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Geteiltes Leid
„Sag mir die Wahrheit! Du brauchst mich nicht zu schonen Elena. Ich kann mir denken was es ist. Seit langer Zeit habe so etwas befürchtet. Multiple Sklerose nicht wahr?“
Colettes direkte Frage brachte Elena in Erklärungsnot. Sie konnte der großen Schwester nichts vormachen. Colette konnte man nicht belügen, auch wenn es sich dabei um eine positive Lüge
handelte.
„Ja! Ich fürchte so ist es!“ Nickte Akratasiens Kanzlerin. „Auch wenn es noch nicht ganz eindeutig ist. MS ist nicht gleich MS. Es gibt viele Varianten der Erkrankung. Der Verlauf lässt sich nicht genau bestimmen.“
„ MS, Parkinson, oder ähnliches. Ich bin innerlich darauf vorbereitet. Aber nun, mit der kalten Wahrheit konfrontiert, ist es am Ende doch wie ein Schlag ins Gesicht.“ Seufzte Colette und senkte dabei den Blick zur Tischplatte.
Elena ergriff deren Hände und drückte sie ganz sanft.
„Wir leben nicht mehr im 19 Jh. Die Wissenschaft hat große Fortschritte erzielt in letzter Zeit.
Wir können viel gegen diese Krankheit tun. Es gibt gute Medikamente und Therapien und außerdem bist du hier in den besten Händen der Welt.“ Versuchte die Jüngere zu beruhigen.
„Dafür bin ich unendlich dankbar, Ohne die Liebe und Fürsorge der Schwesternschaft wäre ich längst vor die Hunde gegangen. Vor allem du und Betül seid meine Glückssterne und die vielen anderen wollen wir natürlich nicht vergessen. Nicht auszudenken wenn ich noch jenes unstete Leben von damals zu führen hätte, heimatlos und ohne festen Boden unter den Füßen durch die Großstadt irrend, auf der Suche nach ein wenig Glück und Erfüllung. Tiefe Sehnsucht nach einem echten zuhause. Nach Geborgenheit, nach Ruhe und Einkehr. Nach einer Hand die sich schützend auf meine Schultern legt und die Mutlosigkeit vertreibt.“
Elena beugte sich über den Tisch und küsste sie.
„Es ist vorbei! Du hast es geschafft, du bist jemand zu dem man mit Ehrfurcht und Vertrauen aufblickt. Du bist unsere Königin! Du bist Colette von Akratasien.“
„Das bin ich wahrhaft! Aber alles was ich bin, bin ich allein durch euch und eure Liebe. Ohne diese Liebe wäre ich verkümmert wie eine Herbstrose im November. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein wenig Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Wehe dem dessen Leben nur aus Verzicht besteht. Ich habe es geschafft, nach einem schier endlos erscheinenden Kampf. Und nun? Ist der Traum zu Ende? Hat mich die kalte Wirklichkeit wieder eingeholt?“
„Wir können im Moment nur abwarten. Die Hoffnung ist, dass die Krankheit einen leichten Verlauf nimmt und in ihrem derzeitigen Stadium verharrt. Es spricht sehr vieles dafür, dass es bei dir der Fall ist. Vor allem dürfte dein Alter dir zugute kommen. Du bist Anfang 50, wärst du 30 oder gar noch jünger sähe es bedeutend schlimmer aus. Üblicherweise beginnen MS-Erkrankungen in diesem Alter und nehmen zum Teil sehr schlimme Formen an. Du hast gute Chancen, dass die Krankheit zum Stillstand kommt. Natürlich wirst du immer wieder Schmerzen haben, denen können wir aber mit der richtigen Medizin entgegen wirken. Auch mit Einschränkungen musst du leben. Deinen Gehstock benutzt du ja ohnehin schon seit längerer Zeit und übermäßige Anstrengungen werden dir zu schaffen machen. Aber, du bist nicht irgendwer. Du bist nicht allein in deiner Krankheit. Viele fürsorgliche Helfer werden dir zur Seite stehen, junge und unverbrauchte Menschen in der Blüte ihrer Jahre, bereit dir die Lasten von den Schultern nehmen.“
Colette lehnte sich zurück, breitete die Hände leicht zur Seite und betrachtet ihre Handflächen, danach richtet sie ihren Blick zur Decke, so als habe sie vor ein Gebet zu sprechen.
„So leicht kann es sein, wenn man jemand ist, der das Interesse der Öffentlichkeit erregt.
Aber all die namenlosen, all die abgehängten und vergessenen? Wie viele mag es wohl noch geben in Akratasien , von denen wir nicht einmal Kenntnis haben, Elena? Wir wollten so vieles besser machen. Und? Ist es uns gelungen, kleine Schwester?
„Gute alte Colette, ich liebe dein großes Herz. Aber du musst im Moment erst einmal an dich denken. Deine Gesundheit gilt es wieder herzustellen. Eben darum, dass du noch lange segensreich für alle wirken kannst.“ antwortete Elena mit einer Weichheit in der Stimme die Colette schon lange nicht mehr gehört hatte.
Die Königin erhob sich und schritt zum Fenster, schob die Gardinen ein wenig zur Seit und betrachtete die noch immer von einer dicken Schneedecke überzogenen Bäume des Grauhaargebirges.
„Und? Was kommt jetzt? Wie geht es weiter? Hast du einen Behandlungsplan?“
„Ich muss zunächst sicher gehen um was für eine Art der Erkrankung es sich handelt. Zu diesem Zweck müssen verschiedenen Untersuchungen durchgeführt werden. Du kommst nicht drum herum eine Lumbalpunktion vornehmen zu lassen. Dein Gehirnwasser muss untersucht werden. Bist du bereit dich für etwa ein bis zwei Nächte unten in der Krankenstation einzurichten?“ gab Elena zu verstehen.
„Hört sich ja toll an. Sicher bin ich bereit dazu, wenn es denn sein muss!“
„Du wirst für diese Zeit deine Aufgaben als Königin ruhen lassen. Der Eingriff ist nicht ungefährlich und kann zahlreiche Komplikationen nach sich ziehen. Kann, muss aber nicht. Deshalb ist es üblich sich für kurze Zeit stationär behandelt zu werden.“ Fuhr Elena in ihren Erläuterungen fort.
„Wirst du diesen Eingriff persönlich bei mir vornehmen?“ Wollte Colette wissen und nahm wieder am Tisch Platz.
„Äußerst ungern! Ich könnte es! Aber ich habe eine starke Abneigung gegen die Vorstellungen Leuten die mir sehr nahe stehen weh zu tun. Es gibt genug fähige Ärzte die das übernehmen können. Aber wie ich dich kenne möchtest du ausdrücklich von mir behandelt werden.“ Vermutete die Kanzlerin völlig richtig.
„Das wäre mir in der Tat lieber, auch wenn es für dich eine Zumutung ist.“ Bestätigte Colette.
„Nun gut! Dann soll es eben so sein. Ich muss mir für die Zeit frei nehmen und mich wieder von Dagobert vertreten lassen. Aber ich denke das lässt sich einrichten. Lass mich nachsehen.“ Elena studierte akribisch genau ihren Terminkalender, blätterte vor und zurück, dann wieder vor.
„Ja, am günstigsten ist es schon diese Woche, es liegt nicht sonderlich viel an. Übermorgen zum Beispiel. Kannst du dich terminlich eintakten?“
„Ja, ja! Kein Problem! Ich gebe Betül Bescheid, dass sie alles herrichtet.“
„Und ich leite in die Wege, dass dir ein Zimmer bereitgestellt wird. Du brauchst vor allem Ruhe. Außer mir, Betül und vielleicht noch Madleen solltest du von keinem andern belästigt werden.“
Elena griff zum Telefonhörer und hatte sogleich die Krankenstation am anderen Ende der Leitung.
Colette erhob sich erneut, ging zunächst zum Fenster ihres Wohnzimmers, verschränkte die Arme und blickte in die Ferne, während sie Elenas Telefonat lauschte.
„Gut, in Ordnung. Colette kommt dann gleich heute Abend um acht Uhr zu euch!“
Die Königin langte nach ihrem verstellbaren, metallenen Gehstock und schickte sich an die Wohnung zu verlassen.
„Äh, ja...ah. Besprich alles Weitere einfach mit Betül. Die weiß was zu tun ist, bedeutend besser als ich selbst. Ich geh jetzt in die Basilika. Heute ist Sprechtag. Ich... ich muss das alles erst mal verdauen.“ Verabschiedete sie sich. Dann verließ sie ihre Wohnung, schritt den langen Korridor entlang bis sie den Aufzug erreichte. Lies sich von diesem in das Erdgeschoss fahren und entstieg ihm dort. Bei schönen warmen Wetter pflegte Colette die Basilika stets von außen zu betreten, doch bei dem derzeit heftig fauchenden Schneesturm zog sie es vor den inneren Zugang zu benutzen, der über ein paar Winkel direkt vom unteren Flur in die Sakristei führte. Von da aus gelangte sie schließlich in den Altarraum.
Die Schreibtische wie immer besetzt mit den Sekretärinnen die ihr seit kurzem zur Verfügung standen. Im Kirchenschiff hatten sich nur wenige versammelt. Es versprach ein ruhiger Tag zu werden.
Colette lies sich in den großen Sessel aus grauem Plüsch fallen, lehnte sich an und legte sie Beine auf den ebenso farbigen Hocker und harte der Dinge die der heutige Tag noch bringen sollten. Sie führte einige banale Gespräche über Alltagsangelegenheiten, dass half ihr sich ein wenig abzulenken.
Am Abend bezog sie ihr Zimmer auf der Krankenstation und begab sie sich sogleich zu Bett.
Warum musste sie schon an diesem Abend hier einziehen? Betül fehlte ihr und Aischa. Die Kleine lag schon in ihrem Bettchen und schlief. Colette gedachte das gleiche zu tun und löschte das Licht.
Doch nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür und Betül trat auf leisen Sohlen ein.
„Schläfst du schon meine Liebe?“
„Nein! Ich freue mich dass du gekommen bist.“
Betül begrüßte ihre Frau mit einem sanften Kuss, dann umschritt sie das Bett und schlang von hinten ihre Arme um Colettes Kopf, wog ihn in ihren Armen, dabei sanft die Wangen streichelnd.
„Ich bleibe bei dir bis sich der Schlaf einstellt.“ Flüsterte sie ihr leise ins Ohr.
Colette lies sich fallen, gab sich all dem hin, in dem Bewusstsein sicher getragen zu sein, gleich was noch kommen mochte.
Langsam begann sie einzudösen.
Ihr Geist überschritt die Grenze zur Anderwelt. Im Gleitflug näherte sich Colette der alten Heimat ihrer Präexistenz und fand sich schließlich als Innana auf dem Dach ihres Hauses in der alten steinzeitlichen Stadt wieder.
Freiheit, grenzenlose Freiheit spürte Inanna wie etwas konkret Greifbares, als sie in die Weite blickte. Es schien als habe dieses Land sich selbst gegen die Anmaßung menschlicher Gier aufgelehnt und sich allen Eroberungsversuchen widersetzt. Als weigerte sich die karge zerklüftete Bergwelt mit all seinen Hochebenen, Schluchten und Tälern und der weite, schier unendliche Horizont, einen anderen Herrscher zu ertragen als nur die Macht der Elemente.
Tief atmete Inanna ein und aus und spürte zum ersten Mal seit langen wieder tiefen Frieden in ihrem Herzen.
Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und blickte nach Osten, dorthin, wo sich die glutrote Sonne soeben aus ihrem Wolkennest erhob um sich auf den Weg durch den Tag zu machen.
Noch war es angenehm kühl, doch noch im Laufe des Vormittages würde sich erbarmungslose Hitze, einem Glutofen gleich, über dem Land ausbreiten.
Die Häuser konnten auch tagsüber mit angenehmer Kühle aufwarten. Bei den Erbauern dieser Siedlung musste es sich um wahre Meister gehandelt haben, die auch auf das kleinste Detail achteten um eine wohnliche Atmosphäre zu schaffen.
„Geht es dir gut, meine Königin? Oder hast du Schmerzen und brauchst meine heilenden Hände?“ erkundigte sich Kasuba als sie sich Innana von hinten näherte.
„Mir geht es erstaunlich gut heute Morgen. So gut wie lange nicht mehr. Aber deine heilenden Hände sind stets willkommen.“ erwiderte Inanna.
Die Gefährtin legte sanft ihre linke Hand auf Inannas Bauch und schmiegte sich von hinten an. Mit den Fingerspitzen der rechten Hand fuhr sie ganz langsam und zärtlich über die Oberarme der Königin, bis sie deren Handrücken erreichte.
Inanna schloss die Augen und ließ ihren Kopf auf Kasubas linke Schulter sinken, dabei leise aufstöhnend.
