Lang lebe Akratasien!

 

Das Leben in der nun fast vollständig von der Außenwelt abgeriegelten Abtei nahm seinen Lauf. Das Gefühl von allem abgeschnitten zu sein, tat am Anfang ausgesprochen weh. Doch im Laufe der Zeit gewöhnten sich die Menschen an diesem Zustand. Das gesamte Gelände wurde nach und nach mit undurchdringlich erscheinenden Sperranlagen umgeben. Es handelte sich dabei ausnahmslos um Zäune. Man hatte sich im Endeffekt gegen den Bau einer massiven Mauer entschieden.

In Sichtweite wurden an bestimmten Stellen hölzerne Wachtürme errichtet. Diese waren Tag und Nacht von Posten besetzt. In den unzugänglichen Waldgebieten hatte man sehr zu Elenas Leidwesen eine etwa vier Meter breite Schneise geschlagen, viele Bäume mussten auf diese Weise ihr Leben lassen, nur um dem mörderischen Zaun und den Wachtürmen Platz zu schaffen. Da aber die Bauarbeiter eine ausgesprochen schluderige Arbeitsweise an den Tag gelegt und es an etlichen Stellen nicht so genau nahmen, waren zahlreiche kaum wahr zu nehmende Schlupflöcher entstanden. Auf diese Weise konnten die Ortskundigen, das Abteigelände verlassen, ohne den bürokratischen Umweg über die melancholanischen Einreisebehörden beschreiten zu müssen.

So war der Ausnahmezustand ganz gut zu verkraften.

In umgekehrter Richtung lief hingegen so gut wie gar nichts mehr. Denn welcher Außenstehende kannte schon die unbemerkten Stellen, um auf das Abteigelände vorzudringen.

Neidhardt konnte vorerst einen Sieg verbuchen, denn die Fluchtbewegung schien vollständig eingedämmt. Nur bei ganz besonderen Ausnahmefällen drückten die Behörden hin und wieder noch ein Auge zu.

Keiner der Abteiinsassen litt jedoch so entsetzlich unter dieser neuen Situation wie Chantal.

Unter diesen Umständen war es ganz und gar unmöglich dass sie ihre Geliebte Eve, die noch immer im fernen Köln weilte, jemals wieder zu Gesicht bekam. Bisher hatte sie die Trennung gar nicht so schmerzlich empfunden. Denn Eve hätte jederzeit zu ihr reisen können. Diese fürchterliche Grenze jedoch veränderte mit einem Schlag die Situation und machte all ihre Hoffnungen zu Nichte. 50 oder gar 100 Jahre sollte sie Bestand haben, so Neidhardts Worte, eine Horrorvision.

Rein äußerlich lies sich Chantal am Anfang nichts anmerkten und  es gelang ihr Haltung zu wahren. Doch innerlich bereitete ihr das ganze unendliche Schmerzen. Sie begann zu zerbrechen, zog sich immer deutlicher zurück, versuchte sich abzulenken, indem sie sich in ihre Arbeit stürzte. Die Zeitung, als deren verantwortliche Redakteurin sie fungierte, durfte nun, da sie  offiziell nicht mehr zu Melancholanien gehörten, ganz legal in den zur Abtei gehörenden Gebieten vertrieben werden. Und aus dem Ausland gab es jede Menge Nachfragen, die natürlich kaum zu befriedigen waren.

Doch auch das bot ihr nur noch wenig Halt. Immer häufiger war sie schlecht gelaunt, geriet mit anderen in Streit, vor allem wenn ihr das Glück so vieler Abteibewohner bewusst wurde die in festen Partnerschaften, teilweise sogar in Mehrfachbeziehungen lebten. Mit wem sollte sie darüber sprechen? Zu Elena konnte und wollte sie nicht gehen. Denn auch in die war sie noch immer verliebt und deren Worte hätten alles nur noch verschlimmert. So versuchte sie ihr und Madleen, soweit als möglich aus dem Weg zu gehen.

Zum Glück gab es eine die jederzeit für sie erreichbar war. Colette wurde ihr zu einer lebenswichtigen Stütze. Ihr konnte sie sich an vertrauen, konnte sich in deren Armen ausweinen, sich gehen lassen und den Frust von der Seele reden. Eine echte große Schwester

Einfach da wenn man ihrer bedurfte, um zu trösten, zu streicheln, Halt zu geben, wann immer ihre Seele danach dürstete.

So war es auch an einem besonders heißen Augustnachmittag als beide sich im Schatten der alten Eichen direkt neben der Klostermauer niedergelassen hatten.

Colette lehnte am Stamm eines besonders alten knorrigen Exemplars dieser mystisch anmutenden Baumart. Chantals Kopf ruhte in deren Schoß. Mit angezogenen Beinen kauerte sie am Boden. Colette streichelte beständig ihr feines blondes Haar, während Chantal den Tränen freien Lauf lies.

„Mir ist ja bewusst, wie dumm ich mich benehme. Es ist nur so, ich kann Eve einfach nicht vergessen. Es bohrt so schrecklich im Herzen. Ich versuche mir immer wieder zu sagen, dass es aus und vorbei ist. Schlussstrich! Eine heiße Affäre, nichts weiter. Die Vergangenheit ruhen lassen und den Blick nach vorne richten, Neues entdecken. Aber es geht nicht, ich werde ihr Bild nicht los. Vor allem in der Nacht ist es kaum noch auszuhalten. Ach, was soll ich nur tun Colette. Ich möchte vergessen. Sag mir wie ich das fertig bringen soll?“

Schluchzte Chantal.

„So ist  nun mal, die Liebe, Chantal! Du kannst Eve nicht vergessen, weil du sie ganz aufrichtig liebst. Es war eben nicht nur eine heiße Affäre, so wie es früher in deinem Leben des Öfteren geschah. Du kannst versuchen dagegen anzukämpfen, aber es wird dir nicht gelingen. Im Gegenteil, du machst es dadurch nur noch schlimmer.“ Stellte Colette fest, während sie langsam mit den Handflächen über Chantals Wangen fuhr.

„Natürlich hast du Recht, Colette! Aber was nützt mir diese Erkenntnis?“

Chantal erhob sich und blickte in Colettes Augen, die umschloss Chantal und zog sie an sich, so dass sie in Colettes Armen versank.

„Aber warum willst du dich denn mit den Tatsachen abfinden? Kämpfe doch für deine Liebe. Ich bin mir sicher das es  einen Weg gibt Eve auf welche Art auch immer hierher zu holen. Du musst nur ganz fest daran glauben.“ Versuchte Colette weiter Trost zu spenden.

„Ich versuche es ja. Aber all meine Zuversicht endet da draußen an diesem Furcht erregenden Stacheldraht. Nachts bekomme ich Alpträume. Ich sehe wie Eve versucht zu mir durch zu dringen, dabei verfängt sie sich in den spitzen Dornen und beginnt zu verbluten. Sie weint bitterlich und ruft beständig meinen Namen. Wache ich dann auf bin ich schweißgebadet und beginne Rotzblasen zu heulen.“ Offenbarte sich Chantal.

Colette drückte die kleine Schwester noch fester an sich.

„Aber da ist ja unfassbar! Nein Chantal, so kann, so darf es nicht weitergehen!“

„Aber wo soll ich einen Ausweg finden?“ Verzweiflung sprach aus Chantals Worten.

„Ich werde dir helfen! Du bist meine Freundin, meine kleine Schwester. Ich werde nicht mehr mit ansehen wie du vor lauter Verzweiflung zusammen brichst. Du hast mir geholfen, weiß du noch, in der Osternacht, als ihr zu mir kamt um mich von meinem Leid zu erlösen? Du warst damals auch dabei. Ich werde dir das nie vergessen. Nun ist es an mir dir beizustehen und eine Lösung zu suchen.“

„Und was willst du machen?“ Wollte Chantal wissen.

„Hm, zum Beispiel könnte ich zu Neidhardt gehen um ihm ordentlich den Marsch zu blasen. Ich werde ihm solange auf die Nerven gehen bis er bereit ist diese Grenzanlagen eigenhändig beiseite zu räumen.“ Bot Colette an.

Chantals Kopf schnellet vor Schreck in die Höhe.

„Nein Colette, dass darfst du nicht! Ich will nicht dass du dich um meinetwillen in Gefahr begibst. Neidhardt ist gefährlich! Nicht auszudenken, wenn dir etwas zu stößt, ich könnte mir das nie verzeihen. Ich habe doch nur dich! Was sollte ich denn ohne dich tun?“

„Keine Angst Kleines! Mir wird schon nichts geschehen! Der tut mir nichts! Der wird sich hüten Hand an mich zu legen. Wir sind uns von früher bestens bekannt. Wenn er das wollte, dann hätte er mich schon damals aus dem Weg räumen lassen. In jenen Tagen, als ich regelmäßig zu ihm ging um ihm gehörig meine Meinung zu geigen.“ Versuchte Colette ihrer Freundin die Angst zu nehmen.

„Du bist die Beste von uns allen. Was für einen Mut du  damals aufbringen musstest. Ich hingegen habe mich feige verhalten, als ich alles im Stich ließ  und nun bekomme ich die Strafe. Ich denke, ich habe die verdient.“ Verlor sich Chantal wieder in der Selbstanklage.

„Chantal, fang doch nicht wieder mit diesen alten Geschichten an. Dass ist lange vergessen, sollte dir denn überhaupt jemand Vorwürfe gemacht haben. Nein, dein jetziges Leid hat ganz und gar nichts mit deinem damaligen Verhalten zu tun. Ein selbstverliebter Diktator will uns in die Knie zwingen dass ist alles. Und überhaupt, außer mir gibt es noch eine Menge hier die dich ebenso gern haben wie ich. Du hast Elena und die anderen, sollte mir etwas zustoßen.“

„Ach Elena! Du weißt doch wie ich zu ihr stehe!“ Wehrte Chantal mit sanfter Stimme ab.

„Du liebst sie noch immer, nicht wahr?“ Mutmaßte Colette ganz richtig.

„Da liegst du vollkommen richtig und das ist es was die Sache noch erheblich komplizierter macht. Ich bin nicht einmal im Stande mich auf einen Schmerz zu konzentrieren.

Sehe ich Elena und Madlen wie sie in bedingungsloser Liebe einander tragen, brennt die Eifersucht wie eine ätzende Säure in meinen Adern. Ich möchte schreien, davonlaufen. Dabei möchte ich Madleen doch nicht hassen. Solange wir uns frei bewegen konnten, bevor die Grenze kam, gelang mir das auch ganz gut. Doch mit dem Stacheldraht kam die Eifersucht wieder über mich und das mit einer Wucht, das es mir das Herz zu zerfetzen droht.“

Chantal machte sich Luft und es tat ihr gut. Wenigstens für einen Moment verschaffte es ihr Linderung.   

„Gerade darum sollte schleunigst etwas geschehen. Wenn Eve bei dir wäre, könntest du  Elena und Madlen wieder auf Augenhöhe begegnen.“ Bestätigte Colette.

„Aber wie? Aber wie?“

„Lass mich nur machen! Ich glaube, ich habe die Lösung längst gefunden!“ Erwiderte Colette

selbstsicher.

„Bitte Colette! Du musst mir versprechen, dich nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Schwöre es!“

„Gut, Kleine! Ich werde mich nicht vorsätzlich einer Gefahr aussetzen. Ich gebe dir mein Wort. Großes Ehrenwort!“ Versprach Colette obgleich sie bereits in diesem Augenblick wusste, dass sie dieses Versprechen würde brechen müssen.

„Ich danke dir Große! Ach könnte ich doch dich so lieben wie ich es möchte, dann wäre einiges besser. Ich versuche mich darin. Möglicherweise gelingt mir das noch irgendwann.“

entgegnete Chantal.

„Ach, ist doch in Ordnung so wie es ist. Wir müssen nichts herbeireden das sich nicht machen lässt.“ Versuchte Colette zu beschwichtigen.

Chantal richtet sich auf und blickte ihrer Freundin in die Augen.

„Es ist nicht so, dass ich nichts empfinde, wenn du mich berührst, nein ich spüre eine deutliche Erregung, aber es ist nicht so intensiv wie bei Eve oder Elena. Es ist wie soll ich mich ausdrücken, anders. Es ist wunderschön auf eine andere Weise eben. Ich möchte nie auf deine Berührungen verzichten.“ Gestand Chantal weiter und staunte selbst über die Art sich zu offenbaren.

„Das weiß ich doch und ich empfinde es ebenfall als wunderschön.“

„Aber wie ist es denn bei dir mit der Einsamkeit? Möchtest du denn einen Menschen der dir ganz in Liebe verbunden ist? Eine Partnerin? Einen Partner? Also Elena ist für mich unerreichbar, damit muss ich leben und ich werde damit fertig. Und wenn es dauerhaft mit Eve nichts wird, ich auch auf sie verzichten muss. Hm nun vielleicht versuchen wir`s mal miteinander? Ich wäre bereit! Aber da müssen wir erst Gras über die anderen Beziehungen wachsen lassen, ich meine…“

Colette zog Chantal wieder an ihre Brust.

„Aber Chantal, so darfst du nicht denken. Da wird nichts draus. Mach dir um meinetwegen keine Gedanken. Ich komme schon klar. Ich bin nicht einsam. Nicht mehr. Früher ja, da fühlte ich mich ausgesprochen schlecht, wenn ich Zeuge dessen war wie sich die Menschen liebten und ich immer nur am Katzentisch platziert wurde.  Doch ich konnte es überwinden. Ich habe euch alle und das ist mehr als ich mir je erträumt habe. Ich fühle mich hier wie ein Fisch im Wasser.“ Gestand Colette.

