Mein kleines Mädchen

                                 

Nur ein Gedanke bewegte Annett während sie ihren Wagen über die verlassene Landstraße gen Süden steuerte. So bald als möglich zu Elena gelangen.

Die wildesten Gerüchte kursierten seit Tagen. Aus der Presse waren nur die üblichen Verlautbarungen zu vernehmen. Elena sei von einer Bande von Verschwörern gegen die Regierung entführt und gefangen gehalten worden. Inzwischen aber sei die Bande dingfest gemacht und Elena befreit und wohlauf. Die Partei-und Staatsführung bekundete ihr Bedauern über den Vorfall und stritt jede Verwicklung darin entschieden ab. Doch was war wirklich mit Elena geschehen?

Die Angst drohte ihr den Atem zu nehmen. Dann endlich, am gestrigen Morgen der erlösende Anruf ihrer Tochter. Elena war frei und sie befand sich in der sicheren Geborgenheit der Abtei.

Doch ging es ihr allem Anschein nach sehr schlecht. Madleens weinerliches Gerede am Telefon ließ nicht Gutes erahnen.

Für Annett konnte das nur eines bedeuten, sie musste dorthin. Ihre Tochter bedurfte jetzt ihrer helfenden Hände und tröstender Worte.

In Windeseile waren ein paar Sachen gepackt. Nur unter großer Anstrengung gelang es Thorwald sie von der Idee abzubringen noch an gleichen Abend aufzubrechen. Aber somit hatte sie einen Tag verloren. Jetzt musste sie sich sputen. Kam sie am Ende gar zu spät?

Nein, an so etwas durfte sie nicht denken. Sie vertraute darauf dass sich am Ende alles zum Guten wenden würde.

Die Wirklichkeit schien ihr Recht zu geben. Durch Elenas Gefangenschaft hatte sich deren Popularität um ein Vielfaches gesteigert.

Neidhardt hingegen stark angeschlagen und seine unangefochtene Stellung geriet zum ersten Mal ins Wanken.

 Man konnte davon ausgehen dass er und die Parteiführung in der Folgezeit davon abließen gegen die Akratasische Föderation oder gar gegen Elena selbst vor zu gehen. Es war mit einer längeren Ruhephase zu rechen. In gewissen Sinne hatte die Gefangenschaft das genaue Gegenteil dessen erreicht, was zuvor beabsichtigt.

Es gab also kaum einen Grund zur Besorgnis. Trotzdem wollte Annett  auf schnellsten Wege in den Süden.

Sie kannte den wirklichen Grund ihrer Besorgnis, noch aber war sie nicht bereit sich diesem Aspekt in all seiner Tragweite zu stellen. Sie liebte Elena, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Doch würde sie sich in Schweigen hüllen. Madleen war ihre Tochter, nicht im Traum gedachte sie deren Gefährtin für sich zu beanspruchen, immerhin war sie eine reife Frau, näherte sich langsam aber sicher der 60 und verstand sich darin ihre Gefühle zu beherrschen. Sie war mit Thorwald noch immer glücklich verheiratet, ihrem alten Brummbär, wie sie ihn liebevoll zu nennen pflegte, ging auf in ihren Aufgaben als vielfache Oma. Drei ihrer Söhne lebten mit ihren Familien auf dem Hof. Dazu die Arbeit. Es gab ständig zu tun.

Doch war das alles? Seit jenem Tag als die Tochter mit Elena auf den Hof erschien, rumorte es kräftig in ihr. In jungen Jahren, als sie etwa in Madleens Alter war, wünschte sie sich eine Gefährtin nach Elenas Art. Mit ihr durch die Welt ziehen, Neues erkunden, sich engagieren. Wie gern hätte sie ihr Leben auf diese Weise verbracht. Aber es kam anders.

In ihr Leben trat keine Elena.

Nun freute sie sich über die Tatsachen, dass wenigstens ihrer Tochter der patriarchale Mief erspart bleiben sollte. Obgleich sie sich andererseits eingestehen musste dass  Thorwald noch nie den Patriarchen herausgekehrt hatte und in Wirklichkeit sie es war, die zu Hause die Hosen an hatte.

 

Die lange Fahrt näherte sich ihrem baldigen Ende. Das Wetter konnte sich sehen lassen. Die Sonne stand strahlend am klaren Himmel, der ungewöhnlich lange Winter hatte sich endgültig verabschiedet und endlich bahnte sich der Frühling seinen Weg. Die Temperaturen kletterten nach oben, erstes Grün präsentierte sich an den Zweigen der Bäume und auf den Feldern. Die Natur lag einige Wochen im Rückstand, jetzt Ende März. Eine gute Zeit zum reisen. Auch wenn sich zuhause die Arbeit zu häufen begann. Zum Glück mangelte es nicht an Helfern.

Endlich einmal raus. Annett stoppte ihren Wagen für eine kurze Rast, auch wenn sie ihren Berechnungen zu Folge in etwa einer Stunde ihr Ziel erreicht haben würde.

Am Horizont erblickte sie das Grauhaargebirge mit seinem immergrünen Nadelwald, den mächtigen, aus dessen Innerem gen Himmel strebenden kahlen Bergen und an dessen Fuß die Abtei, die sich wie ein Schwalbennest perfekt in das Gesamtensemble fügte. Eine friedfertige Ruhe durchdrang ihre Seele. Annett fühlte sich frei wie der Frühlingswind, der über ihren Kopf fegte und ihre graue Lockenmähne tanzen lies.

 

Unterdessen hatte Madleen erneut nach dem alten Kurt gerufen. Elena war noch immer nicht erwacht. Wo sollte das hinführen?

„Das macht mir wirklich Sorge. Wenn sie nicht bis heute Abend bei Bewusstsein ist, müssen wir ihr eine Infusion geben. Denn sie braucht dringend Flüssigkeit, auch Nahrung natürlich aber eben hauptsächlich Flüssigkeit. Gib mir Bescheid, ja!“

Kurt verabschiedete sich. Er konnte im Moment nichts tun. Auch Madleen musste dies zur Kenntnis nehmen.

„Es ist zum heulen,  man steht einfach da und kann nicht das Geringste tun. Wenn einem so die Hände gebunden sind, schrecklich.“

" Du hast so viel geleistet, die letzten Stunden. Du kannst wirklich nicht noch mehr für sie tun. Leg dich doch eine Weile hin,  entspann dich erst mal, auch du brauchst Ruhe. Ich werde derweil nach dem Rechten schauen.“ Bot Colette bereitwillig an.

„Danke, das ist lieb von dir, aber es ist in Ordnung so. Es macht mir nichts aus. Ich halte mich solange auf den Beinen bis ich Gewissheit habe. Ziehe du dich zurück. Du hast mit mir gewacht die ganze Nacht und das bei deiner angeschlagenen Gesundheit.“ Lehnte Madleen freundlich aber bestimmend ab.

„Wo ist Tessa eigentlich geblieben?“

„Ach die ist mit Kristin unterwegs. Sind eben aus dem Haus. Ich glaube da brauchst du dir keine Gedanken machen.“ Klärte Colette auf.

„Na gut, wenn du nicht willst dann gehe ich. Aber rufe mich ,wenn es nicht mehr geht, mich oder eine andere, versprochen?“

„Versprochen!“

Colette entfernte sich. Erschöpft lies sich Madleen in den alten Sessel den sie ans Bett geschoben hatte, fallen. Elena atmete ruhig und gleichmäßig, wenigstens schienen die Panikattacken überwunden. Helfer standen bereitwillig zur Seite. Elena erntete jetzt all die Früchte dessen, was sie solange an Guten ausgesät. Alle wollten helfen. Nicht nur jene aus der unmittelbaren Umgebung, nein überall aus dem Lande trafen Angebote ein. Madleen musste mehrere Leute beauftragen, nur um die zahlreiche Post zu bearbeiten die täglich eintraf, von den Besuchern ganz zu schweigen. Alle wollten wissen, wie es um Elena stand.