„Warum nennst du mich noch immer meine Königin, Kasuba? Wir sind Schwestern eines Kämpferinnenbundes. Gleiche unter Gleichen. Mein Königinnentum hat symbolischen Wert. Du bist meine Gefährtin und Geliebte. Ich bin Inanna und sonst gar nichts.“ Wunderte sie sich.
„Du bist meine persönliche Königin. Die Gebieterin meines Herzens. Alle Liebe die ich in mir habe gehört alleine dir.“ erwiderte Kasuba und küsste im Anschluss die Wange ihrer Angebeteten.
„Deshalb möchte ich dich auch wie eine wahre Königin behandeln.“
„ All deine Berührungen tun mir unendlich gut. Seit du bei uns lebst, geht es mir deutlich besser. Ich weiß nicht ob ich noch hoffen darf.“ gab Inanna zur Antwort in der ein merklicher Unterton von Bitterkeit mitschwang.
„Du darfst die Hoffnung niemals aufgeben! Das wäre fatal. Dein Leben liegt in der Hand eurer Göttin, nein, unserer Göttin, denn in der Zwischenzeit habe auch ich zu ihr gefunden. Du warst es immer und du wirst es immer sein, eine Kämpferin, obgleich sich dieser Kampf erheblich von all dem unterscheidet was du bisher ausfechten musstest.“ Erwiderte Kasuba und hüllte die Amazonenkönigin dabei in ein Gespinst aus Liebkosungen und Küssen.
So verharrten sie eine ganze Weile, den Blick dabei in die Ferne gerichtet, so als erwarteten sie, dass ihnen von irgendwoher unerwartete Hilfe zuteil würde.
Inanna schloss erneut die Augen und blickte in ihr Inneres Selbst. Konnte sie den Wunsch der ihr so am Herzen lag heute verwirklichen? Ein Wunsch der mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden war.
„Weist du was ich mir im Moment am meisten wünsche?“
„Nein ,meine Liebe! Aber sag es mir und werde meinen Teil dafür tun, ihn zu erfüllen!“
„Ich war so lange nicht mehr draußen. Ausreiten möchte ich! Nur noch einmal auf den Rücken meiner Lura sitzen.“
„Wirklich??? Du willst wieder reiten? Das wäre phantastisch! Wenn du das möchtest werden wir es in die Wege leiten. Das ist gut, das ist sehr gut. Dann geht es dir in der Tat viel besser.
Ich glaube auch dass es dir gut bekommt. Ich werde dir dabei helfen. Du kannst dich voll auf mich verlassen.“ Entgegnete Kasuba mit einem Gesichtsausdruck der sowohl Freude als auch Besorgnis erkennen ließ.
„Ich möchte dir aber keineswegs zu viel zumuten!“ Lies Inanna gleich ihren Zweifel erkennen.
„Ach was! Ich bin bereit! Wir sollten aber nicht mehr all zu lange warten und die morgendliche Kühle ausnutzen. Komm mit nach unten. Ich werde alles vorbereiten während du noch eine Weile ausruhen kannst. Schlug Kasuba vor.
Gleich darauf kletterten beide wieder über die große Leiter ins Innere des Hauses.
Zunächst begann Kasuba ihre Königin umzukleiden, zog ihr die Knöchellange, ärmellose und bis zum Hals geschlossenen graue Tunika aus groben Leinen über den Kopf die sie für gewöhnlich im Haus zu tragen pflegte und rieb im Anschluss den nackten schweißnassen Körper mit einem Leinentuch ab. Danach begann sie Inanna in die traditionelle Reitertracht der Amazonen einzukleiden.
Zunächst die dunkelbraune eng anliegende Reiterleggins aus dünnem Wildleder mit seitlicher Schnürung, die bis etwa eine Handbreit über dem Knöchel abschloss. Ein ärmelloses Hemd und darüber die dunkelgraue spitz ausgeschnittene Wildlederweste die ihr bis zu den Knien reichte. An den Füßen die Riemensandalen.
„Du bist eine wahre Königin und deshalb sollst du auch wie eine erscheinen!“ Empfahl Kasuba und holte aus einer Truhe den blinkenden Kupferschmuck hervor. Einen Torques um den Hals und Armringe für jedes Handgelenk. Schließlich legte sie ihr die Kette mit dem kupfernen Anhänger um, das Symbol aller Amazonen, die Doppelaxt.
In Windeseile kleidete sich Kasuba selber um. Danach füllte sie zwei Tonflaschen mit Wasser und packte diese sowie alles was sie sonst noch benötigen in einen Leinensack.
„Komm lass uns aufbrechen, aber nur wenn du dir ganz sicher bist dass du es auch tatsächlich willst“ Forderte Kasuba.
„Ich will! Lass uns gehen!“
Zunächst musste erneut die steile lange Leiter genommen werden um auf nach oben zu gelangen. Dann spazierten beide Hand in Hand über die Dächer der Stadt, bis sie zur äußeren Mauer gelangten. Von da ging es etwa acht Meter in die Tiefe. Überall waren stabile Leitern ausgestellt, die bei Gefahr schnell eingezogen werden konnten. Es war für Inanna alles anderen als leicht diese Hürde zu nehmen. Kasuba hoffte, dass sich die Königin nicht schon jetzt bei dieser Kraftaufwendung verausgabte.
Die Stadt hatte sich inzwischen erweitert, auch außerhalb der schützenden Mauer gab es einige bewohnte Häuser. Das Vieh wurde ebenfalls außerhalb gehalten. Sie schritten ein Stück bis sie an den Pferdeställen angelangt waren.
Vor dem Stall zögerte Inanna einzutreten.
Kasuba bemerkte das und richtete sorgenvoll ihren Blick auf die Königin.
„Bist du dir sicher dass du es wagen willst? Du allein entscheidest. Noch können wir umkehren, auch wenn ich es schade finden würde.“
„Ich bin schon sehr lange nicht mehr geritten. Ein wenig Angst habe ich schon. Aber nein, ich möchte es. Ich glaube nicht, dass ich alles verlernt habe.“
Der große Stall war leer. Die anderen Pferde waren mit ihren Reiterinnen unterwegs. Aradia, Ajana, Daraya und die andern befanden sich schon seit dem ersten Hahnenschrei auf einem Erkundungsritt gen Süden. Dort gedachten sie in Erfahrung zu bringen ob etwas dran war an dem Gerücht dass seit einigen Tagen kursierte, nämlich dass sich ein großes Heer in Anmarsch auf die Siedlungen befand.
Solche Meldungen trafen immer wieder in den von den Amazonen kontrollierten Gebieten ein um für Angst und Verwirrung zu sorgen.
Einsam fraß Lura, die stolze schneeweiße Stute der Königin ihren Hafer, da erblickte sie ihre einstige Herrin. Ihre Blicke kreuzten sich. Leise wiehernd kam das edle Reitpferd auf Inanna zu.
Diese schritt ihm langsam entgegen, bis sie sich gegenüber standen.
„Lura, meine wunderschöne Lura. Erkennst du mich noch? Ich bin es, Innanna. Lange ist es her als du mich zuletzt getragen.“
Sanft ließ sie Amazonenkönigin ihre Hand über den Hals und die Schultern streifen. Schließlich umarmte sie ihr Pferd. Eine ganze Weile verharrten sie in dieser Stellung. Zwei aus einem Guss. Viele Jahre hatte die Stute Inanna in die Schlachten getragen. Es schien, als seien Pferd und Reiterin miteinander verwachsen, so sehr waren sie auf einander fixiert. Nichts gab es, dass sie hätte trennen können. Nichts, bis sich die Krankheit immer deutlicher bemerkbar machte und die unangefochtene Anführerin so stark behinderte dass sie das reiten aufgeben musste.
Seit jenen Tagen war Aradia die alleinige Oberkommandierende der vereinigten Amazonenscharen. Inanna fungierte hingegen als eine Art spiritus rektor. Das geistige und spirituelle Medium von dem alles ausging und zu dem alles wieder zurückkehrte. Sie schien so stark mit der namenlosen Göttin der Freiheit verbunden, dass es für nicht wenige den Anschein hatte, als seien sie und diese undefinierbare Göttin ein und dieselbe Person.
Die Anfangszeit litt Inanna sehr unter diesem erzwungenen Rückzug. Sie, die ihr Leben lang ihre Scharen vom Rücken ihres Pferdes hatte kommandieren dürfen, fühlte sich lebendig begraben. Depressionen meldeten sich und peinigten sie zusätzlich zu den schon vorhandenen Schmerzen.
Aradia hielt zu ihr. Holte sich ihren Rat, traf keine Entscheidung ohne sich vorher mit der großen Schwester abzustimmen. Das gab ihr Kraft und das Gefühl noch immer gebraucht zu werden.
Doch seit Kasubas Eintreffen begann sie wieder auf zu leben. Neuer Lebensmut erwachte, neue Hoffnung und neue Perspektiven taten sich vor ihr auf.
Inanna nähert sich ihrer Stute von vorn, nahm deren Kopf in beide Hände und drückte ihre Stirn an die Nüstern. Aus ihren Augen rollten Tränen, Tränen der Freude über das Wiedersehen, aber auch Tränen der Verzweiflung. Stille senkte sich herab und verwandelte den Pferdestall in eine Andachtsstätte. Die Anwesenheit einer
weiteren Person schien Lura nicht zu stören. Kasuba schien auf das Pferd beruhigend zu wirken. Das war sehr wichtig.
„Lura, meine Schöne, darf ich dir vorstellen, dass ist Kasuba! Komm Kasuba! Ihr müsst euch bekannt machen!“
Die dunkelhäutige Schönheit näherte sich dem Pferd von der Seite und legte ihre Handflächen auf dessen Schulter. Außer einem zarten wedeln mit dem Schweif folgte keine andere Reaktion.
„Sie hat dich anerkannt Kasuba, das ist ein gutes Zeichen. Es ist wichtig, dass ihr in Zukunft mit einander auskommt. Ich möchte dir mein Pferd anvertrauen. Wenn ich den Weg alles Irdischen gegangen bin gehört Lura dir.“
Die Angesprochene wusste im Augenblick nicht was sie erwidern sollte. Ein kostbares Geschenk, dass sie nicht zurückweisen konnte. Es war der Wunsch ihrer Königin und sie würde ihn erfüllen.
„Du machst mich sprachlos. Ein edleres Pferd habe ich noch nie zu Gesicht bekommen. Ich werde mich mit Freuden seiner annehmen. Aber verbunden mit der Hoffnung sobald noch keinen Gebrauch davon zu machen. Ein königliches Reittier, dass meine Königin noch lange tragen möge.“
„Ich danke dir! Ich weiß mein Pferd bei dir in guten Händen!“
Nach einer Weile begannen beide Lura das Zaumzeug anzulegen und für den Ausritt vorzubereiten.
Nun kam die Stunde der Wahrheit! Würde Inanna imstande sein selbständig auf zu sitzen oder bedurfte sie Hilfe?
Die ersten beiden Versuche scheiterten. Doch der dritte gelang ihr mit Hilfe einer kleinen Kiste, die den Aufstieg erleichterte.
Inanna griff nach den Zügeln und lenkte Lura aus dem Stall ins Freie. Nun wirkte die Königin wieder souverän und erhaben.
Draußen angekommen schloss sie die Augen und atmete tief ein und aus. Dann streckte sie beide Arme weit in die Höhe. Sie fühlte sich frei, unendlich frei und allen Sorgen enthoben. Ihre Bewegungen wirkten kraftvoll und anmutig zugleich. Inanna war noch immer eine wunderschöne Frau auch wenn sich in ihr hüftlanges schwarzes Lockenhaar bereits viele stahlgraue Strähnen mischten. In ihren Gesichtszügen spiegelten sich die Geheimnisse der Wildnis.
In ihrer aktiven Zeit war sie ähnlich muskulös wie Aradia gebaut Doch seit Ausbruch der Krankheit kehrte sie wieder mehr und mehr zur weiblichen Weichheit zurück, wenn sie auch noch immer athletische Grazie ausstrahlte.
„“Kasuba, komm! Steig auf! Ich kann es kaum erwarten!“ Lud Inanna ihre Gefährtin ein.
Die nahm kurz Anlauf, rannte auf die Stute zu, wirbelte elegant wie eine Gazelle durch die Luft, stützte sich auf den Hinterbacken des Pferdes ab und landete hinter Inanna auf dessen Rücken.
Danach rutschte sie ganz nah an Inanna, schlang ihre Arme um deren Taille und zog sie sanft an sich.