„Ich stelle mir das fürchterlich vor. Inmitten einer Gemeinschaft zu leben und dort ausgegrenzt zu sein, nicht wirklich akzeptiert. Eine Außenseiterposition einzunehmen. Früher konnte ich das nicht nachvollziehen. Aber seit jener Grenze wird es mir auf schmerzliche Art bewusst.“

„Kaum etwas wirkt so zerstörerisch wie die Einsamkeit unter Menschen. Aber wie gesagt, ich habe sie überwunden, nicht zuletzt dank eures Eingreifens. Nun ist es an mir mich zu revanchieren."

", Aber denk an dein Versprechen. Ich dulde auf keinen Fall das du dich in Gefahr begibst!“ beteuerte Chantal noch einmal mit Nachdruck.

„Keine Angst. Ich passe auf mich auf!“ Beschwichtigte Colette, während ein warmer trockener Wind beider Haare wild durcheinander wirbelte.

„Ob es heute noch ein Gewitter gibt!“ Wollte Chantal auf einmal wissen.

„Keine Ahnung! Ich hoffe nicht. Denn heute Nacht kann ich das am aller wenigsten gebrauchen.“ Antwortete Colette. Chantal konnte sich keinen Reim darauf machen. Doch die Schwester wusste nur zu gut weshalb sie auf gutes Wetter hoffte.

 

Als um vier Uhr in der Frühe der Wecker rasselte und Colette äußerst unsanft aus dem Tiefschlaf holte, stand endgültig fest dass sie ihr Chantal gegebenes Versprechen nicht einlösen würde. In wenigen Minuten wollte sie sich  auf den Weg machen um Neidhardt aufzusuchen. Ihr war vollkommen bewusst, dass sie im Begriff war, etwas Ungeheuerliches zu wagen. Die Aussichten auf Erfolgt tendierten im Moment gegen Null. Zunächst musste es ihr gelingen sich den Weg zu Neidhardt freizukämpfen und das war alles andere als einfach, schließlich handelte es sich bei Melancholaniens starken Mann um einen der bestbewachten Funktionäre der Welt. Vermochte sie die Wachen zu überlisten? Sie hatte gar keine andere Wahl als sich einzig auf ihre mystische Aura zu verlassen, die ihr von vielen Seiten angedichtet wurde, so dass sie inzwischen selbst davon überzeugt war, etwas  dergleichen zu besitzen.

Sorgfältig hatte sie bereits am Abend alles bereitgelegt so dass es ihr gelang schnell in ihre Kleidung zu schlüpfen. Sie benötigte nur wenige Augenblicke.

Ganz in schwarz, hautenge Leggin, lange bis zu den Knien reichende Tunika, ein langer schwarzen Schal um den Hals. Die Stiefel und zuletzt ihr weiter antrazytfarbener Umhang.

Eine Seite warf sie über die Schulter. Auf leisen Sohlen stahl sie sich aus dem Zimmer und schlich sich durch den Flur. Zu dieser Zeit horchten alle noch an ihren Matratzen. Selbst die notorischen Frühaufsteher. Möglich dass ihr Pater Liborius über den Weg lief, doch der wohnte zum Glück außerhalb des Konventsgebäudes.

Schnell die große Haupttreppe hinunter durch die Pforte nach draußen. Auf dem Hof angekommen blickte sie sich noch einmal um. Niemand schien sie bemerkt zu haben. Dann begab sie sich eiligen Schrittes auf die Außenmauer zu. Bevor sie die Große Pforte öffnete ein letzter Blick zurück. Möglich dass sie die Abtei nie wieder sah . Sie musste auf alles vorbereitet sein, denn bei Neidhardt konnte man nie wissen.

Aber sie war zu allem entschlossen und sie würde ihr Vorhaben in die Tat umsetzen, notfalls ihr Leben einsetzen um das Leiden der Schwester zu lindern.

Zaghaft zog sie die schwere Stahltür nach innen und lugte durch die Öffnung nach draußen.

Alles ruhig!

Die grellen Scheinwerfe waren allesamt nach draußen gerichtet, die Wachen konnten sie im Moment noch nicht bemerkt haben.

Vorsichtig rastete sie das Türschloss ein,  von diesem Moment an befand sich außerhalb der schützenden Mauern.

Dem Treiben der Welt ausgeliefert.

Ganz langsam bewegte sie sich zwischen Innenmauer und Sperrzaun vornan, direkt auf den etwa 20 m entfernten Wachturm zu. Dort gab es einen etwa 1 m breiten Ausgang ins freie Feld, den musste sie passieren. Von den Schlupflöchern die es vor allem im unübersichtlichen Waldgebiet gab wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Auf die wurden die Bewohner erst wenig später per Zufall aufmerksam. Hätte Colette zu diesem Zeitpunkt schon davon Kenntnis gehabt, alles wäre viel unkomplizierte vor sich gegangen. Plötzlich vernahm sie wie in unmittelbarer Nähe ein Gewehr durchgeladen wurde.

„Stehen bleiben, oder ich sch….“

Dem Rufer wurde unsanft der Lauf nach oben gedrückt.

„Bist du verrückt geworden? Das ist Colette! Du willst doch nicht auf Colette schießen?“ Mahnte ihn sein Kamerad mit scharfen Worten.

„Entschuldige, in der Dämmerung kann ich doch nicht erkennen wer sich nähert. Und selbst wenn. Was ist den schon dabei?“

„Na du kannst blöde Fragen stellen! Bist neu in der Einheit, oder? Colette ist…Colette! Eine lebende Legende. Neben Elena die zweitwichtigste Bewohnerin der Abtei. Und überhaupt: Hier wird nicht rum geballert. Beobachten, Schlussfolgern, Berichten! So lautet unser primärer Auftrag. Denke stets daran, es werden Zeiten kommen, da wird sich in unserem Lande vieles ändern und dann wirst du sehr froh über die Tatsache sein, nicht geschossen zu haben." Versuchte der andere aufzuklären.

In der Zwischenzeit hatte Colette die Sperrlage passiert und befand sich jenseits der Grenze auf melancholanischen Staatsgebiet wieder.

Einmal kräftig durchatmen, diese Hürde war genommen. Aber wie weiter?  Nur nicht zu viele Gedanken machen, so etwas verunsichert nur. Dachte Colette. An etwas schönes, etwas positives denken, das schien ihr angeraten.

Warum hatte sie sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschieden? Keine leichte Frage!

Chantal war ihr ans Herz gewachsen. Kurz nacheinander waren sie im Frühjahr in die Abtei zurückgekehrt, hatten sich besser kennen und schätzen gelernt, waren Freundinnen und Schwestern geworden. Chantal auf diese Weise leiden zu sehen bereitete ihr Kummer, deshalb wollte sie helfen.

So verlockend Chantals Angebot von gestern auch klang, die Vorstellung diesen blonden Engel dauerhaft an sich zu binden war verführerisch. Doch das war aus reiner Verzweiflung geboren. Nicht wirklich ernst gemeint, auch wenn Chantal das glaubte. Deren Herz war anderweitig vergeben und daran würde sich nichts ändern. Warum auch? Colette hatte gelernt damit zu leben, denn sie schien in der Zwischenzeit tatsächlich über den Dingen zu stehen. Immer deutlicher ragte sie aus der Menge und nahm eine herausgehobene Stellung ein und wurde neben Elena die zweite Leitfigur der sich entwickelnden Gemeinschaft. Alle Bewohner begegneten ihrer mit Respekt und Achtung, suchten immer öfters ihren Rat und Beistand. Chantal war keines wegs die Einzige die ihren Kummer an  Colettes Brust ausweinte. Elenas Aufgaben weiteten sich quasi von Woche zu Woche, vor allem jetzt in Krisenzeiten. Aufgrund dessen war sie sehr dankbar in Colette eine wichtige Stütze gefunden zu haben, vor allem um die seelischen Problem zu lindern. Ihre Mädchen, wie sie immer zu sagen pflegte, konnten sich stets auf sie verlassen und natürlich auch die Männer, wenn denen danach war.

Die um einiges jüngeren Frauen der Schwesternschaft blickten zu Colette auf wie zu einer großen Schwester. Vergessen die Zeit als sich Colette als das hässliche Entlein an die Seite geschoben, ausgegrenzt und abgehängt fühlte. Sie hatte sich eine beachtliche Stellung erobert und schien diese auch sichtlich zu genießen.

Inzwischen hatte die ganze Welt Kenntnis von Colettes Existenz und sie korrespondierte mit Persönlichkeiten aus Politik, Religion, Kultur und Wissenschaft, die Anarchophilosophin aus der Alten Abtei eine gefragte Gesprächspartnerin. Selbst der Papst oder der Dalai Lama hatten schon Briefe mit ihr ausgetauscht.

Warum sollte es also einer wie ihr nicht gelingen diesen alten Holzkopf  Neidhardt um den Finger zu wickeln?

Unter solcherlei Gedanken bewegte sich Colette vorwärts und hatte inzwischen die Abtei nebst Grenzsicherung hinter sich gelassen.

Langsam sickerte die Dämmerung über den Himmel. Am Horizont vor ihr bereitet sich die Sonne auf ihren Aufgang vor. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Womöglich wieder heiß und trocken. Nur ein paar Schönwetterwolken trieben einsam am Himmel. Noch war es recht kühl und Colette wickelte sich dichter in ihren Umhang. Ruhe, wohltuenden Stille umgab sie von allen Seiten. Das zwitschern der Singvögel drang an ihre Ohren und erfüllte ihre Seele mit tiefen Frieden. Von weitem wurden die ersten Häuser der Vorstadtsiedlung sichtbar, davor die Straßenbahnhaltestelle. Noch hatte sich hier kein weiterer Mensch eingefunden. Gemächlichen Schrittes bewegte sich Colette auf das Wartehäuschen zu, blickte auf den Fahrplan. Bilder formten sich in ihrem Kopf und nahmen Gestalt an, Bilder von früher, als sie immer Dienstags zu Neidhardt ging um ihn vor versammelter Mannschaft die Leviten zu lesen. Auch wog sie immer genau ab, ob sie denn mit der Bahn fahren oder lieber zu Fuß gehen sollte. Meist entschied sie sich für den Fußweg. Auch heute gedachte sie es auf diese Weise zu handhaben. Zeit hatte sie noch. Es war noch nicht mal halb Fünf. Und weit war es nicht bis zum Grauen Wunder. Maximal würde sie noch 30 min benötigen um dorthin zu gelangen. Neidhardt der notorische Frühaufsteher befand sich zu jener Zeit schon in seinem Arbeitszimmer und studierte Akten, lange bevor die Regierungsgeschäfte offiziell aufgenommen wurden. Die günstigste Zeit um sicher zu stellen ungestört mit ihm reden zu können. Denn es erschien ihr außerordentlich wichtig mit dem Diktator unter vier Augen zu sprechen, um ihr Anliegen vor zubringen.

Sie wanderte durch die Vorstadt, die sich menschenleer vor ihr erstreckte. In etwa anderthalb Stunden würde sie sich schlagartig füllen, dann wenn die Neoprekas an ihre Arbeitsplätze eilten, gehetzt und getrieben wie vor der Revolution, nur mit dem Unterschied dass sie nicht mehr für eine dekadente Privooberschicht, sondern für eine prüde Parteiaristokratie schufteten.

Colette beschleunigte ihr Tempo. Nach einer Weile konnte sie die Konturen des Grauen Wunder sehen. Auch der Sitz des Zentralkomitees der RRP schien sich noch im Schlummer zu befinden.

In früheren Zeiten näherte sie sich stets angsterfüllt und voller Spannung ihrem Auftritt vor Neidhardts Paladinen. Heute hingegen wurde sie von einer seltsamen Ruhe und Ausgeglichenheit durchdrungen.

Als sie sich schließlich dem Portal gegenüber fand, keine Spur von Angst oder Unsicherheit.

Würde man sich ihr in den Weg stellen? Konnte sie auch hier die Wachen überlisten?

Frechheit siegt, sie würde es einfach darauf ankommen lassen.

Der Pförtner bemerkte sie gar nicht, es hatte den Anschein als döse dieser vor sich hin, womöglich schlief der sogar tief und fest.

Vor ihr breitete sich der von grellen Leuchtstoffröhren erhellte Flur, deren leises Summen im Augenblick das einzige Geräusch im ganzen Haus. Zumindest hatte sie es schon einmal unbehelligt bis ins Innere geschafft. Nix zu spüren von strenger Wachsamkeit. Zufall? Oder spielte ihre mystische Aura wieder die entscheidende Rolle? Letzteres schien sich zu bestätigen. Denn als sie im Begriff war die große breite Treppe zu besteigen bemerkte sie, wie sich ihr zwei Wachposten von oben näherten. Deren Stiefelabsätze klackten geradezu bedrohlich auf dem Parkettfußboden.

Flugs verließ Colette die Treppe und suchte Schutz in der Deckung einer mannsgroßen Statue

die einen Bauarbeiter mit einer Schaufel in der Hand darstellte.

Einer kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Du sag mal siehst du das auch?“

„Was denn?“ wollte der Angesprochene wissen.

„Na da unten. Ich sehe plötzlich zwei Statuen.“

„Das würde mich nicht wunder! Wenn du das trinken nicht aufgibst wirst du eines Tages einen Elefanten sehen“ Entgegnete der andere barsch.

Der andere kniff die Augen noch einmal fest zusammen.

Colette war verschwunden.

"Jetzt ist sie auf einmal weg!"

"Na klar! Los komm jetzt endlich!"

Die beiden setzten ihren Weg fort.

Colette erklomm die Treppe und schritt nun sicheren Fußes die oberen Flure entlang. Die dortigen Wachen ließen sie anstandslos passieren, bis sie sich schließlich vor Neidhardts Büro fand. Ihr Zauber wirkte. Nun hoffte sie diesen auch bei Neidhardt anzuwenden.

