vor.
„Muss das sein? So früh am Morgen schon? Ja, sie ist da, aber ihr geht es nicht besonders und sie tut sich schwer damit in die Gänge zu kommen.“ Erwiderte Betül, mit deutlichem Unbehagen in der Stimme.
„Na gut! Wenn es nicht geht muss ich eben später wiederkommen.“ Androgyna machte Anstalten sich zu entfernen.
„Ach was! Komm schon rein. Aber es kann eine Weile dauern bis Colette soweit ist.“ Betül lies sie in die Wohnung eintreten.
Gemeinsam begaben sie sich ins Wohnzimmer. Androgyna zog zunächst ihre Stiefel aus, um sich dann auf der Couch niederzulassen.
„Ich habe gerade Tee gekocht. Möchtest du eine Tasse? Ist italienische Limone, den mag Colette besonders gern.“ Bot Betül an.
„Ja, gerne!“
Betül verschwand in der Küche und kehrte kurz darauf mit einem Tablett zurück. Sie verteilte die Tontassen und goss im Anschluss aus einer Kanne, die ebenfalls aus braunem Ton gefertigt war, sich und ihrem Gast ein.
„Am besten mit Honig genossen, das gibt ein gutes Aroma.“
Im Anschluss schwiegen sich beide eine Weile an, und genossen ihren Tee.
„Ähm, hast du Hunger? Das Frühstück steht schon bereit. Ich brauche es nur rüber zu holen?“ Wollte Betül wissen.
„Mach dir um meinetwegen keine Umstände.“
„Ach Unsinn, ist genug für alle da. Komisch das Colette noch nicht erschienen ist. Ist doch sonst nicht ihre Art!“ Wunderte sich Betül, um danach erneut in der Küche zu verschwinden. Ihre Nervosität war ihr deutlich anzumerken. So war es stets, wenn Androgyna zugegen war. Noch immer hatten die beiden keine Gelegenheit gefunden, sich auszusprechen, womöglich lag es daran, dass sie gar keine suchten.
Betül erschien mit einem großen Teller voll belegter Brötchen. Beim Eintreten wäre sie beinahe ausgerutscht, so sehr war sie von Hektik getrieben.
„Greif zu!“
Androgyna tat wie ihr geheißen. Erneutes Schweigen, diesmal konnten sie das Essen als Ausrede vorschieben.
„Weshalb bist du gekommen? Was gibt es denn so dringend zu besprechen?“ erkundigte sich Betül schließlich.
Androgyna verschluckte sich. Gerade darüber gedachte sie mit Betül auf keinen Fall sprechen, doch einen anderen Grund wollte sie nicht aus dem Hut zaubern.
„Hmm, also! Ähm, ich hatte eine Traumvision. Du weißt doch, eine dieser bewussten, aus der legendären Vorzeit. Von den Schwertschwestern. Ich scheine eine von denen gewesen zu sein.“
„Waaaas? Du auch? Das kann doch nicht… also wirklich, jetzt haut es mich um. Es ist einfach nicht zu fassen. Alle Schwestern bekommen sie, alle, eine nach der anderen. Nur ich nicht. Ich, die Colette so nahesteht, wie keine andere, Elena mal ausgenommen. Das ist nicht fair! Nein das ist ganz und gar nicht fair!“
Ereiferte sich Betül. Eine Reaktion mit der Androgyna gerechnet hatte. Hier war Eifersucht im Spiel, schlicht und einfach Eifersucht.
„Ich verstehe deine Reaktion, Betül. Aber ich kann doch auch nichts dafür. Es ist einfach so über mich gekommen. Ich habe es nicht willentlich herbeigeführt. Außer Elena und Colette vermag das keine von uns. Es tut mir leid, wenn es dich kränkt!“
„Ach was! Schon gut, schon gut! Schwamm drüber! Entschuldige meine Reaktion! Colette meint, es liege wohl daran, dass ich als Muslima, eine andere Sicht auf die Dinge hätte. Das kann ich nicht gelten lassen. Ich bin eine Sufi, wir sind ausgesprochen mystisch ausgelegt. Sufi war immer, schon von Anbeginn der Zeiten, warum also nicht bei bronzezeitlichen Amazonen? Ich beschäftige mich seit meiner Kindheit mit solchen Dingen und ausgerechnet bei mir stellen sich keine Traumvisionen ein.“ Blanke Enttäuschung sprach aus Betüls Worten.
Androgyna schien ratlos. Wie konnte sie darauf eingehen?
„In der grauen Vorzeit, sei ich nach Colettes Deutung Kasuba gewesen, die schöne dunkelhäutige aus einem weit entfernten Land. Trifft doch haargenau auf mich zu, diese Rolle nehme ich auch hier ein. Die von weit her Gekommene , die Exotin. Aber nichts: Nichts geschieht. Na, ich kann nur hoffen, dass es sich doch noch einstellt. Colette meint, es würde kommen und dann heftiger denn je.“ Fuhr Betül fort.