„Von mir aus kann es losgehen, meine Königin! Solltest du ermüden oder Schmerzen spüren, lass dich einfach in meine Arme fallen, benutze mich als Lehne. Dafür bin ich da.“
„In deine Arme lasse ich mich nur all zu gerne fallen. Mit dir im Rücken fühle ich mich sicher wie nie zuvor in meinem Leben.“
„Wenn du willst kann ich auch die Zügel für dich halten“ Bot Kasuba weiter an.
„Danke! Aber ich möchte mein Pferd lieber selber führen. So lange musste sich darauf verzichten. Endlich wieder ausreiten. Du kannst dir nicht vorstellen wie wunderbar das ist.“
Gleich darauf setzten sie sich in Bewegung. Den ersten Teil der Wegstrecke ging es noch ebenerdig. Doch dann nährten sie sich dem Abhang und das Gefälle wurde immer steiler.
Inanna hatte das reiten noch lange nicht verlernt. Sie lenkte Lura souverän und ohne ein Anzeichen von Unsicherheit. Im Geist tauchte sie tief in die mystische Aura der schroffen Berglandschaft die sie umgab.
„Wo reiten wir eigentlich hin?“ Wollte Kasuba wissen.
„Zunächst möchte ich das Heiligtum unserer Göttin besuchen. Du kennst es ja bereits. Dort unten in dem Wäldchen. Die heiligen Felsen an dem kleine Teich.“ Inanna wies mit dem Finger in die Richtung.
„Ich war schon so lange nicht mehr dort. Die namenlose Göttin soll nicht denken, ich hätte sie vergessen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen dass sie dass glaubt. Eure, nein unsere Göttin ist uns überall nahe. An jedem Ort, bei jeder Tätigkeit.“ Glaubte Kasuba zu wissen.
„Natürlich ist sie dass, aber an diesem einen Felsen spüre ich ein ungeheure Präsens von Energie. Es ist als könne ich sie einatmen.“
Inzwischen hatten sie den Wald erreicht, der sich auf einer der Hochebenen wie ein grüner Gürtel durch die Bergwelt zog. Das satte grün der Bäume spendete gerade jetzt in der heißen Periode des Jahres angenehme Kühle und wurde von vielen Amazonen gerne aufgesucht, die hier für den Kampf trainierten, Rat hielten oder einfach ihre Freizeit verbrachten. Auch die Bewohner der zahlreichen Siedlungen kamen hierher um mit den Kämpferinnen zu sprechen.
Ein kleiner ausgetretener Pfad führte direkt an ein von der Natur kunstvoll geformtes kleines Felsmassiv, das hier in einen kleinen Teich ragte der es von drei Seiten umfasste.
Ein etwa zwanzig Meter hoher Fels der Ähnlichkeit mit einem perfekt gewachsenen Knollenblätterpilz aufwies. Ein Durchmesser von etwa 10 m am Boden, nach oben immer schmaler werdend und dann wieder auseinander gehend. Das Innere war hohl, ein etwa 1,70m hoher und etwa 60cm schmales Loch an seiner Vorderseite gestattete den Eintritt. Kräftig gebaute Männer hatten schon ihre Mühe sich an dieser Stelle durchzuzwängen, doch einen anderen Eingang gab es nicht. Dahinter schloss sich eine Höhle die sich bis weit in das Gebirge zog. Der Raum war kreisrund, wie mit einem Zirkel gezogen. Von weit oben fiel das Licht der Sonne senkrecht nach unten, so dass man die weißen Kalksteinwände gut betrachten konnte. In der Mitte ragte ein etwa zwei Meter hoher Obelisk in die Höhe der etwa 50 cm im Durchmesser maß. Etwa auf halber Höhe gab es ein Loch dessen Form einer weiblichen Vagina nicht unähnlich sah.
Die Wände der Höhle waren mit allerlei bunten Grafiken bemalt. Ausnahmslos Naturdarstellungen. Felsen, Bäume aber auch Tiere, jedoch keine menschlichen Darstellungen.
Andächtiges Staunen erfasste jeden der den Raum zum ersten Mal betrat. Doch bereits der Anblick des Felsens erzeugte eine Reihe von Fragen.
War dass alles auf natürlichem Wege entstanden, oder hatten sich Menschenhände hier verewigt? Wenn ja wer waren diese Leute? Aus welcher Zeit stammten sie und zu welchem Zweck wurde dieser Komplex errichtet.
Um den Felsen zu erreichen mussten Inanna und Kasuba zunächst den Teich umrunden und dann an einer etwa 50 Meter breiten Stelle zum Eingang laufen. Direkt davor führte eine dicke Sandbank in den Teich so dass man dort bequem sitzen konnte, mit dem Eingang im Rücken.
Kasuba ging voran, führte Inanna an ihrer Hand hinter sich her. Vor dem Eingang blieben sie stehen. Kasuba bedeutet der Königin als erste einzutreten. Inanna kam dem sofort nach, ging ein paar Schritte und blieb schließlich vor dem Obelisken stehen. Die dunkelhäutige Amazone folgte und schmiegte sich im Innenraum von hinten an ihre Königin.
Stille erfüllte den Raum, nur das zarte Rauschen des Sommerwindes in den Blättern der umstehenden Bäume drang ins Innere. Keine von beiden wagte zu sprechen. Schweigen, konzentriertes , meditatives Schweigen.
Kasuba erkannte dass ihre Gefährtin das Bedürfniss hatte allein mit der Göttin Zwiesprache zu halten und zog sich deshalb ein paar Meter seitlich zurück sich auf dem Boden niedersetzend.
Inanna breitete die Arme seitlich aus, schloss die Augen und atmete tief durch.
Sie schien sich mit der unsichtbaren Kraft vor ihr zu vereinen, bzw. mit dem was ihr geistiges Auge in der Zwischenzeit erfasst hatte.
Kasuba betrachtete alles aufmerksam aus sicherer Distanz. Stets bereit einzugreifen, wenn es von Nöten war.
Inanna hörte in der Ferne Klänge, die wie zarte Stimmen in ihr Ohr drangen. Immer näher kommend, bis sich die Worte entschlüsselten.
„Ich grüßte dich große Tochter. Ich freue mich, dass du dich auf den Weg gemacht hast um mich zu besuchen. Selbstverständlich bin ich stets in deiner Nähe, auch in deinem Haus oder wo auch sonst.
Aber dies ist ein ganze besondere Stätte der Begegnung.“ Konnte Inanna deutlich hören.
„Große Mutter! Ich hatte solche Sehnsucht. Ich liebe diesen Ort. Meine Krankheit hinderte mich daran hier her zu kommen. Doch an diesem Morgen spürte ich eine Kraft wie lange schon nicht mehr. Die Zeit drängt. Ich brauche dringend deinen Rat, denn ich stehe vor einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich trage die Verantwortung für eine große Armee Freier Frauen die sich um mich scharen, ferner für unzählige weitere Menschen, die wir aus der Sklaverei befreien konnten und die sich in diesem Gebiet angesiedelt haben und unseres Schutzes bedürfen. Dunkle Wolken ballen sich am Horizont, sie bergen das Unheil in sich. Die Fürsten der vielen Stadtstaaten werden sich verbünden um gemeinsam gegen uns zu ziehen und ich bin krank, werde immer schwächer. Ich musste Aradia die alleinige Verantwortung übertragen und das schmerzt mir zutiefst. Meine kleine Schwester, sie braucht mich jetzt mehr denn je. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft.“ Richtete Inanna ihr Wort an die vertraute unsichtbare Macht.
„Du und deine Schwester, bereitet mir stets große Freude. Solange ihr auf Erden weilt, ist sie noch nicht ganz verloren. Die Menschen haben mich vergessen und beten von ihnen selbst geschaffene Götter an, die ihnen sagen was sie hören wollen. Ihr habt euch all dem widersetzt und seid ihnen deshalb ein Dorn im Auge.
Ich verstehe deine Sorge nur all zu gut. Sie werden kommen und am Ende werden sie den Sieg davon tragen. Die Zeiten ändern sich, es gibt kein Zurück ins Zuhause der Kindheit. Die Menschheit wähnt sich erwachsen, obgleich sie es in Wirklichkeit gar nicht ist. Sie glauben, wenn das Faustrecht des Stärkeren regiert und die Starken auf Kosten der Schwachen triumphieren, bringt das der Menschheit Fortschritt und Wachstum.
Das mag sein, aber um welchen Preis? Ihr habt getan was ihr konntet. Schon heute ist euch mein ewiger Dank gewiss. Hab keine Angst. Ich werde bei euch sein, auch in den schwersten Stunden. Am Ende wird euch mein Schoss empfangen. Du, deine kleine Schwester und noch etliche andere des Schwesternbundes, schenke ich Unsterblichkeit. Eure Körper werden sterben eure Seelen aber ewig leben.“
„Du meist, ich brauche mich nicht zu fürchten? Ich kann alles in deine Hände legen? Aber am Ende werden sie doch alle sterben. Was wäre damit gewonnen? Wir konnten in den letzten Jahren ein Land des Friedens und der Eintracht bauen. Viele Menschen kommen zu uns, suchen Schutz und Sicherheit vor den Nachtstellungen der Fürsten, denen sie entflohen, wir gewährten sie ihnen, als Gegenleistung helfen sie uns bei allem was wir brauchen. Es hat sich so wunderbar entwickelt. Alles geschieht auf der Grundlage der Freiwilligkeit. Niemand wird zu etwas gezwungen. Wenn ich dich recht verstanden habe, soll das in absehbarer Zeit nicht mehr existieren?“ Sorgte sich Inanna. Kasuba beobachtete deren Bewegung genau. Die Königin begann immer deutlicher zu schwanken. Offensichtlich nahm das Zweigespräch sie zu stark in Anspruch.
„Ja, leider! Ich wollte ich könnte dir eine bessere Antwort geben.“Meldete sich die Stimme zurück. „Eine neue Ära hat schon längst begonnen. Das Ursprüngliche taugt offenbar nicht mehr. Tausende von Jahren funktionierte die alte egalitäre Ordnung. Jene Menschen welche die Siedlung erbauten in deren Mauern ihr euch eingerichtet habt, lebten im Einklang mit sich selbst, mit der Natur und mit mir. Ihr Gemeinwesen war auf Selbstbestimmung und gegenseitige Hilfe ausgerichtet. Männer und Frauen wirkten gleichberechtigt mit einander. Jeder und Jede bekam ihren Ertrag vom gemeinsam erwirtschafteten.
Als du mit deinen Frauen den Aufstand wagtest, wusstest du noch nichts von mir und meiner Macht. Aber ich war bei euch vom Tage eurer Geburt an und ging euch voraus. Nicht durch Zufall seid ihr auf diese Siedlung und die ganze Gegend hier gestoßen. Ich wollte es so. Ihr habt noch einmal für einen Moment der Zeitgeschichte die alte egalitäre Ordnung aufleben lassen, bevor sich für lange Zeit die schwarzen Wolken der Knechtschaft und der Sklaverei über die Menschen senken werden. Dafür bin ich euch dankbar und werde euch trotz drohender Niederlage nicht verwaist zurücklassen. Manchmal sind vermeintliche Niederlagen in Wirklichkeit Siege, während sich so mancher gefeierte Sieg im nach hinein als bittere Niederlage erwies. So wird es auch bei euch sein. Habt Vertrauen!“
„Ich will es versuchen! Ja, ich vertraue dir! Du bist mein Leitstern in der dunklen Nacht der Hoffnungslosigkeit. Bei dir weiß ich meine Gefährtinnen in guten Händen. So darf ich also meinen Geist in deinen sicheren Schoss legen.“
Inanna begann immer deutlicher zu schwanken. Nun drohte sie zu stürzen. Geistesgegenwärtig sprang Kasuba von ihrem Platz und ihre Gefährtin landete sicher in deren Armen.
Beide ließen sich auf dem Boden nieder. Kasuba bettet Inannas Kopf und deren Oberkörper in ihrem Schoss.
„Meine Königin was ist mit dir? Du darfst dich nicht so anstrengen. Es war wohl am Ende doch zuviel. Wasser! Du hast schon lange nicht mehr getrunken. Warte! Ich hole dir etwas!
Kasuba lehnte Inanna an die Wand der Höhle dann hastet sie nach draußen kramte in dem Leinensack den sie mitgenommen hatte und holte einen Tonkrug hervor. Am See füllte sie diesen mit Wasser und begab sich schnurstracks wieder ins Innere des Heiligtums und gab der Amazonenkönigin zu trinken.
Inanna schlürfte den ganzen Inhalt in einem Zug.
„Wie nachlässig von mir! Ich hätte mich längst darum bemühen müssen. Unterwegs haben wir alles verbraucht. Die heiße Sonne ist gefährlich. Du darfst dich ihr nicht ungeschützt aussetzen. Ich werde mir überlegen müssen einen Sonnenschutz für dich zu machen, bevor wir zurück reiten.“ Meinte Kasuba, während sie Inanna zurück in ihren Armen gleiten lies.“
„Mach dir keine Vorwürfe, Liebste! Es war das Zwiegespräch das mich überanstrengte. Nur ein wenig rasten. Dann können wir weiter. Ich spürte eine unbändige Kraft in mir aufsteigen.
