Heilende Brüche

 

Etwa zwei Wochen waren seit der Hochzeit ins Land gegangen. Der Frühling stand im Zenit. Die sanften Hügel, welche die Abtei umgaben waren soweit das Auge reichte mit zartem Grün überzogen. Blumen kämpften sich allerorts aus dem Boden und deren Blüten verliehen der Erde eine farbige Aura. Im Wald wimmelte es von Leben, Käfer krabbelten eilig durch das abgestorbene Laub, nackte weiße Pilze schossen aus der Erde. Vögel flatterten durch die Zweige, an denen sich die Blätter nun in ihrer Ganzheit zu entfalten begannen. Eichhörnchen jagten übermütig die Stämme hinauf und hinunter.

Alles unterlag dem Schutz der hohen alten Bäume, ihrer stummen Kraft und erhabenen Gelassenheit. Diese schienen das ganze Land zu einem lebendigen Tempel zu machen.

Endlich fand auch der Trubel ein Ende und der Alltag zog wieder ein. Zeit für Elena, alles noch einmal Revue passieren zu lassen.

Ein Ereignis hatte sie dabei besonders im Blickwinkel, nämlich die Tatsache, dass sich Cornelius zu ihr begeben hatte. Sie litt sehr unter dem Umstand, dass sie damals, vor so langer Zeit, mit ihm gebrochen hatte und Cornelius selbst erging es nicht viel besser.

Es war ihm gelungen, seinen Schatten zu überspringen und den Weg zu ihr zu finden. Elena machte sich Vorwürfe, der alte Mann war zu ihr, zu einer wesentlich jüngeren gekommen, um ein Friedensangebot zu unterbreiten. Er hatte das Richtige getan und ihre Hochzeit zum Anlass genommen, den Kontakt zu knüpfen.

Eigentlich wäre es ihr zugekommen, den ersten Schritt zu tun, das glaubte sie zumindest.

War der Bruch jetzt überwunden? Auf dem ersten Blick sicher.

Cornelius hatte Elena zu einem Gegenbesuch eingeladen und sie gedachte dieser Einladung so bald als möglich nachkommen.

„Sag mal, wann willst du denn zu Cornelius gehen?“ erkundigte sich Madleen, als Elena gerade im Begriff war, ihr Büro zu betreten.

„Was heißt hier ich? Wir werden zu Cornelius gehen, er hat uns eingeladen. Du bist jetzt meine Frau oder hast du das vergessen?“ erwiderte Elena, während sie den großen eichenen hölzernen Büroschrank durchkämmte.

„Ja schon! Aber ich habe Cornelius doch erst auf unserer Hochzeit kennen gelernt. Es gibt zwischen mir und ihm keine Zwistigkeiten. Es liegt an dir, einen Brücke zu schlagen.“

„Hast du vergessen was wir uns geschworen haben? Deine Wege sind die meinen und umgekehrt. Du gehörst zu mir wie ich zu dir. Deshalb gehen wir alle. Die kleine Tessa nehmen wir auch mit, selbstverständlich wird Colette uns begleiten, sie ist unsere Königin, vergiss das niemals.“ widersprach Elena.

„Aber geht das nicht ein wenig zu weit? Ich meine, er möchte doch sicher mit dir allein sprechen. Und ihr werdet viel zu bereden haben, nach so langer Zeit.“ vermutete Madleen.

„Sicher haben wir das, aber deshalb könnt ihr trotzdem mit kommen. Wir sind ein Team. Die Zeit, da Elena alles im Alleingang regelte sollte endgültig der Vergangenheit an gehören.

In Zukunft werden wir verstärkt kollektiv auf treten.

Es wird, sagen wir mal ein schöner Familienausflug. Keinesfalls möchte ich das an die große Glocke hängen. So geheim wir nur irgend möglich. Unter keinen Umständen sollte die Presse davon Wind bekommt. Ich hatte eine private Fehde mit Cornelius und die gedenke ich auszubügeln, die Öffentlichkeit hat damit rein gar nichts zu tun.“

„Und wie willst du das anstellen, ich meine, wie sollen wir unbemerkt zu Cornelius gelangen? Hast du dir darüber Gedanken gemacht?“ wollte Madleen wissen.

„Nein, habe ich ehrlich gesagt noch nicht. Aber mir wird schon etwas einfallen.“ versicherte Elena. In der Zwischenzeit hatte sie offenbar gefunden wonach sie suchte, drängte Madleen aus der Tür in den Korridor und schloss diese hinter sich. Dann begaben sie sich in den Kreuzgang. 

„Wundervoll dieser Frühling, findest du nicht auch?“ Elena atmete tief ein und richtete ihren Blick dabei in den von den Säulengängen umgebenen Innenhof, wo es an allen Ecken und Kanten grünte und blühte.

„Haben wir uns nicht ein schönes Stückchen Erde ausgesucht? Ach, bin ich froh, dass ich mich damals für den Kauf der Abtei entschieden habe.“

„Kann ich nicht beurteilen, ich war damals noch nicht aktuell. Aber mit Sicherheit hast du recht, was das schöne Fleckchen Erde bedeutet.“ pflichtete Madleen ihr bei, auch wenn sie nicht so recht zu deuten wusste, worauf Elena hinauswollte.

„Ich will damit sagen, dass sich seit unserer Hochzeit einiges in positivem Sinne entwickelt hat. Die Versöhnung mit Cornelius ist ein wichtiger Schritt in Richtung Entspannung. Wenn mir Cornelius den Rücken stärkt, mit mir in der Öffentlichkeit spricht, kann sich auch Neidhardt nicht mehr verschließen!“ wähnte sich Elena am Ziel ihrer Träume.

„Du hast noch immer vor, das Gespräch mit Neidhardt zu suchen?“

„Ja, und es wird mir gelingen. Ich muss es einfach versuchen. Ich nutze meine Besuche bei Cornelius um ihn ganz offiziell zu bitten, sich bei Neidhardt für mich zu verwenden. Wer, wenn nicht er, könnte das herbeiführen? Erst dann werden wir in der Lage sein, die Früchte unserer Arbeit wirklich zu genießen!“

„Aber tun wir das nicht jetzt schon? Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz!“ bekannte Madleen.

„Natürlich tun wir das schon jetzt. Wir brauchen nicht das Wohlwollen eines Neidhardt um glücklich zu sein. Aber andererseits sollten wir immer bedenken, dass es in einem Meer von Ertrinkenden keine Insel der Glückseligen geben kann. Ich will damit sagen, dass wirkliches Glück sich erst dann voll zu entfalten vermag, wenn möglichst viele daran teilhaben und nicht nur ein kleiner Kreis von Auserwählten.“ versuchte Elena zu verdeutlichen.

Madleen verstand, sie verstand immer, auch wenn es stets etwas schwierig war Elenas Gedankengängen zu folgen.

 

Ganz verheimlichen ließ sich Elenas Besuch bei Cornelius natürlich nicht. Aber da es derzeit weder in Akratasien noch im altmelancholanischen Staatsgebieteine Boulevardpresse gab, beschränkte sich die Berichterstattung auf eine kurze sachliche Schilderung, ohne Wertung oder großspurige Umschreibung.

Der Besuch hatte auch ganz und gar nichts Förmliches an sich, glich eher einem gemütlichen Kaffeeklatsch, genauso hatten es sich alle Beteiligten gewünscht.

Cornelius großes, stilvoll mit alten Möbeln aus Mahagoniholz eingerichtetes Büro, bot der kleinen Tessa ein weiträumiges Betätigungsfeld um sich auszutoben. Madleen hatte es sich zur Aufgabe gemacht die Kleine zu beaufsichtigen und tollte mit ihr auf dem Boden herum, während Elena und Colette mit Cornelius ihren Kaffee schlürften.

„Madleen, möchtest du dich nicht setzen und erst mal nen Kaffee mit uns trinken?“

Erkundigte sich Elena.

„Nein nein, ist schon in Ordnung, macht ihr nur. Ich kümmere mich gerne um Tessa. Tue ich ja sonst auch.“

„Eben deshalb!“ bestätigte Elena. Es gefiel ihr ganz und gar nicht das sich ihre Frau bei offiziellen Angelegenheiten immer häufiger absonderte, sich in zunehmenden Maße mit der Rolle als Hausfrau und Mutter begnügte. Viel lieber sähe Elena ihre Gefährtin an ihrer Seite.

Sie waren ein Paar, ein Team und auf diese Weise sollten sie auf treten. Doch Madleen machte sich überhaupt nichts aus solchen Dingen, blieb viel lieber im Hintergrund und umsorgte Elena nach Strich und Faden. Es machte ihr nichts aus Colette bei solchen Anlässen den Vortritt zu lassen.

„Ach ich kann gar nicht in Worte fassen wie glücklich ich bin, dich wieder bei mir zu haben. Pardon, ich meine natürlich euch alle.“ bekannte Cornelius. „Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass wir die Fähigkeit zur Aussöhnung aufbringen. Jetzt, da es endlich soweit ist, kommt es mir so vor als sei überhaupt nie etwas vorgefallen.“

„Du hast den ersten Schritt getan Cornelius. Die Überraschung war groß als du zu durch die große Pforte kamst. Ich möchte sagen, es war von den vielen Gaben das schönste Hochzeitsgeschenk. Eigentlich hätte ich den Anfang setzen müssen.“ Erwiderte Elena.

„Nein, es war an mir. Viel Zeit stand mir zur Verfügung, Zeit um gründlich über alles nachzudenken. Ich habe mich damals unmöglich benommen. Es wäre meine Pflicht gewesen Neidhardts Treiben Einhalt zu gebieten. Aber ich tat es nicht. Ich habe versagt. Dir diese Sache mit Leanders Grab zu zumuten war eine Pietätlosigkeit ohne gleichen.

Du tatst Recht, als du mich, uns alle in die Schranken gewiesen hast.“

Cornelius Worte versetzten Elena einen Stich in der Herzgegend. Lange schon war Gras über die Sache gewachsen. Sie wollte unter allem Umständen vermeiden, alte Wunden aufzureißen.

„Es ist Geschichte Cornelius. Aus und vorbei. Wir wollen nicht mehr darüber reden. Durch die Tatsache, dass du mich aufgesucht hast können wir einen Schlussstrich ziehen. Lass die Vergangenheit ruhen. Es gibt genügend Probleme in der Gegenwart und von der Zukunft ganz zu schweigen.“

Dann folgte jene Geste, die weitere Worte überflüssig machte. Elena erhob sich und nahm auf dem Boden direkt zu Cornelius Füßen Platz, legte ihren Kopf in dessen Schoß.

Sanft fuhr die Hand des alten Mannes durch die samtweiche kupferrote Lockenpracht.

Vater und Tochter, wenn auch nur im Geiste, hatten sich wieder.

Nach einer kurzen Zeit des Innehaltens rief Elena noch auf dem Boden sitzend zu ihrer Geliebten.

„Madleen, möchtest du nicht doch zu uns rüber kommen und einen Kaffee trinken. Ich kann mich doch auch mal um Tessa kümmern.“

 Die wälzte sich gerade mit der Kleinen auf dem Boden und lies sich von ihr das Haar zerzausen.