Auch Cornelius erkundigte sich über einen Beauftragen persönlich und bot seinen Besuch an. Madleen hatte weder abgelehnt noch zugestimmt. Sie wollte Elenas Meinung dazu einholen. Die verbat sich jeden Rummel um ihre Person und zwischen ihr und Cornelius herrschte nach wie vor eisiges Schweigen. Andererseits bedeutetde dessen Besuch eine immense Aufwertung der Akratasische Föderation, das konnte von großem Nutzen sein.

Die Belastung war einfach zu viel und Madleen drohte unter der Verantwortung zusammenzubrechen.

 

Die Müdigkeit setzte ihr derart zu dass sie kurzzeitig in einen leichten Schlummer fiel. Ein Geräusch weckte sie abrupt. Hatte Elena sich bemerkbar gemacht? Nein, die lag noch immer friedlich auf ihrem Lager.

Nach kurzer Sammlung dämmerte ihr, dass der Lärm von draußen kam. Stimmen waren zu hören, die in hitziger Debatte verstrickt schienen.

Sie ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen.

 

„Das kann doch nicht wahr sein! Mutter bist du es wirklich? Ich dachte zunächst ich muss mich täuschen. Wie…wie bist du hierher gekommen. Kommst du jetzt direkt von zu Hause oder was?“ Hörte sie Roberts Stimme.

„Na sicher, was dachtest du denn, vom Mond etwa? Natürlich komme ich von zu Hause, woher denn sonst?“ Gab Annett kurz angebunden zurück

„Du bist die ganze Wegstrecke durchgefahren? Bist du alleine oder sind noch andere in deiner Begleitung?“

„Ich bin allein. Mehr ist auch nicht nötig. Ja, ich bin durchgefahren. Was ist denn so besonders daran.“

„Robert meint doch nur, dass du sehr müde sein musst. Komm mit, du kannst dich erst mal ausruhen nach so einer langen Fahrt. Warum hast du uns denn nicht über dein Kommen informiert?“ Schaltete sich Valeria ein.

„Warum soll ich denn soviel Aufhebens machen? Und ausruhen kann ich mich später, wenn es Zeit dafür ist. Wo ist meine Tochter?“

„ Bei Elena natürlich, sie ist die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gewichen.“ Antwortet Robert.

„Selbstverständlich, wo sonst sollte sie sein, denn an der Seite ihrer Gefährtin? Das ist es, was ich meine. Deshalb bin ich hier. Ich will zu ihr, zu Elena, ich möchte beide sehen!“

„Aber meinst du nicht dass es doch besser wäre, dich erst ein wenig auszuruhen. Wir können doch auch später nach Elena sehen.“ Versuchte Valeria abzuwiegeln.

„Nein, Valeria. Ich wiederhole mich nicht gern. Ich will jetzt zu Elena. Na gut! Ich kenne ja den Weg.“

Annett war nicht das erste Mal in Anarchonopolis, aber das riesige Anwesen präsentierte sich ihr auch heute als unentwirrbares Labyrinth und in Folge dessen schlug sie die falsche Richtung ein.

„ Mutter hier geht’s lang.“ Wies Robert mit dem Zeigefinger an.

„Könntet ihr wohl bitte so freundlich sein und mir gefälligst den rechten Weg weisen?“ Annett platzte fast vor Ungeduld.

„Na meinetwegen, komm mit Mutter ich zeige dir den Weg, auch wenn ich nach wie vor der Meinung bin das es nicht gut ist…“ gab Valeria schließlich nach.

„Madleen schob die Gardinen zur Seite und blickte aus dem Fenster auf den Platz vor der Basilika.

„Also hab ich mich doch nicht getäuscht.“ Sprach sie leise, dann lief sie ihrer Mutter entgegen.

„Ich glaube es nicht, Mutti, was machst du denn hier?“

„Das wurde ich eben schon einmal gefragt.“ Antwortete Annett, dann fielen sich beide in die Arme.

„Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten, ich musste kommen. Nach deinem Anruf gestern hielt mich nichts zurück. Sag, wie steht es mit Elena?“

„Unverändert seit gestern. Sie liegt nach wie vor in einem tiefen Schlaf. Wir wissen im Moment auch nicht weiter.“ Entgegnete Madleen mit sorgenvoller Stimme.

„Na jetzt bin ich erst mal hier. Ich werde dir helfen. Gemeinsam werden wir uns  um Elena kümmern und sie gesund pflegen. Und selber? Siehst nicht gerade berauschend aus, oder?“

„Ach was! Sei ohne Sorge! Ich hab nur schlecht geschlafen die Nacht! Nein um bei der Wahrheit zu bleiben, ich habe kein Auge zugetan.“

„Das kann ich mir vorstellen, die dunklen Ringe unter deinen Augen sprechen Bände. Ich löse dich auf der Stelle ab. Nun ab in die Falle, jetzt wird durchgeschlafen. Wage es nicht zu widersprechen.“

Befahl Annett.

„Nicht nötig Mutti, es geht schon, wirklich, ich meine…“

„Soll ich etwa böse werden, “ unterbrach Annett ihre Tochter.“ In diesem Falle dulde ich keinen Widerspruch, du wirst dich ausruhen, dann werden wir weiter sehen. Mein kleiner Grashüpfer, ich will doch nur das es dir gut geht und du keinen Schaden nimmst an deiner Seele.“ Annett drückte Madleen lang an ihre Brust.

„Ich möchte Elena sehen, wo ist sie?“

Beide betraten das Schlafzimmer und blieben am Fußende des Bettes stehen.

„Sie sieht so friedlich aus, so wie sie daliegt. Und wie wunderschön sie ist.“ Begeisterte sich Annett beim Anblick der schlafenden Traumfrau.

 

„Aber wenn du etwas genauer hinsiehst, wirst du gar nicht mehr so enthusiastisch sein.“ Erwidere Madleen barsch und schlug sanft die Decke weg.

Entsetzt hielt Annett die Hände vors Gesicht, so als könne sie damit Elenas Schmerz lindern.

„Oh mein Gott, das ist ja….entsetzlich. Wer…wer um Himmelswillen hat ihr das angetan, den bringe ich um, den kratze ich persönlich die Augen aus.“

„Du kennst ihn nur zu gut, Mutti. Auch ich hatte einmal für längere Zeit ähnlich zu leiden, allerdings kam mir damals keiner zu Hilfe.“

Anette schien augenblicklich zu begreifen.

„Etwa Rolf? Du willst damit sagen, dass Rolf dahinter steckt?“

„Genau der! Er war sogar einer der Rädelsführer des ganzen Unternehmens.“

„Das traue ich diesem Taugenichts auch ohne weiters zu. Den bring ich um, wenn er mir über den Weg läuft.“ Annett war außer sich vor Wut.

„Das brauchst du nicht, er ist schon gerichtet. Er wird uns nie wieder bedrohen.“ Entgegnete die Tochter kühl, während sie die Decke wieder sanft über Elena breitete.

„Du…du willst damit sagen dass du…“ stotterte Annett, denn sie konnte es kaum glauben.