Sie klopfte zaghaft an die schwere Eichenholztür. Doch von drinnen kam keine Reaktion, so dass sie ohne Aufforderung eintrat.

Stockfinster war es im Zimmer, nur eine einsame Stehlampe leuchtet den Schreibtisch aus, an dem Neidhardt Platz genommen hatte. Es roch nach Zigarrenrauch und als sie genauer hinsah konnte sie auch einen Glimmstängel in Neidhardts rechter Hand entdecken, sowie den markanten Siegelring verzieht mit dem goldenen Zahnrad, dem Staatswappen am Mittelfinger.

„Guten Morgen Colette! Das ist aber eine Überraschung zur Morgenstunde!“ ertönte Neidhardts tiefer Bass aus dem Dunkel, denn sein Gesicht das sich oberhalb der Lichtquelle befand, lag in der Dunkelheit verborgen.

„Lang lang ist es her, seit unserer letzten Begegnung. Und? Was führt dich zu mir?“

Er drehte die Lampe so dass sie Colette direkt ins Gesicht schien und blendete, instinktiv hielt sie die Handfläche vor die Augen.

„Siehst gut aus! Hast dich total verändert!“

„Du bist hingegen immer noch der Alte! Die gleichen schlechten Manieren wie früher, man leuchtet einem anderen nicht auf so penetrante Weise ins Gesicht!“

Entgegnet Colette selbstsicher wie noch nie.

Neidhardt dreht die Lampe zurück, so dass sie nun auch sein Gesicht erkannte.

„In einer Hinsicht hast du dich ebenfalls nicht verändert Colette. Immer noch der aufrührerische Geist. Die ganze Art wie du hier erscheinst stellt einmal mehr deine völlige Verachtung jedweder Art von staatlicher Autorität unter Beweis. Niemand sonst käme auf den Gedanken einfach ohne vorherige Anmeldung bei mir zu einzudringen.“

„Ja, niemand außer mir! Irre ich mich oder kann es sein, dass du darauf vorbereitet warst? Du tatst überhaupt nicht überrascht als ich in dein Zimmer trat.“ Glaubte Colette fest zu stellen.

„Kann sein! Bei dir muss man immer auf alles vorbereitet sein! Bist ja ne echte Berühmtheit geworden in der letzten Zeit. Colette von der die Welt sprich! Kannste echt stolz darauf sein.

Sag mal stimmt es was man von dir erzählt, ich meine das dir über Nacht Brüste gewachsen sind und so was ähnliches?“ Erkundigte sich Neidhardt.

„Ja sicher! Willst du sie sehen?“

Colette machte Anstalten ihre Tunika zu lüften.

„Lass sie stecken ich glaube dir auch so. Wenn du hoffst mich auf diese Weise zu gewinnen irrst du dich gewaltig. Mit solchen Tricks kommst du bei mir nicht weit.“

„Du hast mir noch gar nicht angeboten mich zu setzen, sicher ein Versehen.  Ich will es dir nachsehen. Gut, dann nehme ich mir eben den Platz.“

Colette rückte sich einen Stuhl zurecht und nahm vis a vis Platz, auf diese Weise war es ihr möglich ihm in die Augen zu blicken.

„Frech wie immer. Das sieht dir ähnlich. Aber gib dir keine Mühe, auch damit kannst du nicht bei mir punkten.“

„Zunächst müsstest du erst mal in Erfahrung bringen worum es geht! Der Grund für meinen Besuch.“

„Also, was willst du? Trag dein Anliegen vor und dann verschwinde wieder. Du bist dabei mir meine kostbare Zeit zu stehlen.“ Forderte Neidhardt auf.

„Ich brauche deine Hilfe Neidhardt!“

„Meine Hilfe? Das ist  wirklich eine Überraschung! Und wie um alles in der Welt kommst du auf die abstruse Idee, das ich auch gewillt bin dir zu helfen?“

Natürlich hatte Colette mit einer solchen oder ähnlichen Antwort gerechnet und sich entsprechend darauf vorbereitet.

„Ganz einfach weil du ein Mensch bist und ein Revolutionär dazu. Du zogst damals aus um die Welt zu verbessern. Wir wollen jetzt nicht darüber debattieren ob dir das gelungen ist.

Darum geht es nicht. Als Revolutionär wolltest du den Menschen zu ihrem Glück verhelfen. Du hast jetzt die einmalige Gelegenheit zwei Liebende mit einander zu verbinden.

Zwei Liebende die aufgrund der Grenzsicherung, die nun einmal du zu verantworten hast, getrennt wurden und nicht zusammen finden können.“

„Das ist schon ein starkes Stück. Erklär mir warum ich das tun sollte? Ich meine wie komme ich dazu, was interessiert mich ob zwei Liebende zu einander finden. Diese Grenze trennt noch weitaus mehr Menschen. Soll ich etwa auf jedes einzelne Schicksal eingehen?

Nein, da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen. Ich lasse mich auf keinerlei Diskussionen ein. Diese Grenze soll Schmerzen bereiten! Verstehst du? Sie soll euch da drüben in die Schranken weisen und jeden Tag vor Augen führen, was es bedeutet sich mit einem Neidhardt anzulegen. Gebt euren Widerstand auf, fügt euch meinen Anordnungen und unterwerft euch! In diesem Fall verliert die Grenze ihre Berechtigung. Dann können auch deine Liebenden wieder zusammen finden und viele andere auch. Mehr habe ich nicht anzubieten, das ist mein letztes Wort! Gehab dich wohl und verschwinde jetzt!“

Diese Ablehnung war eindeutig. Colette musste genauer überlegen wie sie darauf eingehen sollte. Neidhardt war ein steinharte Brocken, der lies sich nicht einfach an die Leine nehmen und mit Schmeicheleien kam man bei ihm erst recht nicht weit.

Colette musste also ihre Strategie ändern, das schien im Moment die einzige Alternative.

Auf gar keinen Fall wollte sie heute mit leeren Händen in die Abtei zurückkehren.

Sie hatte eine todsichere Trumpfkarte, doch die wollte sie erst ausspielen, wenn sich abzeichnete, dass gar nichts mehr ging.

„Neidhardt, ich glaube nicht, dass das dein letztes Wort ist. Auch in deiner Brust schlägt ein Herz aus Fleisch und nicht eines aus Stein, so vermute ich zumindest. Eine kleine humane Geste, ein winziger Schritt für dich, der dir nichts kostet und auf keinen Fall schadet. Nützen kann er dir aber ungemein. Du würdest dadurch unter Beweis stellen, das du ein großmütiger Herrscher bist!“ Kaum hatte Colette die Worte über ihre Lippen, da reuten sie ihr schon.

Süßholzraspeln bei Neidhardt? Einfach nur naiv.

„Ich wiederhole mich nicht gern Colette, ich sage Nein und dabei bleibt es: Ich hoffe ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.“ Neidhardt hüllte Colette in den trüben Qualm seiner Zigarre.

„ Zwei Liebende die durch deine Grenze getrennt wurden Neidhardt. Wie kannst du nur so hartherzig sein? Ich verstehe es nicht. Was kann ich tun um dein Herz doch noch zu erweichen. Sage es mir! Ich verstehe es nicht! Niemand kann deine Haltung nachvollziehen!“

„Ach nein, was du nicht sagst! Ich habe es dir schon einmal gesagt. Es interessiert mich nicht!

Warum sollte es mich etwas angehen?  Zwei Liebende die nicht zu einander finden? Ja und?

Hat jemals einer von euch Gerechtigkeitsaposteln drüben in der Abtei Erkundigungen  darüber eingeholt wie sich Neidhardt fühlt, so Tag für Tag? Hat es euch je interessiert ob nicht auch Neidhardt Sehnsüchte und Wünsche hat? Sehnsüchte die zeit seines Lebens unerfüllt blieben?

Habt ihr? Nein, das habt ihr nicht! Eure Überheblichkeit stickt zum Himmel.“

Neidhardts Geständnis schockte Colette und sie wusste für einen kurzen Moment nicht was sie darauf erwidern sollte. Jene Seite Neidhardts war ihr völlig unbekannt.

„Du fühlst dich einsam Neidhardt? Du hättest nur nach mir schicken brauchen. Ich wäre gekommen! Kein Mensch sollte ohne Liebe sein, das ist unser Prinzip. Danach versuchen wir zu leben drüben in der Abtei. Wir schließen niemanden aus. Nicht einmal einen Neidhardt.“ Colette wunderte sich selbst über ihre deutlichen Worte.

„Wer`s  glaubt wird selig!  Gib dir keine Mühe Colette, ich werde keine Ausnahmen dulden.

Du kannst dich jetzt entfernen, entweder freiwillig oder ich werde dich wieder raus werfen, so wie damals, du erinnerst dich sicherlich!“

„Natürlich tue ich das! Wer könnte eine solch freundliche Behandlung je vergessen. Damals hielt ich dich für ein gefühllosen Roboter, einzig seiner Logik verpflichtet, einer Logik die nur auf befehlen und herrschen beruht. Aber nach deinem eben geäußerten Geständnis eröffnen  sich mir völlig neue Wege. Du wirst mir auf einmal auf unheimliche Weise sympathisch. Das bestätigt meine Vermutung, einer Vermutung die davon ausgeht dass auch ein Neidhardt ein Herz in seiner Brust schlagen lässt. Also, wenn dir das Gefühl der Einsamkeit nicht so fremd ist, dann solltest doch gerade du nachempfinden können wie unsere beiden einsamen Herzen leiden?“

„Was ich nachfühle oder nicht ist irrelevant. Hier geht es nicht um Gefühle, hier geht es allein um Prinzipien. Gebt euren sinnlosen Widerstand auf und die Grenze könnte schon in wenigen Tagen Geschichte sein. Das ist mein aller letztes Wort.“

Demonstrativ kritzelte Neidhardt einige Notizen auf ein Stück Papier, so als ob er dringend mit einer Arbeit fortfahren müsste.

Colette saß ihm gegenüber und starte ihn unaufhörlich an.

„Du bekommst mich hier nicht raus Neidhardt, ich werde nicht gehen bevor ich bekommen habe was ich will, verlass dich drauf!“ Lautete ihre Drohung, die bei Neidhardt jedoch nur ein höhnisches Lachen zur Folge hatte.

„Colette Colette, du lernst es nie. Ich habe die Macht dich umgehend entfernen zu lassen und werde davon Gebrauch machen, wenn du nicht augenblicklich verschwindest, darauf kannst du dich verlassen!“ 

„Nein, dass tust du nicht! Du hättest mich längst hinaus werfen lassen können, wenn es tatsächlich deiner Absicht entspräche. Irgend etwas in dir hegt großes Interesse an mir. Du bist ein Spieler Neidhardt, du spielst mit den Menschen, ganz besonders mit jenen, die bereit sind dir Paroli zu bieten und von denen gibt es nun mal nicht  viele in Melancholanien.

Wollen wir spielen, Neidhardt?“

Aus ihrer Tasche holte Colette einen braunen ledernen Würfelbecher hervor, gefüllt mit schwarz gepunkteten schneeweißen Würfeln aus purem Elfenbein. Neidhardts Augen begannen augenblicklich zu leuchten. Colette hatte die Trumpfkarte gezogen und sie schien ihre Wirkung zu entfalten.

Neidhardt war ein Spieler, das war allgemein bekannt im ganzen Land. Das Würfelspiel hatte es ihm im Besonderen angetan. Er verfolgte seine Leidenschaft fast mit Besessenheit. Wer es verstand geschickt zu taktieren, konnte sich auf diese Weise schnell seine Gunst sichern.

Es hieß Neidhardt sei unschlagbar, nur ganz wenigen war es gelungen ihn zu überlisten. Wem es gelang ihn matt zu setzen, konnte sicher sein dass Neidhardt seine Spielschuld beglich, in dieser Hinsicht erwies er sich als Ehrenmann, der sich niemals etwas nachsagen lassen wollte.

Auch Colette würde bekommen was sie begehrte, sollte sie ihn schlagen. Das aber glich im Moment einem Himmelfahrtskommando. Denn die Einsetze um die Neidhardt zu spielen pflegte waren stets sehr hoch. Sie würde ihn schon etwas Ungehöriges bieten müssen um seine Bereitschaft zum Spiel zu erhalten.

„Du willst mit mir spielen?“ Erwiderte Neidhardt laut.

„Ja, ich möchte mit dir spielen? Na und? Es ist bekannt dass du ein guter Spieler bist und ein Ehrenmann dazu.“ Schmierte ihm Colette Honig ums Maul. „Und wenn ich dich auf andere Weise nicht erweichen kann, bleibt mir nur noch diese eine Möglichkeit.“

„Und wie kommst du auf die Idee das ich auch mit dir spielen will?“ Lautet Neidhardts Frage.

„Ich sehe es in deinen Augen! Du möchtest es! Schon lange wartest du auf eine Gelegenheit mit mir zu spielen. Nun denn, hier bin ich. Lass uns unsere Einsätze nennen. Ich fordere dich heraus. Ich bestimme die Einsätze. OK?“

Mit funkelnden Augen starte Neidhardt wie gebannt auf seinen ungebetenen nächtlichen Gast.

„Da bin ich mal gespannt! Gut, dann lass mal hören!“

Sie hatte ihn soweit. Neidhardt war einverstanden.

„Wenn ich gewinne, bekomme ich weswegen ich hier bei dir erschienen bin. Du wirst Sorge dafür tragen dass die Person um die es geht und deren Namen und Adresse ich dir später nennen werde aus Deutschland hier her gelangt. Das heißt bis vor die Pforte der Abtei, wo ich sie in Empfang nehmen werde. Sicheres Geleit durch Melancholanien und eine Passage durch die Grenzanlagen.“

Neidhardt überlegte einen Moment, dann schlug er ein.