Es war phantastisch. Zunächst war ich traurig über die Prophezeihung der Göttin. Doch plötzlich, während sie noch redete, verging auf einmal all meine Beklommenheit, all meine Zweifel und meine Furcht, als würden sie im Feuer der Freude verbrannt. Ich kann im Moment nicht darüber reden. Aber später holen wir es nach, ich möchte meine Freude mit dir teilen.“
Kasuba streichelte Inannas Wangen, dann fuhr sie mit der Handfläche über deren Brüste bis hinunter zum Bauch.
„Kasuba?“
„Ja!“
„Warum bist du so lieb zu mir? Ich weiß nicht ob ich deine Liebe verdient habe!“
„ Für deine Frage gibt es nur eine Antwort, weil ich dich unendlich liebe. Es ist meine Bestimmung. Ich wurde dafür geboren, dir zu dienen und dir das Leben so angenehm wie nur irgend möglich zu machen.“ Gab die treue Geliebte zur Antwort.
„Aber du bist wunderschön und jung, gerade Anfang 20 Jahre. Du könntest jede haben, wenn du wolltest.“
„Könnte ich! Aber ich möchte nicht jede. Ich will dich und keine andere.“
„Du sagst, es wäre deine Bestimmung? Wer hat es bestimmt? Welche schicksalhafte Weisung führte dich an meine Seite? Dir steht wie jeder anderen auch das Recht zu, über deine Herkunft zu schweigen. Aber interessieren würde ich mich schon dafür.“
„Du sollst alles wissen. Mein Vater war der oberste Priester in meinem Land. Als ich geboren wurde sprach eine alte betagte Prophetin ein Omen über mich. Ich würde schon frühzeitig in ein fernes Land gehen, im Norden, dort wo die Menschen eine hellere Haut besäßen. Dort würde ich zwei Königinnen dienen, zwei außergewöhnlichen Königinnen wie sie die Welt noch nicht gesehen. Seit jenen Tagen wurde ich auf dieses Leben vorbereitet. Lange hielten wir Ausschau nach diesem sonderbaren Land im Norden und wurden schließlich fündig. Nun bin ich hier und mein Schicksal ist eng an das deine gebunden und an das von Aradia.“
„In deinen Händen fühle ich mich sicher und geborgen solange ich noch lebe. Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“
„Um jeden, meine Königin!“
„Wenn es soweit ist, wenn mich die Kräfte endgültig verlassen und meine Stunde naht, dann möchte ich in deinen Armen meinen letzten Atemzug tun. Willst du mir das versprechen? Ich weiß, das kommt einer Zumutung gleich, aber ich möchte auf keinen Fall Aradia damit belasten. Die Kleine wird es schwer genug haben, wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weile.
Inannas Bitte traf Kasuba schwer, doch es war ihre Aufgabe die Königin zu begleiten, auch in der aller letzten Stunde.
„Ich gelobe es! Auch wenn ich mir wünsche, dass dieser Tag noch in weiter Ferne liege.“
Noch eine ganze Weile saßen die beiden zusammen, eingehüllt in einen Frieden, der aus dem Gleichklang ihrer Herzen kam und beobachteten die Gemälde an den Wänden, deren Lebendigkeit sie in eine längst vergangene Zeit zu tragen schien. Das uralte Mysterium begann sich zu enthüllen.
Als sich Inanna wieder besser fühlte, drängte sie geradezu zum Aufbruch.
„Möchtest du wirklich in der Tageshitze reiten. Ich weiß nicht ob ich dir zustimmen soll.“
Mahnte Kasuba.
„Sei ohne Sorge! Ich fühle mich in der Lage. Ich konnte hier viel an Kräften sammeln, Kräfte die mich weiter tragen, nicht nur heute, nein ich glaube, dass ich viele Wochen davon zehren kann.“
Dann verließen sie die Höhle um schritten den Teich, dessen glasklares Wasser die Stahlen der Sonne einfing, so dass es den Anschien hatte, als würden tausende von Glühwürmchen auf dessen Oberfläche tanzen. Lura wartete dort auf sie. Sie hatten die Stute nicht angebunden. Niemals würde die ohne ihre Herrin das Weite suchen.
Kasuba half Inanna wieder beim aufsitzen, dann setzten sie ihren Ritt weiter fort.
„Ich möchte noch einmal kurz zum großen Fluss, an dessen Ufer sich in letzter Zeit viele neue kleine Siedlungen gegründet haben. Ich will mich den Menschen zeigen.“
Bekundete die Amazonenkönigin ihren Wunsch.
In der Zwischenzeit hatte sich die Kunde von Inannas Ausritt wie ein Lauffeuer verbreitet.
Die Botschaft „Inanna reitet wieder!“ Flog von Siedlung zu Siedlung, deren Bewohner in froher Erwartung ihre Anführerin begrüßen wollten.
Als sie am Ufer des großen Stromes entlang ritt, den sanften warmen Wind im offenen Haar, fühlte sie sich frei und gestärkt wie schon lange nicht mehr. Das Zwiegespräch mit der Erdgöttin hatte eine Tür geöffnet. Etwas Neues strömte in ihr Bewusstsein, etwas das sie im Moment noch nicht zu deuten wusste. Ihr war bewusst, dass sie sterben würde, das war unvermeidliches Schicksal.Doch es war nichts Endgültiges. Irgendwo wartete eine Hoffnung von ungeahnten Tiefen.
Die Menschen, die sich hier niedergelassen hatten, fast ausnahmslos entflohene Sklaven, lebten vor allem von Fischfang, den ihnen der große Fluss reichlich zur Verfügung stellte. Sie trieben Handel damit und versorgten auch die Siedlungen die weiter im Landesinneren lagen.
All ihre Freiheit verdankten sie den Amazonen, allen voran den beiden Schwestern an der Spitze.
Als sie sich der erste Siedlung näherten, kam ihnen zunächst eine große Schar Kinder entgegen.
„Inanna! Inanna! Unsre Königin ist da!“ Jubilierten sie Begrüßungsworte . Bald waren das Pferd und seine beiden Reiterinnen von der fröhlichen Schar umringt. Gleich im Anschluss kamen auch die ersten Erwachsenen und begrüßten die ungewöhnlichen Besucherinnen.
Die Jubelrufe wurden immer lauter und kräftiger und bald tauchten auch Bewohner der anderen Siedlungen auf.
„Meine Königin ist vom langen Ritt ermüdet und etwas geschwächt. Sie bedarf dringend einer Rast. Wer von euch wäre bereit sie eine Weile in der eigenen Behausung ruhen zu lassen?“ Rief Kasuba laut in die Menge.
Kaum hatte sie ausgesprochen als sich überall die Arme in die Höhe reckten. Eine Familie mit sechs Kindern erhielt schließlich den Zuschlag.
Sogleich waren einige kräftige Männer zur Stelle um die einst gefürchtete und noch immer berühmte Kriegerin von ihrem Pferd zu heben. Vorsichtig stellten sie Inanna auf den Boden. Diese erhob die Arme und sprach:
„Ich danke euch für eure Gastfreundschaft. Kasuba und ich könnten eine Rast vertragen und wir kehren gerne bei euch ein. Aber leider kann ich mich nicht zerteilen. Am liebsten würde ich jeden einzelnen von euch meine Hand zum Gruße reichen. Doch dafür reicht die Zeit nicht aus. In meinem Herzen bin ich bei euch alle Tage. Mein Segen sei mit euch, mit euren Familien, mit euren Dörfern und Siedlungen! Es ist der Segen der Erdgöttin den ich euch überbringe.“
Schließlich betrat sie die ärmliche, notdürftig aus Lehm gemauerte und mit Schilf bedeckte Hütte. Eng war es hier, dafür aber gemütlich und kühl.
Kasuba und Innana nahmen auf dem mit Bastmatten ausgelegten Boden Platz. Die Königin war froh ihre Beine auszustrecken. Kasuba diente ihr wieder als Lehne und lies sie in ihre Arme sinken, um im Anschluss deren Beine zu massieren.
Andere Bewohner eilten herbei um den Gästen essen und trinken zu bringen.
Bald drängten sich Hunderte, nein Tausende am Ufer des großen Flusses, nur um einen Blick auf den ungewöhnlichen Besuch zu erhaschen. Wieder wurden Jubelrufe angestimmt.
„Inanna! Innana wie lieben dich! Du sollst noch lange leben! Sei unsere Königin in Ewigkeit.
Nun hielt es die kampferprobte Kriegerin nicht mehr aus. Tränen bahnten sich den Weg über ihre Wangen.
Nach einer Weile des Ruhens kam Inanna nicht mehr an der Tatsache vorbei, das Wort an die Versammelten zu richten die nur ihretwegen gekommen waren.
„Ich werde sprechen! Aber dazu bedarf ich eurer Hilfe. Ich möchte es vom Rücken meines Pferdes aus tun.“
Bereitwillig sprangen die Anwesenden auf, um der Königin behilflich zu sein, die sie heute zum ersten Mal aus der Nähe betrachten konnten und geleiteten sie nach draußen, eine angenehm frische Brise wehte ihnen vom Fluss herüber. Einer führte Lura heran und vier starke Männer hoben Inanna vom Boden und setzen sie auf ihr Pferd. Damit konnte sie mit einem weiteren Gerücht aufräumen, nämlich der Behauptung, dass sich die Königin niemals von Männern berühren lies.
Von oben streckte sie den linken Arm nach unten und bedeutete Kasuba wieder zu ihr aufzusteigen.
Inzwischen hatten sich derart viele Menschen eingefunden, dass Inanna fürchtete den Überblick zu verlieren. Mit Kasuba als sichere Stütze im Rücken ritt sie ein Stück weit vom Ufer weg, auf eine leichte Anhöhe zu, wo sich ein guter Überblick über die Landschaft bot. Hier glaubte sie am deutlichsten sichtbar zu sein.
Gerade wollte sie ansetzen, als sie am Horizont die große Staubwolke bemerkte, die sich ihnen unaufhörlich näherte.
Eine große Reiterschwadron mit einigen hundert Kriegerinnen. Es waren Aradia und ihre Elitekämpferinnen die hier im Eiltempo auf sie zugaloppierten.
Die Reiterinnen waren in ihre Kampfausrüstung gekleidet, dass hieß, zusätzlich zu ihrer Reitkluft hatten sie die kupferne Brustpanzerung angelegt und trugen eng anliegende Helme auf dem Kopf. Den kleinen Kupferschild an ihren linken Arm befestigt. Aradia hatte, wie bei Kampfeinsätzen üblich, ihre blonde Lockenmähne zu einem kunstvollen Zopf geflochten, damit sie die Haare bei eventuellen Kampfhandlungen nicht behinderten.
Schließlich brachten die Reiterinnen ihre Pferde zum stehen. Aradia schwang sich vom Sattele und hastet durch die Menschenmenge, die ihr unaufgefordert eine Gasse bahnten.
Die anderen näherten sich nun langsam zu Pferde.
„Inanna! Inanna!“
Schließlich hatte Aradia ihre Schwester erreicht, klammerte sich um ihr linkes Bein und begann unaufhörlich deren Fuß zu küssen.
„Als mich die Kunde von deinem Ausritt erreichte, konnte ich es nicht glauben.Ich hatte nur den Wunsch so bald als möglich bei dir zu sein. Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr ich mich freue, dich wieder auf Luras Rücken vorzufinden. Oh, meine wunderbare Schwester. Jetzt wird alles gut. Du wirst wieder gesund. Ich habe es immer gewusst. All meine Gebete wurden erhört. Es wird wieder so wie früher als wir gemeinsam unsere Scharen von Sattel aus befehligten. Bald werden wir wieder zusammen in die Schlacht reiten. Gemeinsam sind wir doppelt so stark. All die Feinde werden vor unseren Kräften zittern und das Weite suchen.“
„Ja, dass werden wir. Und ich freue mich darauf!“ Erwiderte Inanna kurz während sie Aradias Kopf streichelte.
„Inanna sprich zu uns!“ ertönte bald wieder der Ruf aus den versammelten Reihen.
Inzwischen hatte sich der innere Kreis der Amazonen ebenfalls um ihre vermeintlich genesene Königin geschart.
Ajana näherte sich zu Pferd und gesellte sich an deren rechte Seite. Uratha klammerte sich wie ein Äffchen an ihre Lehrerin-Geliebte. Sie war mit ihrer Reitausbildung noch nicht ganz fortgeschritten und zog es deshalb vor mit Ajana zu reiten.