„Nein, ich war es nicht! Ich wollte es. Es gab einen Zweikampf. Doch am Ende war es ein Unfall. Und ich bin froh über den Umstand, das sein Blut nicht an meinen Händen klebt.“

„Mein kleines Mädchen.“ Annett schloss ihre Tochter wieder in die Arme.“ Auch ich bin froh.

Aber wenn du es getan hättest würde ich dir keine Vorwürfe machen. Aber das musst du mir alles genauer erzählen.“

„Später Mutti, später. Oder frag jene die dabei waren, die können dir vielleicht noch einen präziseren Bericht geben.“

Dann schob sie Annett aus der Tür und schloss diese leise hinter sich.

 

„Natürlich, wir reden später weiter. Jetzt musst du dich ausruhen. Dir fallen ja ständig die Augen zu. Ab ins Bett, und unter 8 Stunden Schlaf ist gar nichts drin.“

Madleen sträubte sich nicht mehr dagegen.

Es gab viele Gästezimmer auf dem langen Korridor, da Elena des Öfteren Besuch bekam. Madleen suchte sich eines aus.

Ihre Mutter würde sie würdig vertreten, da gab es keine Bedenken.

Es schien, als habe jemand die Zeit zurückgedreht, denn sie wurde von Annett wie ein Kind zu Bett gebracht.

„Mutti, versprich mir, mich zu wecken, wenn Elena erwacht, ja? Ich muss dabei sein. Sollte sie noch immer nicht zu sich kommen, müssen wir wieder den alten Kurt verständigen, das ist ein Arzt der hier in der Abtei  lebt, denn wir müssen….“

„Jajaja! Alles in Ordnung mein Kind. Ich werde mich um alles kümmern, du kannst dich auf mich verlassen. Es wird so geschehen, wie du es wünscht.“ Beschwichtigte Annett.

Dann hüllte sie ihre Tochter in die Schlafdecke, so als sei sie gerade mal 5 Jahre alt.

„Jetzt wird geschlafen. Ich will keinen Mucks mehr hören.“

Es heißt zwar, das es kein Zurück zum Hause der Kindheit gebe, doch manchmal sind Ausnahmen gerade zu geboten. Hier schien es der Fall zu sein. Annett hatte im Moment damit zu tun, zwei Kinder zu betreuen und sie tat das gern, liebend gern, fühlte sie sich doch auf irgendeine mysteriöse Art um 30 Jahre verjüngt. Und Stolz bemächtigte sich ihrer. Sie hatte allen Grund stolz zu sein auf diese Kinder. Madleen war über sich selbst hinaus gewachsen. Für Annett kaum vorstellbar wie ihre Tochter sich einem solch gefährlichen Zweikampf hatte stellen können, bei dem es um Leben oder Tod ging..

Aber es war geschehen. Madleen war ihre einzige Tochter, wie sehr hatte sie diese in früherer Zeit doch unterschätzt.Doch das war zum Glück Geschichte, nun wollte sie Wiedergutmachung leisten.

Nachdem sie sich ein wenig erfrischt hatte warf sie schnell noch einen Blick auf Madleen. Die inzwischen wie ein Stein in einen tiefen Schlaf versunken..

„Schlafe, Tochter, du hast dir die Ruhe redlich verdient.“ Flüsterte sie, danach betrat sie leise, fast auf Zehespitzen Elenas Schlafzimmer.

Sie nahm auf der Bettkante Platz und betrachtete Elena eine ganze Weile aus der Nähe. Es schien nichts Außergewöhnliches an ihr zu sein, aber ihr Geist schwebte noch immer irgendwo zwischen Traum und Realität, in einem Nirwana in dem es keine Grenzen gab.

Nach einer Weile begann Elena wieder heftig zu zucken, den Kopf unruhig hin und her werfend. Erschrocken zog sie Annett zu sich und bettete deren Kopf sanft in ihrem Schoß, dabei ihre Wangen streichelnd.

Was ging in ihr vor? Madleen hatte Recht, das alles war ausgesprochen mysteriös.

 

Elena befand sich auf einer Landstrasse. Ganz allein, kein anderer Mensch zu sehen. Ein Gefühl der Verlorenheit bemächtigte sich ihrer. Sie begann zu laufen, weiter, immer weiter. Was konnte sie tun? Nur so bestand Hoffnung  auf menschliche Wesen zu treffen. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen in Erfahrung zu bringen wo genau sie sich befand. Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt. Diese Gegend, so trostlos, so öde und deprimierend, hatte sie noch nie gesehen. Sie stellte zudem fest dass sie fror. Kein Wunder bei dem dünnen Kleid, das sie am Leibe trug. Realität oder Traum? Elena konnte es nicht mit Gewissheitsagen. Sie betete dass es sich nur um einen Traum handelte.

Immer weiter setzte sie ihren beschwerlichen Weg fort, bis sie an eine Kreuzung gelangte. Hier zweigten verschiedene Wege in alle Richtungen ab. Neun Möglichkeiten zählte sie. Auf welchen sollte sie sich begeben? Es war verwirrend. Sie konnte unmöglich einem nach dem anderen in Augenschein nehmen. Ratlos betrachtet sie die Gegend. Moment, nun waren es schon 11 verschieden Richtungen, nach einer Weile 15. Wenn das so weiter ginge, drohte sie die Übersicht zu verlieren.

Kurz entschlossen wählte sie einfach eine Strecke in der Mitte. Kaum hatte sie den Weg gewählt, verschwanden alle anderen aus ihrem Blickfeld. So funktionierte das also.

Sie setzte ihren Fußmarsch fort und fand sie sich schließlich in einem Tal wieder. Seltsam, plötzlich kam ihr das alles auf merkwürdige Art bekannt vor. Ihr Erinnerungsvermögen erwachte und die Neugierde wuchs beständig. Jetzt wollte sie natürlich wissen, was sich dahinter verbarg. Ein kleiner Ort erschien, alles sah so friedlich und beschaulich aus. Dort wollte sie hin. Kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, fand sie sich schon am Ortseingang wieder. Alles wie ausgestorben Einsam lief sie durch die engen Gassen, wieder drohte Resignation. Sie näherte sich einer kleinen Villa. Ein herrschaftlich anmutendes Anwesen mit einem gepflegten Garten. Akkurat geschnittener Rasen, umgeben von herrlich duftenden Rosenbüschen. In der Mitte des Gartens plätscherte ein kleiner Springbrunnen. Bunte Vögel sangen ihr fröhliches Lied in den Zweigen. Eine Seite der Villa war fast vollständig mit Efeuranken bedeckt.

Fast ehrfurchtsvoll öffnete Elena die Gittertür und betrat das Grundstück. Jetzt schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, die angenehme Wärme vertrieb ihren Schüttelfrost. Elena entdeckte einen kleinen mit Kletterrosen bewachsenen Pavillon. Langsam und bedächtig umschritt sie diesen, betrat ihn aber nicht, sondern lies sich im Gras davor nieder und streckte ihre Glieder aus.

„Ich kenne das alles. Aber woher nur? Wo bist du, Anarchaphilia. Zeige dich, offenbare dich mir. Was willst du mir sagen? Auch wenn es hier schön und angenehm ist, was ist der Grund dafür dass du mich hierher geführt?“

„Dich einfach entscheiden?“ Durchbrach die vertraute Stimme das Schweigen.

„Erinnere dich Elena, du hast immer gesagt. Es gibt kein Zurück zur Unschuld.