„Ach was, ist alles in Ordnung. Ihr habt euch doch sicher eine Menge zu erzählen.“

„Das können wie auch so!“

Elena erhob sich und schritt durch den großen Raum auf die beiden zu.

„So, jetzt kommst du zur Mama und lässt die Madleen mal für ne Weile in Ruhe.“

Tessa ließ sich nur ausgesprochen widerwillig ihrer Zweitmama entreißen. Madleen erhob sich, strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und begab sich zu der Sitzecke auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes.

Sie platzierte sich direkt zwischen Cornelius und Colette, ein verlegenes Lächeln formte sich auf ihren Lippen. Demonstrativ rückte sie näher zu Colette, während die eine Tasse mit Kaffee füllte.

Madleens Hände zitterten so heftig das Untertasse, Tasse nebst Inhalt beinahe zu Boden gingen als sie diese in Empfang nahm. Die Anwesenheit des alten Mannes der Weisheit, Würde, Souveränität aber auch Güte und Mitgefühl ausstrahlte, machte sie nervös. Madleen war im Umgang mit großen Persönlichkeiten nicht annähernd so geübt wie Elena oder Colette und Cornelius war für sie im Moment noch immer ein weitgehend Fremder. Aber mit Elena verband ihn sehr viel, vor allem Persönliches. Damit musste sich Madleen auseinandersetzen. Würde es ihr gelingen am Ende ebenfalls so eine Art Tochterverhältnis zu ihm aufbauen, so wie sich das Elena wünschte?

„Was ist mit dir? Alles in Ordnung?“ Erkundigte sich Colette, die schon lange die Nervosität der Schwester bemerkt hatte.

„Nur ein wenig aufgeregt, das ist alles. Mach dir um meinetwillen keine Gedanken.“ Versuchte die zu beschwichtigen.

„äh..ja äh. Lebst du denn ganz alleine hier in diesem großen Palast?“ Madleens Frage entsprang  eher ihrer Hilflosigkeit denn eines wirklichen Interesses, da sie glaubte, den alten Mann ansprechen zu müssen.

„Ja, ganz alleine. Eine Familie gibt es nicht mehr, leider. Die meisten die mir ans Herz gewachsen, weilen nicht mehr unter uns. Damit ist natürlich auch eine Art von Einsamkeit vorprogrammiert. Aber ich versuche mit verschiedenen Mitteln dagegen anzukämpfen.“

Versuchte Cornelius mit freundlichem Tonfall zu erklären.

„Nun, ich denke damit könnte es bald ein Ende haben. Wie ich Elena kenne, hat sie in dieser Richtung schon ihre Fühler ausgestreckt. Sie duldet nicht das sich Menschen einsam fühlen, schon gar nicht jene die sie in ihr Herz geschlossen.“ Glaubte Colette zu wissen.    

Währenddessen schritt Elena mit der kleinen Tessa auf den Armen zu dem großen Fenster und richtete ihren Blick auf den zentralen Platz.

„Hat sich ja ne ganze Menge verändert. Jetzt erst wird mir erst richtig bewusst, wie lange ich nicht mehr hier war. Da ist nicht viel geblieben von der einstigen lebhaften Metropole.“

„Das kann schon sein. Es gibt nicht wenige die Manrovia als großes Dorf bezeichnen. Sicher eine Übertreibung, aber da steckt schon ein Körnchen Wahrheit darin. Neidhardt wollte sicher gehen dass möglichst wenig an die alten Zeiten erinnert. Der Platz dient auch ganz besonders für seine inszenierten Auftritte und Paraden.“ Antwortete Cornelius

Nach einer Weile wandte sich Elena in Richtung Sitzecke.

„Sag mal Cornelius ob du mir wohl zu einem Gespräch mit Neidhardt verhelfen kannst?“

„Hmm, ich kann es versuchen. Versprechen kann ich nichts. Dir ist bewusst wie er zu dir steht. Er hat es seit den Tagen der Revolution strikt abgelehnt mit dir direkt und persönlich zu kommunizieren. Aber ich werde sehen was ich tun kann.“ bedauerte Cornelius.

„Ich denke das kannst du dir sparen Elena, das versuche ich schon seit geraumer Zeit, euch in Kontakt zu bringen. Mit mir redet er, mich empfängt er, wenn auch unter strikter Geheimhaltung. Ich hab ihn immer wieder darauf angesprochen und dein Gesprächsangebot unterbreitet, aber immer wenn ich das Thema erwähnte brach er augenblicklich das Gespräch ab. Der meidet dich wie der Teufel das Weihwasser.“ Schaltete sich Colette ein.

„Ach ja Colette, deine Geheimdiplomatie, da müssen wir unbedingt mal in Ruhe darüber reden. Also du bist in der Tat etwas außergewöhnliches, es bestätigt sich immer wieder aufs Neue. Ich kann mir nach wie vor kaum vorstellen, wie es dir gelang so mir nix dir nix zu ihm durchzudringen.“ Brachte Cornelius sein Interesse zum Ausdruck.

„Könnte nicht Elena auf die gleiche Weise zu ihm gelangen? Nimm sie doch bei einem deiner nächsten nächtlichen Besuche mit. Was spricht dagegen?“ Schlug Madleen vor.

„Viel zu riskant! Der könnte unter Umständen total ausflippen. Damit riskieren wir das Neidhardt in Zukunft wieder mauert. Ich konnte mit meinen Besuchen eine ganze Menge an Kleinigkeiten rausholen, die uns heute das Leben ein wenig erleichtern. Ohne die würden wir heute hier nicht sitzen.“ Lehnte Colette ab.

„Colette und ich haben das auch eine Weile erwogen und uns darüber ausgetauscht, sind aber zu der Erkenntnis gelangt es nicht darauf ankommen zu lassen. Nein, es muss einen andern Weg geben. Auch der Ort sollte ausgewogen sein. Auf gar keinen Fall in der Parteizentrale auch nicht im Regierungspalast, strikte Geheimhaltung ist ohnehin Voraussetzung.“ Entgegnete Elena während sie mit Tessa auf dem Arm wieder zu den andern kam und sich auf der großen Couch niederließ.

„Wir werden beide versuchen ihn zu bearbeiten, Colette und ich auf je unterschiedliche Weise, bis wir ihn weich geklopft haben. Aber das kann dauern. Da brauchst du einen langen Atem Elena. Es könnten Wochen ins Land gehen.“ bot Cornelius schließlich an.

„Zeit spielt keine Rolle, wir haben genügend davon. Ich habe so lange gewartet, da kommt es auf ein paar Wochen mehr auch nicht an.“ versicherte Elena.

Tessa gefiel es auf dem Schoss ihrer Mutter ganz und gar nicht, sie hummelte solange bis Elena sie wieder auf den Boden gleiten ließ, auf der Stelle machte sie sich davon um weiterhin die neue Umgebung zu erkunden. Sie öffnete Schubladen, kramte in Papieren herum und was es sonst noch Interessantes zu finden gab, bis es Madleen zu bunt wurde und sie sich wieder Tessa zuwandte.

„Ganz schön aufgeweckt die Kleine. Ausgesprochen wissbegierig, würde ich sagen. Na wenn aus der nicht mal ne richtige Entdeckerin wird.“ Meinte Cornelius.

„Das kann man wohl sagen. Auch zu Hause ist sie ständig unterwegs. Ich glaube es gibt kaum etwas wofür Tessa kein Interesse entwickelt.“ Erinnerte sich Colette.

„Von wem sie das wohl hat?“ Schmunzelte Cornelius.

Elena erwiderte nichts, antwortete nur mit einem Lächeln. Tessa hatte nicht nur einen Elternteil. Auch Leander war übermäßig interessiert an allerlei Dingen. Sein ganzes kurzes Leben bestand vor allem darin zu lernen, zu erkunden und  seinen Horizont zu erweitern.  

Wehmut überkam Elena. Es war einfach nur ein Jammer das die beiden nie einander kennen lernen durften.

„Es wird für mich eine Freude sein, sie aufwachsen zu sehen.“ Meinte Elena nach einer Weile. Keiner erwiderte etwas darauf da sie sich bewusst waren was Elena damit aus zu drücken versuchte.

Die Plauderei ging weiter, es wurde für alle ein gemütlicher Nachmittag. Die Zeit verging schnell und schon war es Zeit zum Aufbruch.

„Ich hoffe ihr könnt dazu durchringen mich so bald als möglich wieder aufzusuchen. Es wäre schön wenn ihr regelmäßig kommt?“ Lud Cornelius ein.

„Mit Sicherheit kommen wir wieder. Ich könnte auch die anderen mit bringen, wenn dir das recht wäre, einige sind dir ja schon aus den alten Tagen bekannt. Andere sind im Laufe der Zeit hinzugekommen. Alles ganz interessante Leute.“ Schlug Elena vor.

„Ja gerne! Aber nicht so viele auf einmal!“ Stimmte Cornelius zu.

Elena erhob sich und steifte ihre Leinenturnschuhe über, wie so oft hatte sie sich auch hier barfuß bewegt.

„Dann machen wir uns auf den Weg. Weit ist es ja nicht gerade.“

„Drum eben! Aber in der langen Zeit die hinter uns liegt kam es mir manchmal so vor als trennten uns Tausende von Kilometern.“ Sinnierte der alte Mann.

„Es ist vorbei Cornelius. Wir haben es hinter uns. Nun heißt es einfach nur nach vorn zu blicken.“ Meinte Colette.

Die Verabschiedung verlief schnell. Elena hatte es eilig, sie benutzen wie schon bei ihrer Ankunft den Hintereingang des Regierungsgebäudes. Auf dem großen Parkplatz davor hatten sie ihren Jeep geparkt. Doch nicht nur das stürzte Elena in Grübeleien. Zu viele Erinnerungen kamen in ihr auf. Erinnerungen an eine Zeit die mit der derzeitigen nicht mehr viel gemein zu haben schien. Vor allem Leander schob sich immer wieder in ihr Bewusstsein.

Alles kam wieder hoch und drohte sie zu überfluten. Nur schnell nach Hause, Anarchonopolis dicken Mauern würden ihr die Sicherheit bieten derer sie jetzt am meisten bedurfte.

            

Die Wochen verstrichen und Elena wartete lange Zeit vergeblich auf ein Zeichen. Zweimal hatte sich Colette in geheimer Mission inkognito zu Neidhardt begeben um ihm Elenas Gesprächsangebot zu unterbreiten, vergeblich. Auch Cornelius Bemühungen blieben wirkungslos.

Neidhardt lehnte weiterhin jeglichen persönlichen Kontakt zu Elena ab.

Die Hoffnung auf eine weiterführende Entspannungspolitik schwanden. Mehr konnte und wollte Neidhardt wohl nicht über seinen Schatten springen.

Doch an einem heißen sonnigen Augustnachmittag überbrachte Chantal eine überraschende Botschaft.

Elena hatte sich wie so oft in dieser Jahreszeit in den Eichenhain zurückgezogen um im Schatten der urwüchsigen majestätischen Baumriesen einen Berg von Akten zu studieren.

Die Durchsicht der Schriftstücke löste Müdigkeit aus, so dass sie eine Weile am Stamm des größten Exemplars lehnte und leicht vor sich hin döste.