Leyla führte Aradias schwarzen Hengst heran, damit sich diese wieder auf dessen Rücken platzieren konnte.
„Ajana, reich mir doch bitte deine Doppelaxt!“ Befahl Innana und die Angesprochene kam der Bitte ohne Zögern nach.
Eine Weile hielt die Königin das kupferne Symbol der Freiheit in ihrer rechten Hand und betrachtete es wie einen Kultgegenstand.
Dann streckte sie die Axt weit in die Höhe so dass sich die Strahlen der Nachmittagssonne an seiner Spitze brachen.
Frenetischer Jubel brandete ihr von allen Seiten entgegen.
Dann lauschten alle ihrer Worte.
„ Es sind so viele. Meine Stimme ist schwach wie ein Windhauch in der Wüste. Ich fürchte ich werde euch nicht alle erreichen. Ihr müsst mir helfen, wen ihr mich hören wollt. Tragt meine Stimme weiter, so dass auch die letzte unter euch verstehen kann.“
Innana blickte zu Boden und senkte die Doppelaxt.
Was wollte sie den Menschen, die voller Erwartung auf sie blickten, wirklich sagen? Sie, die doch eigentlich schon mit allem abgeschlossen hatte, sollte den Menschen neuen Mut schenken?
Plötzlich setzte sie wieder an.
„ Ich spreche zu den alten Männern und Frauen, vor ihren Lehmhütten. Ich spreche zu den Fischern, die gerade im Begriff sind ihren Fang an Land zu ziehen. Ich spreche zu den Ackerbauern die Tag für Tag dem Boden seinen kargen Ertrag abringen. Ich spreche zu dem Schmied an seinem Amboss und zu dem Sklaven in seinem Joch.Wir leben in der Abenddämmerung unserer Zeit. Die Sonne unseres Lebens ist nur noch ein schwacher Schimmer am westlichen Horizont. Längst schon hat sich das Dunkel über uns gesenkt. Wir alle hier bilden eine Insel im Strom der Zeit. Wir sind umgeben von Unfreiheit und Knechtschaft. Die alte Welt der Eintracht, der Verständigung und der gegenseitigen Hilfe ist vergangen und machte schon vor Generationen einer neuen Platz, einer Welt erfüllt von Ungerechtigkeit, Gewalt, Zwietracht und Ausgrenzung. Wohin wir auch blicken, überall erkennen wir Armut und Hunger nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele und des Geistes. Ein Volk ohne den egalitären Frieden verwahrlost wie ein verlassenes Kind. Niemand lehrt es, niemand nährt es, niemand gibt ihm Wärme und Trost. Der Blick in eure Augen erfüllt mich mit Freude. Ich sehe, dass ihr weder die Hoffnung noch den Glauben verloren habt und ich sehe noch viel mehr, ich erkenne Seelen die ungebrochen sind. Das ist viel mehr, als ich in dieser Zeit erhoffen konnte. Das gibt mir jene Kraft zurück die ich schon verloren glaubte. Meine Erkrankung erforderte den Rückzug. Ich konnte nicht mehr in den Kampf ziehen. Aber meine Schwester Aradia ist eine würdige Nachfolgerin, mit ihr an der Spitze wird uns der Sieg gehörten. Habt Vertrauen in ihre Kraft. Ich werde euch mit meinen Gebeten begleiten. Ich bin stets präsent, auch wenn ich nicht leibhaftig vor euch stehe. Sie können unsere Körper töten, unsere Seelen aber sind unsterblich. Wir werden unsere Ideen und Ideale weiter tragen weit über den Horizont hinaus. Wir kämpfen weiter. Denn wer nicht kämpft hat schon verloren, dem bleibt nur noch die Flucht.
Wir sind die einzigen die die verloren geglaubte Lebensweise wieder auferstehen ließen. Wir schufen hier eine Föderation freier und sich selbst verwaltender Siedlungen, ein blühendes Gemeinwesen in dem niemand eine Peitsche braucht um seinen Willen durchzusetzen. Ein Ort der Freude, des Friedens und der Eintracht. Kein Paradies, denn so etwas gibt es nicht in dieser Welt, aber einfach eine Heimat für alle Heimatlosen, Entrechteten und Ausgegrenzten.
Wir werden diesen Ort der Zukunft verteidigen mit allen Mitteln die uns zur Verfügung stehen. Nie wieder werden wir uns dem Sklavenjoch beugen. Wir ziehen den ehrenhaften Tod einem Leben in der immer währenden Knechtschaft vor. Es lebe die Freiheit!“
Erneut streckte Inanna die kupferne Doppelaxt in die Höhe.
Donnernder Jubel, der das umliegende Gebirge fast zum bersten brachte.
Geschwächt reichte die Königin, Ajana das kupferne Symbol der Freiheit zurück, dann lies sie sich in Kasubas Arme sinken.
„Stütz mich meine Geliebte, ich darf jetzt keine Schwäche erkenne lassen!“
Aradia steuerte ihren Hengst an Inannas linke Seite.
„Das waren wunderbare Worte. Damit hast du vielen Menschen Mut gemacht. Das ist ganz wichtig für unseren Kampf. Mutlose Menschen haben sich bereits in ihr Schicksal gefügt. Das darf uns nicht widerfahren. Ich muss mit meinen Reiterinnen noch einmal ausschwärmen. Wir wollen uns noch die andere Seite ansehen. Zunächst können wir Entwarnung geben. Weit und breit nichts von einem großen Heer zu sehen. Aber wir müssen ganz sicher gehen.
Wir wollen versuchen alles so bald als möglich zu erledigen. Wir sehen uns dann heute Abend. Ich werde bei dir sein sobald ich es einrichten kann. Glaub mir, es wird alles wieder gut. Ich bin voller Zuversicht. Bald werden wir wieder mit einander reiten.“
Aradia erhob ihr Kupferschwert und signalisierte den anderen ihr zu folgen. Dann entfernte sich die ganze Schwadron.
„Ich werde nie mehr mit dir reiten, kleine Schwestern.“ Schluchzte Inanna während sie der Staubwolke nachsah die sich langsam am Horizont verlor.
Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange.
Kasuba schlang ihre Arme um die Gefährtin.
Langsam begann sich die Menschenansammlung aufzulösen.
„Kannst du noch reiten, meine Königin? Wenn nicht werden wir eine andere Möglichkeit finden dich zurück zu bringen?“
„Ich bin soweit gekommen heute! Ich werde jetzt nicht vor den Schmerzen kapitulieren. Ich werde es schaffen!“
Dann setzten sie sich in Bewegung, noch immer von den Umstehenden bejubelt und beklatschte.
„ Ich kann Aradia nur in allem zustimmen. Du warst großartig! Noch ein Grund mehr für mich, dir in Freuden zu dienen. Sobald wir zuhause sind werde ich dir als erstes in der warmen Quelle unsere Grotte ein schönes Bad bereiten. Das wird dir gut tun. Anschließend massiere ich deinen Körper, bis die Schmerzen gebannt sind.“ Bot sich Kasuba sogleich an.
„Du bist so unendlich lieb...“
Inanna kämpfte gegen die Müdigkeit die sich nach diesem anstrengenden Ausritt nun mit voller Wucht zu erkennen gab. Doch sie war noch nicht bereit Kasuba die Zügel ihres Pferdes zu überlassen.
Nachdem sie in der Siedlung eingetroffen waren, lies es sich die Königin nicht nehmen, Lura persönlich im Stall abzuliefern und zu versorgen.
„Leb wohl, meine treue Freundin! Es tat gut noch einmal auf deinem Rücken zu sitzen!“
„Warum sagst du ihr Lebwohl? Wir können Lura jeden Tag besuchen, wenn du magst!“
„Ich bin bereit für die Ewigkeit, Kasuba! Jeden Tag, zu jeder Stunde. Ein lebewohl ist nie umsonst gesprochen.“
Inanna schwankte aus dem Pferdestall. Die Sonne bahnte sich weiter den Weg nach Westen und würde sich bald in den Wolken verkriechen.
Langsam schlenderten die beiden der Siedlung entgegen, jener Insel der Glückseligen, die dem Sturm der Geschichte noch immer so tapfer widerstanden hatte.
Mit einem tiefen Atemzug wurde Colette ins Wachbewusstsein katapultiert. Sie atmete hastig und ihr Herz raste. Tränen liefen unaufhörlich aus ihren Augen. Sie drehte sich auf die rechte Seite und hüllte sich ganz in ihre Decke weil es ihr kalt war. Noch immer befand sich ein wesentlicher Teil von ihr in Mitten des Traumgeschehens.
„Inanna! Wunderbare, großartige Königin der Freiheit. Du hast nicht umsonst gelebt. Ich werde deinen Traum erfüllen, gemeinsam mit den anderen. Du bist ich und ich bin du. Es tut mir leid, dass ich dir nur einen kranken und ausgezehrten Körper für deine Inkarnation bieten konnte. Du littest die gleichen Schmerzen wie ich heute . In ganzer Würde hast du dein Leid getragen. Ich erkenne deine Botschaft. Sprich zu mir jede Nacht wenn du willst, ich bin stets bereit für deine Botschaft.“
Colette weinte in ihr Kissen, von den vielen Tränen schon ganz klamm.
Plötzlich bemerkte sie, dass sie sich nicht allein im Zimmer befand. Ruckartig fuhr sie herum und entdeckte ein zweites Bett neben dem ihren.
Sie betätigte ihre Taschenlampe und beleuchtete die Person die sich ebenfalls in die Decke gehüllt hatte.
„Gabriela? Du hier? Wie...äh was ist denn geschehen?“
„Colette! Geht es dir gut? Ich konnte nicht schlafen, deshalb war es mir möglich dir zuzuhören, schon seit geraumer Zeit. Du hast geträumt. Du warst in der anderen Welt, nicht wahr?“
„Ja! Ja, so ist es! Und es hat mich sehr mitgenommen. Aber sag, wie kommst du hierher?“
„Entschuldige, dass man dich nicht noch informieren konnte. Ich habe morgen die gleiche Untersuchung vor mir. Ich bat darum mit dir auf ein Zimmer gelegt zu werden. Ich hoffe es macht dir nichts aus?“ Versuchte Gabriela eine Erklärung.
Colette richtet sich auf und strich sich mit der Handfläche die Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Nein! Natürlich nicht! Es macht mir nichts aus. Aber es ist ungewöhnlich. Es gibt noch freie Zimmer hier auf der Station.“
Gabriela erhob sich ebenfalls und blickte zum Fenster, durch dessen Scheiben der Mond ein spärliches Licht nach innen goss.
„Lass es mich erklären! Ich... ich suche schon lange eine Gelegenheit mit dir zu sprechen. Es gibt so vieles, dass ich dir sagen möchte. Als ich erfuhr, dass du schon heute hier unten übernachtest, sah ich eine Möglichkeit.“
„Ja, aber! Warum bist du nicht einfach zu mir gekommen? So wie das viele andere tun.“
Nach einer kurzen Pause des Überlegens schien Colette die Antwort selbst gefunden.
„Du bist nicht wie die anderen! Das ist es wohl? Die Überraschung ist dir gelungen. Ein guter Einfall um mit mir möglichst unter vier Augen zu reden. Ansonsten bin ich nie wirklich allein in letzter Zeit. Alle möglichen Leute drängen sich um mich und nehmen mich in Beschlag.“
„JGenauso ist es! Mehr brauche ich nicht hinzu zu fügen!“ Bestätige Gabriela.
Colette lies sich wieder auf das Kopfkissen fallen, atmete tief ein und aus. Dann spähte sie in Richtung Radiowecker auf dem Nachttisch.
2 Uhr 10. Mitten in der Nacht.
„Möchtest du jetzt reden, oder bist du zu müde?“
„Ich bin im Moment überhaupt kein bisschen müde, “ gab Gabriela zur Antwort.
„Ich bin innerlich so angespannt das ich kein Auge zubekomme. Ich würde mich freuen gerade zu diesem ungewöhnlichen Zeitpunkt zu reden. Aber wenn du zu müde bist, werden wir es selbstverständlich verschieben.“ Fuhr sie fort.
„Ich werde nach dem Traumerlebnis vermutlich lange brauchen um wieder in den Schlaf zu finden. Gut, dann lass uns die Zeit sinnvoll nutzen und reden.“ Bot Colette erneut an.
„Wo soll ich anfangen? So viele unausgesprochene Probleme. Lauter Dinge die sich über die Jahre wie eine Schutthalde auf meiner Seele lastet.“ Erwiderte Gabriela und lies sich ebenfalls auf die Decke sinken.
„Lass dir Zeit. Du brauchst nichts zu überstürzen. Wir haben noch die restliche Nacht.“ Stellte Colette fest.