Jetzt aber hast du eine! Dämmert es nicht? Keine Eingebung? Kein de ja vu –Erlebnis? Soll ich dir weiterhelfen?“

Die Haustür öffnete sich und ein kleines etwa dreijähriges Mädchen tollte mit einem Ball nach draußen, tobte im Garten herum. Elena deutet es als ihre Tochter.

„Tessa! Das ist doch Tessa! Wie…wie kommt sie hierher?“ erschrak Elena.

„Sag, was willst du von meiner Tochter? Lass sie aus dem Spiel! Was hat sie mit all dem Treiben zu tun?“

„Nein, nicht Tessa! Auch wenn sie ihr zum verwechseln ähnlich sieht. Sieh mal genauer hin Elena, dann wirst du entdecken, das es sich um Tessas Mutter, also um DICH handelt.“

Elena starrte wie gebannt auf die Kleine. Die Stimme sprach die Wahrheit. Ja, sie selbst spielte dort unbekümmert im Rasen, als kleines Mädchen etwa in Tessas Alter.

„Und? Was soll das alles?“ Wunderte sich Elena?

„Ich schenke dir die einmalige Möglichkeit, alles zu wiederholen. Du kannst noch einmal ganz von vorne anfangen. Es gibt in deinem Falle doch eine Rückkehr zur Heimat der Kindertage. Ist das ein Angebot? 

„Ein Traum ist das und weiter nichts! Das hier ist nicht real. Auch wenn ich mich jetzt wieder  erinnere. In jenem Haus lebte ich als kleines Kind. Das ist richtig. Aber nach dem Tod meiner Mutter, zogen mein Vater und ich weg. Das ist der Grund, warum ich kaum noch eine Erinnerung an diese Umgebung habe. Ich war damals etwa drei Jahre alt.“

„Was ist Traum, was ist Realität? Warum müsst ihr Menschen nur immer solch tiefe Barrieren zwischen beiden errichten.“ Beschwerte sich die Stimme.

„Weil wir in der Zeit leben und nicht in der Ewigkeit. Gewiss, die Zeit ist grausam, sie nagt beständig an uns, trennt uns von geliebten Menschen. Alles ist vergänglich, nichts hat auf Dauer Bestand. Aber wir müssen uns mit der Zeit arrangieren.“ Behauptete sich Elena, doch die Stimme bohrte immer weiter mit ihren Fragen.

„Du hast nicht richtig zugehört. Ich habe dir soeben angeboten alles zu durchbrechen, den ewigen Kreislauf von geboren werden und sterben hinter dir zu lassen, wieder zu jenem zeitlosen Wesen werden dass du einmal warst.*

Zeit spielte in der Welt in der du unendlich lang zu hause warst keine Rolle. Nun stehst du erneut am Anfang. Du bist imstande alles noch einmal zu durchlaufen. Noch einmal geboren werden, dein Leben von Anfang an neu gestalten. Aktiv eingreifen ins Geschehen. Deine Fehler wirst du vermeiden können, denn dein Wissen von heute wird dir erhalten bleiben. Du bist also nicht gezwungen einen Großteil deines Lebens damit zu vergeuden in die Irre zu gehen, sondern kannst von Anfang an alles richtig machen, somit bleiben dir auch die Rückschläge erspart.“

Deine gravierenden Fehler werden dir nicht noch einmal unterlaufen!“

„Eine lockende Versuchung, das muss ich zugeben. Aber Fehler gehören zum Leben. Natürlich habe ich viel Zeit vergeudet. Aber diese Zeit hat mich geprägt und mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Nein so einfach geht das nicht.

Und was ist mit all den Menschen, die ich auf meinen Irrungen und Wirrungen kennen lernen durfte?

Werde ich denen begegnen? Madleen, meiner Geliebten und Gefährtin, Leander, den ich so früh verlor, Tessa, das Kind unserer Liebe. Kovacs, der Dichter, mein guter Freund, Colette die mir wie eine große Schwester ist und all jene die mein Leben so reich und bunt gemacht?“

„ Natürlich nicht! Die kreuzten deine Wege ausschließlich aufgrund deiner Fehler, deiner Irrungen und den daraus resultierenden Entscheidungen. Bei einem veränderten Lebenslauf  wären diese nicht von Nöten. Dafür aber könntest du viele andere  interessante Leute kennen lernen. Und vor allem das wichtigste: Die Schmerzen deines Lebensweges blieben dir allesamt erspart.

Es liegt in deiner Hand!

Entscheide dich jetzt! Denn die Zeit drängt. Ich biete es dir nicht noch einmal an.“

„Dann will ich nicht! Bring mich zurück, dorthin wo ich gehöre, zu den Menschen die ich liebe und die mir an vertraut sind!“

„Wie du willst! Ich werde dich nicht noch einmal damit belästigen. Aber von nun an besteht für dich auch kein Grund zur klage mehr. Du hast den Weg des Schmerzes gewählt, dann musst du auch weiter damit leben. So wie bisher.  Schon von Beginn an prägten Leid , Trennung und Entsagung dein Leben. Fangen wir doch gleich mit dem wundesten Punkt von allem an, dem noch immer unverarbeiteten Schmerz der so tief an deiner Seele nagt, solange in deinem Bewusstsein vergraben, dass du dich ihm bisher nie stellen konntest.“ Entschied die Stimme und es klang bedrohlich.

Plötzlich verschmolz Elena mit dem kleinen Mädchen das da vor ihr spielte, sie nahm deren Konturen an, behielt aber das Bewusstsein einer erwachsenen Frau.

Auf einmal befanden sich viele Menschen vor dem Haus. Eine Trauergesellschaft, das war unverkennbar. Schwarzbekleidete Männer trugen einen Sarg zur Tür hinaus. Sie erkannte ihren Vater der, am Boden zerstört, folgte. Barsch rief er ihren Namen. Schnell begriff Elena, im Sarg lag ihre Mutter. Sie erinnerte sich kaum an sie, weshalb deren Gesicht vor ihr nur zu einer konturlosen Masse verschwamm. Ihr Vater griff nach ihrer Hand. Der Trauerzug setzte sich in Bewegung.

Elena wollte fliehen, doch ihr Vater hielt sie zurück. Sie begann zu weinen. Panische Angst drückte ihr Herz zusammen.

Auf einmal waren alle Menschen verschwunden. Elena befand sich allein mit dem Sarg auf dem Weg. Dieser schwebte vor ihr und begann sich langsam zu entfernen. Elena lief ihm nach, doch konnte sie ihn nicht mehr erreichen.

„Mama, nein, du darfst nicht gehen, lass mich nicht allein. Ich brauche dich so sehr. Wie soll ich denn nur ohne dich leben? Bitte, bitte bleib, es gibt doch noch so viel zu sagen….“

 

„Mama, nein! Nicht gehen! Verlass mich nicht! Bleibe bei mir! Bitte, nicht gehen!“

Elena warf sich hin und her. Annett hatte alle Hände voll zu tun, sie zu beruhigen. 

„Mama, wo bist du, ich kann dich nicht sehen! Sprich mit mir!“

„Ich bin hier, Elena, mein kleines Mädchen. Hab keine Angst, ich verlasse dich nicht. Ich bleibe immer bei dir.“

Annett strich Elena durch die schweißnassen Haare und über die mit Tränen benetzten Wangen.

„Ganz ruhig Elena! Du brauchst dich nicht zu fürchten. Alles kommt wieder in Ordnung.“

Langsam beruhigte sich Elena. Atmete hastig und tief ein und aus. Annett fuhr mit ihren Handflächen sanft über Elenas nackte Brüste.