Im Unterbewusstsein spürte sie ein sanftes Streicheln an ihrer linken Wange und einen Kuss auf der Stirn, der sie sanft in den Wachzustand zurückrief.

„Hast du fest geschlafen? Habe ich dich geweckt?“ erkundigte sich Chantal.

„Ja, aber ist nicht weiter schlimm!“ Elena öffnet die Augen und blickte in Chantals Gesicht.

„Na, mein blonder Engel was gibt es denn so wichtiges, dass du mein Nachmittagsschläfchen unterbrichst?“ Wollte Elena wissen.

Chantal ließ sich am dicken Stamm neben Elena nieder, kuschelte sich eng an die Schwester und holte ein Schreiben aus ihrer Ledertasche.

„Hier, du glaubst nicht was ich vor etwa einer Stunde aus dem Faxgerät holte. Wenn du nicht schon sitzen würdest, könnte ich dir nur den Rat geben es zu tun. Denn diese Botschaft wird dich umhauen.“ Frohlockte Chantal und wedelte mit dem Papier unter Elenas Nase herum.

„Umhauen, was sollte mich noch umhauen, nach all dem was ich in der letzten Zeit erleben durfte?“

„Lies es doch einfach selber!“ Empfahl Chantal und Elena tat wie ihr geheißen.

Schon nach den ersten Zeilen machte sich Anspannung auf ihrem Gesicht bemerkbar. Wie eine Besessene wandte die geübte Schnellleserin den Kopf in Windeseile von der linken auf die rechte Seite und umgekehrt.

„Das kann nicht sein. Das ist eine Einladung! Neidhardt bietet mir eine Fernsehsendung im Funkhaus an. Ach was erzähle ich dir das, du hast es ja mit Sicherheit gelesen. Das ist in der Tat eine Überraschung. Mit so einer Reaktion hätte ich nie im Leben gerechnet. Aber wie soll ich das einschätzen? Kann ich ihm trauen?“

„Stell dir vor, Elena zurück im melancholanischen Fernsehen mit Bild und Ton, ganz offiziell.

Das kommt einer Rehabilitierung gleich.“ Begeisterte sich Chantal.

„Aber du hast doch den ganzen Text gelesen? Ich bekomme die Sendung nicht allein. Es soll eine Art Rededuell werden zwischen mir und Neidhardt und noch ein paar anderen, aber dabei handelt es sich  mit Sicherheit um Statisten. Richtig! Kovacs Geburtstag jährt sich wieder einmal. Über seine Ideen wollen wir uns austauschen. Es geht um nichts Geringeres als der Frage nachzugehen, wer von uns seinen Vorstellungen am nächste kommt. Neidhardt und seine Partei oder unsere Kommune.“ Erwiderte Elena.

„Na, das steht doch ohne Zweifel fest!“ Glaubte Chantal zu wissen.

„Hmm, für uns ist die Sache eindeutig. Aber Neidhardt und die Partei beanspruchen Kovacs ebenfalls als den großen Ideengeber ihrer Politik. Nicht umsonst haben sie ihm ein überdimensionales Mausoleum errichtet und verehren ihn fast wie einen Gott. Dass das überhaupt nicht in seinem Sinne wäre, so wie ihre gesamte Politik, ist für das Regime unerheblich.“ Erinnerte Elena der unumstößlichen Tatsache.

„Also kommt es dir zu, seine Philosophie zu verteidigen.  Das wird ein echtes Streitgespräch. Aber was ich nicht verstehe ist, warum tut Neidhardt das? Warum will er dir nach so langer Zeit wieder ein Podium bieten, im Fernsehen, deiner alten Domäne?" Bekundete Chantal ihre Verwunderung.

„Wenn ich das wüsste. Neidhardt ist ein Spieler, so sagt man. Ihm gefällt es die Menschen heraus zu fordern. Er will mich! Das steht fest. Er will mich vorführen, will den Mythos Elena aus der Welt schaffen. Wenn es ihm gelingt die rechten Argumente einzusetzen, könnte ihm das durchaus gelingen.“ Unternahm Elena den Versuch einer Deutung.

„Aber du bist populär wie nie zuvor. Die Menschen mögen dich und täglich werden es mehr.

Wie könnte er dein Ansehen zerstören?“

„Oh das geht schneller als du denkst. Die Menschen sind leicht manipulierbar. Wehe dem Besiegten! So lautet ein uralter Weisheitsspruch. Womöglich geht es ihm darum. Aber ich hege da noch einen ganz anderen Verdacht. Es könnte auch sein, dass er mich vor seinen Karren spannen will. Nach dem Motto: Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann umarme ihn. Natürlich würde dies in die Tatsache münden, das ich mich seinem Führungsanspruch  beugen muss... “ mutmaßte Elena weiter.

"Aber das tun die doch schon seit Jahren, im Prinzip seit den Tagen der Revolution?“

„Nicht die, Chantal! Cornelius war es, der mich immer wieder drängte zu ihm ins Boot zu steigen. Neidhardt hingegen war nicht böse um die Tatsache, dass ich verbannt wurde. Sein Einlenken hat einen anderen, einen simplen praktischen Grund. Ihm steht das Wasser  bis zu Hals. Seit Monaten nur Hiobsbotschaften, eine Krise jagt die andere. Die Partei ist mit ihrem Latein am Ende. Die müssen auf uns zugehen, ob sie wollen oder nicht. Die können sich den Konfrontationskurs nicht mehr leisten. Ich bin mir nicht ganz sicher was sich Neidhardt davon verspricht, aber das könnte eine Antwort sein. Eine unter vielen.“

„Aber zu einem Vieraugengespräch hat er dich nicht eingeladen. Das wäre aber der erste Schritt in Richtung Annäherung.“ Stellte Chantal fest.

„Ich hege schon lange den Verdacht das Neidhardt mich aus einem ganz bestimmten Grund meidet. Er hat schlicht und einfach Angst!“

Elenas Antwort verblüffte Chantal.

„Angst? Der große Neidhardt und Angst? Wie kommst du darauf?“

„Er fürchtet mich und meine Kräfte, Chantal. Er ist nicht imstande allein mit mir zu reden. Offenbar hat er Angst das ich ihn mit meiner Anwesenheit vergifte. Deshalb holt er sich nicht nur Statisten herbei, die über alles wachen, sondern er geht in die Öffentlichkeit. Das ist ein schlauer Fuchs, bei dem ist alles gründlich analysiert und programmiert, der überlässt nichts dem Zufall. Er will über mich triumphieren, selbst dann wenn er sich am Ende wähnt.“

„Und? Willst du zu ihm gehen? Nimmst du sein Angebot an? Die warten auf eine Antwort im günstigsten Falle noch heute, wie du sicher auch gelesen hast. Was soll ich denen sagen?“

„Ich komme! Ich stelle mich seiner Herausforderung, auch wenn es ein Risiko bleibt. Schlage ich mich gut, kann es für uns alle von enormen Nutzen sein.“ Elenas Zusage erfreute Chantal.

„Bravo! Ich finde deine Entscheidung toll. Ich eile um deine Antwort zu übersenden.“

„Ja und teile ihnen mit das mich eine gewisse Chantal begleiten wird.“

„Ist das dein ernst? Ich darf dich begleiten?“ Frohlockte Chantal.

„Genau! Wir sind eine Gemeinschaft, eine Schwesternschaft und eine Kommune. Ich werde fortan immer in Begleitung zu solchen Treffen gehen. Und warum sollen immer nur die gleichen mit mir kommen? Du bist unsere Medienbeauftragte und Pressesprecherin, es fällt also in deinen Aufgabenbereich. Du kennst dich gut aus in der Branche, aus diesem Grund bist du genau die Richtige für diesen Anlass.“ Bot Elena an.

„Danke dir Elena! Dafür gibt es einen Extrakuss!“

Chantal verabreichte Elena ihren Dankeskuss, dann entschwand sie hastig, um dem melancholanischen Ministerium für Agitation und Propaganda Elenas Zusage zu übermitteln.

Ein warmer Augustwind wehte durch die Eichen und brachte die Blätter zum Rauschen. Elena ließ sich wieder auf den Boden nieder um mit ihrer Arbeit fortzufahren, doch es gelang ihr nicht die rechte Konzentration aufbringen. Daher beschloss sie ihren Aktenberg ein andermal zu durchforsten. Im Moment schien es angebracht all ihre Kraft auf die Begegnung mit Neidhardt zu richten.

Geschafft! Es war ihr gelungen eine Begegnung mit ihrem größten Widersacher in die Wege zu leiten, wenn auch nicht auf die Art wie sie es sich gewünscht hatte. Aber immerhin, sie würde ihm gegenüber sitzen, nach so langer Zeit und nach all den zahlreichen Spitzfindigkeiten.

Noch am gleichen Abend rief sie den Schwesternrat zusammen und sie beratschlagten gemeinsam in der großen Tafelrunde. Die übrigen Schwestern zeigten sich ebenfalls aufgeschlossen und stimmten dem Ansinnen zu.

 

In den kommenden Tagen liefen die Vorbereitungen für Elenas Fernsehauftritt auf Hochtouren. Beide Seiten wollten so korrekt wie nur eben möglich auftreten.

Das brachte es mit sich dass noch weitere Tage verstrichen. Auf dem Kalender hatte in der Zwischenzeit der September den August abgelöst. Die trockene Wärme blieb, wenn auch um einiges erträglicher als im Vormonat

Elena hatte sich noch einmal mit großer Ernsthaftigkeit Kovacs Philosophie gewidmet. Doch irgendwann stellte sie fest, wie unsinnig es war Zitate oder Textpassagen auswendig zu lernen, um sie im rechten Augenblick ihrem Gegner an den Kopf zu schleudern, sollte dies erforderlich sein. Mit größter Wahrscheinlichkeit hatte sich Neidhardt auf eben solche Weise vorbereitet.

Elena beschloss am Ende alles auf sich zukommen zu lassen.

>Zur rechten Zeit werden euch die rechten Worte kommen! < erinnerte sich Elena der Worte, die ihnen Kovacs auf den Weg gegeben hatte und sie gedachte sich daran zu halten.

 

Eine eigenartige Mischung aus Wiedersehensfreude, Schmerz und Hoffnung bemächtigte sich Elenas als sie schließlich eines Abends auf dem Platz vor dem Funkhaus ihrem Jeep entstieg.

Nur Chantal begleitete sie, alle anderen Schwestern, sowie die weiteren Angehörigen der Kommunen harrten zu Hause vor den Bildschirmen der Dinge die sich im Laufe der Diskussionsrunde noch entwickeln konnten.

Noch waren die Kameras nicht auf Sendung. Doch in Kürze sollte mit der Übertragung begonnen werden, etwa ab jenem Zeitpunkt, da Elena das Foyer des Hauses betrat.

„Aufgeregt? Kann ich kaum glauben, du hast doch sicher noch Routine in solchen Sachen?“

Meinte Chantal zu wissen, während sie sich gemeinsam auf das Eingangsportal  bewegten.