„So wie es aussieht, hat uns entweder die gleiche Krankheit befallen, oder zumindest eine ähnliche. Schon lange spüre ich, dass da wieder etwas kommt... Schmerzen die plötzlich auftauchen und wieder verschwinden, an allen möglichen Körperteilen. Dazu Lähmungserscheinungen in den Händen, den Füßen, den Beinen. Schwindel und Gleichgewichtsstörungen, extreme Müdigkeit am Tag, Schlaflosigkeit in der Nacht, begleitet von immer heftiger werdenden Depressionen. Du erinnerst dich an meine schwere Krankheit, damals als ich wie ein hilfloses Kind da nieder lag und mich nicht mehr bewegen konnte?*
Ich wurde wieder gesund und ein neues Leben wurde mir geschenkt. Aber seit jener Zeit lebe ich in permanenter Angst davor, dass die Krankheit sich wieder einstellt.“
Gabrielas Geständnis schockte Colette zu tiefst, so dass sie wieder noch oben schnellte.
„Gabriela, davon wusste ich nichts. Ich war stets der Meinung, dass du dich gefangen hast und die Krankheit endgültig überwunden. Deine Worte schockieren mich und machen mich unendlich traurig.“
„Ich hab solche Angst! Ich weiß nicht was ich machen soll. Elena will mich gründlich durchchecken, so wie dich auch. Sie versucht mich zu beruhigen und mir einzureden, dass es ja nicht so schlimm sei und lauter solcher Dinge. Aber ich ahne was da auf mich zukommt.
Ich bin all dem hoffnungslos ausgeliefert.“
Gabriela begann zu weinen.
Colette lies ihre Beine zu Boden gleiten, richtete sich auf und taumelte ein wenig, dann bewegte sie sich auf das gegenüberliegende Bett der anderen zu, nahm auf der Bettkante Platz und begann Gabriela zu streicheln.
Die erhob sich langsam, klammerte sich an Colette und begann noch heftiger zu schluchzen.
„Jeden Morgen wenn ich erwache, überprüfe ich voller Furcht ob meine Gliedmaßen noch funktionieren. Beginnend mit den Füßen.“ sie steckte ihren rechten Fuß aus der Umhüllung der Decke ans Freie und begann eine kreisende Bewegung mit dem Fußgelenk, danach wackelte sie mit ihren Zehen.
„Es geht! Das ist beruhigend! Aber so ist es nicht immer! Manchmal bin ich am Morgen steif wie ein Brett und spüre zudem große Schmerzen. Dann verfalle ich sofort in Panik. Ich fürchte mich so davor, dass die Krankheit wieder ausbricht.“
Colette drückte sie fest an sich und streichelte ihren Kopf.
„Da geht es dir wie mir. Auch ich hege schon lange den Verdacht, dass da etwas in mir schlummert, eine ernsthafte Krankheit die eines Tages Ausmaße erreichen könnte um mein Leben zu beenden. Es klingt vielleicht makaber was ich jetzt sage. Mir wäre es bedeutend lieber die Untersuchung ergebe morgen, dass es sich tatsächlich um MS handelt, dann hätte ich Gewissheit und man könnte etwas dagegen unternehmen. Ist die Diagnose hingegen negativ, bleibe ich weiter im Ungewissen, kann womöglich davon ausgehen dass da noch bedeutend Schlimmeres auf der Lauer liegt."
„ Wie es scheint sitzen wir in einem Boot. Weißt du eigentlich, dass wir uns schon lange nicht mehr so nahe gekommen sind?“ Stellte Gabriela fest und schmiegte sich eng an in die Arme der Anderen.
„Ja und das bedauere ich zutiefst! Könnte dass womöglich ein neuer Anfang sein? Wie heißt es doch immer so treffend: Geteiltes Leid ist halbes Leid! Wir sind Schicksalskameradinnen!“
Colettes Feststellung traf ins Schwarze, denn das waren sie ohne Zweifel.
Dabei bildeten die beiden einen diametralen Gegensatz, wie er kaum größer sein konnte.
Gabriela, die feinsinnige Intellektuelle aus einem akademisch gebildeten Haus, Tochter eines Universitätsprofessors, der frühzeitig die außergewöhnliche Begabung der Tochter erkannte und nach Kräften förderte. In Folge dessen standen ihr alle Bildungseinrichtungen offen, nur die besten Universitäten kamen in Frage. Sie sammelte Erfahrung im Ausland, lernte fremde Kulturen kennen, interessante und berühmte Leute und vieles mehr. Ihre akademischen Grade konnten sich sehen lassen, bald schon erwarb sie sich den Ruf einer erfahrenen Historikerin, der man mit Respekt begegnete. Nachdem sie Elena kennen gelernt hatte verwandelte sie sich unter deren Einfluss kurzzeitig in ein Glamourgirl, eine Rolle die sie niemals wirklich mochte und die ihre natürlich Autorität zu untergraben begann. Gemeinsam mit Elena begann sie schließlich jenes neue Leben, dass sie in eine ganz andere Richtung führen sollte. Anarchonopolis, das war ihre Bestimmung von Anbeginn der Zeiten. Erfüllung in allen Belangen. Und nun? Die Krankheit hatte sie schon einmal aus der Bahn geworfen, doch wurde ihr damals eine wundersame Genesung zuteil. Nun schien die sich zurück zu melden und Gabriela fürchtete den Tod wie ein kleines Kind den schwarzen Mann.
Gabriela verkörperte alles wonach sich Colette ein Leben lang gesehnt hatte.
Die Kundra, die schon als kleines Kind eine ewige Außenseiterrolle zugewiesen bekam in dessen Folge ihr eine wie auch immer geartete Entwicklung im Keim erstickt wurde.
Colette, deren Leben von Anfang an nur aus Entbehrungen und Enttäuschung zu bestehen schien. All jene Annehmlichkeiten des Lebens die Gabriela wie eine reife Frucht in den Schoß fielen, musste sich Colette unter schwierigsten Bedingungen hart erarbeiten. Der Zugang zu höherer Bildung versperrt, blieb ihr nichts anders übrig als zur vollendeten Autodidaktin zu werden. Doch wo hätte sie ihr Wissen anwenden können, sie ein non-binary Wesen das niemand jemand richtig ernst nahm, verspottet und gedemütigt, ausgegrenzt und abgehängt.
Anarchonopolis wurde ihre Erlösung, wurde zur Oase des Frühlings in Mitten eines eisigen Winters. Nur hier konnte sie ihre Fähigkeiten und Talenten zur Entfaltung bringen.
Sie traf auf Menschen, die ihr jene Wertschätzung entgegenbrachten, die ihr von Natur aus aufgrund der natürlichen Autorität, zukam.
Der sensitive Dichter Kovacs war der erste der Colette ins strahlende Licht der Akzeptanz und des Respekts rückte. Kovacs der Sehende, in einer Welt voller Menschen die mit dauerhafter Blindheit geschlagen waren.
Colette traf auf Elena, die kleine Schwester, die sie von Anfang an ins Herz geschlossen hatte.
Beste Voraussetzung um,nach einer unendlich erscheinenden Odyssee harter entbehrungsreicher Lehrjahre, jenen Weg einzuschlagen der ihr von Geburt an vorbestimmt.
Nun war sie Königin von Akratasien, die Welt lag ihr zu Füßen. Colette die Ikone, eine lebende Legende. Doch ausgerechnet jetzt, da sie sich zurücklehnen und die Früchte ihrer Arbeit genießen konnte, da drohte die Erkrankung sie erneut ins Abseits zu zwingen, womöglich vorzeitig aus dem Leben zu nehmen.
War das gerecht? Das Leben schert sich nicht darum, ob eine Sache gerecht oder ungerecht erscheint.
Konnte sie dem Rad des Schicksals in die Speichen greifen, das Ruder noch einmal herumreißen, dass ihr aus den Händen zu gleiten schien?
Alles lag offen vor ihr. Die Gewissheit, dass sie von einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten getragen wurden, die ihnen Wärme und Geborgenheit, Sanftheit und Liebe bis zum letztgültigen Ende garantierte, wirkte außerordentlich beruhigend sowohl auf Colette wie auch Gabriela.
Sich einfach fallen lassen dürfen in die starken Hände der Schwestern und aller weiterer Bewohner der Alten Abtei, lies den Selbstheilungskräften freie Bahn. Befreit von den Unzulänglichkeiten des Alltag, ganz auf den Kampf gegen die Krankheit eingestellt zu sein. Ein gewaltiges Privileg.
„Colette, ich möchte dich um Verzeihung bitten!“ Durchbrach Gabrielas weinerliche Stimme die Stille.
„Verzeihung? Für was?“
„Für all die Gemeinheiten die du durch mich hast ertragen müssen. Ich habe auf dich herab gesehen. Mein akademischer Dünkel machte mich blind für die Tatsache was für ein wunderbarer Mensch du bist und welche Fähigkeiten in dir stecken. Ich bin die Hauptverantwortliche für den Umstand ,dass du damals die Abtei verlassen hast. Ich habe dir unendlich weh getan, dein zuhause genommen und dich der Kälte dieser unbarmherzigen Welt ausgesetzt. Das ist der Grund warum ich dir so lange aus dem Wege ging, es nicht ertragen konnte dir in die Augen zu blicken.“
Colette nahm Gabrielas Kopf in beide Handflächen.
„Gabriela, das ist Schnee von vorvorgestern. Ich habe dir lange schon verziehen. Nach meiner Rückkehr bist du zu mir gekommen, erinnerst du dich an jene Nacht, die so bedeutsam für mich wurde? ** Du hast mich mit getragen und geformt und zu dem gemacht was ich heute bin. Da gibt es nichts mehr zu verzeihen.“
„Das mag sein! Aber ich habe mich auch später schlecht benommen oder hast du vergessen, dass ich dagegen war als sie dich kurz nach Verhängung von Neidhardts Blockade zur Königin ausriefen? Ich wollte Elena auf diesem Posten sehen.“
Gestand Gabriela reumütig.
„Ja und? Darf ich dich daran erinnern, dass du in jenen Zeiten nicht die einzige warst, die mit diesem Titel nicht zurecht kam, von heute wollen wir gar nicht reden. Elena war und ist unsere unangefochtene Anführerin, auch mein Königintitel änderte daran nicht das Geringste. Es lag auf der Hand, dass ihr diese Würde zukam, wenn es überhaupt einer Königin bedurfte. Viele waren damals enttäuscht. Erst jetzt, unter der neuen Situation hat sich das Blatt gewendet.“
Doch Gabriela lies nicht locker und fuhr mit ihren Selbstanklagen weiter fort.
„Erst vor kurzen habe ich wieder versagt. Nach deinem Unfall in der Bibliothek, als es dir so schlecht erging und du von Schmerzen gebeugt lange das Bett hüten musstest. Alle haben dich besucht und dir ihren Trost versichert. Selbst die Anführer der radikalen Anarchisten saßen an deinem Bett und haben deine Hand gehalten. Nur ich brachte es nicht fertig zu dir zu kommen. Ich schäme mich so entsetzlich.“
Colette wog die kluge Frau wie einen Säugling in ihren Armen.
„Meine schöne wunderbare Gabriela. Lass ab von deinen Selbstanzeigen. Ich habe dir versichert, dass ich auch für diese Reaktion absolutes Verständnis hatte. Du bist noch immer traumatisiert durch die schlimmen Erlebnisse deiner Krankheit. Es ist verständlich, dass es dir schwer fällt, Leid anzusehen. Glaub mir! Ich werfe dir nichts vor! Alles ist in Ordnung. Du bist meine Schwester, so wie die anderen auch und ich habe dich lieb!“
Diese Aussage rührte Gabriela erst recht zu Tränen. Doch es handelte sich nun um Tränen der Erlösung. Die Königin hatte ihr in allem vergeben. Es bestand kein Grund für ein überzogenes Schamgefühl.
Lange noch saßen sie beisammen, eingehüllt in die wohltuende und heilende Stille ihres sicheren Zufluchtsortes. Ein wichtiges Gespräch, schon lange überfällig. Nun war alles ausgesprochen. Die beiden kamen einander näher. Es konnte nur noch besser werden.
Nach einer Weile bette Colette die neu gewonnen Freundin in die Decke, verabreichte ihr einen Kuss und streichelte deren Wangen.
Dann schwankte sie zu ihrem eigenen Bett. Noch eine Weile drang Gabrielas zartes Wimmern an ihre Ohren, bevor sie in einen leichten Schlummer fiel.
Als Colette erneut erwachte graute der Morgen als ein schwacher Schimmer im Osten. Jetzt, Ende Januar wurden die Tage ganz langsam wieder länger, auch wenn man noch nicht all zu viel davon bemerkte
Sowohl Colette als auch Gabriela sehnten sich nach Wärme und Licht.