„Einverstanden! Solltest du mich schlagen werde ich alles veranlassen!“

Nun war es an Neidhardt seine Forderung zu stellen.

„Wenn du mich schlägst Colette! Aber normalerweise schafft das keiner. Dein Einsatz wird hoch sein. Nur wenn du darauf eingehst werde auch ich meinen Teil erfüllen, solltest du siegen.

Schlage ich dich, dann wirst du nicht wieder in die Abtei zurückkehren. Du bleibst für den Rest deines irdischen Lebens hier bei mir, wirst mir fügsam folgen und zu Diensten sein, quasi als eine Art Haussklavin. Mein Wille wird dein Wille sein, meine Wünsche hast du ohne Widerspruch zu erfüllen, ganz gleich um was es sich dabei auch handelt. Hast du verstanden Colette? Noch hast du Zeit zu entscheiden.“

Eine Horrorvision. Sekundenbruchteile wurden zu einer Ewigkeit. In Colettes Kopf wüteten die Schreckensszenarien, obgleich sie mit einer solchen Forderung gerechnet hatte. Zweifel bohrte sich wie eine Speerspitze in ihr Hirn. Warum tat sie das hier? Weshalb nur war sie nicht in der Abtei geblieben und harrte wie alle anderen der Dinge die noch kommen sollten? Aus welchem Grund sah sie sich immer wieder in die Rolle der stillen Heldin gerufen? Warum fühlte sie sich für das Leid zweier Liebender verantwortlich? Konnte sie sicher sein das Chantal ebenso handeln würde, stünde die jetzt an ihrer Stelle? Und Eve, die kannte sie nicht einmal. Gut, sie hatte Chantals Fotos gesehen und die kesse Göre gefiel ihr.

Aber darum gleich die Freiheit, ja womöglich das Leben aufs Spiel setzen?

Colette, die einst Getretene und Ausgegrenzte, die sich ihren Weg hin zur Anerkennung mühsam hatte erarbeiten müssen war zu einer Berühmtheit geworden und sie genoss zu Recht den Ruhm der sich langsam aber sicher anzubahnen schien. All das lag nun in der Waagschale. Alles hing davon ab in welche Richtung die Würfel fielen.

„Und? Wie lautet deine Antwort? Schlägst du ein?“ Ries Neidhardt Stimme sie aus ihrer Vision.

„Ich tue es! Ich bin mit deinem Einsatz einverstanden. Ich bin bereit dir mein Leben zu schenken!“

„Sehr gut! Ausgezeichnet! Willkommen in meinem Reich! Du wirst es auch bei mir zu einer Berühmtheit bringen. Du genießt den Status einer lebendigen Trophäe. Eine Art von Schoßhündchen. Mal sehen wie und auf welche Weise ich dich unterbringen lasse...“

„Sprich nicht weiter Neidhardt, ich kann es mir vorstellen!“ Colette legte ihre Hand auf die seine.

„Ich erinnere mich noch gut der Praktiken die von den Schergen des Blauen Orden betrieben wurden. Die hielten sich ebenfalls Menschen wie Tiere. Ich sehe wie sehr die Macht deine Grundsätze schon korrumpiert hat. Du bist im Begriff die Tradition der Blauen fortzusetzen, begibst dich ganz in deren Nachfolge. Ihr böser Geist hält dich schon seit geraumer Zeit gefangen.“

Erbost entwand sich Neidhardt ihrer Berührung. Colettes Aussage erschreckten ihn, doch durfte er ihr gegenüber diese Schwäche nicht offenbaren.

„Komm lass uns das erste Spiel machen!“ Entgegnete er barsch. Jeder von uns würfelt drei mal. Die höchsten Zahlen gewinnen.“

Colettes Herz begann zu rasen und kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Auch die Handflächen feuchteten sich in Windeseile, doch auch sie durfte unter keinen Umständen ihre Angst offenbaren.

Sie schüttelte die Würfel im Lederbecher kräftig durch, dann knallte sie das Gefäß mit voller Wucht auf den schweren Eichenholztisch.

4, 3, 2 also genau 9 Punkte.

Nun war Neidhardt am Zug. Auch er lies die Würfel lange schwingen bevor er aufsetzte.

4, 4, 1 konnte Colette entdecken. Ebenfalls die 9. Missmutig beäugte Neidhardt seinen Wurf.

„Hm. Glück gehabt! Na warte beim zweiten bist du dran!“ Drohte er ohne sie dabei anzublicken.

Auch der zweite Zug hatte ein Patt zur Folge, diesmal würfelten beide eine 13. Glückszahl oder Unglückszahl, wenn ja für wenn?

„Wir haben beide noch einen Zug! Sollte es wieder ein Patt werden spielen wir weiter. Ansonsten gewinnt wer hier die höchste Zahl wirft.“ Lautete Neidhardts Vorschlag der sich bedrohlich wie ein kalter Mantel auf Colettes Herz zu legen schien.

Geräuschvoll landete der Becher auf dem Tisch, Neidhardt zögerte die Würfel zu entblößen. Die Anspannung stieg. Dann konnte Colette das Schreckensszenario mit eigenen Augen betrachten Zweimal 6 und 5, also 17.  Die Würfel waren im wahrsten Sinne des Wortes gefallen. Colette saß in der Falle, hier kam sie nicht mehr raus. Ihr konnte wohl nur noch ein Wunder helfen, doch wer sollte das bewirken?

Immer wieder mischte sie die Würfel, es ging um alles oder nichts. Dann setze sie auf, hielt den Becher noch in der Hand, einer Eingebung folgend hob sie noch nicht ab sondern zog den Becher leicht nach vorn, leise klickte es im Inneren.

Zornesfalten bildeten sich auf Neidhardts Gesicht als er das Ergebnis begutachtete. Colette vermied es auf die Würfel zu blicken. Sie rechnete mit dem Schlimmsten.

„Das geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Soviel Glück kann kein Mensch haben.“

Erst jetzt wagte Colette den Blick nach unten. Dreimal 6. Sie traute ihren Augen nicht. Sie hatte den Diktator geschlagen. Zunächst fehlten ihr die Worte, dann aber sammelte sie sich.

„Wie es scheint habe ich gewonnen Neidhardt. Und? Wie sieht es aus? Stehst du zu deinem Versprechen, dass du mir gegeben hast?“

„Ich stehe immer zu meinem Wort, oder zweifelst du daran? Ich kann mir zwar nicht erklären wie du dass erreichen konntest, aber du bist die Siegerin. Also gut! Sag was du konkret von mir willst und ich will sehen was sich machen lässt.“ Bot Neidhardt an.

„Es muss sich einfach machen lassen, so lautete unsere Abmachung. Ich möchte das Eve, so heißt die Person um die es geht, sicher aus dem deutschen Köln hierher verbracht wird.

Sie benötigt Papiere, hier ich habe alles vorbereitet.“

Colette kramte in ihrer großen schwarzen Lederumhängetasche.

Dann breitete sie einen Stapel Papier vor Neidhardt auf dem Tisch aus.

„Siehst du? Deine Unterschrift genügt und alles ist in bester Ordnung. Deine Name unter den Papieren wird ihr jede Tür öffnen.“

Neidhardt studierte die Papiere akribisch genau. Dabei schüttelte er des Öfteren den Kopf.

„Mit dem Flugzeug? Das würde ich mir aber noch mal überlegen. Bei der unsicheren Lage?“

„Du hast Recht Neidhardt daran habe ich gar nicht gedacht. Gut, dann möchte ich ein Bahnticket, erster Klasse versteht sich. Ich will dass die Kleine so bequem als möglich hierher gelangt. Bis zum Bahnhof in Manrovia, dort wird sie per Regierungskarosse bis zur Pforte der Abtei verbracht, dort nehme ich sie in Empfang.“

„Ach? Vielleicht soll ich auch noch für ihren Transport bezahlen? Oder was?“

„Richtig Neidhardt, jetzt da du es sagst. Danke! Wie großzügig von dir!“

„Du bist unverschämt, ungehobelt und arrogant! Naja ihr seid drüben in der Abtei alle so, das scheint langsam abzufärben. Also gut, wenn ich dich dadurch endlich los werde.“

Neidhardt suchte nach seinem Kugelschreiber, fand diesen aber nicht gleich.

„Suchst du den?“ Colette hielt das vermisste Teil in der Hand.

„Gib her! „ Neidhardt entriss diesen aus Colettes Fingern.

Dann unterzeichnete er in Windeseile alles was vor ihm  ausgebreitet lag.

„Sag mal wo hast du eigentlich das Papier her, das sind Originalvordrucke. Wie in aller Welt bist du daran gekommen?“

„Hab ich schon ne ganze Weile. Mitbringsel aus jenen Tagen da ich deine Musikantin war. Wie du siehst bin ich bestes vorbereitet.“

„Davon konnte ich mich überzeugen! So, nun hast du was du wolltest. Also dann hebe dich hinweg von mir!“ forderte Neidhardt mit Nachdruck.

„Ich möchte sicher gehen dass die Papiere so bald als möglich ihren Bestimmungsort erreichen. Zu diesem Zweck wäre es von Vorteil wenn die Post direkt von hier in den Versand geht. Du könntest sie per Kurier verschicken, verstehst du? Ich könnte mir vorstellen dass sie schon morgen am Ziele sind.“

„Also nun hört doch alles auf! Ich... Ach meinetwegen..“

Neidhardt betätigte einen Klingelknopf zu seiner Rechten. Sofort erschien ein Wachposten und nahm Haltung an.

„Diese Papiere sofort per Kurier versenden. Verstanden? Ich dulde keine Verzögerung.“

Wortlos salutierte der Posten und entschwand wieder.

„Und ? Bist du nun zufrieden?“

„Top Neidhardt! So habe ich es mir gewünscht.“

„Aber jetzt verschwinde endlich! Lass mich allein! Ich habe noch eine Menge zu tun.“

„Natürlich Neidhardt, ich entschwinde deinen Blicken. Ach was hältst davon wenn ich jetzt regelmäßig komme und dir meinen Anliegen vor trage, jetzt da wir so einen guten Draht zueinander gefunden haben. Du wünscht dir doch sicher Revanche, oder?“

„Das könnte dir so passen! Kein Bedarf! Aber wie ich mir vorstellen kann, hältst du dich eh nicht an meine Anordnungen!“

Colette hatte die Tür bereits geöffnet und befand sich schon auf dem Flur.

Dann lugte sie noch mal hinein.

„Wie wärs nächsten Donnerstag? Zur gleichen Zeit?“

„Hau ab!“

Mit voller Wuscht schleuderte Neidhardt einen Aktenordner nach ihr, doch der prallte an der sich schnell schließenden Türe ab.

Geschafft! Colette lehnte an der Wand und strich sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Noch immer stand sie wie unter Schock, als sie sich den langen Flur entlang bewegte bemerkte sie das sie taumelte und das es ihr übel war. Nur auf schnellsten Wege nach draußen gelangen. Weg von diesem Ort des Befehlens und Gehorchens.

Am Eingangsportal schnappte sie nach Luft, musste eine Pause einlegen. Dann bewegte sie sich über den Platz vor dem Grauen Wunder auf die gegenüberliegende Straßenbahnhaltestelle zu. Aufgrund ihres Unwohlseins war sie geneigt die Rückfahrt zumindest teilweise mit der Bahn zurück zulegen. Colette kramte in ihrer Tasche nach Kleingeld. Nach einer kurzen Weile kam die Bahn quietschend vor ihr zum halten.

Sie stieg ein und lies sich auf die erstbeste Sitzbank fallen. Dann wurde die Fahrt begonnen.

Lange hatte sie Manrovia nicht mehr aus dieser Perspektive betrachtet. Einheitsgrau wohin das Auge fiel. Alles schien hier nur noch nach Schema F zu funktionieren. Gedanken zogen an ihrem Kopf vorbei. Wie gut dass es die Abtei gab, die alte Klosteranlage mit seinen dicken schützenden Mauern, die dort eine ganz andere, eine neue Welt aufkeimen lies. Wohl dem der ein solches Zuhause sein eigen nennen konnte.

Lief alles wie geplant würde sich hinter ihr schon in einer halben Stunde die Pforte schließen und sie befand sich in Sicherheit.

Als sie den Stadtrand erreicht hatten entstieg sie der Bahn, die letzten beiden Station wollte sie zu Fuß zurücklegen. Sie reckte die Arme weit nach oben und stieß einen Schrei aus. Hören konnte sie hier nur die Bäume die ihre dicken Stämme majestätisch in den Himmel reckten.

Durch den Wald schritt sie langsam ihrer Heimat entgegen. In der zwischenzeit hatte die Sonne aufgewärmt.

Colette zog Stiefel und Strümpfe von den Füßen und lief barfuß weiter. Das weiche Moss unter ihren Fußsohlen tat ihr gut und erfrischte sie.

 

Würde alles nach ihren Vorstellungen funktionieren? Sie vertraute einfach darauf, was konnte sie auch anders tun?

Sie schritt an den Sperranlagen entlang.

Die Wachposten beobachteten sie genau, einer richtete demonstrativ seinen Feldstecher in ihre Richtung und verfolgte jede ihrer Bewegung. Jetzt bei Tageslicht konnte jeder sehen wer sich da einfach so durch den Sperrzaun bewegte. Alle kannten Colette, niemand würde ihr etwas tun. Ihre Aura erwies sich tatsächlich als wirksamer Schutzmantel.   

Als sie die Tür der Pforte hinter sich geschlossen hatte entfuhr ihr ein Seufzer der Erleichterung. Sie hatte ihr Werk vollendet. Auf dem Gelände der Abtei begann langsam das Leben zu erwachen.

Über ihre Tat würde sie sich in Schweigen hüllen. Vorerst sollte niemand etwas davon erfahren. Chantal fiel noch früh genug aus allen Wolken, wenn Eve erst einmal vor ihr stand.