„Du irrst dich Chantal! Das Lampenfieber hat mich gepackt. Lang ist es her, da ich mich in diesen Hallen zum letzten Mal bewegte und viel ist seither geschehen. Unendlich viel! Zuviel! Die Person von damals gibt es nicht mehr. Ich bin eine andere. Alles ist offen. Ich kann nicht sagen wie ich mich in bestimmten Situationen verhalten werde. Aber ich vertraue auf die Kraft in mir. Sie wird mich leiten.“

„Du schaffst das, ich drücke dir ganz fest die Daumen. Du wirst sehen, sobald du das Studio betrittst ist es vorbei mit dem Lampenfieber und eine gewohnte Routine stellt sich wieder ein. "Versuchte Chantal ihr Mut zu machen und drückte noch einmal ganz fest Elenas Hand.

 Überall im ganzen Lande, sowohl  im altmelancholanischen Teil, im akratasischen als auch in den angrenzenden Gebieten des Auslandes konnte man nun verfolgen wie die beiden Kontrahenten auf einander trafen. Vor Spannung schien die Luft zu knistern.

Vor allem in der Abtei verfolgten ausnahmslos alle das Geschehen und fieberten mit Elena.

Viel Zeit war verstrichen, seit jenen Tagen, da die letzte Klappe fiel und Elena sich im wahrsten Sinne des Wortes von der Bildfläche verabschiedet hatte. Vieles hatte sich seit den Tagen der Revolution geändert. Auch Elena hatte sich weiterentwickelt und die schweren Prüfungen erfolgreich bestanden.

So etwas geht nicht spurlos an einen Menschen vorbei, nicht einmal an einer Person wie Elena. Sie war gereift in vielen Belangen Die Zuschauer an den Bildschirmen bemerkten es sofort. Hier sprach eine die aus den Quellen der Weisheit getrunken hatte, eine die in der Zwischenzeit in tiefe Abgründe geschaut, aber auch die höchsten Gipfel des Glücks genommen hatte.    

Es kostete Madleen viel Energie ihre Gefährtin davon zu überzeugen dass ihr Outfit dem Anlass entsprechend auszusehen hatte.

Elena wäre auch ohne weiteres in ihrer Alltagsgarderobe in das Funkhaus gegangen. Die bestand für gewöhnlich aus schwarzen T-Shirts, bei höheren Temperaturen, ärmellosen Muskelshirts. Die Hosen wechselten entsprechend der Jahreszeit. Jetzt im ausgehenden Sommer waren es verschiedenfarbige Leinenschlupfhosen in 7/8-Länge. Wenn es kühler wurde kamen ihre ausgewaschenen Bluejeans dran sowie ihre abgewetzte schwarze Lederjacke. Im Gelände oder auf dem Motorrad waren ihre Schnürlederjeans obligatorisch.

Ihre Jeansweste fehlte zu keiner Jahreszeit und an ihre Füße kamen fast ausschließlich helle Turnschuhe aus Leder oder Leinen. Im Winter lange Lederstiefel im Sommer Biosandalen.

Wenn es sich nur irgendwie einrichten lies lief sie ohnehin am liebsten barfuß.

Ihre mondänen Kleider aus dem früheren Leben hatte sie zwar aufbewahrt, konnte sich aber schon nicht mehr daran erinnern, wann sie diese zum letzten Male in den Händen hielt. Sie bedeuten ihr nichts mehr.

Elena war Sinnlichkeit pur. Es bedurfte keiner Maskerade, um sie schöner wirken zu lassen, auch in einer Nylon-Kittelschürze wirkte sie bezaubernd.

Madleen konnte sie überzeugen, sich zu diesem Anlass ein wenig „fein“ zu machen, ganz gleich was darunter zu verstehen war.

Ein schöner luftiger dunkelblauer Hosenanzug war der Kompromissvorschlag, den Elena akzeptieren konnte. Darunter ein weißes T-Shirt. An Schuhen trug sie weiße Pumps mit flachen Absätzen. Doch die drückten fürchterlich. Warum nur hatte sie nicht darauf bestanden ihre weißen Leinen-Tennisschuhe zu tragen. Elena ärgerte sich in dieser Sache nachgegeben zu haben.

Von Presseleuten umringt bahnten sich Elena und Chantal ihren Weg in Richtung Studio. Mit der Live-Übertragung wurde in diesem Moment begonnen. Die Kameras schwenkten auf die beiden Frauen und präsentierten diese wie sie sich durch das Foyer bewegten. Vereinzelt wurden Fotos gemacht, aber kein Vergleich zu dem Blitzlichtgewitter früherer Tage.

Elena war zurück in ihrem einstigen Metier, die Abstinenz hatte ein Ende und ihr Gesicht erschien wieder auf der Bildfläche, so als sie sie niemals wirklich fort gewesen. 

 

Just in diesem Augenblick schaltete auch Madleen den Fernseher ein. Mit großen Augen hatte sich die kleine Tessa davor platziert. Ihre Mama würde bald in dem Flimmerkasten erscheinen hatte Madleen ihr versichert. Tessa kannte das Fernsehen in der Zwischenzeit gut, auch wenn der Apparat immer nur kurzzeitig lief. Elena wollte ihre Tochter nicht dem alltäglichen Geflimmer aussetzen, da sie deren schädlichen Einfluss nur zu gut kannte. Heute aber war ein Ausnahmetag. Warum aber nun ihre Mutter dort erscheinen sollte, konnte Tessa  nicht recht nachvollziehen.

Entsprechend groß war die Überraschung als sie ihrer ansichtig wurde.

„Madleeeeen!“

„Ja mein Spatz, was ist denn?“

Madleen kam aus dem Flur ins Wohnzimmer und platzierte sich neben der Kleinen.

„Da, da! Die Mama, die Mama ist im Flimmerkasten. Wie ist die denn dort reingekommen?“ Wollte die Wissbegierige wissen.

„Oh, das ist schwer zu sagen. Weißt du, da gibt es ganz bestimmt Zaubertricks. Das erkläre ich dir später, wenn du einmal größer bist:“

„Bin schon groß!“ Trotzte Tessa.

„Natürlich bist du das. Aber es ist nicht so wichtig. Viel wichtige ist ,dass die Mama gleich von gaaaanz vielen Leuten gesehen wird, überall im ganzen Land, ja in der weiten, weiten Welt.“

Tessa schien sich vorerst mit dieser Antwort abzufinden.

„Madleeeeen!“ entfuhr es ihr nach wenigen Augenblicken.

„Ja!“

„Bleibt die Mama jetzt immer so klein, oder wird sie wieder größer wenn sie wieder bei uns ist.“ sorgte sich Tessa nun.

„Natürlich wird sie wieder größer! Das ist doch der Trick, verstehst du? Wenn sie heute Nacht oder morgen früh wieder bei uns ist,  wird sie  sein wie immer.“ versuchte Madleen zu beruhigen.

 

In jenem Moment begann der Kommentator des melancholanischen Staatsfernsehens seine Berichterstattung.

 

„Meine Damen und Herren!

Der Generalsekretär des Zentralkomitees der Radikal-Revolutionären Partei und Vorsitzende des Nationalrates der Vereinigten Revolutionären Verbände, der Vorsitzende der zentralen Revisionskommission und Oberkommandierende der Vereinigen melancholanischen Streitkräfte, Genosse Neidhardt hat heute aus Anlass des Geburtstages unseres großen Volksdichters, Revolutionärs und Märtyrers im heldenhaften Kampf gegen die Faschisten des Blauen Ordens, Kovacs, zu einer Diskussionsrunde geladen. Verschiedene wissenschaftliche Experten wollen sich der Frage widmen, in wie weit die Ideen Kovacs heute bereits verwirklicht sind und der Frage nachgehen, was in dieser Hinsicht noch geschehen sollte.

Zu unserer großen Überraschung hat er auch Elena zu diesem Gespräch eingeladen. Elena und ihre Dissidenten in den abtrünnigen Gebieten behaupten ja stets, dass sie sich als die wahren Hüter des Vermächtnisses des großen Dichters betrachten. Genosse Neidhardt hat in seiner unendlichen Weisheit einen richtigen Schritt nach vorne getan, indem er das Gespräch mit diesen Revisionisten sucht. Wir können davon ausgehen, dass er am Ende deren Argumente glänzend widerlegt und einmal mehr unter Beweis stellt, dass nur die Radikal-Revolutionäre Partei einen Anspruch auf das Erbe unseres so geliebten Helden Kovacs besitzt.“

 

Diese schwulstige Einleitung setzte sich noch eine ganze Weile fort. Kaum jemanden interessierte das, alle warteten gespannt auf den Auftritt der beiden Hauptakteure.

Elena plagten unterdessen ganz andere Sorgen. Die Pumps drückten jetzt so erbärmlich an ihren Füßen, dass sie es einfach nicht mehr aushielt. In einem Moment als sie sich unbeobachtet fühlte streifte sie diese einfach von den Füßen und verstaute sie in ihrer Umhängetasche.

Barfuß schritt sie auf dem weichen Teppich in das bereits voll besetzte Studio, eine Wohltat für die Füße.

 

„Madleeeen! Warum hat die Mama keine Schuhe an?“ rief Tessa etwas ungehalten.

„Waaaas?“ Madleen stürzte aus der Küche in das Wohnzimmer zurück.

„Sie… sie hat die Schuhe ausgezogen! Ich glaube es nicht. Kann sie denn nicht mal für kurze Zeit durchhalten?  Sie hat mir versprochen, dass sie es nicht tut. Na, meine Liebe, warte nur bist du wieder zuhause bist.“

 

Als Elena den Senderaum betrat, wurde sie schon mit großer Spannung erwartet. Die Stühle waren in einem Halbkreis formiert, Neidhardt thronte wie ein Pascha in der Mitte. Alle blickten wie gebannt auf Elenas nackte Füße, doch keiner wagte sie daraufhin anzusprechen. Ihr wurde ein Platz am äußersten linken Rand zugewiesen, den man eigens für sie freigehalten hatte. Neidhardt würdigte sie keines Blickes. Es schien, als sei es ihm äußerst unangenehm, ihr direkt in die Augen zu blicken.

Auch Elena fühlte sich nicht recht wohl. Seit den Tagen der Revolution hatte sie diesem Mann nicht mehr gegenüber gestanden. Erinnerungen wallten in ihr auf, vor allen an die vielen Enttäuschungen und das Leid das ihr seit jener Zeit widerfahren war.

Doch sie wollte unter keinen Umständen Schwäche erkennen lassen, es kam darauf an, so konzentriert und souverän wie nur möglich auf zu treten.

Chantal lächelte ihr durch die Glaswand aus dem Foyer zu, warf ihr noch schnell eine Kusshand zu, dort würde sie die ganze Zeit auf ihre Meisterin warten.

Spannung senkte sich herab. Was würde wohl in den nun folgenden Augenblicken geschehen? Alle waren sich der Bedeutung dieses Auftrittes bewusst. Viel hing davon ab wie sich Elena zu schlagen verstand.

Wie üblich wartete Neidhardt gar nicht erst ab, dass ihm das Wort erteilt wurde, sondern begrüßte alle Zuschauer zunächst mit einer pathetischen Ansprache.

„Liebe Genossen und Genossinnen, liebe Mitbürger Melancholaniens“ Die Bewohner der akratasischen Föderation ignorierte er wie erwartet, da er die Existenz jenes Gemeinwesens nach wie vor nicht anerkannte.