Elena erwachte. Stille und Dunkelheit umgaben sie von allen Seiten. Erst ganz langsam stellte sich das Bewusstsein auf die neue Situation ein. War der Traum zu Ende? Dem war offensichtlich so. Der Göttin sei gedankt! Wo befand sie sich? Zuhause, sie war zu Hause, lag im Bett ihres Schlafzimmers. Doch sie war nicht allein. Jemand hielt sie im Arm. Die Person strahlte eine sanfte Wärme und das Gefühl tiefer Geborgenheit  aus.

„Wo… wo bin ich?“

„Zuhause, Elena du bist zu Hause und in Sicherheit.“

„Madleen…bist du das?“

„Nein, ich bin es Annett. Willkommen zurück im Leben Elena.“ Annett küßte Elena auf die Stirn und dann auf den Mund.

„Annett? Wie..wie kommst du  hierher? Was…was  ist denn geschehen? in meinem Kopf hämmert es erbärmlich.“

„Alles zu seiner Zeit. Schön das du wieder bei uns bist. Du warst sehr krank. Komm erst mal wieder zu Kräften, dann werden wir über alles sprechen. Viel ist geschehen. Aber das wäre im Moment einfach zu viel für dich.“ Redete Annett beruhigend auf sie ein.

„Ja… du hast Recht. Langsam erinnere ich mich wieder.“ Elena war noch geschwächt, machte daher lange Pausen zwischen ihren Worten.

„Gefangen, ich war gefangen. Nicht war?“ Fuhr sie fort.

„Ja du warst Gefangen, mein Liebes. Und alle haben sich große Sorgen um dich gemacht. Die Nachricht drang auch zu uns in den Norden. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich musste mich einfach auf den Weg machen, um dich zu sehen.“

„Madleen, wo ist Madleen?“

Die schläft. Sie ist sehr müde. Zwei Tage wachte sie an deinem Bet, aber dazu später. Ich habe sie abgelöst, damit sie eine Weile ausruhen kann.“

„Richtig, das war  vollkommen richtig! Madleen, meine Liebste.“ 

„Was kann ich für dich tun Elena, gibt es irgendetwas was du brauchst?“

„Ich habe großen Durst, mir ist die Kehle schon fast ausgetrocknet!“

Annett entdeckte auf einem Nachtschränkchen einen Krug mit kaltem Tee, sie goss etwas in ein Glas und reichte es Elena.

Doch die konnte ihren Arm noch nicht richtig strecken. Annett half ihr beim Trinken. Gierig schluckte Elena den Tee hinunter. Richtete sich dabei etwas auf. Dabei fiel ihr Blick auf ihren halb entblößten Körper.

„Oh nein! Ich sehe ja zum Fürchten aus. Und schrecklich weh tut es auch noch. Langsam kehren die Erinnerungen zurück. Ich bin mir bewusst, was sie mit mir angestellt haben.“

„Du musst die nächsten Tage vor allem ruhen. Schlimmere Verletzungen hast du aber nicht davon getragen. Ein alter Arzt, wie sagte doch Madleen, ja Kurt ist sein Name, hat dich untersucht.“

„Der alte Kurt, ja, dann glaube ich es auch. Die Prellungen müssen vor allem gekühlt werden. Aber das kann ich selber machen, ich weiß ja wie es geht.“

„Du bleibst schön hier liegen. Madleen und ich werden  dafür sorgen dass es dir an nichts fehlt.“

„Ich glaube, du hast recht, Annett“, bestätigte Elena, während sie weiter ihren nun vollständig nackten Körper betrachtete und vorsichtig abtastete. „Das wird etwa eine Woche dauern, schätze ich. Ich bin auch sehr schwach. Schwindelgefühl und totale Müdigkeit. Aber spätestens übermorgen muss ich versuchen aufzustehen, für einen kurzen Moment, damit ich mich wieder langsam regenerieren kann.“

Elena sank in Annettes Arme zurück, die noch immer hinter ihr saß.

„Es tut so gut, das du hier bist Annett!  Ich  freue  mich über deinen Besuch. Ich glaube dann werde ich gleich viel schneller wieder gesund.“

„Diese viehischen Rohlinge, was haben sie nur mit dir gemacht. Diese Verbrecher. Na, ich will dich jetzt noch nicht damit belasten. Lass dich einfach verwöhnen.“

Annett streichelte Elenas Körper sanft. Vom Gesicht über Schultern und Arme, über die Brüste bis zum Bauch.

„Tut es weh?“

„Nein, du machst das ganz fantastisch.“

„Elena! Du hast im Traum gesprochen. Viel konnte ich nicht verstehen. Mehrmals hast du nach deiner Mutter gerufen. Du hast nie von ihr gesprochen, damals, als du  lange bei uns lebtest. Erst jetzt ist mir das aufgefallen. Was ist mit ihr geschehen?“

„Meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war. Ich habe kaum noch Erinnerungen. Nur im Traum da begegnet sie mir des Öfteren. An den Trauerzug kann ich mich noch gut entsinnen. Das ist hängen geblieben. Ich lief hinter dem Sarg, ständig in der Erwartung, dass sie sich erhebt, aus dieser monsterhaften Kiste klettert, mich in die Arme schließt und alles wieder gut wird. Ich glaubte es sei eine Art Spiel. Aber sie kam nicht wieder.

Mein Vater blieb mit mir zurück, er war ein strenger Mann, gab mich schon bald in ein Heim, später kam ich auf ein Internat. Nähe, Liebe, die Geborgenheit einer Familie lernte ich nie kennen. Ich entwickelte mich zwar gut, war überall die Beste, schaffte alle Prüfungen mit Bravour. Aber Liebe, Zärtlichkeit, lange musste ich darauf warten.  Eigentlich war es erst Leander der mir die Tür zum wahren Leben öffnete. Erst in seinen Armen spürte ich erstmals  etwas, das man Liebe nennen kann. Aber er starb so früh und wieder war ich allein und einsam. Bei Madleen fand ich dauerhaftes Glück und in Euch eine Familie.“

„Und das wirst du auch weiterhin.  Wir sind deine Familie. Mein armes kleines Mädchen. Das ist eine traurige Geschichte. Jetzt leuchtet mir ein, warum du nicht mit deiner Lebensgeschichte hausieren gehst. Ein Mensch, der ohne Mutter aufwächst. Das ist entsetzlich. Ich kann mir vorstellen, wie du leiden musstest, wie dringend du ihrer Nähe bedurftest. Das hat dich hart gemacht. Sicher, die Vergangenheit kehrt nie mehr zurück. Aber, wenn es dir ein wenig Freude macht, lass mich deine Mutter sein, so wie ich es für Madleen bin oder meinen Söhnen und Schwiegertöchtern. Das heißt, wenn es nicht zu anmaßend klingt, denn die leibliche Mutter vermag niemand wirklich zu ersetzten.“

Elena erfasste Annettes Hand und drückte diese ganz fest.

Im Moment versagte ihr die Stimme, aber es bedurfte keiner Worte, diese Geste verdeutlichte  ihre tiefe Verbundenheit.

„Mein kleines Mädchen, mein liebes kleines Mädchen.“ Wiederholte Annett.

Eine ganze Weile lagen sie so, spürten einfach der anderen Nähe.

Noch nie war Annett Elena so nahe gekommen.  Erst diese Schicksalsschlag schuf die Gelegenheit.

Wie sehr sie Elena doch liebte.

Doch sie blieb standhaft. Erstens musste sie auf Elenas Verletzungen Rücksicht nehmen, sie hatte sicher Schmerzen. Zweitens würde sie ihrer Tochter nicht in die Quere kommen,  Madleen konnte ohne Sorge sein. Sie hatte in Elena eine neue Tochter erhalten, das genügte ihr voll auf.