 

Am Abend des 4. Tages nach Colettes frühmorgendlichem Würfelspiel mit dem Diktator, fand sich eine völlig übermüdete Eve vor den Mauern der Abtei wieder und betrachtete ungläubig das imposante Bauwerk. Traum oder Wirklichkeit? Sie wähnte sich in einem Zustand zwischen beiden. Was sie in den letzten Stunden erlebt hatte, konnte doch nicht real sein, so unwirklich schien ihr das.

Die Posten auf den Wachtürmen nahmen von ihr Kenntnis , schenkten ihr aber kaum Beachtung. Die hatten genaue Order sich in diesem Fall nicht einzumischen.

Die Grenze hinterließ keinen guten Eindruck auf Eve, doch lange Zeit zum grübeln hatte sie ohnehin nicht, denn schon öffnete sich die Pforte einen Spalt und Colette steckte ihre graue Lockenmähne hindurch.

„Du bist Eve? Nicht war?“

„Ja die bin ich! Und wie geht es jetzt weiter?“

„Komm rein!“ Colette streckte der noch immer Zweifelnden ihre Hand entgegen. Eve ergriff diese und schon befand sie sich auf der anderen Seite der Klostermauer.

„Ich begrüße dich ganz herzlich in unserem Reich. Ich bin Colette, wir hatten mal ganz kurz Kontakt per Telefon, du erinnerst dich?“

„Ja, ja! Ich erinnere mich!“ Etwas verstört blickte sich Eve um, nach wie vor kam ihr alles wie ein Traum vor und sie fürchtete jeden Moment aufzuwachen und sich in ihrem Zimmer in der Kölner WG wieder zu finden.

„Komm setzt dich erst mal! Ganz ruhig! Erst mal ankommen. Lass alles auf dich wirken. Bleib  hier sitzen, nicht weglaufen! Das Abteigelände wirst du in den Folgetagen ausgiebig erkunden können. Ich werde derweil Chantal verständigen. Es soll eine Überraschung werden. Die weiß nämlich nichts von deiner Ankunft und was damit zusammen hängt. Ich könnte mir vorstellen das die ganz schön große Augen bekommt.“

„Das glaube ich auch!“ Erwiderte Eve und kämpfte weiter mit der Müdigkeit.

Derweil hatten sich einige Kommunebewohner im Refektorium der Abtei zum Abendessen eingefunden.

Lustlos stocherte Chantal in der Erbsensuppe die am heutigen Abend aufgetafelt wurde, dabei schlürfte und schmatzte sie so laut das man den Eindruck bekam sie warte nur darauf das sich einer beschwerte und sie sich sogleich mit jener Person anlegen konnte.

Sie hatte keinen guten Tag. Die schlechte Laune und das fehlen jedweder Motivation machten ihr schwer zu schaffen. Des Öfteren war sie heute mit anderen in Streit geraten. Schon der kleinste negative Anlass genügte um sie auf die Palme zu bringen. Die anderen mieden sie deshalb und  gingen ihr soweit als möglich aus dem Weg.

Auch hier zu Tische saß sie isoliert.

„Ist Chantal hier?“ erkundigte sich Colette als sie durch die Türe trat.

„Da oben sitzt sie! Aber sei vorsichtig. Die ist mal wieder ganz besonders schlecht drauf“
Warnte Alexandra ihre Freundin vor.

„Nun ich denke dem können wir ab helfen! Chantal, du hast Besuch! Da wartet jemand an der Pforte auf dich!“

„Ach nein! Was du nicht sagst. Ich will niemanden sehen. Las mich in Ruhe.“

Erwiderte die Angesprochene teilnahmslos.

„Schade, dann werde ich sie wohl wieder wegschicken. Dabei hat sie eine lange, eine sehr lange Reise hinter sich. Na gut, dann muss ich Eve eben kurzerhand mit zu mir nehmen.“

Gab Colette zu verstehen.

Kaum dass der Name Eve über Colettes Lippen war, konnte man in Chantals Ecke ein lautes poltern vernehmen.Wie ein Rakete schoss die nach oben so das der Stuhl nach hinten kippte.

Mit einem Satz saß sie auf dem Tisch und glitt auf der andern Seite wieder hinunter.

Wie eine besessene rannte sie aus dem Refektorium auf den großen Flur.

„Lass mich durch!“

Dann entschwand sie durch die kleine Pforte ins Freie.

„Was is`n mit der los?“ Wollte Alexandra wissen.

„Nun ich denke dass sich Chantals Laune in den nächsten Minuten auf ein positives Höchstmaß steigert. Wenn sie ihren Besuch in den Armen hält.“ Gab Colette zu verstehen.

„Eve sagtest du? Jene Eve aus Deutschland, von der sie uns soviel berichtet hat? Die große Liebe?“

Schaltete sich nun auch Elena ein.

„Ja, genau die!“ Bestätigte Colette.

„Aber wie kann das sein? Ich meine wie hat die es hierher geschafft? Ich meine.... ach egal. Das klären wir später. Kommt alle mit! Da wollen wir unseren Gast in Empfang nehmen.“

Bereitwillig schlossen sich die anderen an.

Der Weg bis zur großen Pforte war weit. Chantal rannte wie um ihr Leben, unterwegs verlor sie ihre Flipflops und lief  barfuß weiter.

Endlich näherte sie sich ihrem Ziel. Tatsächlich es war Eve dort auf der Bank.

„Eve!“

„Chantal!“

Nun kam die Geliebte Chantal in Windeseile entgegen. Auf halber Strecke prallten ihre Körper aufeinander, beide völlig aus der Puste.

„Eve? Bist du es wirklich? Wie bist du denn...? Ich meine was hast du.... wie wie, kommst du hierher? Die Grenze.... die Sperranlagen... Wer hat dich...“

Chantal versagte die Stimme.

Sie lagen sich einfach nur in den Armen, dabei unaufhörlich nach Luft schnappend.

„Ich bin es wirklich Chantal! Ich habs geschafft, ich bin zu dir gedrungen. Ich kann dir alles erklären, aber nicht im Moment. Ist einfach alles zu phantastisch.“ Sprach Eve, sich dabei fest an die Geliebte krallend.

„Du bist es tatsächlich! Ist alles ok? Ist der Kopf noch dran? Bist du gesund? Geht es dir gut?“ Chantal hielt Eves Kopf in den Händen und streichelte dabei wie wild deren Haaransatz.

„Ich kann es nicht fassen! Ich...ich bin total aus dem Häuschen. Ich möchte schreien vor Freude.“  Meinte Chantal.

„Dann tue es doch einfach! Oder tun wir es gemeinsam?“ Erwiderte Eve.

Dann juchzte beide voller Inbrunst in den Himmel. Dabei wurden sie von den anderen laut beklatscht die sich ihnen aus der Richtung des Konventsgebäudes näherten.

„Egal! Hauptsache du bist hier! Das musst du mir später erklären oder wenn die andern dabei sind, denke ich. Ach bin ich froh dich wieder zu haben. Ich kann kaum in Worte fassen wie ich mich im Moment fühle.“ Gab Chantal zu verstehen, dabei rollten viele Freudentränen über ihre Wangen.

„Ich kann es auch noch nicht  fassen. Aber ich bin bei dir. Wie sehr habe ich diesem Moment entgegengefiebert und nun ist es soweit!“

Dann schluchzten beide. Chantal badete das Gesicht ihrer Geliebten in einer Flut von Küssen.

In der Zwischenzeit hatten die anderen die beiden Liebenden erreicht und bildeten einen Kreis.

Zunächst herrschte Schweigen, sie erkannten die geforderte Pietät des Augenblickes und drängen nicht mit Fragen.

Als Chantal Elena neben sich erblickte löste sie Eve behutsam aus ihrer Umarmung.

 

„Darf ich vorstellen? Das ist meine kleine Eve, Elena. Ich weiß nicht wie, aber sie ist zu mir gekommen. Ich kann nicht beschreiben, was ich im Moment für Glück empfinde.

Eve, ich glaube ich brauche sie dir nicht vorzustellen. Hier steht Elena vor dir.“

Die Blicke kreuzten sich. Ein wenig unbeholfen versuchte Eve zu sprechen, doch es wollte nicht so recht gelingen.

„Herzlich willkommen, in unserem Reich Eve.“ Begrüßte Elena schließlich den Neuankömmling.

„Du bist also Eve, von der unsere Chantal täglich in den buntesten Farben schwärmte und ich muss sagen sie hat noch untertrieben.  Komm lass dich erst mal richtig begrüßen.“

Sanft legten sich Elenas Handflächen um Eves Gesicht. Dann küßte sie deren Stirn, die Augen, die Nase und schließlich lange den Mund. Im Anschluss schloss sie Eve in ihre Arme und streichelte deren Rücken.

Eve kam es so vor als sei sie in einem Ameisenhaufen gelandet, es gribbelte am ganzen Körper. Unbeschreiblich das Gefühl von dieser Frau in den Armen gehalten zu werden.

„Ich hoffe dir geht es gut und du hattest eine gute Reise?“ Vergewisserte sich Elena nach dem sie Eve entlassen und in Chantals Obhut zurückgegeben hatte.

„Ja, es geht mir gut! Ich bin zwar hundemüde von der langen Reise aber sonst geht es gut. Ich muss alles erst mal auf mich wirken lassen. Im Moment falle ich aus allen Wolken.“ Gab Eve zur Antwort und lies sich dabei wieder von Chantal liebkosen.

„Das kann ich gut verstehen. Erst mal richtig ankommen. Es ist Abend und du musst dich ausruhen. Alles weitere können wir morgen besprechen.Wir sind alle hoch erfreut dich in unseren Reihen begrüßen zu dürfen. Genieße deinen Aufenthalt ganz gleich wie lange er auch dauern möge. Die Frage deiner Unterbringe erübrigt sich , denn ich denke unser blonder Engel wird mit Freuden ihr Zimmer mit dir teilen. Später können wir dann klären wie ihr in Zukunft zu wohnen gedenkt, wenn ihr dauerhaft zusammenbleiben wollt. Chantal ist selbstverständlich auch deine Kümmerin und in ihre Obhut entlasse ich dich jetzt.“

Elena warf noch kurz einen Blick auf die Papiere die Eve bei sich trug, denn sie war brennend daran interessiert in Erfahrung zu bringen wie sie eine sichere Passage erhalten konnte.

Nun wurden die beiden auch von den andern herzlich in Empfang genommen.

Elena richtete ihren Blick auf Colette die etwas abseits der Ansammlung vergnüglich wie ein Rumpelstielschen von einem Bein auf das andere tänzelte.

Unbemerkt schlich sich Elena von hinten an umschlang mit den Armen deren Taille und zog sie zu sich.

„Ist es nicht wunderbar das Glück zweier Liebender zu betrachten, die sich wieder gefunden haben?“ Wollte Elena wissen.

„Ja, phantastisch! Es tut gut zu sehen wie sie sich nach langer Trennung in den Armen halten.“Erwiderte Colette.

„Phantastisch vor allem Eves plötzliches Auftauchen hier. Ich habe mir ihre Reisedokumente genau angesehen. Irgendwie eigenartig findest du nicht auch? Warum sollte unser geliebter Genosse Generalsekretär, unsere aufgehende Sonne Melancholaniens höchstpersönlich seine Unterschrift darunter setzen. Für eine Person die er nicht einmal kennt, gar nicht kennen kann.

Gehe ich recht in der Annahme das unsere große Schwester wieder mal die Glücksfee gespielt hat?“

Elena hatte die Sache gleich durchschaut, da konnte nur Colette dahinter stecken.

„Hm, und wenn es so wäre? Bist du mir deshalb böse?“

„Aber nein! Im Gegenteil, du bist Spitze meine Große!“ Elena strich Colettes Haar zur Seite und gab ihr einen  Kuss auf die rechte Wange.

„Ich konnte Chantals Kummer einfach nicht mehr mit ansehen, deshalb entschloss ich mich zum handeln. Ich wollte unsere beiden Königskinder zusammen zu bringen. Aus diesem Grund bin ich zu Neidhardt gegangen.“

Colette Geständnis schockierte Elena.

„Du bist einfach so zu ihm gegangen? Dazu bist nur du fähig, meine gute alte Colette, immer zur Stelle für eine gute Tat, um anderen Freude und Glück zu bescheren.

Aber er ist einfach so drauf eingegangen? Wie um alles in der Welt hast du ihn rumgekriegt?“

„Gut zureden hilft bei dem gar nichts. Ich beschloss mir seine Spielerleidenschaft zu nutze zu machen!“ Gestand Colette.

„Du, du hast mit ihm gewürfelt?“

„Ja, genau, denn Schach kann ich nicht so gut, da hätte er mich bestimmt geschlagen, aber Würfeln ist  bekanntlich reine Glücksache!“

Elena drehte Colette zu sich und schloss sie fest in ihre Arme.

„Aber wenn du verloren hättest? Welche Bedingung waren die seinen? Ich will gar nicht drüber nachdenken, ich bekomme Schüttelfrost. Liebste Colette, du hast dich in große Gefahr gebracht nur um der Schwester zu helfen. Wie sehr ich dich dafür liebe. Dafür hast du dir eine ganz besondere  Belohnung verdient.“ Bot Elena freimütig an.

„Ich habs gern getan. Sicher, mir war schon etwas mulmig. Aber das war mir die

Sache wert. Durch diesen Anblick werde ich reich entschädigt.“ Colette wies auf die beiden Liebenden.