„An diesem denkwürdigen Tag haben wir uns hier eingefunden, um den großen Volksdichter Kovacs zu würdigen, der uns allen so an Herz gewachsen ist. Kovacs war ein Kämpfer, ein Revolutionär und Patriot. Er fiel in den entscheidenden Tagen der Revolution, heldenhaft gab er sein Leben im Kampf für unsere Sache. Seine Ideen und Vorstellungen, seine Visionen sind es die uns seit unserer Machtübernahme führen und leiten. Kovacs hatte einen Traum, einen Traum von einer besseren, einer gerechteren, einer friedlicheren Welt. Unaufhörlich arbeitete er sein ganzes Leben dafür, musste Demütigungen und Ausgrenzung von Seiten des alten Regimes über sich ergehen lassen. Er war ständig in Gefahr zur Zielscheibe der Schergen des Blauen Ordens zu werden. Aber er schonte sich nicht, nahm alles er in Kauf, weil er der Überzeugung war, auf der richtigen Seite zu stehen.

Jener Same, den er einst in die melancholanische Erde senkte, wächst und gedeiht und schon bald wird er reiche Früchte  tragen. Die Radikal-Revolutionäre Partei sieht sich als sein Erbe, als Bewahrer seiner Philosophie.“

Elena ballte die Fäuste, Wut baute sich in ihrem inneren auf und drohte ihr für einen Moment den Atem zu nehmen. Denn ihr war nur allzu gut bewusst, wie wenig diese Aussage der Wirklichkeit entsprach. Neidhardts Diktatur stellte einen diametralen Gegensatz zu Kovacs Visionen dar. Doch sie wollte sich nicht aus der Reserve locken lassen, blieb äußerlich gefasst und stark auch wenn ihr innerlich zum Weinen war.

Neidhardts Rede zog sich in die Länge. An den Bildschirmen in den Wohnungen  machten sich erste Unmutsbekundungen bemerkbar. Sollte das etwa alles sein? Die übliche Phrasendrescherei eben und weiter nichts? Wann endlich durften sie Elenas Stimme hören die es verstand so wohltuend auf die Gemüter zu wirken.

Nach Neidhardts Ansprache sahen sich auch die anderen fünf Anwesenden berufen ihren Senf dazu zu geben. Wie die Papageien plapperte sie einfach das gesagte nach und bekundeten ihre unverbrüchliche Treue zum Regime. Mehr hatten sie nicht bei zusteuern.

Nun war Elena an der Reihe. Würde es ihr gelingen den vor Zeiten dahin gegangenen Freund und Lehrer zu verteidigen? Konnte sie all dem Gehörten Paroli bieten?

„Ich danke den Verantwortlichen des melancholanischen Staates für die Möglichkeit, hier sprechen zu dürfen und den Umstand, die Grundsätze unsrer akratasischen Föderation heute und hier einem großen Publikum vorstellen zu können. Lange musste ich auf eine solche Gelegenheit warten. Ich stimme Neidhardt zu, in dem, was er in seiner Würdigung zum Ausdruck brachte. Kovacs war ein großer Dichter und ein aufrechter Kämpfer für Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, für Gerechtigkeit, Frieden und Liebe. Ich habe ihn gut gekannt, er war mein Freund und Lehrer und  stand zu mir wie ein älterer Bruder. Alles was ich heute bin, habe ich ihm zu verdanken.  Ohne ihn wäre ich nicht die, die ich heute bin.

Er eröffnete mir den Blick für eine Welt die mir vorher verschlossen, er schärfte meine Sinne, so dass ich zur Sehenden wurde. Ich habe ihn gut gekannt . Auch wenn es nur für eine relativ kurze Zeit war, die ich in seiner Nähe verbringen durfte, so war es doch ausreichend um zu begreifen. Ach wäre mir doch mehr Zeit mit ihm vergönnt gewesen. Was hätte er mich noch alles lehren können.“

Ein sehr persönlich gefasster Einstieg in die Diskussion, den Elena hier vorlegte. Sie entschied sich ganz bewusst dafür die Person, um die es ging, wieder die Aura der Menschlichkeit zu verleihen, jene Aura, die ihm die Machthaber genommen hatten, just in dem Zeitpunkt da sie ihn für ihre Zwecke vereinnahmten.

„Wir dort drüben in der Abtei, in Anarchonopolis, in der gesamten Föderation berufen uns ebenfalls auf Kovacs, auch wir versuchen unseren Alltag nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Unter anderem möchte ich sagen, denn es gibt sehr viele Quellen, aus deren Wasser wir schöpfen. Kovacs ist der Anker, der uns sicheren Halt bietet. Er hat mit seiner Philosophie einen  Entwurf vorgelegt und wir bemühen uns darum, diesen weiter zu entwickeln, ihn mit Leben zu erfüllen, ihn praxistauglich zu gestalten.“ fuhr Elena fort und wurde nun konkreter.

Kurzes Schweigen. Voller Anspannung blickte der Moderator auf Neidhardt, so als müsse er dessen Erlaubnis zum Reden abwarten. Warum es diesem Moderator überhaupt gab, war nicht ganz einsichtig, seine Rolle war die eines Statisten ohne eigenes Profil.

„Du sagst, ihr versucht Kovacs Lehre in die Tat umzusetzen. Das bedeutet, dass es euch bisher noch nicht gelungen ist? Es ist sehr vernünftig, von dir das in aller Offenheit zu gestehen. Ein bemerkenswertes Bekenntnis. Wie es scheint, sind wir euch in dieser Hinsicht eine bedeutende Wellenlänge voraus.“ antwortete Neidhardt nun direkt und wieder vermied er es, ihr dabei in die Augen zu blicken.

„Wenn du das so siehst? Ja, wir bemühen uns, das ist richtig. Ob es uns in allen Belangen gelingt, vermag ich nicht zu sagen. Wir haben Erfolge, Schritt für Schritt geht es weiter, immer wieder müssen wir auch Rückschläge verkraften, steinige und dornenreich ist der Weg. Wer Freiheit und Gleichheit in einem zu verwirklichen sucht, braucht einen langen Atem, viel Geduld und Augenmaß. Aber es lohnt sich diesen Weg zu beschreiten.

Ich spüre Kovacs Gegenwart, Tag für Tag, er lebt weiter unter uns und unserem Tun."

„Die Partei ist die Erfüllerin. Nur sie allein ist imstande seiner allmächtigen Lehre einen Sitz im Leben zu verleihen. Mit unserer Politik verwirklichen wir Kovacs Traum jeden Tag, jede Stunde. Deshalb können wir uns voller Stolz auf ihn berufen, bei all unserem Tun. Die Geschichte wird uns bestätigen. Wenn es auch einmal Krisen gab, so konnten wir ihnen wirkungsvoll begegnen. Neidhardts eiserne Faust ist es die Kovacs Philosophie mit Leben erfüllt, ohne diese wäre sie wirkungslos und schon lange vergessen und begraben.“

Schaltete sich nun Dagobert, der Chefideologe der Partei in das Gespräch ein. In vor eilendem Gehorsam, denn Neidhardts missbilligender Blick verriet das Dagobert zu schnell nach vorne geprescht war. Der Generalsekretär hatte sich vorgenommen so intellektuell wie nur irgend möglich zu erscheinen und solcherlei plumpe Selbstdarstellung kam ihm dabei in den Weg.

„Kovacs Lehre war nie allmächtig. Er selbst würde eine solche Charakterisierung mit Entschiedenheit zurückweisen. Kovacs war ein Mensch, so wie wir alle. Die Lehre eines Menschen kann niemals allmächtig sein. Allmacht ist allein den Göttern vorbehalten. Wenn Menschen sich die Allmacht der Götter zu eigen machen mutieren sie zu Tyrannen, die Geschichte liefert uns mehr als genug an Beispielen. Kovacs wollte niemals herrschen, nichts lag ihm ferner als sich etwa an die Spitze einer Bewegung zu setzen. Worte wie deine Dagobert werden seinem Anliegen in keiner Weise gerecht.“ wagte Elena nun offen zu widersprechen.

Aufgebracht meldetet sich Dagobert zu Wort, doch hinderte ihn Neidhardt daran zu sprechen, indem er selbst das Wort ergriff.

„Elenas Umschreibung trifft den Kern der Sache. Kovacs war ein einfacher Mann, seine Erfolge als Literat sind ihm nicht zu Kopfe gestiegen. Richtig! Er strebte nie nach Macht, Reichtum oder Ansehen und Befehle zu erteilen lag ihm noch viel weniger. Er war nicht der Mann der großen spektakulären Auftritte. Er arbeitete im Verborgenen, im Hintergrund.

Dort fand er Inspiration und entfaltet seine Kreativität und Phantasie.

Doch es bestand die Gefahr dass dieser großartige geistige Schatz in Vergessenheit  geriet.

In seiner Bescheidenheit unterließ es der große Dichter eine geeignete Propaganda zu entfalten.  Um seine Visionen einer breiten Öffentlichkeit kundzutun bedurfte es anderer. Leute erfüllt mit Tatendrang, mit Ehrgeiz und dem Charisma der großen Worte. Es ist der Partei gelungen diese Lücke zu füllen. Wir konnten in geeignetem Maße jene Agitation entwickeln, die Kovacs versagt blieb. Ohne uns hätte die Welt niemals Bekanntschaft mit seinen großartigen Ideen gemacht.  Auch euch, drüben in der Abtei, geht jegliches Talent in dieser Richtung ab. Seine Worte wären schon lange im Nebel der Geschichte verschwunden.“

„Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sind Kovacs wahre Jüngererinnen und Jünger zu messen.“

Empörte sich Elena. Sie hielt es auf ihrem Stuhl kaum noch aus. Tief besorgt richtete Chantal ihren Blick von draußen auf die Freundin.

„An Worten mangelte es nie. Schöne Worte machen ist nicht schwer. Aber den Worten Taten folgen lassen, darauf kommt es an. Wo bitteschön habt ihr diese verwirklicht in Melancholanien, wenn die Frage erlaubt ist. Freiheit und Gleichheit, die steht bei euch auf dem Papier, bei uns steht sie mitten im Leben.“

„Das ist unerhört! Du schmälerst mit deinen Aussagen einen zutiefst soziale und liberale Politik.

Unsere Erfolge können sich sehen lassen. Wir haben die Unterschiede beseitigt, die zu Zeiten des alten Regimes allgegenwärtig waren. Sieh dich doch nur um.“ Wütete Dagobert, dann begann er in geübter Manier eine Litanei über die großen Erfolgen und Fortschritten die im Auftrag der Partei geleistet werden konnten. Neidhardt ließ ihn gewähren, er hatte in ihm den Mann fürs Grobe, während er  sich selbst versöhnlerisch und entgegen kommend präsentierte.

„Du musst zugeben Elena, welche Erfolge wir gerade auf dem Gebiet der Gleichheit erzielen konnten. Die Klassenunterschiede sind fast vollständig überwunden, das ist doch eine Tatsache, die du nicht bestreiten kannst. Wir, unsere Partei und die mit ihr verbundenen Organe haben die Bevölkerung geeint. Da wo vorher Spaltung tiefe Gräben zog ,verbindet heute das Band der Einheit allesamt.“ Glaubte Neidhardt zu wissen.