Im weiträumigen Korridor des Konventsgebäudes klappten Türen

Auf leisen Sohlen schlich Annett zur Wohnungstür und öffnete diese.

Draußen stand Kristin zusammen mit der kleinen Tessa. „Guten Tag, ich wollte Madleen sprechen? Ist sie da?“

„Psst, ein wenig leise. Sie schläft. Sie musste sich einfach ein wenig ausruhen, nach all den Strapazen. Ich bin Annett, ihre Mutter. Ich kümmere mich derweil um alles.“

„Hallo, ich bin Kristin. Ich betreue Tessa.  Jetzt sehe ich die Ähnlichkeit. Wie geht es Elena inzwischen?“

„Oh sie ist erwacht. Es geht ihr den Umständen entsprechend. Natürlich hat sie Schmerzen und wird noch eine Weile das Bett hüten müssen.“ Klärte Annett auf.

„Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Wir haben uns alle große Sorgen gemacht.“

Erwiderte Kristin erleichtert.

„Das war ein großer Schock. Niemand ist imstande sich ein Leben ohne Elena  überhaupt nur vorzustellen.“

„Elena ist stark, sie wird es schaffen.“ Tat Annett ihre Überzeugung kund.

Die kleine Tessa ging auf Annett zu und zupfte an ihrem Rock.

„Omama, Omama!“

„Ja ich bin die Omama, kleines. Das ist aber schön dich wieder zusehen.“

Annett nahm die Kleine auf den Arm.

„Will zu Mama, will zu Mama.“

„Das geht nicht. Die Mama ist noch krank. Morgen, morgen kannst du ganz gewiss zu ihr, das verspreche ich dir.“

„Wir haben es für besser erachtet, das sie ihre Mutter nicht in diesem Zustand sieht. Aber sie ist ganz quengelig, verständlich.“ Flüsterte Kristin.

„Das war richtig so!“

„Wenn Madleen noch schläft werde ich mich noch ein wenig mit Tessa beschäftigen.“ Bot Kristin an. „Ja die Arbeit ist an mir hängen geblieben, aber ich tue sie gern. Tessa ist  eine ganz liebe. So verständig.“

„Das wäre wirklich nett, ich würde es auch gerne tun, aber Elena braucht mich und Madleen.“

„Keine Ursache. Komm Tessa, wir spielen noch eine Weile zusammen.“

„Mama, will endlich zu Mama!“ trotzte Tessa weiter.

„Ja, bald gehen wir zur Mama, aber heute noch nicht. Komm jetzt.“

Kristins Worte wirkten offenbar magisch auf Tessa, denn ohne weiters erfasste sie deren Hand und verschwand mit ihr im Kinderzimmer.

Annett zog sich wieder zu Elena zurück.

„Was war denn? Wollte Elena wissen.

„Ach jemand ist gekommen, eine Kristin, sie kümmert sich um Tessa, sagt sie.“

„Auf Kristin ist Verlass.  Ich wusste immer, in dr steckt noch so manches Geheimnis.“

„Warum? Was ist denn so besonders an ihr?“

 Als Außenstehende konnte Annett natürlich nicht die Zusammenhänge kennen.

„Ach, das ist eine lange Geschichte. Kristin hatte einfach ein schweres Leben, weißt du. Wir freuen uns alle,das sie zu uns gehört. Ich erzähle dir später einmal…nein, Unsinn. Ich kann dir auch jetzt darüber berichten, denn Zeit haben wir ja in Hülle und Fülle.

Aber nur wenn ich mich wieder an dich kuscheln kann.“

„Selbstverständlich kannst du das.“

Schon postierte sich Annett wieder hinter Elena. Diese ließ sich entspannt in deren Arme sinken.

Elena begann über Kristins Lebensgeschichte zu erzählen, über ihren Schicksalsweg, ferner natürlich die Sache mir Gabriela und deren wundersame Genesung, schließlich die

gefühlvolle Liebesbeziehung welche Gabriela und Kristin seither führen.

„Das ist in der Tat ein Wunder.“ Bestätigte Annett. „Ja, wir sind sehr schnell dabei den Stab über andere zu brechen, ohne uns der Hintergründe für deren Tun bewusst zu sein.

Eure Gemeinschaft hier scheint sich  prächtig zu entwickeln, wenn so etwas möglich ist. Das weckt schon Interesse in mir.“

„Wirklich? Oh Annett, das wäre eine Freude, wenn du dich entschließen könntest hier zu leben.“ Lud Elena ein.

„ Würde ich nur all zu gerne. Aber du kennst  meine Situation. Ich bin zu tief eingebunden. So ohne weiters kann ich mich da nicht entwinden. Die Familie, der Hof und die ganze Landwirtschaft. Ein Traum, ein schöner Traum. Aber in die Praxis umsetzen, in diese Richtung brauch ich gar nicht erst zu denken.“

„Bist du unglücklich, Annett?“

Elenas direkte Frage irritierte die Ältere zunächst, doch andererseits war sie froh sich auf diese Weise mitteilen zu können.

„Nein! Das kann ich ohne weiteres verneinen. Thorwald, mein alter Brummbär und ich, wir führen eine gute Ehe. Es gibt keinen Grund für mich zur Klage. Wenn ich es vom ihm verlange, dann trägt er mich auf Händen. Sicher gab es immer mal Zoff, das ist aber ganz normal. Nie würde er aber auch nur im Traum daran denken, die Hand gegen mich zu erheben. Wenn ich da an meine Kleine denke. Was die alles erdulden musste von dem Kerl mit dem sie mal zusammen lebte. Und meinen Herren Söhnen muss ich auch schon manchmal den Kopf waschen, damit sie sich ihren Partnerinnen gegenüber entsprechend benehmen.

Nein, das ist nicht das Problem. Es ist einfach nur so. Manchmal blicke ich in den Spiegel und frage mich: War es das etwa schon? Oder kommt da noch etwas? Angst vor dem Alter? Nein, ich akzeptiere mein Alter. Ich weiß das ich nicht mehr taufrisch bin, für eine sechsfache Oma wohl auch ein wenig zuviel verlangt…“

„Nun mach aber mal halblang, Annett. Du bist eine hübsche Frau. Warum erniedrigst du dich so?“ unterbrach Elena.

„Neinnein, so war das nicht gemeint. Ich fühle einfach, dass es noch etwas zu tun gibt, etwas, ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll, etwas besonders, verstehst du?“

„Ich verstehe dich sehr gut Annett. Dein Problem liegt auf der Hand. Weiß du, ich beschäftige mich schon seit geraumer Zeit mit den alten Mythen und Legenden der Urzeit. Die Göttin der alten Religion hatte drei Aspekte. Die junge Frau, die Mutter in der Blüte des Lebens und die weise alte Frau. Du kommst langsam in den dritten Aspekt, bist aber noch nicht ganz bereit den zweiten aufzugeben. Das ist ganz normal, vor allem weil du eben kein hässliches altes Weib, sondern eine sinnliche, hübsche reife Frau bist.“

Die Unmittelbarkeit ihrer Antworten überraschten Annett. Wer war Elena, so mit ihr zu sprechen. Sie, eine reife Frau, voller Erfahrung musste sich das von einer wesentlich jüngeren sagen lassen. Doch andererseits bemerkte sie, wie sich ein Druck auf der Brust zu lösen begann. Es tat ihr gut sich auf diese Weise zu offenbaren. Sie konnte sich nicht erinnern sich jemals so intensiv mit einem anderen Menschen ausgesprochen zu haben.