Hm und was die Belohnung betrifft, du kennst meine Vorlieben!“

„Darf ich raten? Eine Massage?“

„Ganz richtig! Mit allem was dazu gehört!“

„Bescheiden wie immer, Colette! Eine Massage ist das Mindeste, das dir zusteht. Wir zwei allein oder darf Madleen auch mitmachen?“

„Na wenn schon, alle beide!“

„Wir sind zur Stelle wann immer du magst. Ich bitte dich nur um eines. Wenn du so etwas nochmal in Erwägung ziehen solltest, komm zu mir, sprich mit mir darüber, lass uns gemeinsam planen und ausführen. Dich zu verlieren wäre.... Nein, ich will es mir gar nicht vorstellen. Die Abtei ohne Colette ist nicht vorstellbar.“

 

Später am Abend hatte Chantal ihre Liebste in ihre weichen Kissen gebettet, an deren Seite wachend, überschütte sie mit Zärtlichkeiten.

„Nicht böse sein Chantal, wenn ich dabei einschlafe, aber ich bin einfach todmüde. Die Reise hat mich ganz schön gestaucht.“

„Aber mein Liebling, darüber brauchst du dir doch keinen Gedanken zu machen. Dich einfach  in den Armen zu wiegen und zu liebkosen bis du in den Schlummer sinkst ist für mehr als ein Geschenk. Jetzt da du bei uns bist, haben wir alle Zeit der Welt, können all das Versäumte nachholen. Morgen früh geht’s erst mal auf Erkundungstour, da zeig ich dir unser ganzes Gelände.   Das bedarf alles seine Zeit. Nebenbei musst du mir auch unbedingt berichten, wie sich alles zugetragen hat mit deiner Ausreise.“

Sie fielen ihre Liebe wie in ein weiches Daunenkissen. In Chantals Armen betrat Eve das Land ihrer Träume.

 

Mit Anbruch des neuen Tages begann für Eve ein völlig neuer Lebensabschnitt, sie hatte die Möglichkeit in eine Welt abzutauchen, die mit ihrer bisherigen nur noch sehr wenig gemein hatte.

Nachdem sie sich am Morgen ausgiebig geliebt hatten waren Chantal und Eve aufgebrochen um das Gelände zu erkunden. Chantal machte ihre Geliebte mit allem vertraut was von nun an ihr Zuhause war.

Eves Augen leuchteten vor lauter Begeisterung. Noch nie hatte sie solch ein Maß an Kreativität und Phantasie in einer so einer Konzentration vorgefunden. Ob es die künstlerischen Ateliers waren. Töpfer Holzschnitzer, Bildhauer, Maler, ob es die Musiker waren oder sie schreibende Zunft, alles schien hier vertreten und hatte seinen Platz. Auch die Bäckerei, Käserei die Bierbrauerei, alles gehörte dazu und nicht zuletzt die schönen Gärten, die Obstplantagen, Parkanlagen und der dichte Wald. Chantal hatte Recht, ein Tag genügte bei weitem nicht um alles zu ergründen. Und erst die Menschen, wo sie auch auftauchten wurde Eve herzlich begrüßt. Eine Umarmung, ein streicheln und nicht selten ein dicker Kuss. Eve schien wie benommen von dieser geballten Macht der Zärtlichkeit.

" Und nun ist es an der Zeit mir zu erklären, wie du überhaupt hierher gelangen konntest. meine ich, die Formalitäten und so, die Passage durch die Grenzlinie?“

Wollte Chantal wissen während sie Hand in Hand durch den Klosterpark schlenderten.

„Hm, ich wurde völlig überrascht. Ich kam Freitagabend nach Hause, stell dir vor, da steht ein Polizeiwagen vor der Tür, so als ob die geahnt hätten wann ich komme, die müssen mich beobachtet haben. Ich denke mir, also nun haben sie dich. Weißt du, ich habe eine Anzeige am Hals, soll auf der letzten Demo einen Stein auf einen Einsatzwagen der Polizei geworfen haben, stimmt gar nicht, aber die wollten mir das anhängen. Ich denke, nun ist es aus. Dann haben sie mich auf die Wache mitgenommen. Doch stell dir vor, statt des erwarteten Verhörs, halten die mir ne persönliche Einladung eures Neidhardt vors Gesicht. Erklären mir, ich stünde von diesem Augenblick an unter diplomatischer Immunität, sei persönlicher Gast eures Obersten. Ich denke noch die wollen mich verschaukeln, doch dann geht alles im Eiltempo voran.

Schnell wieder nach Hause, in Windeseile ein paar Sachen zusammenpacken, dann ab zum Hauptbahnhof, ich bekomme dort alle Papier ausgehändigt, inklusive Fahrkarte 1. Klasse.

Ein ganzes Abteil für mich allein, dann geht es durch, einmal umsteigen in Prag, keine Direktverbindung, ich eile wie eine Besessene bekomme aber meinen Anschluss, fahre wieder erster Klasse. Die müssen alles perfekt durchorganisiert haben. Schließlich komme ich in Manrovia an, denke noch beim aussteigen, wie soll es jetzt weitergehen, doch da erwarten mich schon Leute vom Sicherheitsdienst, setzen mich in eine Staatskarosse und fahren mich bis zur Klosterpforte, da nimmt mich Colette in Empfand, die soll wie ich erfuhr, alles eingefädelt haben.“

„Colette??? Ich hätte es mir denken können. Hat sie also doch auf eigene Faust gehandelt.“

„Was meinst du damit?“ Wollte Eve wissen.

„Ach darüber sprechen wir später. Aber warum ist denn die Einladung nicht an dich persönlich ergangen?“

„Die wollte wohl auf Nummer sicher gehen. Euer General hat sich an unsere Regierung gewandt mit der Bitte meinen Verbleib auszukundschaften und Sorge zu tragen dass ich schnellstmöglich hierher gelange. Und die hatten damit Recht. Stell dir vor du erhältst so einen Brief. Die persönliche Einladung eines Diktators, würdest du dem nachkommen?“

„Schwer zu sagen. Ich denke wohl eher nicht!“ Bekannte Chantal.

„Siehst du! Niemals wäre ich freiwillig der Einladung auf ein Polizeirevier nachgekommen, da hab ich viel zu viel Schiss. Aber so konnte ich nicht anders. Die haben mich überrumpelt und das war gut so, denn auf diese Weise gelangte ich letztendlich zu dir.“ Setzte Eve ihre Erklärung fort.

„Im Nachhinein absolut einleuchtend. Wenn ich auch noch immer nicht nachvollziehen kann, was noch so alles dahinter steckt. Egal! Du bist bei mir und das ist das Wichtigste. Was Colette betrifft. Da stehen wir beide erst mal tief in ihrer Schuld. Wir müssen gut überlegen auf welche Weise wir ihr dafür danken. Das müsste schon was ganz besonderes sein. Ich werde mir etwas einfallen lassen.“

„Tu das Liebste. Ich bin dabei!“

 

Eve hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für ihre Ankunft aussuchen können. Nur wenige Tage später sollte ein bedeutendes Event stattfinden.

Im Rahmen eins großen Festes wollten die Schwestern endgültig einen neuen Staat ausrufen. Sie hatten sich dafür ausgesprochen es schon jetzt zu tun, obgleich die Vorbereitungsphase gerade erst begonnen hatte.

Das geplante Parkfest war von langer Hand vorbereitet. Die Grenzsicherung schien dessen Durchführung zunächst zu gefährden und es wurde mit dem Gedanken gespielt alles kurzfristig abzublasen. Doch letztendlich entschieden sich die Bewohner: Jetzt erst recht! Man wollte auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, sich einschüchtern zu lassen. Natürlich taten sich vor ihnen viele Schwierigkeiten auf. Deshalb kam man nicht umhin mit den melancholanischen Behörden zu verhandeln.

Die zeigten sich überraschender Weise ausgesprochen großzügig. Immerhin bot sich ihnen die Gelegenheit der Weltöffentlichkeit eine wohlwollende Haltung der Kommune gegenüber vorzugaukeln. Alles was zur Durchführung eines gewaltigen 4 Tage andauernden Großereignisses benötigt wurde, bekamen sie zur Verfügung gestellt, natürlich gegen Bezahlung. Die melancholanische Regierung wollte aus verständlichen Gründen kräftig daran verdienen.

Auch der Besuch auf dem Abteigelände wurde für diese Zeitspanne deutlich erleichtert.

Somit war es vielen Bewohner Melancholaniens und des Auslandes gestattet sich ungehindert auf dem Gelände aufzuhalten.

 

Fast das gesamt Abteigelände verwandelte sich für 4 Tage in einen großen Jahrmarkt. Ein Flohmarkt mit einem übergroßen Sortiment an  allerlei Trödelware, aber auch Schausteller die ihr Können anboten. Hinzu kamen jede Menge Workshops mit interessanten Themen sowie künstlerische Darbietungen, musikalischer Art etwa. Bands aus verschiedenen Ländern boten ihre Konzerte an. Es gab Theateraufführungen und Dichterlesungen, eine große Tanzparty, Gesang am Lagerfeuer etc. Ein eigens dafür zusammengestelltes Orga-Team gab sich große Mühe alles zu planen und für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen.

Auch Chantal war Teil des Teams und Eve lies es sich nicht nehmen sie dabei nach ihren Möglichkeiten zu unterstützen.

Im Rahmen dieses Festivals sollte es einen kleinen Festakt in der Basilika geben, eher beiläufig gedachte die Schwesternschaft dort den neuen Staat ausrufen. Zunächst ein rein symbolischer Akt, der aber eine enorme Langzeitwirkung entfalten sollte.

Die Basilika war an jenem Samstagabend bis auf den letzte Platz gefüllt. Für all jene die keinen Platz erhaschen konnten wurde die Veranstaltung via Leinwand nach draußen in den Park übertragen. Speziell reservierte Plätze gab es, bis auf ganz wenige Ausnahmen so gut wie gar nicht. Alles lief nach dem Prinzip: „Wer zuerst kommt mahlt zuerst!“ Damit sollte die Gleichheit aller Kommunebewohner sichergestellt werden.

Lediglich das Chorgestühl in der Apsis war nicht allgemein zugänglich sondern für die Schwesternschaft reserviert. Dort wo früher die Mönche ihre Horen sangen und das Stundengebet hielten, würden sich in Kürze die Schwestern niederlassen, noch befand sich Eve allein in dem großen Chor und kam sich recht verloren vor, ein wenig misstrauisch nach allen Seiten blickend, erwartete sie den Einzug der Frauen die nun ihre Schwestern waren.

Ein Orchester hatte sich im Vorderteil des Altarraumes niedergelassen um mit klassischer Musik die Festlichkeit musikalisch zu umrahmen. Auch einen Chor gab es, eigens für die Feierlichkeit zusammengestellt, der in etlichen Proben seine Darbietung einstudiert hatte.

Glockengeläut signalisierte den baldigen Beginn dieses außergewöhnlichen Ereignisses. Langsam erstarb das Gemurmel aus den Bankreihen und Stille senkte sich auf die Versammelten.

Dann setze das Orchester ein. Nella Phantasia, die himmlischen Klänge dieses bezaubernden Musikstückes versetzten die Teilnehmenden schon jetzt in Ekstase. Dann erschienen die Schwestern und begaben sich in Zweierreihe auf den Chor zu. Wie auf Befehl erhoben sich die Besucher der Basilika, so als würden die Schwestern zu einem Gottesdienst einziehen.

Zum ersten Mal trugen die ihre eigens für diesen Anlass neu kreierte Tracht.

Schwarze eng an liegende Baumwollleggins, dazu glänzend schwarze Stiefel die bis zu den Knien reichten,  eine pinkfarbene ausladenden Bluse mit spitzen Ausschnitt, darin ein leuchtend grünes Halstuch eingebunden, darüber eine bis zu den Hüften reichende schwarze Weste.

Die Haare offen getragen.

Ronald hatte sich in einer der vordersten Bankreihen platziert, seine beiden Kinder, das Zwillingspaar Jacqueline und Silke auf dem Schoss. Als die in den Reihen der Schwestern ihre Mutter Alexandra erblickten war die Freude groß und mit großen Augen verfolgten sie nun das weitere Geschehen. Alexandra winkte ihnen zu, froh über die Tatsache endlich wieder zu diesem verheißungsvollen Bündnis zu gehören. 

Als sie von ihren Sitzplätzen Besitz ergriffen, setzten sich auch die übrigen Besuche wieder. Eve schmiegte sich eng an ihre Liebste.

Nach Ende des Einführungschorals gab es ein kurzes kulturelles Programm. Lesungen aus der Weltliteratur im Wechsel mit musikalischer Darbietung.

Schließlich trat Elena an das Ambo, dass ich weit vorm im Altarraum befand um eine Ansprache zu halten.

Totenstille. Was würde sie wohl der versammelten Menge zu verkünden haben.

Elena blickte kurz zu der gewaltigen Rosette auf der gegenüberliegenden Seite des großen Chorraumes, die Sonnestrahlen brachen sich in der dort verewigten Farbenpracht und sendeten ihre Strahlen direkt auf ihr Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, denn sie glaubte dort für einen kurzen Augenblick Kovacs Antlitz zu erblicken.

„Liebe Freunde, Geschwister im Geiste. Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!

Besser als mit diesem Zitat des Revolutionärs Che Guevara könnte ich meine Ansprache kaum einleiten. Was wir heute versuchen erscheint auf den ersten Blick so unmöglich, dass wir es uns in der Realität kaum vorzustellen wagen.

Nicht wenige werden uns für verrückt erklären, so unwahrscheinlich wird es in ihren Ohren klingen.

Zunächst möchte ich mich dafür entschuldigen dass ich euch alle damit überrumpele. Selbstverständlich wäre es vernünftiger gewesen und hätte unserer libertären Gesinnung besser zu Gesichte gestanden wenn wir euch  von Anfang an in die Vorbereitung einbezogen hätten. Aber im Angesichte des übergroßen Druckes der auf unser aller Schultern lastet, sahen wir Schwestern uns genötigt im Alleingang vor zugehen. Endlose, womöglich in der Öffentlichkeit ausgetragene Debatten hätten uns auf der Stelle treten lassen und wir wären schlimmsten Falles keinen Schritt voran gekommen.