„Ja, aber die Freiheit ist dabei auf der Strecke geblieben, das vergeßt ihr dabei stets,“ Konterte Elena geschwind.

„Die Freiheit, wessen Freiheit? Die Freiheit der Reichen und Maßlosen. Eine Pseudofreiheit ohne Verpflichtung.“ Schlug Neidhardt gekonnt zurück.

„Freiheit und Gleichheit gehören zusammen, sie sind Zwillinge. Allein vermögen sie gar nichts, nur im Verein sind sie stark und mächtig. Natürlich erlebten wir in der Zeit des alten Regimes eine Pseudofreiheit, da stimme ich dir ohne Vorbehalte zu. Aber sie wurde abgeschafft und nicht erneuert. Und was die Gleichheit betrifft, da wollen wir doch lieber schweigen. Schon bald nach Ende der Revolution gab es schon wieder eine Nomenklatur von  Funktionären. Gleichheit für alle? Einige sind aber bedeutend gleicher als die Masse. Ihr habt die Pseudofreiheit durch die Pseudogleichheit ersetzt, das ist alles.“ Wehte sich Elena mit Nachdruck.

„Aber, aber, ich habe den Eindruck wir schweifen langsam vom Thema ab." Meldete sich nun der Moderator zu Wort, dessen Anwesenheit kaum noch jemand bemerkte.

„Uns geht es doch um den Dichter Kovacs und seine Ideen. Und was davon verwirklicht wurde. Ich schlage vor wir nehmen einfach den Faden wieder auf....“

„Aber genau das ist das Thema! Welche seiner Vorstellungen konnten wo und auf welche Weise verwirklicht werden. Niemand hat vom Thema abgelenkt. Diese offenen Fragen müssen auf den Tisch und ausdiskutiert werden, wann wenn nicht hier und jetzt wäre der geeignete Platz dafür. Ich fürchte die Wahrheit nicht. Ich kann mich ihr mit gutem Gewissen stellen, denn wir  aus der Föderation haben nichts zu verbergen. Wir stehen zu unseren Taten, zu unseren Erfolgen aber auch zu unseren Fehlern und Schwächen und genau das erwarte ich auch von euch.“ Gab Elena zu verstehen.

„Wir haben ebenfalls nichts zu verbergen. Auch wir können zu unseren Taten stehen. Fehler und Schwächen brauchen wir dabei nicht zu berücksichtigen, denn wir haben keine begangen, jedenfalls ist mir nichts bekannt, dass der Rede wert wäre. Nein Elena, aus deinen Worten spricht nur allzu deutlich der Neid und die Missgunst unseren Fortschritten gegenüber. Das ist es und weiter nichts.“ Entgegnete Dagobert wie ein trotziges Kind.

„Ruhe!“ ertönte nun Neidhardts unbeugsam klingender Bass in der Runde. Es war offensichtlich Zeit für ein energisches Machtwort.

„Wie ich vermutete können wir uns mit Elena nicht einigen, das ist schade, das ist sehr schade. Denn wir berufen uns beide auf den gleichen Inspirator und Vordenker. Wäre die Spaltung die unserem Volk so viel an Leid zufügte in seinem Sinne? Ich gehe doch sicher recht in der Annahme das dem nicht so ist und Elena wird mir mit Sicherheit zustimmen.“

Zum ersten Mal richtete Neidhardt seinen Blick in Richtung Elena, die fühlte sich irritiert, Wie sollte sie dem begegnen. Ein Lächeln bildete sich in ihren Mundwinkeln. Da spürte sie auf einmal wieder jene Kraft in ihrem Herzen die ihr signalisierte, dass es an der Zeit war neue Wege einzuschlagen.

Die Diskussion war bisher in einer recht sachlichen Atmosphäre verlaufen. Zwar beharrten beide Seiten unnachgiebig auf ihren Standpunkten, doch auf die üblichen Polemiken wurde verzichtet. Dies rief bei Elena Erstaunen vor. Neidhardt benahm sich ihr gegenüber höflich und galant. Dem konnte sie auf gleiche Weisen begegnen. Was beabsichtigte er damit?  Wieder stellte sie sich die Frage  warum er dieses Gespräch überhaupt zugelassen hatte? War das eine Andeutung auf Entspannung oder verbarg sich wieder einmal nur einer seiner hinterlistigen Tricksereien wie in der Vergangenheit.

„Ich stimme dir zu Neidhardt. Nie und nimmer würde Kovacs das billigen, was sich gerade in unserem Land ereignet. Er war ein Mensch des Friedens und der Verständigung. Dass sich Menschen in seinem Namen gegenseitig beleidigen, verletzen oder gar Gewalt antun wäre ihm nicht einmal im Traume eingefallen. Ich bin jederzeit zur Verständigung bereit.

Ich sehe in der Tatsache, das wir heute in dieser Runde beisammen sitzen einen Anfang. Ich bin bereit den Weg der Entspannung weiter zu gehen, aber es bedarf dazu eines Partners. Einer Partei, willig und fähig zugleich ,mit uns Leuten aus der Föderation auf Augenhöhe zu verhandeln.“ Bekundete Elena.

„Auch wir sind zu einer weitgehenden Entspannungspolitik bereit. Ich habe im übrigen meine ausgestreckte Hand niemals zurückgezogen. Wenn wir Kovacs Vermächtnis zu erfüllen gedenken, werden wir einen Weg zueinander finden müssen. Aber einer muss den Anfang setzen. Euch steht die Möglichkeit offen jederzeit einen Anschluss an das melancholanische Staatsgebiet zu beantragen. Ich würde diesen ohne Vorbehalte stattgeben. Damit wäre die Spaltung überwunden und wir könnten überlegen wie es weitergeht. Es versteht sich von selbst dass ihr euch unseren Gesetzen beugen müsst, denn wir sind nun mal der Staat. Dies war und ist mein Angebot und es liegt an euch es anzunehmen oder zurückzuweisen.“

Gab Neidhardt zu verstehen.

Damit hatte der Diktator endgültig die Katze aus dem Sack gelassen.

Elena war erfüllt von tiefer Enttäuschung. Die alte Platte, er hatte sie erneut aufgelegt. Und das sollte alles sein?  Wieder einmal schien eine Chance vertan. Denn Neidhardt kannte seine Antipodin nur zu gut um zu wissen dass sie sich niemals auf dieses scheinheilige Angebot ein lassen würden.

„Wenn du von mir eine Unterwerfung verlangst, dann muss ich dich enttäuschen. Schade, ich glaubte einen Moment lang tatsächlich an den Beginn einer neuen Ära der Entspannung. Ich sehe unter diesen Umständen kaum noch einen Grund mich weiterhin an dieser Diskussion zu beteiligen. Alles vertane Zeit. In unserer Föderation ist Kovacs Traum von Freiheit und Gleichheit verwirklicht und von Geschwisterlichkeit. Kommt und überzeugt euch selbst. Ich lade jeden ein, unser  Experiment zu studieren. Niemand von uns wird sich bereit finden auf dein Angebot einzugehen Neidhardt. Ich kann mich voll auf meine Gefährtinnen und Gefährten verlassen.“

 

„Bravo Elena, so ist es recht, zeig es diesen arroganten Machos. Wir alle sind an deiner Seite!“ Begeisterte sich Inga, die sich mit einigen anderen  bei Madleen und Colette eingefunden hatte um gemeinsam dem Geschehen am Bildschirm zu folgen.

„Das zeichnete sich doch von vorn herein ab, das Neidhardt wieder die alte Leier spielt. Der ist unnachgiebig wie ein Betonklotz. Von dieser Seite haben wir gar nichts zu erwarten.“ Befürchtete Gabriela.

„Aber ich verstehe nicht warum der Elena überhaupt zu dieser Runde geladen hat. Es hießt doch immer er meide ihre Gegenwart. Das passt für mich irgendwie nicht ganz zusammen.“ Wunderte sich Alexandra.

„Das dürfte doch einleuchten. Er will Elena fertig machen, vor der gesamten Öffentlichkeit. Er reklamiert Kovacs für sich und die Partei und will ihn uns nehmen. Damit bekommt er einen Trumpf von enormer Tragweite in seine Hände. "Glaubte Colette.

„Die blubbern einfach das gleiche abgestandene Zeug wie immer. Ich verstehe wirklich nicht warum wir uns das noch an sehen. Sicher, wegen Elena das ist klar. Aber ich denke, was sie auch einzubringen hat, die werden ihr jedes Mal das Wort im Munde herum drehen.“ Meinte Kristin.

„Aber Elena hat sich in solchen Situationen doch immer hervorragend geschlagen. Ich glaube die hat noch eine eigene Trumpfkarte im Ärmel die sie zur rechten Zeit aufdecken wird.“ Hoffte Inga.

„Schon möglich! Aber bedenkt, sie muss vorsichtig sein. Jedes Wort das über ihre Lippen kommt muss gut durchdacht sein. Sie weiß genau was davon abhängt. Eine falsche Bemerkung und wir werden um Monate zurückgeworfen. Schlägt sie sich hingegen gut, könnte es tatsächlich zu weit reichenden Veränderungen kommen.“ Gab Madleen zu verstehen.

Sie hatte Tessa auf ihrem Schoß die unruhig hin und her zappelte. Ständig wurde sie mit dem Antlitz ihrer Mutter im TV konfrontiert, konnte aber nicht zu ihr gelangen, damit schien sie ganz und gar nicht einverstanden.

 

„ Ich hoffe die Zuschauer an den Bildschirmen haben genau zugehört. Gerade konnten wir uns wieder von der Tatsache überzeugen welche Verachtung Elena jeglicher staatlicher Autorität entgegenbringt. Eiskalt hat sie vor Zeugen das Angebot unseres Genossen Generalsekretär zurückgewiesen, ich denke es bedarf keines weiteren Kommentars.“

Ereiferte sich Dagobert.

„Hättest du dich mit Kovacs Texten richtig auseinander gesetzt, dürfte dir nicht entgangen sein dass er jeden Staat, ganz gleich welcher Prägung und Ausrichtung auch immer, mit Misstrauen begegnete. Sein ganzes Streben galt dem Ziel den Staat als solchen durch eine bessere, eine gerechtere Ordnung abzulösen. Wenn ihr also Kovacs für eure Politik vereinnahmt, sollte das euch zu denken geben.“ Hielt ihm Elena entgegen.

„Das ist Anarchie!“ Schrie Dagobert voller Entsetzen.

„Richtig! Du hast es begriffen. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Genau das ist es was wir anstreben, die Anarchie oder Akratie, egal wie du es zu benennen gedenkst. Auf die Bezeichnung kommt es nicht an.“ Spotte Elena.

„Ich glaube ich brauche dem nichts  hinzu zu fügen. Elena hat sich gerade selbst entlarvt. Sie bekennt sich zum Anarchismus, das heißt zum Terrorismus. Und mit Terrorristen werden wir niemals verhandeln.“ Entrüstete sich Dagobert weiter.

 

„Das war unklug Elena. Das hättest du nicht sagen dürfen. Mit diesem Bekenntnis lieferst du ihnen alle Handhabe dich weiter auszugrenzen.“

Auch Cornelius verfolgte von seinem Arbeitszimmer aus die Diskussionsrunde und fieberte mit Elena.