„Bist du schon lange wach? Oder bist du gar nicht erst eingeschlafen?“ erkundigte sich Colette sogleich bei ihrer Zimmergenossin.
„Richtig geschlafen habe ich gar nicht, nur so vor mir hin gedöst. Zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf.“ Erhielt sie zur Antwort.
„Bei mir ist das ähnlich. Ich komme auch nicht mehr zur Ruhe. Aber sag mal, was ich dich schon länger einmal fragen wollte. Wie geht es eigentlich in eurer Beziehung zu dritt?“
Colette wunderte sich selbst über die Direktheit mit der sie Gabriela forderte, ansonsten ganz und gar nicht ihre Art.
„Soweit läuft es ganz gut. Zumindest besser als erwartet.“ Gab Gabriela zu verstehen und ihrem Tonfall glaubte Colette zu entnehmen, dass da wenig Begeisterung mitschwang.
„Verstehst du dich noch immer gut mit Kristin?“ Wollte die Königin wissen.
„Auf jeden Fall! Sie tut mir unendlich gut. Kristin ist mein Sonnenschein. Ihre Frohnatur versteht es immer wieder aufs Neue mich von den Depressionen zu befreien. Ich bin so dankbar dass sie in mein Leben trat.“ Eine Antwort die schon bedeutend positiver klang.
„Genauso ist es bei mir und Betül. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie ich ohne ihre Hilfe in der letzten Zeit zurecht gekommen wäre. Sie ist mein Lebenselixier. Sie gibt mir Kraft und Zuversicht für jeden neuen Tag.“ Erwiderte Colette.
„Dann geh ich sicher recht in der Annahme, dass mit Aischas Geburt euer Familienglück vollkommen scheint.“ Glaubte Gabriela zu wissen
„Ja und wie! Das größte Geschenk meines Lebens. Die Kleine hat meinem Dasein noch einmal eine tief greifende Wendung beschert. Auch wenn ich zugeben muss immer noch ängstlich zu sein, dass es mich überfordert. Aber Betül meistert ihre Rolle hervorragend.“
„Das ist schön! Mir war es leider nicht vergönnt ein eigenes Kind zu haben. Ich hätte mir so sehr eine Tochter gewünscht. Aber ich muss mich mit der Tatsache abfinden.“
Bedauerte Gabriela.
Colette versuchte sie aufzumuntern.
„Aber dafür hast du noch einen Mann an deiner Seite. Wie kommst du mit Klaus zurecht.“
„Hmm, eine schwierige Frage!“ Es schien Gabriela schwer zu fallen darüber zu sprechen, offensichtlich hatte Colette einen wunden Punkt angesprochen.
„Er ist lieb und gut zu mir, keine Frage. Hilfsbereit zudem und immer auf mein Wohl bedacht.
Aber es ist bei Weitem nicht mehr so wie früher. Ich hege schon lange den Verdacht, dass er mir bewusst aus dem Weg geht, bei der vielen Zeit die er entweder auf der Arbeit oder im Männerzentrum verbringt. Na und unsere Dreierkonstellation ist schon eine echte Herausforderung.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Wenn wir zu dritt beisammen liegen, kommt bei mir stets die Angst, dass wir Kristin zuviel zumuten. Wir nehmen sie in unsere Mitte. Häufig bekomme ich dann Gewissensbisse, dass wir sie zum Sexobjekt degradieren. Wie wunderbar läuft es dagegen wenn ich mit ihr alleine bin, dann ist es einfach nur himmlisch ihre Zärtlichkeit und Wärme zu spüren. Jedoch melden sich dann sofort meine Bedenken in punkto Klaus. Das wir ihn womöglich ausschließen. Und das macht mich traurig.“
„Das ist der Grund warum ich Dreierbeziehungen sehr skeptisch gegenüberstehe, die Gefahr, dass einer dabei zum Verlierer wird, ist stets gegeben. Wenn schon Mehrfachbeziehungen, dann sollten diese immer eine gerade Zahl ergeben. Ich denke da an Folko, Kyra, Alexandra und Ronald. Die scheinen ganz gut damit zurecht zu kommen. Ich für meinen Teil bin froh dass Betül zufrieden ist mit dem wie es derzeit läuft, auch wenn meine Angst von ihr verlassen zu werden eines oder einer Jüngeren wegen nach wie vor bedeutend ist.“
Unter dererlei Gesprächen zog sich der Vormittag dahin. Bald stellte sich heraus, dass Elena die sich eigentlich für diesen Tag frei genommen hatte, am Morgen in die Regierungszentrale gefahren war. Verschiedene dringliche Angelegenheiten machte ihre Anwesenheit dort erforderlich.
Die geplante Untersuchung würde wohl erst am späteren Nachmittag stattfinden.
Aber auf diese Weise kamen sich beide weiter näher.
Ihre Gespräche gingen vom Hundertsten ins Tausendste. Natürlich bildeten auch die Traumvisionen eine gute Grundlage für ein tief schürfendes Gespräch, immerhin leitete Gabriela neben ihrer Funktion als Wissenschaftsministerin auch noch das eigens für die Erforschung der Amazonengeschichte gegründete Institut. Sie versprach künftig eng mit Colette zusammenzuarbeiten, vor allem nachdem die ihr offenbart hatte, dass sie glaubte, auch Gabriela in einer der Amazonenschwestern wieder erkannt zu haben.
Kurz vor Mittag öffnete dich die Tür und Dina, die Leitende Ärztin betrat das Zimmer. „ Leider ist Elena noch immer nicht eingetroffen. Ich hab mir ihr telefoniert, sie hofft im Laufe des Nachmittags bereit zu sein. Aber eine kleine Entschädigung gibt es. Besuch ist für euch da!“
Betül und Kristin betraten gemeinsam das Krankenzimmer. Klein-Aischa befand sich wie immer im Tragebeutel an der Brust ihrer Mutter und blickte aufgeregt um sich. Als sie Colette entdeckte hielt sie nichts mehr und sie strampelte vor Freude mit den Armen und Beinen.
Da...da...da..da...da!“
Betül nahm sie aus dem Tragebeutel und übergab sie an Colette, bevor sie sich selbst ihrer Frau zuwandte und ihr einen zärtlichen Kuss verabreichte. Auch Kristin begrüßte zunächst die Königin.
„Kristin, Gabriela ging es nicht gut in der Nacht. Sei hat große Angst und hat sehr geweint. Sei besonders lieb zu ihr!“
„Ich danke dir für deinen Hinweis! Das hört sich nicht gut an. Ich habe so etwas befürchtet.“
Die beiden Besucherinnen schritten gemeinsam zu Gabriela. Nach einer Weile kehrte Betül zu Colette zurück.
„Guten Morgen meine Schöne. Wie geht es denn? Wieder viel geweint?“ Flüsterte Kristin ihrer Gefährtin sanft ins Ohr, nachdem sie sich auf der Bettkante niedergelassen hatte. Danach nahm sie deren Kopf in beide Handflächen und begann ihr Gesicht mit einer Flut von Küssen einzudecken.
„Einen ganz lieben Gruß von Klaus. Der wollte eigentlich mit mir kommen. Aber er befindet sich noch in der Kabinettssitzung, gemeinsam mit Elena und den anderen Regierungsmitgliedern. Sobald er es ermöglichen kann wird er den Besuch nachholen, lässt er ausrichten.“
„Das ist lieb von ihm. Aber wichtig ist, dass du gekommen bist. Die Depression war wieder schlimm in dieser Nacht. Colette wird es dir bestätigen können.“
Kristin wusste inzwischen genau was sie in einer solchen Situation zu tun hatte. In Hand umdrehen befreite sie sich von ihren weißen Lederstiefeln und streckte sich neben Gabriela auf der Decke aus, schloss ihre Gefährtin in die Arme und hielt sie einfach, dabei hin und wieder mit den Handflächen den Rücken hinunterfahrend.
Die Szene bedurfte keiner weiteren Worte.
Betül und Kristin hatten den Vormittag mit einander verbracht, gemeinsam mit Aischa unter anderen einen großen Spaziergang unternommen, im Anschluss daran im Klostercafe gesessen und sich ausgetauscht. Ihre jeweiligen Erfahrungen, was ihre Partnerschaften betraf, ihre Gefährtinnen waren beide wesentlich älter als sie selbst und krank.
„Kristin ist eine tolle Frau.“ Flüsterte Betül in Colettes Richtung. „Wir haben uns gut unterhalten. Da gibt es eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Schade, dass ich bisher nur wenig Kontakt zu ihr hatte. Sieh nur wie einfühlsam sie mit Gabriela umgeht. Ist das nicht wundervoll?“ Betül verringerte ihre Lautstärke nochmals, so als habe sie Angst die beiden aus dem Schlaf zu wecken.
„Ja, dass ist es! Aber das können wir auch!“ Es folgte eine sinnliche Umarmung mit Aischa in der Mitte.
„Wir hofften, dass ihr schon alles überstanden habt, wenn wir kommen. Das ist zu dumm mit dieser Verzögerung.“
„Na jetzt seit ihr erst mal hier. Da wird das warten schon viel angenehmer. Ehrlich gesagt hab ich es nicht sehr eilig. Die schmerzhafte Prozedur ist da noch das geringere Übel. Die endgültige Diagnose macht mir Kopfzerbrechen. Wie wird es weitergehen? Welche Probleme werden auf mich, auf uns zurollen? Gabriela hat noch weitaus größere Angst.“
Es folgte einige Augenblicke der Stille. Gabrielas zartes Weinen drang zu ihnen herüber. Sie klammerte sich an ihre junge Geliebte, als stünde ihre Hinrichtung unmittelbar bevor.
Kristin versuchte nach bestem Wissen zu beruhigen.
„Da...da...da..da!“
Meldete Aischa ihren Anspruch auf Aufmerksamkeit an
„Ja mein kleiner Liebling, dich hätte ich bald vergessen!“ Colette nahm die Kleine auf den Arm und stupste mit dem Zeigefinger das Näschen, was die kleine Prinzessin mit einem süßen Lächeln honorierte. Dann schmiegte sie sich eng an ihre Mama Colette.
„Die Kleine war übrigens sofort von Kristin angetan. Die kann ungeheuer gut mit Kindern umgehen. Wir können Aischa mit gutem Gewissen zu ihr in die KITA geben wenn sie alt genug ist.“ Schlug Betül vor.
„Alle Kinder mögen Kristin. Die sind regelrecht fixiert auf sie. Aischa ist bei ihr in guten Händen.“ Pflichtet ihr Colette bei.
„Ruhig! Ganz ruhig! Es wird alles gut! Du wirst sehen, die Untersuchungen werden negativ ausfallen. Du bist bald wieder ganz die alte, die ich so sehr mag. Ich bleibe bei dir, bis alles vorüber ist.“ Versuchte Kristin ihre Gefährtin zu beruhigen.
Der Nachmittag war weit fortgeschritten, als Elena endlich eintraf. In Windeseile verwandelte sich Akratasiens Kanzlerin für kurze Zeit wieder in eine Ärztin um zwei Menschen die ihr sehr nahe standen ihre Hilfe zukommen zu lassen.
Gemeinsam mit Klaus betrat sie das Krankenzimmer und begrüßte die beiden Patienten in gewohnt geschwisterlicher Zuwendung.
„Entschuldigt bitte nochmals meine Verspätung. Wir wollen es so schnell wie irgend möglich hinter uns bringen. Ich brauche eine kurze Zeit der Vorbereitung, Dina wird mich dabei unterstützen. Ich muss erst mal umschalten.“
„Wenn es dir heute zu viel wird können wir auch noch bis morgen warten, Elena. Du bist auch nur ein Mensch, vergiss das nicht!“ Bot Colette an.
„Nein! Ich habe es euch versprochen und ich werde mich daran halten. Ich bin in Ordnung, ich fühle mich durchaus in der Lage dazu.“ Lehnte Elena das Ansinnen ab.
„Colette, du kommst als erste an die Reihe, wenn du einverstanden bist.“
Die angesprochene signalisierte Kopf nickend ihre Zustimmung.
„Ich werde bei dir bleiben, aber Aischa sollte dem Geschehen nicht beiwohnen. Madleen kann ich sie für eine Weile in deine Obhut geben.“
„Ja natürlich Betül! Das ist doch keine Frage!“ erbot sich Madleen sogleich.
Akratasiens Prinzessin protestierte auf schärfste als ihre Mutter im Begriff war sie aus Colette Schoss zu heben.
Laut schreiend und mit Ärmchen und Beinchen rudernd gab sie ihrem Unmut über das Geschehen kund. Es schien als habe sie begriffen, dass man vor hatte ihrer Mama Colette weh zu tun. Damit war sie ganz und gar nicht einverstanden. Noch als Madleen mit ihr bereits den Raum verlassen hatte konnte man ihr Schreien von draußen hören.