Um es kurz zu machen. Unser Beschluss lautet wie folgt:

Von diesem Augenblick an betrachtet sich die Kommune in der Alten Abtei sowie die ihr angegliederten Gebiete als eigenständiger Staat. Mit allen Rechten und Vollmachten die ein souveränes Staatsgebilde auszeichnet. Mit sofortiger Wirkung gibt sich das Gelände der Alten Abtei den Namen Anarchonopolis und fungiert quasi als Hauptstadt, alle Gebiete der Kommune zusammen nennen sich fortan Akratasien bzw. Akratasische Föderation. Als Fahne haben wir das Wappen gewählt, dass schon seit geraumer Zeit auf unserer Mauer weht um der Propaganda der Diktatur zu trotzen.

Pink-Grün diagonal geteilt, mit dem schwarz-roten Stern in der Mitte.    

Das Grün symbolisiert unsere spirituelle Ausrichtung. Grün ist die Farbe der Natur. Denken wir an Grün so verbinden wir damit entstehendes Leben und Wachstum, Heilung, Mitgefühl, Regeneration und Erdbewusstsein. Es symbolisiert als Farbe des Triumphes des Frühlings über den Winter und der jährlichen Erneuerung Hoffnung , Zufriedenheit und Unsterblichkeit. Grün ist die Farbe der Lebenskraft des Herzens, die Farbe des Ursprunges. Zu eben jenen Ursprüngen  wollen wir zurück. Zur matriarchalen und libertären Urreligion von der einst alles ausging und zu der alles wieder zurückfinden wird.

Das pink steht für unsere queere Lebensart. Wir machen das queere zur Normalität. Pink oder Rosa ist aber auch die Farbe der Hingabe, Opferbereitschaft und innerer Wandlung. Sie ist die Farbe der Herzensliebe, sie hilft unserem Herzen dass wir unseren Gefühlen Ausdruck verleihen können. Sie will uns sagen, liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Alle Formen der Lieben finden bei uns ihre Entsprechung.

Der schwarz-rote Stern betont unsere libertäre Gesinnung. Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit soll unser Handeln bestimmen. Gerechtigkeit, Solidarität und Mitgefühl allen Geschöpfen gegenüber.

Eine sehr kurze Zusammenfassung einer gewaltigen komplexen Philosophie die es zu entwickeln gilt. Es ist kaum möglich jetzt schon ins Detail zu gehen, dass würde jeden Rahmen sprengen und ich möchte niemanden schon am Anfang überfordern.

Diese Staatsgründung ist symbolisch und provisorisch.

Symbolisch, da unser langfristiges Ziel eigentlich darin besteht, den Staat als Gebilde gänzlich  überflüssig zu machen, folglich jede Art von Herrschaft zu überwinden.

Provisorisch weil wir sobald als möglich die Wiedervereinigung mit dem übrigen melancholanischen Staatsgebiet anstreben um allen seinen Bewohnern jene Form der Freiheit und Gleichheit zu schenken die wir hier auf unserem Territorium schon heute leben dürfen.

Auf keinen Fall dürfen wir zulassen dass sich neue, künstliche Hierarchien bilden, dann wären wir keinen Deut besser als jene die uns ausgeschlossen haben.

Ich möchte möglichst viele von euch an der Erarbeitung unserer neuen Philosophie beteiligen.

Zu diesem Zweck werden schon in Bälde eine Fülle von Arbeitsgruppen eingesetzt. Kleine überschaubare Körperschaften, die in einem Netzwerk gebündelt, Vorschläge erarbeiten und auf unseren Plena ein bringen.

Mir ist bewusst das ich schon wieder abschweife. Zu gegebener Zeit werden wir darüber zu diskutieren haben.

Der Mensch ist, wie wir zusagen pflegen, ein Gewohnheitstier. Es liegt auf der Hand, dass Mensch durch seine soziale Umwelt geformt und sein denken geprägt wurde. Genauso eindeutig aber ist die Tatsache, dass Menschen auch Kraft ihres Willens diesen Zustand ändern können.

Eine Bewegung die konsequentes Verhalten zur Voraussetzung ihres sozialen Modells macht hat im Grunde schon verspielt. Bei den allermeisten Menschen gehen die Veränderungen in kleinen Schritten vor sich und nur den wenigsten Charakteren ist die innere Stärke eigen sich zwischen Kopf und Bauch so erfolgreich zu entscheiden, dass sich ihr Handeln widerspruchsfrei an ihren Überzeugungen ausrichtet.

Erwartet am Anfang nicht zuviel. Wir haben einen dornenreichen Weg zu beschreiten, gepflastert mit allerlei Defiziten, mit Rückschlägen und Resignation. Wir sind weder Helden noch Heilige, wir sind Menschen mit Fehlern und Schwächen.

Deshalb muss das Modell auch inkonsequenten Menschen Zugänge verschaffen und ihnen die Möglichkeit bieten sich in Veränderungsprozesse ein zubringen.

Was wir aber vor allem benötigen ist der Mut zur Utopie. Niemals dürfen wir unser Ziel aus den Augen verlieren, sollten die Anfechtungen auch  noch so entsetzlich erscheinen.

Wie sieht jene Utopie aus? Die Eckpunkte charakterisierte ich schon mehrfach in knapper Form.

Selbstverwaltet, Ökologisch, Libertär, Solidarisch, Queer und Spirituell.

In dieser ungewöhnlichen Kombination liegt unsere Kraft.

Wo in der langen Menschheitsgeschichte hat es je etwas Vergleichbares gegeben?

Heilsbotschaften gab es mehr als genug, doch kehrte sich deren emanzipatorischer Ansatz

zumeist schon nach kurzer Zeit in sein Gegenteil, am Ende warteten Diktatur und Einheitsideologie.

Wir haben die einmalige Möglichkeit aus den Fehlern vergangener Befreiungstheorien zu lernen.

Dabei sollten wir ohne weltanschauliche Scheuklappen und ideologische Berührungsängste vor gehen. Es gibt eine Menge Quellen aus denen wir Wasser schöpfen können.

Wenn wir jene Wasser im richtigen Verhältnis mischen brauen wir uns das Neue.

Ich stelle mir eine gegenseitige Bereicherung der beiden großen freiheitlichen Traditionen  der Menschheit vor, dem uralten Matriarchat und dem modernen libertären Diskurs. Diese Begegnung könnte eine enorme gesellschaftliche Dynamik entwickeln.

Am Ende schaffen wir uns die Akratie, die höchstentwickelte Form der Demokratie. Eine Ordnung die, ohne jedwede Herrschaft, aus sich selbst funktioniert.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wir benötigen Übergangsphasen, eine erste haben wir mit der Ausrufung des neuen Staats eingeleitet.

Alle Ämter und Funktionen die es in Bälde zu verteilen gilt, haben zunächst rein symbolischen Charakter und dienen ausschließlich der Repräsentation nach außen. Im Inneren behalten wir die basisdemokratische Struktur bei, bauen diese ständig weiter aus und verfestigen sie.

Wenn wir zum Beispiel heute eine Königin erwählen und proklamieren, dann wird diese ohne Krone und Zepter auskommen, und bedarf keines Thrones. Sie ist Gleiche unter Gleichen und ständig darum bemüht den Gemeinschaftssinn zu stärken.

Auch die Regierung die es zu bilden gilt wird sich deutlich von dem unterscheiden, was wir bisher unter diesem Begriff verstanden.

Die eigentliche Macht bilden alle Bewohner der Kommune, bzw. des neuen Staates als Ganzes, vertreten durch die zu schaffenden Räte. Diese werden die Arbeit der Regierung überwachen und peinlichst darauf achten, die Anhäufung von Privilegien schon im Vorfeld zu verunmöglichen.

Alle Funktionsträger sind jederzeit abrufbar, sollten sie gegen unsere Prinzipien verstoßen.

Die gewählten Vertreter der Räte erhalten ein imperatives Mandat, sind also ebenfalls zu jedem Zeitpunkt ersetzbar.

Aber ich verliere mich schon wieder in Detailfragen. Die Arbeit wird in den folgenden Tagen beginnen, so bald als möglich. Je mehr von euch ihre Bereitschaft zur Mitarbeit bekunden  umso besser.

Vertraut mir, vertraut uns, der gesamten Schwesternschaft, dass wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen, der uns in ein unentdecktes Land führen wird, in ein Land der Freiheit und Gleichheit erwirkt durch Geschwisterlichkeit, Liebe und Harmonie.

Heute wollen wir feiern und fröhlich sein, denn wir haben allen Grund dazu.“

Elena endete ihre Rede abrupt. Augenblicklich setzte tosender Beifall ein, begleitet von Jubelrufen.

Die meisten waren sich wohl der Bedeutung des Augenblickes bewusst. Eine Art Stunde Null.

Etwas dass Geschichte schreibt.

Die Schwestern fielen sich in die Arme, küßten und umschlangen sich.

Eve fiel aus allen Wolken. Schon während Elenas Rede hatte sie Chantal mehrmals gebeten sie zu kneifen, da sie fürchtete zu träumen. Aber es war kein Traum sondern greifbare Realität.

Nach einer Weile setze das Orchester wieder ein und spielte.

Danach erhob sich Sonja von ihrem Platz und schritt in die Mitte des Raumes, in ihren Händen hielt sie einen kunstvoll geschnitzten etwa anderthalb Meter großen Holzstab. Die Begabte Schnitzerin hatte diesen in den Vortagen selber angefertigt. Sie begab sich zu Gabriela und überreichte dieser den Stab. Gemeinsam mit Alexandra ging sie auf Elena zu.

„Höre Elena, was wir dir mitzuteilen haben. Wir, die Gründungsmitglieder der Urkommune die sich um unseren unvergessenen Dichter Kovacs scharten, haben die Ehre dir den Beschluss zu verkünden, den wir als Schwesternschaft gefasst haben. Wir übereichen dir diesen Holzstab. Sonja hat ihn eigens für dich geschnitzt, er ist wunderschön und strahlt Würde und Erhabenheit aus. Wir haben dich zu unserer Königin erwählt und tragen dir dieses Amt nun vor aller Öffentlichkeit an. Keine andere wäre wohl mehr berechtigt diesen Titel zu führen, auch wenn er mehr oder weniger symbolischen Charakter trägt. Wir geloben dir ewige Gefolgschaft. Nichts und niemand kann uns von dir trennen. Nur der Tod wird uns von dir scheiden.“ Sprach Gabriela der völlig überraschten ins Gesicht, dann hielt sie ihr den Holzstab entgegen.

„Ewige Liebe und bedingungslose Treue. Wir sprechen hier auch im Namen aller Schwestern, denn wir haben diesen Beschluss einstimmig gefasst“ Fügte Alexandra hinzu.

Elena griff nach dem Stab und zog diesen fest an ihre Brust. Wieder setzte frenetischer Jubel ein. Die Versammelten schienen wie in eine Trance gefallen.

„Elena! Elena! Elena unsere Königin! Elena Regina!“ so oder ähnlich konnte man es von allen Seiten vernehmen.

Nach einer ganze Weile senkte sich andächtige Stille über den sakralen Raum.

Elena schritt nach vorne hob den Stab leicht an und sprach.

„Ich danke euch für euer großes Vertrauen. Ich bin tief gerührt. Ich habe mir schon gedacht dass ihr so etwas oder ähnliches im Schilde führt. Ich kann euch sehr gut verstehen. Ihr seht in mir eure Königin, eine Führungsperson der man gerne gewillt ist zu folgen. Ich werde auch in Zukunft in der vordersten Reihe stehen und für euch alle arbeiten und kämpfen und natürlich in der sich neu zu formenden Regierung mitwirken, keine Frage, aber eure Königin werde ich nicht!“

Kaum waren diese Worte über Elenas Lippen, da raunte ein tiefer kollektiver Seufzer durch die Bankreihen. Elena lehnte ab? Das konnte nicht sein! Sie beliebt zu scherzen? Aber nein, nie und nimmer würde Elena das tun. Fassungslosigkeit senkte sich wie ein bleierner Nebel auf die Gemüter. Tiefe Resignation! Einige finge spontan zu weinen an. Besonders bei den Schwestern herrschte Enttäuschung! Sie war ihre Anführerin von Anbeginn, auf sie waren sie fixiert, ihr würden sie Treue geloben, womöglich bis in den Tod. Und nun dass.

„Elena du bist unsere Königin! Die Menschen blicken zu dir auf, dass du ihnen Anführerin und Ratgeberin bist. Du standest an erster Stelle von Beginn an. Warum willst du dich zurückziehen? Ohne deine Persönlichkeit an der Spitze droht hier alles zusammen zu brechen.

Willst du das riskieren? Um einen Staat zu bilden bedarf es aber Menschen mit ausgezeichneten Führungsqualitäten und die hast du! Wer könnte dich ersetzen?“

Lehnte Gabriela Elenas Rückzug mit aller Deutlichkeit ab.

„Siehst du? Gerade deshalb musste ich diesen Schritt tun. Eure Verehrung meiner Person nimmt Formen an vor denen ich mich zu fürchten beginne. Ihr verehrt mich schon lange wie eine Königin, auch was rede ich, wie eine Göttin. Ein solcher Personenkult darf in einer akratischen Gesellschaft keinen Platz finden. Schon nach kurzer Zeit würde durch mich eine neue Form der Hierarchie entstehen die wir doch gerade zu vermeiden suchen. Nehme ich jetzt euer Votum an, finden wir niemals das unentdeckte Land der Freiheit. Anarchonopolis würde zur Karikatur.