 "Der versucht sie zu provozieren, das liegt doch auf der Hand. Wird es ihr gelingen das Ruder noch herumzureißen?“

„Schwer zu sagen. Ich glaube nicht dass sie unüberlegt gesprochen hat. Ich könnte mir vorstellen das sie damit bezweckt das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.“ Vermutete Linus, der seit einiger Zeit als Cornelius Sekretär fungierte.

„Na wollen wir es hoffen. Ich wünsche mir so sehr das es zu einer Annäherung kommt. Unser Land braucht Frieden und kann sich die Auseinandersetzung nicht länger leisten. Ich hoffe das es beide Seiten begreifen.“ Bedauerte Cornelius.

„Eine Einigung mit Neidhardt? Wäre das nicht ein wenig zu viel Optimismus?“ Zweifelte Linus.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt, so sagt man immer. Ich baue auf Elenas Charisma. Sie steckt uns alle in die Tasche. Mich inbegriffen. Ach würde sie doch nur ja sagen zu meinem Wunsch. Was für eine grandiose Nachfolgerin wäre sie auf meinem Platz.“

 

„Was hast du zu dieser Anschuldigung zu sagen Elena?“ Forderte Neidhardt eine Stellungnahme. „Die staatliche Ordnung beseitigen, so etwas Schlimmes kann man nur als Terrorismus bezeichnen. Damit legst du uns im nachhinein eine Rechtfertigung für unsere damalige Grenzsicherung in die Hand. Wir hatten allen Grund zur Befürchtung das von eurem Territorium Akte der Gewalt gegen die friedliebende Bevölkerung Melancholaniens verübt werden konnten.“

 

„Was für eine gequirlte Scheiße!“ Entfuhr es Chantal draußen im Vorzimmer. Alle Blicke richtete sich auf sie. Daraufhin nahm ihr Gesicht die Farbe einer reifen Tomate an.

 

„Du weißt sehr gut dass diese Vermutungen hanebüchen sind. Sie gehören ins Reich der Phantasie. Nichts lag uns ferner als unsere Ideen, also Kovacs Visionen mit Gewalt durchzusetzen. Das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Gewaltfreiheit ist die Grundvoraussetzung für das Gelingen jeder antiautoritären Ordnung. Wenn ihr Anarchie und Gewalt gleichsetzt habt ihr nichts von Kovacs Anliegen verstanden.!

Für die Akratie ist die Frage der Gewalt in keiner Weise entscheidend oder prägend. Darin unterscheidet sie sich nicht im Geringsten von allen andere politischen, religiösen oder weltanschaulichen Strömungen.

Es gab in der Geschichte immer Anarchisten die Gewalt kategorisch ablehnten, aber auch jene die Gewalt zum Prinzip erhoben. Alle über einen Leisten zu scheren ist ungerecht und leistet einer pauschalen Verurteilung Vorschub.

Leute die im Namen der Akratie Gewaltakte verübten gab es, aber deren Opfer sind allzu minimal im Vergleich zu jenen die dem immer währenden Staatsterrorismus zum Opfer fielen.“

„Der Staat besitzt nun einmal das Gewaltmonopol. Ohne dieses würde sich ein Gemeinwesen niemals regieren lassen. Nur der Staat hat das Recht zur Ausübung der Gewalt und das ist gut so. Nein, ihr habt Kovacs gründlich missverstanden. Seine Ideen sind bei uns gut aufgehoben, sie sind mit den Zielen und Programmen unserer Partei nahe zu identisch.“

Verteidigte Neidhardt seinen Standpunkt mit Nachdruck.

„Er würde sich im Grabe herumdrehen müsste er solche Worte hören.

Ja, der Staat hat ein Monopol auf Gewalt und er hat im Laufe der Geschichte reichlich  Gebrauch davon  gemacht. Die meisten Morde geschahen im Namen des Staates, das lässt sich nicht leugnen. Die Staaten bauten, besaßen und benutzten die meisten Bomben, sie haben Millionen davon hergestellt und sich nicht davor gescheut sie auch einzusetzen. Darin liegt das eigentlich Groteske am Gewaltvorwurf gegen die Vertreter der Akratie. Der Staat war und ist der größte Terrorist  der Geschichte. Ein absoluter Profi. Er baut seine Bomben nicht heimlich, im Untergrund sondern als Serienprodukt in Fabriken. Kein Wunder das die Waffenproduzenten und Händler immer zu den reichsten der Welt gehörten. Sie fanden für ihre Mordinstrumente zu jeder Zeit reichlichen Absatz. Menschen werden berufsmäßig zum Morden und Bomben werfen ausgebildet. Der staatlich sanktionierte Massenmord ist nach wie vor als Mittel der Politik anerkannt. Ein Blick in die Medien verdeutlicht uns wie es in der Welt zugeht. Sie ist erfüllt von staatlichen Terror und Gegenterror von staatlichen Kriegen und deren Vergeltungsmaßnahmen ,von staatlichen Massenhinrichtungen und Schlagstockeinsetzen. Wer fragt danach? Es ist einfach zur Normalität geworden. Wir haben uns daran gewöhnt. Der Staat darf es und basta.

Für den Staat war Gewalt nie eine Frage der Moral.

Die Vertreter der Akratie haben sich mit dieser Frage herumgequält, haben abgewogen was sie verantworten konnten oder nicht. Der Staat hat das nur in ganz wenigen Ausnahmefällen getan.

Ist es moralisch auf streikende Arbeiter zu schießen? Ist es moralisch eine Atombombe über einer belebten Staat zu zünden? Solche Dingen geschahen alle im Namen eines Staates.

Richtig! Der Staat hat ein Monopol auf die Gewalt. Ich wage eine Prognose: Solange es Staaten in dieser Form gibt, wird die Gewalt auf dieser Welt nie ein Ende nehmen.“

Das saß! Betretenes Schweigen senkte sich herab. Niemand vermochte auf diese Aussage direkt eingehen.

Nach einer Weile meldete sich der Moderator wieder ins Geschehen zurück

„Ja...äh wir haben Elenas Statement gehört. Das sind natürlich ganz schwerwiegende Vorwürfe. Wir brennen darauf was unser Genosse Generalsekretär dazu zu sagen hat.“

Ob Neidhardt über diese Aufforderung glücklich war ließ sich zur Stunde nicht eindeutig klären. Jedenfalls fiel seine Reaktion ausgesprochen nüchtern aus.

„Ich stelle gar nicht in Abrede das es Staaten gab und noch immer gibt, die sich solcher Mittel bedienen um die Bevölkerung in Schach zu halten. Ich war mein ganzes Leben hindurch Revolutionär und habe gegen den Missbrauch des staatlichen Gewaltmonopols auf begehrt. Mit unserer Revolution konnten wir einen Staat neues Typus errichten. All mein Streben galt stets dem Ziel einen humaneren, einen sozialeren Staat zu schaffen. Eine staatliche Ordnung, die die Rechte des Volkes garantiert und zu ihrem obersten Prinzip erhebt. Das es dabei in den Anfängen zu Auseinandersetzungen und negativen Exzessen kam, konnte und kann ich niemals ausschließen. Ich bedaure dies auch außerordentlich. Mein Ziel ist und bleibt nach wie vor die Errichtung eines allzeit gerechten Staatswesens. Wenn ihr drüben in der Abtei das ebenfalls wollt, dann kommt, unterstützt uns dabei und stemmt euch nicht beständig gegen unsere Gebote.“

„Eine klare und deutliche Aussagen. Unser Genosse Generalsekretär hat sich noch nie um eine Antwort gedrückt. Ihr in der Föderation habt dem leider nichts entgegen zu setzen. Ihr könnt immer nur kritisieren, protestieren und euch verweigern. Wenn du den Staat in Frage stellst, dann teile uns doch mit, wie du ein Land zu regieren gedenkst, so ganz ohne Staat.“ Provozierte Dagobert weiter.

„Im Gegensatz zu euch habe ich nie den Anspruch darauf erhoben im Besitz eines Patentrezeptes zu sein.“ Bekannte Elena. "Wir versuchen uns im Aufbau einer alternativen Ordnung. Das ist der aktuelle Stand. Ich vermag nicht zu sagen ob unser Experiment erfolgreich ist oder nicht. Vielen Herausforderungen mussten wir uns stellen in der Vergangenheit und Rückschläge gab es derer viele. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich leite über zu unserem eigentlichen Thema. Kovacs glaubte an eine Form des Zusammenlebens die auf der Grundlage einer Freien Vereinbarung aller Menschen beruht. Deren Inhalt Solidarität und Gegenseitige Hilfe ist. Beteiligen sich alle Menschen im Rahmen ihrer Befähigung daran, könnte der Staat in der Tat eines Tages überflüssig werden. Noch ist es nicht soweit, derzeit haben auch wir eine Regierung. Doch diese ist seit ihrer Einsetzung auf ihre Abberufung ausgerichtet.“

„Was für ein Unsinn! Eine Regierung die ihre eigene Abberufung zum Ziel hat. Ich möchte mal wissen welche Logik dahinter steckt. Jede Regierung, ganz gleich unter welcher Voraussetzung sie auch an die Macht gelangt, hat nur ein Ziel und das ist ihre Machterhaltung. Welcher Herrscher, welche Partei wäre wohl so töricht freiwillig und ohne triftigen Grund die eigene Macht in Frage zu stellen?" Widersprach Dagobert, der wohl dem Anschein nach endgültig die Rolle des aggressiven Wortführers übernommen hatte, während Neidhardt wortlos dem Geschehen folgte. Elena irritierte dieser Umstand. Dagobert war für sie kein Dialogpartner, es interessierte sie herzlich wenig welche Einstellung der hatte. Sie wollte Neidhardt, ihn und nur ihn.

„Wer von der Macht berauscht ist, von ihr besessen und korrumpiert, wird sie selbstverständlich niemals freiwillig aufgegeben . So handelten in der Vergangenheit die meisten Regierungen. Wie nennt man doch gleich die Kabinettsmitglieder? Minister, wenn ich mich nicht irre. Minister heißt übersetzt einfach Diener. Nun frage ich mich welcher Minister sich wohl jemals wirklich als Diener des Volkes betrachtet hat? Die haben das auf Sonntagsreden zwar beständig herausgekehrt, doch waren sie in Wirklichkeit nur Diener einer bestimmten Klientel und nicht zuletzt ihres eigenen Ego. Kovacs hat das stets am alten Regime kritisiert und nie ein Blatt vor den Mund genommen. Wäre er noch am Leben würde er mit euch auf die gleiche Weise verfahren. Wollen wir eine neue Gesellschaft, so bedarf es zunächst eines radikalen Umdenkens in den Köpfen. Selbsterziehung lautet das Zauberwort. Wir müssen die Fähigkeit erlangen unser falsches Ego zu überwinden. Jenes Ego dass uns beständig einredet, dass wir nach der Macht zu streben haben, nach Reichtum und Anerkennung. Menschen, die diesen Schritt getan haben, die sich von den Einflüssen ihres falschen Ego befreien konnten, werden auch in der Lage sein der Macht zu entsagen und sie zum Wohle der Allgemeinheit weiterzureichen. Es ist Unsinn zu behaupten, wir von der Föderation würden jede Organisation ablehnen. Natürliche Hierarchien hat es immer gegeben und die haben ihre Berechtigung. Wir wollen die künstlichen Hierarchien überwinden und die sind stets ein Produkt des falschen Ego.“

„Dann kläre uns auf Elena, lass uns teilhaben an deinem reichhaltigen Fundus an Wissen und Erfahrung. Was verstehst du unter einer natürlichen Hierarchie und was unter einer künstlichen oder falschen. Wir brennen darauf das heraus zu finden. Ich im Besonderen:“ Meldete sich endlich wieder Neidhardt zu Wort.