„Ich gehe auch davon aus, dass es sich bei dir noch einstellt. Colette hat Recht. Womöglich liegt es tatsächlich daran, dass du ihr sehr nahestehst und dein Schicksal mit ihrem eng verbunden ist. Heute, wie vor ein paar Tausend Jahren.“ Wagte Androgyna eine Antwort.
Betül blieb ruhig und gelassen. Sie musste einfach weiter in Wartestellung verharren.
Und wieder Schweigen, aber ein entkrampftes, ruhendes Schweigen.
„Also jetzt mache ich mir ernsthaft Sorgen. Was macht die denn solange da drinnen. Hat sie sich wieder hingelegt? Geht es ihr am Ende so schlecht? Ich gucke mal.“
Betül erhob sich, schritt auf die Schlafzimmertüre zu und öffnete diese.
„Aber das gibt`s doch gar nicht! Sie ist nicht da!“ Drang ihre laute Stimme herüber.
Androgyna folgte ins Nachbarzimmer.
„Das geht doch alles nicht mehr mit rechten Dingen zu. Wann ist die denn gegangen? Ich habe nichts bemerkt. Nichts, rein gar nichts.“
„Das kann nur bedeuten, dass sie schon weg war bevor ich kam. Oder sie ist aus dem Fenster gestiegen.“ Entgegnete Androgyna.
Betül hastet zum Fenster und öffnete es.
„Ach quatsch! Natürlich ist sie nicht darunter. Aber zuzutrauen wäre es ihr. Sie ist so eigenartig, in letzter Zeit, so völlig verändert seit Elenas Verschwinden. Ich habe langsam den Eindruck, dass sie auch zusehend in eine Depression taumelt.“
„Das würde mich nicht wundern. Die beiden sind Schwestern und dass seit fast 4000 Jahren. Sie verbindet ein unzertrennliches Band. Wenn eine leidet, leidet die andere mit. Sie sind hypersensitiv. Nicht auszudenken, wenn Elena tatsächlich etwas zugestoßen wäre.“ Mahlte Androgyna den Teufel an die Wand.
Erschrocken hielt sich Betül die Handflächen vor den Mund. „Oh Gott, nein, nur das nicht. Wir….wir müssen los. Wir müssen sie suchen.“ Wie von der Tarantel gestochen haste sie durch die Tür in den Flur und rannte den Gang entlang.
„Aaaaaandrogynaaaaa!“Los komm! Wo bleibst du denn?“
Androgyna folgte, versuchte während des Laufens die Stiefel anzuziehen, was ihr nur auf ungeschickte Weise gelang. Auf der Treppe wäre sie um ein Haar gestürzt. Endlich erreichten sie den Eingang. Draußen blieb Betül abrupt stehen, so das Androgyna beinahe mit ihr zusammengeprallt wäre.
„Ja und? Wo wollen wir suchen? Hast du einen Anhaltspunkt?“
„Nein! Natürlich nicht! Entschuldige! Ich war einfach so in Panik, dass ich für einen Moment den Kopf verloren habe. Lass mich überlegen. Welche Termine hat sie heute? Da war doch was. Ja, natürlich.“ Betül schlug sich mit der Handfläche auf die Stirn.
„Wahlkampferöffnung. Gabriela hat heute ihren ersten Auftritt als Spitzenkandidatin der Allianz. Zu blöd das ich das vergessen habe. Aber warum ist sie einfach gegangen? So früh. Ohne ihr Frühstück:“
„Wie du vorhin sagtest. Sie ist nicht mehr dieselbe. Dann tut sie eben auch Dinge, die wir von ihr nicht gewohnt sind. Sie hat einfach den Kopf voll. Die Sorge um Elena, die Verantwortung für ein Land, dass sich in Auflösung befindet, die Angst die Heimat und die Schwestern zu verlieren. Das ist zu viel für sie. Auch wenn sie es sich nicht anmerken lässt, sie bricht unter der Last zusammen. Wir müssen ihr helfen, wir beide zusammen, mit vereinten Kräften.“ Beschwor Androgyna.
„Du hast Recht! Vergessen wir unseren Zwist. Es geht um Colette, unsere Königin. Und wir lieben sie, alle beide. Ja, gib`s zu! Du liebst sie doch auch!“ Sagte ihr Betül auf den Kopf zu.
„Ja! Ja das tue ich es! So, nun ist es raus. Hass mich von mir aus ohrfeige mich meinetwegen, aber dann lass uns einen Plan schmieden, wie wir Colette noch besser unterstützen können. Die Zeit drängt. Es ist fünf Minuten vor 12!“
Colette befand sich derweil gemeinsam mit Gabriela in der Basilika.
Beide waren in Andacht versunken.
Eine Stunde später sollte es den Wahlkampfauftakt der Akratasischen Allianz geben. Auf Druck der Patrioten war der Wahltermin weit vorgezogen wurden. Dies traf die Schwestern hart, hatten sie doch kaum Gelegenheit sich gründlich vorzubereiten. Ein Desaster. Trotzdem wollten sie mit erhobenem Haupt in die Schlacht ziehen. Die Stimmung im Land war katastrophal, stetig sanken die Umfragewerte, während Cassians Patrioten triumphierten. Das Ende? War der akratasische Traum ausgeträumt?