Ich ziehe mich nicht zurück. Ich verspreche euch dass ich auch weiterhin in der ersten Reihe stehe, aber niemals als Königin. Schaut doch, mir viel von Kindheit an so gut wie alles in den Schoß. Kaum das ich einmal um etwas zu kämpfen hatte.  Was ich in Angriff nahm,  gelang mir.

Stünde ich wieder an erster Stelle, es wäre nichts besonderes, etwas dass ohnehin erwartet wird.

Nein, ich sage euch wer unsere Königin werden muss. Sie kommt von ganz unten, hat alles erduldet was es an Schmach und Demütigung unter Menschen geben kann. Ausgegrenzt, verhöhnt, getreten und chancenlos. Sie kämpfte sich nach oben und erarbeitete sich die Liebe und den Respekt teuer. Wir alle haben sie in unser Herz geschlossen und lieben sie wie eine große Schwester.“

Elena schritt langsam an das hintere Ende des Chorgestühls und blieb direkt vor Colette stehen. Dann reichte sie ihr den Stab.

„Nimm ihn Colette! Du hast ihn dir verdient, wie keine von uns. Sei du unsere Königin!“

Colette schien wie vom Schlag getroffen, wurde kreidebleich und Tränen traten in ihre Augen.

„Aber Elena, das kann ich nicht! Was willst du mir hier aufbürden? Die Menschen wollen dich! Hast du nicht die Begeisterung vernommen? Was könnte ich dem entgegensetzen?

Nein, du musst weiter an der Spitze stehen.“

„Aber das möchte ich doch auch, Colette! Aber nicht als Königin. Sieh mal, was benötigt eine Königin um gut zu regieren? Richtig! Eine tüchtige Premierministerin, Kanzlerin oder wie wir es auch nennen mögen. Wenn du willst bin ich bereit diesen Job zu übernehmen. Die Geschäfte zu führen, alles zu managen. In eine solche Funktion wurde ich schon einmal gewählt? Du erinnerst dich? Ich werde weiter alles regeln, aber nicht im Alleingang. Gemeinsam sind wir stark. Du wirst mich kontrollieren, damit ich nicht abhebe und längst überwundene Starallüren entwickele.

Du bist wie geschaffen für dieses Amt! Ich möchte dich als Königin sehen und gelobe dir meine Treue auf immer und ewig, nichts und niemand wird jemals zwischen uns stehen. Ein Bund über den Tod hinaus.“

Colette überlegte noch einen Moment, dann griff sie zu und hielt den Stab in ihren Händen, sich verlegen nach allen Seiten umsehend und Tränen der Rührung vergießend.

„Ich bin  bereit! Ich nehme an!“

Elena griff nach Colettes Hand und küßte diese lange. Danach folgte eine innige Umarmung.

Wie eine Rakete schoss Chantal aus ihrer Bank und trat hastig in die Mitte.

„Auch ich gelobe dir meine Treue, meine Königin. Ich stehe tief in deiner Schuld.

Ich weiß nicht wie ich das, was du für mich getan hast je begleichen soll. Ich verspreche dir Gefolgschaft und Liebe wohin uns auch der Weg führen mag. Stets werde ich an deiner Seite stehen und mit dir gehen. Wenn es sein muss bis in den Tod!“

Dann ergriff sie Colettes Hände und drückte sie. Es folgte ein Kuss der tiefe Verehrung ausdrückte.

„Auch ich werde dir folgen. Deine Wege sind meine Wege. Deine Familie ist die meine. Ich verehre, achte und liebe dich wie eine große Schwester. Mehr noch, mir fehlen die Worte um mein Gefühl auszudrücken.“ Bekannte nun auch Madleen.

„Ich schließe mich dem uneingeschränkt an. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich stehe an deiner Seite. Meine Treue und Liebe gehören dir!“ Folgte Alexandra.    

Verhaltener Beifall zunächst, doch dann setzten immer weitere ein und schließlich ertönte ein Jubel der jenem, der zuvor Elena galt in nichts nachzustehen schien. Eine Schwester nach der andern trat nun vor Colette und bekundete ihre Treue.

„Colette, liebste Colette. Eine bessere Königin wie dich gibt es nicht. Ich hab dich unendlich lieb und werde dir folgen ganz gleich was auch geschieht! Huhuhuhuhu!“ Kim konnte ihre Emotionen wieder nicht im Zaune halten und schluchzte sich an Colettes Brust aus.

Als sich alle wieder in das Chorgestühl begeben hatten, war es an Colette das Wort an die versammelte Gemeinde zu richten.

„Elena hat in ihrer Ansprache bereits alles ausgedrückt. Ich habe dem inhaltlich nichts hinzuzufügen und stehe voll hinter ihren Plänen. Ihr habt mich zu eurer Königin gemacht. Nie und nimmer hätte ich mir so etwas erträumen können. Aber wie dem auch sei. Ich bin Colette, ich bin die die ich immer war und immer sein werde. Wie Elena vorhin formulierte. Dieses Königinnentum bedarf keiner Krone. Im Gegenteil eine solche würde unsere egalitäre Gemeinschaft nur zerstören. Ich möchte eine Königin der Herzen sein. All jene die mühselig und beladen sind können jederzeit weiter zu mir kommen und sich von mir trösten lassen.

Ich beanspruche keinerlei Privilegien. Auch wenn sich das nicht immer wird vermeiden lassen.

Alles was sich bin, verdanke ich euch meine Schwestern, ihr habt mich durch eure Liebe und Anerkennung geformt und zu dem gemacht was ich heute bin. Die Einsamkeit ist ein Privileg der Göttin. Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Aus eigener Kraft vermag er nichts. Es ist die Gemeinschaft die ihn prägt, ihn wachsen und gedeihen lässt. Die Tür zur Freiheit lässt sich nur von außen öffnen, andere müssen sie für dich öffnen und dir zur Freiheit verhelfen, sagen die Sufi, bei denen ich eine zeitlang lebte und lernte. Es waren die Schwestern die mich aus der Gefangenschaft der Einsamkeit und des Ausgegrenztseins ins Leben holten. Sie gaben mir alles und verliehen mir so die Fähigkeit nun meinerseits alles zu geben, wenn es darauf ankommen sollte.

Kein Mensch sollte jemals einsam sein, oder ausgegrenzt, sich als nicht dazu gehörig empfinden. Erzwungene Einsamkeit ist schlimmer als der Tod. Sie deformiert unser Bewusstsein und lässt uns einen Irrweg beschreiten. 

Seht, ich habe mit Neidhardt gesprochen, es ist kaum ein paar Tage her. Ich saß ihm gegenüber und schaute in die Augen eines alternden verbitterten Revolutionärs. Ein Mensch der im Leben stets zu kurz gekommen. Ausgrenzung, Abweisung und vor allem permanenter Liebesentzug haben ihn hart und unnachgiebig werden lassen. Dass Leben scheint ihn vergessen zu haben.

Ausgrenzung und Abweisung sind grausame Gesellen. Ich wünsche sie keinem Menschen als Gefährten, nicht meinem ärgstem Feind, auch nicht einem Neidhardt.

Wir dürfen niemals zulassen dass Menschen ausgegrenzt werden. Wenn ihr seht sich dass der Bruder oder die Schwester einsam oder ausgeschlossen fühlt, geht zu ihnen, laßt sie spüren das ihre für sie da seit, holt sie in die Mitte zurück.

Erst wenn auch der letzte sein Glück gefunden hat, sind wir am Ziel, dann haben wir wirklich Grund zum feiern.

Überwindet den Hass in euch! Sicher, dass ist leichter gesagt denn getan. Aber nur auf diese Weise werden wir tatsächlich imstande sein dass unentdeckte Land zu finden, von dem Elena gesprochen hat.

Selbst Neidhardt und sein Zentralkomitee dürfen wir nicht hassen. Begegnen wir dem Gegner mit Hass, Wut und Ablehnung, werden wir ihm auf unheimliche Weise ebenbürtig.

Überwinden wir den Hass mit Liebe. Tun wir dass alle gemeinsam, wird die Liebe so stark, dass sie sogar Neidhardt zum Umkehr bringen wird, dass ist meine feste Überzeugung.

Diese Grenze wird schon bald der Vergangenheit angehören. Ihr werdet sehen. Die Mauer des Hasses bekommt schon jetzt erhebliche Risse. Eure Liebe wird sie zum Einsturz bringen.

Ich sehe die Zukunft, ich sehe das unentdeckte Land. Lasst uns gemeinsam darauf zugehen.“

Stille erfüllte den Raum, dann setzte wieder der Beifall ein.

Colette hatte es geschafft, sie hatte die Herzen erobert ohne dabei Elena zu verdrängen.

Jetzt war sie in der Tat eine Königin.

Als der Beifall abgeklungen war traute sich Eve in die Runde und erkämpfte sich Gehör.

„Liebe Colette, ich möchte dir ebenfalls meine Treue und Liebe versichern, auch wenn ich nicht zu eurem Bund gehöre. Ohne dein Zutun wäre ich nicht hier. Ich weiß nicht ob ich je die Kraft gefunden hätte hier her zu finden, wenn du nicht tatkräftig nachgeholfen hättest. Ich danke dir für dieses große Geschenk. Ich finde es einfach nur wunderschön bei euch.“

„Ich danke dir Eve! Aber du irrst dich, wenn du glaubst dass du nicht zu uns gehörst. Du bist eine von uns. Das warst du schon als dir unserer Existenz noch gar nicht bekannt war. Du bist für diese Gemeinschaft bestimmt. Hört alle her, ich nehme mir mal ganz kurz ein Privileg als Königin. Ich erkläre Eve zum Vollmitglied unserer Schwesternschaft. Ich denke ihr seit alle damit einverstanden! Alles was du noch wissen musst werden wir dich gemeinsam lehren.“

Eve fiel aus allen Wolken. Sie durfte tatsächlich dazu gehören, obgleich sie erst kurze Zeit hier weilte.

Sie hielt sich die Hände vor dem Mund.

„Ist das dein Ernst? Ich darf zu euch gehören? Ich glaub ich träume!“

„Du träumst nicht Eve! Alle haben dich vom ersten Augenblick ins Herz geschlossen. Du kannst bei uns bleiben, wenn du es wirklich willst. Du schreibst damit selber schon Geschichte, denn mit dir bekommt unser Bund die erste ausländische Schwester“ Bestätigt nun auch Elena die Blitzaufnahme.

Eve kämpfe mit den Tränen, lies ihnen schließlich freien Lauf. Chantal trat zu ihr und holte sie in die Bankreihe des Chorgestühl zurück.

Colette schritt das Chorgestühl entlang, verharrte eine Weile, dann stieg sie die Stufen hinab, während das Orchester begann die Hymne "Land of Hope an Glorie" zu spielen. Langsam bewegte sich die neue Königin  durch das überfüllte Kirchenschiff. Die Anwesenden bildeten eine enge Gasse um sie passieren zu lassen. Schließlich fand sie sich vor dem Portal wieder. Wie auf Befehl öffneten zwei junge Männer die Tür und das Licht des langsam ausklingenden Tages umhüllte ihre dunkle Silhouette wie ein Krönungsmantel.

Sie war angekommen. An der Spitze. Colette von Akratasien, vernahm sie wieder diese geheimnisvolle Stimme aus der Ferne. Oder kam sie aus dem Inneren ihres Herzens? Der vollendete Antagonismus. Die Hüterin der anarchistischen Weisheit war zur Königin geworden. Das ungewöhnlichste Staatsoberhaupt der Welt, das über den ungewöhnlichsten Staat der Welt regieren sollte. Nichts würde in dieser Gemeinschaft sein wie anderorts. Welcher Staat konnte sonst noch mit einem Nicht-binärem Staatsoberhaupt aufwarten? Colette stand über den Geschlechtern. Sie repräsentierte die zukünftige androgyne Gesellschaft in der alle Unterschiede und Gegegensätze aufgehoben waren. Sie blickte der untergehende Sonne entgegen, die sich wie ein Feuerball aus dem Tag verabschiedete und atmete tief durch. Dann schloss sie die Augen und hob die Arme weit gen Himmel. Die Erfüllung!  Colette war Akratasien. Tosender Beifall der versammelten Gemeinde vor der Basilika. Hatten die Menschen Elena erwartet?

Das war anzunehmen. Doch nun nahm eine andere deren Platz ein. Enttäuschung? Nur für eine Schrecksekunde. Denn Colette war angenommen. Keiner konnte sich in diesem Augenblick ihrem Charisa entziehen. Ein Charisma so ganz anderer Art als jenes das Elena stets umgab. Die beiden würdens sich auf wundersame Weise ergänzen. 

    

Zum Abschluss wurden dann von den Schwestern im gesamten Chorraum die Porträts der bereits verstorben Mitglieder der Kommune angebracht. Ein besonders großes wurde in der Mitte aufgehängt. Es zierte das Konterfei des Dichters Kovacs.

Ging dessen Traum mit diesem Akt nun in Erfüllung? Noch nicht! Aber den Weg dafür hatte man frei gemacht.

 

Das Fest wurde nach der Feierstunde in ausgelassener Weise fortgesetzt und zog sich bis in den späten Abend.

Die Schwestern zogen sich alle samt in ihr Refugium, dem im Dachstuhl des Konventsgebäudes eingerichteten großen Meditationsraum zurück, dort würden die anwesenden Schwestern gemeinsam die Nacht verbringen.

Ihrer neuen Königin wollten sie nun auf besonders sinnliche und zärtliche Art ihre Aufwartung machen. Nach einer eingehenden Meditation wurde nach aller Kunst gekuschelt und gestreichelt. Auf das die dadurch frei werdenden positiven Energien in alle Himmelsrichtungen getragen werden konnten. Eine neue Kraft sollte sich verbreiten, zunächst über Melancholanien, dann über Europa und schließlich über die ganze Welt.