Elena sprach die Wahrheit, sie traf den Kern der Sache.

„Tja, darüber habe ich mir nie wirklich Gedanken gemacht, aber ich denke du sagst die Wahrheit. Ich muss loslassen. Aber wie?“

„Indem du zu uns kommst! Wir brauchen dich hier! Und du kannst dich voll entfalten. Alles tun was du schon immer gerne wolltest. Es gibt hier kaum Grenzen und vor allem keine künstlichen Hierarchien, die dir den Weg versperren.“

„Da wären wir wieder am Anfang. Die Verantwortung! Ich kann nicht einfach die Familie im Stich lassen. Meinen alten Brummbär sich selbst überlassen. Dazu wäre ich nicht fähig.“

„Annett, wer verlangt von dir, dich schlagartig zu entscheiden? Lass dir Zeit, besprich alles in Ruhe mit deinen Leuten. Aber warte nicht zu lange, sonst wird dir der Absprung nicht gelingen.“

„Aber ich wüsste nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Es ist lieb von dir, dass du dir um  meinetwegen Gedanken machst. Ich könnte auch bald heulen darüber. Aber es klappt nicht.“

„Doch Annett und ich werde dir sagen wie du es anstellen kannst: Erstens trennst du dich gar nicht von deiner Familie. So weit ist es nun auch wieder nicht zu eurem Hof im Norden, jetzt in Friedenszeiten und den erneuerten Straßennetz. Zweitens ist ein Teil von deinen Angehörigen bereits hier. Wir müssen nur einen Weg finden, wie du auf leichten Wegen hin und her zu pendeln vermagst.

Aber jetzt werde ich müde. Ich darf mich nicht gleich mit Diskussion überfordern.“

„Entschuldige Elena! Da hast du vollkommen Recht. Ich vergaß mich. Natürlich musst du ruhen.“

Annett bette Elena wieder in den weichen Federn.

„Siehst du Annett du tust es schon wieder. Es gibt keinen Grund dich zu entschuldigen. Ich habe das Gespräch mit dir sehr genossen, wie ich überhaupt deine Gesellschaft genieße. Es war recht von dir dich zu offenbaren und wir werden das Gespräch fortsetzen, später, wenn die Zeit dafür gekommen. Du musst an dich denken, damit hilfst du mir am besten. Du bist doch jetzt meine Mutter.“

Jetzt konnte Annett nicht mehr an sich halten, sie umarme Elena herzlich. Da war ein Band geschlossen, das niemand mehr zu trennen vermochte.

„Du wirst kommen, Annett, weil du es schon lange willst.“ Flüsterte Elena ihr ins Ohr.

Annett drückte Elena ganz fest.

„Autsch!“

„Verzeih mir Elena. Verdammt! Deine Blutergüsse!“

„Annett, du entschuldigst dich ja schon wieder!“

„Ja ich weiß entschuldige!“

Jetzt mussten beide lachen.

 

Die Zeit verstrich. Annett wollte Elena etwas ruhen lassen und verließ das Zimmer.

Madleen hatte sich erhoben und kam ihr gähnend und mit verschlafenen Augen entgegen.

„Warum bleibst du nicht liegen. Ich habe hier alles im Griff. Das waren  kaum drei Stunden, die du geschlafen hast.“ Stellte Annett fest.

„Ach es genügt! Ich fühle mich schon bedeutend besser. Was ist mit Elena. Ist sie mal zwischendurch zu sich gekommen?“ Machte sie sich kundig.

„Elena geht es gut. Kurz nachdem du schlafen gingst ist sie erwacht. Wir haben lange miteinander gesprochen. Sie denkt, dass sie noch ein paar Tage ruhen muss, dann wird es

Besser.“

„Was? Sie ist erwacht und du hast mich nicht verständigt? Ich hatte dich doch eingehend gebeten mir mitzuteilen wenn sie wieder bei Bewusstsein ist. Warum hast du mich nicht gerufen?“

„Weil du ausruhen musstest. Es ist alles in Ordnung, glaube mir. Wir haben uns gut unterhalten und mir tat es gut, mich mit ihr auszusprechen.“

„Dann möchte ich jetzt gleich zu ihr!“

„Das wäre nicht gut, das Gespräch hat sie doch sehr angestrengt. Sie muss sich eine Weile ausruhen, lass sie einfach. Sie hat sich gleich nach dir erkundigt. Auch sie fand es richtig, dich erst mal ins Bett zu schicken.“

„Wo.. wo ist Tessa? Verdammt, an die habe ich überhaupt nicht mehr gedacht!“

„Auch für sie ist gesorgt. Kristin hütet die Kleine bis auf weiteres und wird es, wie sie mir versprach, auch noch länger tun. Du siehst, es besteht kein Grund zur Sorge.“„ Da hab ich in der Tat nichts weiter zu tun. Was soll ich dann?“

„Dich noch mal wenigstens für ne Stunde aufs Ohr hauen!“

Noch während des Sprechens begleitete Annett ihre Tochter zurück in deren Schlafraum.

Annett machte es sich danach im großen Wohnraum bequem.

 

Die Zeit verstrich schnell. Am späteren Nachmittag waren alle wieder zugange.

Endlich hatte nun auch Madleen Gelegenheit Elena in die Arme zu schließen.

„Elena mein Liebling, wie geht es dir? Du kannst dir kaum vorstellen, wie ich vor Sorgen gelitten habe. Endlos lange warst du ohne Bewusstsein.“

„Kann ich mir denken! Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Ich habe noch Schmerzen. Aber das wird sich im laufe der nächsten Tage weiter bessern.“

Die beiden lagen sich in en Armen, küssten und streichelten einander.

„Du musst mir unbedingt erklären, auf welche Weise ich frei kam! Ich habe alles nur schemenhaft in Erinnerung. Du warst dabei. Daran kann ich mich noch erinnern. Aber dann ist alles wie ausgelöscht. Durch Meditation kann ich vieles davon zurückrufen. Aber im Moment fühle ich mich dazu außerstande.“

„Alles zu seiner Zeit, ich verspreche dir einen detaillierten Bericht. Zunächst  aber musst du wieder zu Kräften kommen. Ich werde dich nach Strich und Faden verwöhnen gemeinsam mit meiner Mutter und Colette!“

Madleen versuchte dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, denn sie fürchtete sich davor Elena den Hergang schon zum jetzigen Zeitpunkt zu schildern. Doch tat sie es nicht, würden andere ihr zuvor kommen. Die weiteren Beteiligten an der Befreiungsaktion oder auch Annett schienen vor Ungeduld beinahe zu platzen.

Madleen aber mochte nicht als die große Heldin erscheinen. Nichts lag ihr ferner als das.

Sie neigte immer schon dazu solchen Dingen nicht all zu viel Bedeutung beizumessen. Nichts schien ihr unangenehmer als irgendein Rummel um ihre Person.

Andererseits aber hatte ihre Partnerin ein natürliches Anrecht auf die Wahrheit.

Elena ließ sich zurück in die Federn sinken.

„Viel ist geschehen. In meinem Kopf wimmelt es von Bildern. Ich werde die Untätigkeit nutzen um alles zu ordnen.“

„Ich will nicht wissen, was sie mit dir angestellt haben. Aber ich kann es mir denken. Möchtest du selber darüber sprechen? Wenn nicht ist es in Ordnung, dann will ich es auch nicht erfahren und die anderen brauchen es ohnehin nicht zu wissen.“

„Ich will darüber sprechen, denn nur so kann ich die schrecklichen Bilder aus meiner Seele bannen. Du siehst meinen Körper. Ich denke, ich brauche dir nicht zu erklären woher die Prellungen und Blutergüsse kommen.“

„Nein, das brauchst du nicht. Ich kenne so etwas aus eigener Erfahrung. Aber du bist so stark.