Elena fühlte sich in zunehmenden Maße unwohl. Sollte sie  wirklich direkt auf diese Frage eingehen? Sie selbst hatte hart an sich arbeiten müssen um zu begreifen und die Gabe der Unterscheidung zu erlangen und sie fühlte sich keineswegs sicher genug um hier als Expertin aufzutreten. Ach wäre doch Kovacs hier und wenn auch nur für einen kurzen Augenblick und könnte mit seinem profunden Wissen für Klarheit sorgen.

Hier saß nur seine Schülerin. Das war sie noch immer und ihr war bewusst dass sie ihr Leben lang eine Lernende bleiben würde.

„Ich bin kaum imstande diese Frage mit ein paar Worten zu beantworten. Um tiefer zu blicken müsste ich ins Detail gehen und das würde jeden Rahmen sprengen, dafür reicht die knapp bemessene Sendezeit kaum aus.“

Elenas Blick fiel in Richtung Richtung Uhr die an der Wand gegenüber und sie wünschte sich das der Zeiger deutlich an Tempo zulegen würde.

„Es gibt einfach Personen die eine natürliche Gabe ihr Eigen nennen, zu führen ,zu unterweisen, zu entscheiden und voranzugehen. Die gab es immer, zu allen Zeiten, schon als der Begriff Staat noch nicht einmal erfunden war. Solche Menschen besitzen etwas das wir Charisma nennen, eine ganz bestimmte Ausstrahlung, die es den anderen erlaubt Vertrauen zu entwickeln und ihnen auf ganz selbstverständliche Weise eine Führungsrolle zu überlassen.

Solche Leute sind imstande eine herausragende Stellung einzunehmen ohne dafür besondere Privilegien einzufordern. Sie leisten ihren Dienst und treten nach getaner Arbeit wie selbstverständlich ins Glied zurück. Erst wenn sich solche Menschen auf dem erhobenen Podest häuslich niederlassen, Sonderrechte beanspruchen und ihnen das Kommandieren in Fleisch und Blut übergeht, so dass sie nicht mehr davon lassen können, wenn aus ihrer zeitweiligen Führungsrolle ein Herrschertitel hervorgeht, wandelt sich das Blatt und die positive Führungsposition verändert sich in reine Tyrannei.

Es ist schwierig, denn die Übergänge sind oft fließend. Wann endet die natürliche Hierarchie, wann beginnt die künstliche? Es gilt gründlich abzuwägen und tiefer zu blicken. Ein jeder ist aufgefordert kritisch mit zu denken und somit die Gabe der Unterscheidung zu erlangen.“

„Eine sehr schöne Umschreibung, muss ich wirklich sagen, Elena. Aber ich muss gestehen ich habe kaum etwas davon verstanden. „ Entgegnete der Moderator.

„So? Das wundert mich gar nicht!“ entfuhr es Elena, was beim Publikum im Studio als auch an den Bildschirmen für Heiterkeit sorgte.

„Verstehen und begreifen ist eine Sache der Entwicklung. Auch die Menschen in Anarchonopolis haben jenen Entwicklungsprozess durchlaufen. Es besteht also die berechtigte Hoffnung, dass es auch anderen gelingt. Das ist es was mir im Moment die meiste Freude bereiten würde.“

„Also kann ich davon ausgehen, dass du von unserem Genossen Neidhardt erwartest dass er seine Positionen aufgibt, auf alles verzichtet und sich ins Privatleben zurückzieht oder wie soll ich das verstehen?“ Mutmaßte Dagobert.

„Keineswegs! Ich wünsche mir einen Genossen Generalsekretär der tatsächlich die Interessen des Volkes vertritt, der seine Macht und seinen Einfluss geltend macht um Gutes zu bewirken.“ Widersprach Elena.

„Ach und das tue ich deiner Meinung nach nicht?“ Neidhardts Augen schien Elena zu durchdringen. Was sollte sie darauf erwidern?

„Es liegt an dir das zu beurteilen. Wir beide haben völlig verschiede Vorstellungen davon was als Gut oder Schlecht zu definieren wäre. Um es plastischer auszudrücken ein konkreter Vorschlag meinerseits. Lass die Grenzsperren beseitigen. Gib den Befehl diese unmenschliche Grenze verschwinden zu lassen auf das die Menschen wieder zueinander finden?“

Schweigen, eisiges Schweigen erfüllte den Raum, man hätte einen Stecknadel zu Boden fallen  hören können.

Elena hatte in eine Wespennest gestochen. Doch das erwartete Donnerwetter blieb aus.

„Und? Was bekomme ich dafür, angenommen ich würde es tun?“

„Meine Loyalität und Anerkennung. Ich wäre bereit mit dir über alles zu verhandeln.“

„Wir werden sehen!“ Dieser Ausspruch Neidhardt ließ hoffen. Er gebrauchte ihn gewöhnlich in jenen Momenten da er unsicher war und bereit über alles gründlich nachzudenken.

Erneut trat schweigen ein, bis Neidhardt dem Moderator ein Zeichen gab. Es war an der Zeit die Sendung zu beenden.

 

„Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende unserer Diskussionsrunde. Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit. In den Presseorganen der folgenden Tage wird das Zentralkomitee der RRP weiter darüber debattieren und eine genauere Auswertung vornehmen.

Ich wünsche ihnen einen guten Abend.“

Kurz und bündig verabschiedete der Moderator die Zuschauer an den häuslichen Bildschirmen. Dann signalisierte eine grüne Leuchte das Ende der Live-Übertragung.

Elena hoffte noch immer auf einen persönlichen Kontakt mit Neidhardt und wenn auch nur in der Art einer förmlichen Begrüßung. Doch es geschah nichts dergleichen. Neidhardt erhob sich und bewegte sich scharfen Schrittes auf den Ausgang zu. Als er bei Elena angelangt war kreuzten sich ihre Blicke. Für einen Bruchteil eines Augenblickes sah es danach aus als ob er etwas sagen wollte. Doch stattdessen schritt er wortlos an ihr vorbei, umringt von seinen Paladinen die sich wie Lakaien an seine Fersen hefteten.

Elena verließ als letzte das Aufnahmestudio. Voller Begeisterung stürmte Chantal im Vorraum auf sie zu und fiel ihr um den Hals.

„Du warst Klasse Elena. Denen hast du`s gezeigt. Diese arroganten Heinis sollen mal gründlich in sich gehen. Der Sieg gehört dir! Meine starke Heldin, meine Königin, wie sehr ich dich doch liebe.“

„Nanana! Bleib mal auf dem Teppich. Es gibt keinen Grund gleich abzuheben. Ich glaube nicht dass all zu viel dabei herauskommen wird. Dafür kenne ich diese Pappenheimer zu gut. Komm lass uns nach Hause fahren. Ich hab genug von diesem Ort der Heuchler und Speichellecker.“ Gab Elena zu verstehen.

„Trotzdem bist du Siegerin, für mich und für alle in Akratasien und weit darüber hinaus.“

Bestand Chantal weiter auf ihrer Einschätzung während sie eilends durch das Treppenhaus nach draußen entschwanden.

„Na gut! Dann bin ich eben Siegerin, wenn du darauf bestehst!“

Draußen empfing sie ein schöner lauer Spätsommerabendabend. Elena genoss die zarte Brise die ihr sanft durchs Haar fuhr, erst jetzt fiel ihr auf wie sehr sie im Studio ins Schwitzen gekommen war.

Sie ließ sich auf einer Treppenstufe nieder, kramte in ihrer Umhängetasche, holte ihre Pumps hervor und zog diese wieder über ihre Füße.

„Ich würde weiter barfuß laufen, aber da unten haben irgendwelche Idioten Glas zerschlagen. Siehst du die Scherben.“ Elena wies mit dem Finger in Richtung Vorplatz.

„Es wäre nicht auszudenken wenn du dir deine wunderschönen eleganten Füße verletzt.

Glaubst du wirklich nicht das dein Auftritt einen positiven Nachklang hat?“ Meinte Chantal.

„Keine Ahnung! Ich bin da nicht sonderlich euphorisch muss ich zugeben. Einfach alles Abwarten und Tee trinken. Ach apropos, hast du nicht Lust den Abend mit uns zu verbringen, haben wir schon lange nicht mehr getan. Madleen, Colette und die kleine Tessa würden sich freuen. Na und Eve bringst du natürlich auch mit.“ Bot Elena an.

„Ich freue mich. Wird sicher ein toller Abend? Begeisterte sich Chantal.  

 

Dieser TV-Auftritt stellte einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung dar. Elena hatte die Herausforderung angenommen und sie bestanden. Trotz der Öffentlichkeit war es ein leiser Sieg.  Im Grunde eher ein Unentschieden. Neidhardt hatte sein Ziel, das darin bestand seine Kontrahentin vor einem großen Publikum bloßzustellen und zu widerlegen verfehlt. Einmal mehr musste er akzeptieren, diese Frau würde sich zu keiner Zeit vor seinen Karren spannen lassen.

Trotzdem war Elena nicht zufrieden. Das war nicht die Form des Gespräches das ihr vorschwebte. Sie wollte allein, unter vier Augen mit Neidhardt verhandeln, nur so glaubte sie endgültig  zu einem Durchbruch zu gelangen.

Doch wie sollte sie zu ihm dringen? Etwa doch mit Colette gehen? Nein, sie verwarf dieses Ansinnen von neuem. Statt dessen würde sie sich etwas ganz besonders einfallen lassen. Etwas mit dem wohl keiner rechnete.

 

 

Zwei Tage nach ihrem Auftritt vernahmen die Bewohner der Abtei schon früh am Morgen einen ungewöhnlichen Lärm rings um das große Gelände. Als Elena ihren Blick über die Klostermauer warf, traute sie ihren Augen nicht. Da waren Baukolonnen am Werk, damit beschäftigt die Grenzbefestigungen abzureißen. Diese Tätigkeiten wurden auch an den darauf folgenden Tagen fortgesetzt. Zum Schluss waren die Sperranlagen bis auf ein paar wenige Wachtürme und dem Schlagbaum auf der Zufahrtsstraße verschwunden.

Neidhardt hatte seinen Worten Taten folgen lassen. Ein Wunder! Oder war es einfach nur die Einsicht in die Notwendigkeit. Hatte er am Ende einsehen müssen, das mit dieser Sperranlage kein Frieden und keine echte Entspannungspolitik möglich war? Es schien so.

Mit der Demontage der Grenzbefestigung gestand er indirekt eine Niederlage ein. Damit drohte er vor der gesamten Weltöffentlichkeit sein Gesicht zu verlieren. War er sich dessen bewusst? Oder war ihm dieser Umstand etwa schon egal?