Gabriela ging es zudem gesundheitlich nicht gut, Colette schien ebenfalls angeschlagen.
Beide Frauen hatten sich auf dem mit einem weichen, beigefarbenen Teppich ausgelegten Boden des Chorraums niedergelassen und blickten in Richtung Apsis. Durch die große Rosette über dem Portal der Ostseite drangen die ersten Sonnenstrahlen des aufziehenden Tages. Endlich hatte es zu regnen aufgehört. Dafür war es nun empfindlich kalt. Der Winter schien früh zu kommen in diesem Jahr. Für Ende November nicht ungewöhnlich, vor allem im Gebirge.
Kaltes, aber trockenes Wetter war einem frostfreien aber nassen Schmuddelwetter allemal vorzuziehen.
„Warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Kristin hat Recht. Ich hätte niemals meine Zustimmung geben dürfen. Ich habe Angst Colette, ich fühle mich Cassian nicht gewachsen.“
Klagte Gabriela. Zu Recht.
„Für einen Rückzieher ist es zu spät. Die Würfel sind gefallen. Zudem gab es keine Alternative.
Du bist die einzige die in Frage kam. Nur du besitzt ein Format, dass sich mit Elenas vergleichen lässt.“ Versuchte Colette die Schwester aufzumuntern.
„Du weißt, dass das nicht stimmt. Elena ist nicht zu ersetzen. Ich bin eine Notlösung, weiter nichts. Mir wird die Ehre zuteil die Töchter der Freiheit und die ganze Akratasische Allianz in die Niederlage zu führen. Wahrlich, eine wunderbare Aufgabe.“
Colette wollte etwas erwidern, lies es aber bleiben. Gabriela hatte die missliche Lage vollkommen richtig eingeschätzt. Da gab es nichts zu beschönigen.
„Blicken wir uns noch mal um. Unser zuhause, wir werden es verlieren. Es ist doch so? Nie hätte ich das für möglich gehalten. Cassian wird uns unsere Heimat nicht gönnen. Er liegt schon auf der Lauer, um sich hier sein Domizil einzurichten. Gemeinsam mit Madleen, als Königin an seiner Seite.“
Gabrielas Worte klangen wie ein Abgesang.
„Wir müssen uns auf das Unvermeidliche einstellen. Trotzdem werden wir kämpfen. Kämpfen bis zum bitteren Ende.“ Colettes Aussage sprach Bände. Auch sie glaubte schon lange nicht mehr an einen Sieg.
„Lass uns nicht weiter grübeln Gabriela. Das hilft uns auch nicht weiter. Wir wollen in uns gehen und Kraft aus jener Macht schöpfen, die uns bisher geleitet hat, ganz gleich wie wir sie auch benennen mögen. Vertraue darauf. Es wird dich stärken. Tue es immer dann bevor du einen öffentlichen Auftritt hast.“ Empfahl die Königin.
Beide versuchten sich zu konzentrieren, was ihnen zu Beginn nur unter großer Anstrengung gelang. Wessen Herz und Hirn voller Sorgen ist, vermag nur schwerlich loszulassen.
Die Dämonen stachen und wollten einfach keine Ruhe geben. Doch nach einer gewissen Zeit, langsam, ganz langsam begann sich Frieden einzustellen. Ruhiger, gleichmäßiger Atem erfüllte beider Körper und lies auch die Seele ihr Gleichgewicht finden.
Gabriela gelang es ihren ersten Wahlauftritt mit Bravour zu meistern. Viele Anhänger und Anhängerinnen hatten sich auf dem Vorplatz der Abtei versammelt und bekundeten lautstark ihren Kampfeswillen. Das verlieh der Spitzenkandidatin viel Kraft und Zuversicht.
Würde am Ende doch noch ein Wunder geschehen?
Etwa zur gleichen Zeit hatten sich Cassians Anhänger im großen zentralen Park der Hauptstadt eingefunden und feierten ihr Idol mit stehenden Ovationen. Es waren deutlich mehr.
Ein Ungleichgewicht der Kräfte. War die Wahl damit schon entschieden? Die Hoffnung stirbt zuletzt (immer).
*Ganymea ist die verweiblichte Form von Ganymed.
** Nach Ansicht einiger radikal-feministischer Gruppen, vor allem im Bereich des Ökofeminismus ist die Regelblutung die Voraussetzung um als Frau anerkannt zu werden. Für Transfrauen ist die geschlechtsangleichende OP zwingend. Der einmalige Blutfluss kann als Ersatz betrachtet werden.
Unoperierte Transfrauen sind und bleiben Männer und damit Fremdkörper, die nicht dazu gehören.
*** Abgeleitet von „Die Enkel fechtens besser aus!“ Spruch aus der Zeit nach dem verlorenen Thüringer Bauernkrieg der Jahre 1524/25