Klaus hatte, nachdem er Colette begrüßte, sich sofort seiner Frau zugewandt. Nach einer kurzen Weile begaben sie sich mit Kristin zu der kleinen Sitzecke am Fenster. Sie nahmen Gabriela in ihre Mitte und versuchten nun gemeinsam deren Depression Einhalt zu gebieten.
Schließlich war es soweit und Elena nahm den schmerzhaften Eingriff zunächst bei Colette vor. Betül wich nicht von deren Seite bis alles vorüber war. Im Anschluss war Ruhe angesagt.
Betül verabschiedete sich.
„ Ruh dich erst mal aus. Aber wenn du mich brauchst bin ich wieder zur Stelle.“ Gleich im Anschluss kam Gabriela an die Reihe. Klaus verabschiedete sich vorher. Er habe noch einen wichtigen Termin in der Regierungszentrale, würde sich aber sobald als möglich wieder einfinden. Ob dies der Wahrheit entsprach konnte niemand mit Gewissheit sagen. Das spielte auch keine so große Rolle. Kristin blieb, wie nicht anders zu erwarten.
Im Gegensatz zu Colette, die außer einer leichten Benommenheit und Müdigkeit keine Nachwirkungen davon trug, hatte Gabriela schwer zu kämpfen, unter anderem mit starken Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. Kristin wachte die ganze Nacht an ihrem Bett, meist an deren Bettkante sitzend, hin und wieder streckte sie sich an der Seite ihrer Gefährtin aus.
Erst als der Morgen graute und es Gabriela dem Anschein etwas besser ging verabschiedete sie sich leise und entschwand.
Die beiden Leidensgenossinnen verbrachten den folgenden Vormittag noch gemeinsam. Elena beharrte darauf, dass beide sich noch eine Weile auf der Krankenstation aufhielten, um bei möglichen Komplikationen schnell eingreifen zu können.
Gabriela erholte sich langsam, auch wenn sie noch immer nicht vollständig genesen war.
Zeit nochmals das Gespräch zu suchen und den guten Kontakt den beide endlich zu einander gefunden hatten, weiter zu vertiefen.
„Kommt Kristin heute noch mal vorbei? Erkundigte sich Colette.
„Sie wird mich abholen sobald sicher gestellt ist ,dass ich nach Hause kann. Sie hat Dienst in der Kita heute Morgen, deshalb ist sie bisher noch nicht erschienen.“ Antwortete die Angesprochene.
„Ich finde keine Worte um auszudrücken was ich sagen möchte. Ich lag noch eine ganze Weile wach die Nacht und war Zeuge wie liebevoll sie sich deiner angenommen hat. Ich spüre das Bedürfnis Kristin zu sagen welch große Hochachtung ich für sie hege.“
„Das ist lieb von dir! Ja, sag es ihr! Sie hat es verdient. Wenn ihr dass die Königin von Akratasien sagt, ist das eine besondere Auszeichnung. Kristin hat es wieder einmal geschafft meine Depression zu bannen. Ich wäre fast verzweifelt, ihre Zärtlichkeit und Wärme haben mich wieder aufgerichtet.“
„Es ist wunderbar zu sehen wie ihr miteinander umgeht!“
„Wir sind für einander bestimmt! Es kann gar nicht anders sein. Wir brauchen einander. Aber gerade deshalb mache ich mir große Sorgen. Was wird sein, wenn ich plötzlich sterben muss? Was wird dann aus Kristin?“ Sorgte sich Gabriela!
„Komisch, jetzt da du es sagts fällt mir ein, dass es mir mit Betül nicht anders ergeht`. Ich ertappe mich stets und ständig bei dem Gedanken was wohl nach mir kommen wird. Betül ist 25 Jahre jünger als ich, bei euch ist es wohl nicht ganz so viel?“
„ 21 Jahre Unterschied!“ Bestätigte Gabriela.
„Vor allem nach Aischas Geburt begann es heftig in mir zu brodeln. Noch jemand mehr um den ich mir Gedanken machen muss. Aber was ist denn mit Klaus? Glaubst du Kristin bei ihm in guten Händen?“
„Hmm, ja schon. Ich hoffe es zumindest. Aber andererseits....“ Gabriela machte eine Kunstpause um zu überlegen.
„Ich weiß nicht, ich hege auch Zweifel. Wird er sich ihr in angemessener Weise widmen?
Kristin braucht eine starke Hand, die ihr Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung und Förderung gewährleistet.
Hat er den ganzen Menschen im Blick, oder ist er nur auf ihr hübsches Gesicht und ihren erotischen Körper fixiert? Sollte dass zutreffen, besteht für meine wunderbare junge Gefährtin die Gefahr, dass sie in ihre alten Gewohnheiten zurückfällt. Das wäre verheerend.“
„Aber du hast auch eine sexuelle Beziehung mit ihr. Wieso wäre es mit Klaus so anders?“
Hakte Colette nach.
„Das kannst du nicht vergleichen! Kristin ist viel mehr für mich als nur meine Geliebte, sie ist meine Schülerin, sie ist gleichwertige Schwester in unserem Bund und in gewisser Hinsicht auch Tochterersatz. Ich vertraue meinem Mann. Wir sind schon so lange zusammen. Ich glaube ihn zu kennen, andererseits auch wieder nicht. Er ist eben.... Mann! Und Männer gehen mit Frauen nun mal anders um als Frauen untereinander.“ Lies Gabriela ihre Bedenken erkennen.
„Wofür unsere Gemeinschaft das beste Beispiel gibt! Würdest du Kristin lieber in der Obhut einer Frau sehen?“
Eine entscheidende Frage, die eine klare Antwort erforderte.
„Ja! Auch wenn ich Klaus damit Unrecht tue. Nur eine andere Frau kann Kristin davor bewahren wieder abzustürzen. Sie bedarf einer Gefährtin, die tief in ihr Herz blicken kann.“
Am späteren Nachmittag konnten beide Patientinnen die Krankenstation der Abtei verlassen und kehrten in ihre Wohnungen zurück.
Leider war es Elena nicht möglich beiden ein eindeutiges Ergebnis zu präsentieren. Der Verdacht auf MS bestätigte sich zwar nicht, doch das bedeutet keinesfalls Entwarnung. Die Gefahr bestand weiter, dass eine andere, womöglich noch gefährlichere Erkrankung in beiden Körpern schlummerte und nur darauf wartete jeden Moment erbarmungslos zu zuschlagen.
Gedrückte Stimmung. Doch beide wollten sich nicht unterkriegen lassen und waren bereit für den Kampf.
Doch in anderer Hinsicht waren die zurückliegenden zwei Tage außerordentlich erfolgreich.
Colette war hocherfreut über die Tatsache einen so guten Draht zu Gabriela gefunden zu haben. Sie hatten sich ausgesprochen und waren in Folge dessen zu Freundinnen geworden. Ein Resultat dass sich sehen lassen konnte. Gabriela würde ihr in Zukunft zu einer wichtigen Stütze, was die Aufarbeitung der tief im Dunkel der Geschichte verborgenen Präsenz der Amazonen betraf. Der Beweis für die Existenz des legendären Amazonenstaates im alten Orient rückte in greifbare Nähe. Würde dies tatsächlich gelingen, bedeutete das eine gewaltige Zäsur in der Geschichtsschreibung. Letztendlich müsste die Geschichte völlig neu interpretiert werden und den gängigen patriarchalen Deutungsmustern würde die Grundlage entzogen.
Wie zu Aradias Zeiten waren auch heute die Gegner übermächtig. Eine heterogene Allianz aus Historikern, Archäologen, Ethnologen, Anthropologen, Theologen und so weiter, würde sich nur zu dem einem Zweck zusammen finden. Unter dem Motto“ Es kann nicht sein, was nicht sein darf!“ das patriarchale Deutungsmonopol der Weltgeschichte mit allen zur Verfügung stellenden Mittel zu verteidigen.
Aus diesem Grund war eine präzise Vorgehensweise dringend erforderlich. Auf keinem Fall durfte man zu früh triumphieren. Strickte Geheimhaltung vorerst unumgänglich.
Zwei Tage nach ihrer Untersuchung fühlte sich Colette wieder in der Lage ihre Alltagsgeschäfte aufzunehmen.
In der Basilika lies sie sich von ihren Sekretärinnen zunächst über die anstehenden Termine informieren um danach zu entscheiden wie viel davon sie zu erfüllen gedachte.
Sie war gerade dabei sich an ihren Schreibtisch zu platzieren, als es ihr wie ein Blitz durch den Kopf schoss.
„Betül und Kristin!“ Entfuhr es ihr. Das war die Lösung.
Abrupt erhob sie sich wieder, griff nach ihrem Gehstock und bewegte sich scharfen Schrittes durch das Kirchenschiff. Die Sekretärinnen blickten sich nur an. Solche Anwandlungen waren sie in der Zwischenzeit von ihrer Königin gewohnt.
„Warum bin ich nicht schon eher darauf gekommen?“ sprach Colette zu sich selbst.
Kristin wäre die ideale Partnerin für Betül, wenn sie dereinst ihren Weg zum Sternenzelt genommen hatte.
Die Hoffnung Kim für diese Aufgabe zu gewinnen hatte sich als Trugschluss erwiesen. Die schien sich nur noch für die kesse Schweizerin Denise zu interessieren. Das pfiffen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Die beiden waren sich sehr ähnlich und passten gut zueinander. Da durfte man nicht dazwischen fahren
Rein äußerlich bildeten Betül und Kristin einen Gegensatz. Die Orientalin mit den rabenschwarzen glänzenden Haar, den braunen Augen und dem dunklen Teint ihrer Haut kontrastierte hervorragend zu der weißhäutigen Kristin mit ihrem aschblonden Haar und den grau-blaunen Augen. Doch charakterlich lagen sie nahe bei einander, waren fast in einem Alter und besaßen, wie sich herusstellte, viele gemeinsame Interessen. Zudem sprach Kristins Kinderliebe dafür. Klein-Aischa hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Ideale Voraussetzungen für eine gelungene Partnerschaft.
Doch wie konnte man es arrangieren die beiden einander näher zu bringen, so dass letztendlich der Funke übersprang? Daran musste sie in der Folgezeit beständig arbeiten und günstigsten Falles Gabriela gewinnen ,ihr dabei zu helfen, denn die plagten ähnliche Sorgen.
Sobald sich Gabrielas Gesundheitszustand gebessert hatte, würde Colette sie darauf hin ansprechen. Es lag auch in deren Interesse die beiden jungen Frauen zusammen zu bringen.
Kristin konnte ohne weiteres ihre Beziehung zu Klaus fortsetzen, es sprach nichts dagegen, einen Mann in ihrer Nähe zu wissen der doppelt so alt war wie sie selbst. Doch was die Hauptbeziehung betraf, so konnte das nur Betül sein. Die war noch immer eine Sufi und spirituell mit sich selbst im Gleichgewicht. Ihre Ausstrahlung konnte sich nur positiv auf Kristin auswirken.
Zeit zum handeln.
Sie wünschte, möglichst alles zu regeln und geordnet zurück zu lassen, ihre lieben dabei in Sicherheit und Glück wähnend.
Dann, wenn alles vorüber war und sie auf ihrer Wolke Platz genommen hatte, vielleicht sogar gemeinsam mit Gabriela, auf die Erde hinab blickend, würde sie dass mit einem überirdischen Glücksgefühl erfüllen.
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Inanna, Colette, Gabriela sowie die Autorin des Romans leiden alle an einer rätselhaften Erkrankung des Nervensystems, deren Symptome denen einer Multiplen Sklerose sehr ähnlich sehen. Diese Krankheit ist gekennzeichnet von starken Schmerzen in den Gliedmaßen, vor alle in den Gelenken, in der Lendengegend und im Kopf-Nackenbereich, Taubheit und Lähmungserscheinungen vor allem in den Füßen, Beinen, Armen und Händen, dazu Schwindel, Gleichgewichtsstörung, extremer Müdigkeit am Tag, Schlaflosigkeit in der Nacht. Atemnot, Hohen Blutdruck und extrem hohen Blutzuckerwerten.
Des Weiteren Gedächtnisverlust und Orientierungslosigkeit.
Die Ursachen dafür liegen weitgehend im Dunkel, plausibelste Erklärung sind psychosomatische Störungen infolge schwerer Depressionen, manchmal auch durch eine Erkrankung der Schilddrüse.
Möglich ist auch eine Virusinfektion im Kindesalter.
Die Heilungschancen sind ausgesprochen gering.
Eine Teilhabe am normalen Tagesablauf ist stark eingeschrenkt.
* siehe Kapitel Das Wunder um Gabriela und Kristin
** siehe Kapitel Ohne Dich