Wie gelang es denen dich in ihre Gewalt zu bringen und dich so zu zurichten? Insgesamt haben wir dort, wo sie dich gefangen hielten, nur drei Leute gesehen die zu deiner Bewachung bereitstanden. Du bist eine Kämpferin. Ich habe dich schon oft in auswegloseren Situationen erlebt. Du wußtest immer um eine Möglichkeit dich zu befreien.“

„Es kommt mir alles so unwirklich vor. Ich habe keine Erklärung. Ich kann mir nur vorstellen, dass sie mir eine Art Droge eingeflößt haben.  Dass muss es sein, das erklärt auch meinen dauerhaften Dämmerzustand. Die waren sich darüber im Klaren, dass ich mich nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lasse, deshalb haben sie vorgesorgt. Immer wieder kam es zu Halluzinationen oder Visionen. Es ist mir noch nicht möglich  eine Grenzlinie zu ziehen. Womöglich beides. Auch an meine Gefangenschaft kann ich mich nur schemenhaft erinnern. Es werden einige Tage vergehen, bis sich das Erinnerungsvermögen wieder einstellt.“

„Nie hätte ich gedacht, dass sie soweit gehen. Ich verstehe das nicht Elena. Die sind alle der Meinung Neidhardt habe mit deiner Entführung nichts zu schaffen. Doch ich tue mich sehr schwer dem Glauben zu schenken.“

Antwortete Madleen.

„Doch das könnte sein! Jetzt da du es sagst, öffnet sich der Schleier. Ich denke Neidhardt ist wirklich unschuldig. Das passt so ganz und gar nicht zu seinem Naturell. Der ist nach wie vor ein Ehrenmann, bevorzugt den offenen Kampf, ideologisches Kampfgebaren um mich und meine Ansichten widerlegen zu können. Nein, das muss eine andere Ursache haben.“  Stellte Elena fest.

„Ich kann nicht verstehen warum du Neidhardt auch noch in Schutz nimmst?“ Empörte sich Madleen. „Der versucht doch nur uns einzuwickeln. Ein schlauer Fuchs ist das. Der versteht es zur rechten Zeit immer wieder eine Trumpfkarte aus dem Ärmel zu ziehen und sich wie ein Aal aus der Affäre zu winden. Und du verteidigst ihn auch noch.“

„Tue ich nicht. Ich versuche nur Sachverhalte auseinander zu halten. Sieh mal, Neidhardt ist ein ideologischer Fanatiker, der verbohrt an die von ihm vertreten Sache glaubt.

Einer der oberlehrerhaft die Menschen von seiner Weltanschauung überzeugen will.

Ihm ist durchaus bewusst dass er mich zwar körperlich vernichten könnte, aber gerade durch diesen Umstand eine Märtyrerin aus mir macht. Eine tote Elena, vom Volk wie eine Göttin verehrt, ist ihm viel gefährlicher als eine lebendige Elena mit Fehlern und Schwächen, die nun mal jedem Menschen zu Eigen sind.

Die offiziellen Verlautbarungen aus der Parteizentrale stimmen ausnahmsweise. Der korrupte Innenminister und seine Clique sind die Drahtzieher. Der war mir stets von allen der Unsympathischste. Überlege doch mal, Schleimer ist aus einem ganz anderen Holz geschnitzt als Neidhardt.

Ein Berufsbeamter, der schon dem alten Regime mit glühendem Eifer diente, ein Karrierist und Opportunist, der sein Fähnchen stets in die günstige Windrichtung hielt. Rechtzeitig noch vor dem Zusammenbruch des alten Regimes wechselte er die Seiten und diente sich den Revolutionären an. Das verdankt er dem Umstand dass der alte Cornelius solchen Leuten pardon bot, so sie denn ihre Bereitschaft bekundeten sich in den Dienst der neuen Regierung zu stellen. Neidhardt hingegen hegte solchen dubiosen Figuren gegenüber starke Zweifel.  Cornelius als Staatsoberhaupt setzte sich schließlich durch und er beugte sich diesem Umstand, schon deshalb weil er sich eingestehen musste, dass man auf deren Dienste nicht verzichten konnte, aus Ermangelung eigener parteiinterner Führungskader.

Aber der Tag wird kommen, da sich die gesamte Machtfülle in Neidhardts Händen vereinigen wird.

Diesen Tag fürchten Leute wie Schleimer, so wie auch wir ihm mit Furcht entgegen blicken.

Der Innenminister war sich dessen bewusst, das mein Tod einen Sturm der Entrüstung auslösen würde. Möglicherweise einer neuen Revolution den Weg bereiten. Die Bewohner Melancholaniens und Akratasiens würden Neidhardt die Schuld in die Schuhe schieben, ihn für meinen Tod verantwortlich machen. Neidhardt wäre nicht mehr tragbar und müsste seinen Hut nehmen. Und dreimal darfst du raten, wer sich dann als lachender Dritter eins ins Fäustchen hätte lachen könnten? Na?“

„Du meinst Schleimer?“

„Natürlich meine ich den! Eine feine saubere Sache für ihn. Auf einen Streich seiner beiden  gefährlichsten Widersacher entledigt hätte er selbst nach den Sternen der Macht greifen können.“

„Genauso kann man es in den Medien vernehmen.  Auch wir haben intensiv darüber diskutiert. Mir aber will es auch nicht in den Kopf.“

Schaltete sich Annett ein, die plötzlich in der Tür erschien.

„Es ist sehr wichtig zu unterscheiden. Schleimer ist geflohen, der ist erledigt. Von ihm wird keine Gefahr mehr ausgehen. Neidhardt hingegen ist durch die Unruhen geschwächt.

Er wird alle Hände voll zu tun haben seine Autorität wieder her zu stellen. Dafür ist ihm jedes Mittel recht.

Andererseits, wird er es, zumindest in den kommenden Monaten, nicht wagen gegen uns vor zu gehen. Wir haben wieder einmal Zeit gewonnen, aber wir müssen uns darin üben, diese sinnvoll zu nutzen.

„Du hast Recht Elena, dein Ansehen ist in der Bevölkerung stark gestiegen.

Niemand wird wagen, dich noch einmal anzutasten. Worüber machen wir uns noch Gedanken? Lassen wir doch die Zeit für uns arbeiten.“

„Mich wird er nicht antasten Madleen! Aber niemand kann garantieren, dass er seine Wut nicht an anderen Menschen auslassen könnte, an Menschen die mir nahe stehen. Menschen, die sich unter meine Obhut geflüchtet haben.“

„Und was gedenkst du zu tun?“ Wollte Annett wissen.

„Sobald es mir besser geht, werde ich versuchen mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich muss einfach den Kontakt herstellen. Colette wird mir dabei helfen, denn sie empfängt er  von Zeit zu Zeit, ganz geheim und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die beiden haben schon vor Zeiten eine Art Geheimdiplomatie entworfen, um etwa Familienzusammenführungen zu gewährleisten. Denkt nur an die Sache mit Eve und Chantal.

Ich hingegen bin für Neidhardt nur ein rotes Tuch, er meidet mich wie der Teufel das Weihwasser. Es muss mir gelingen diesen Bann zu brechen um von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu sprechen.

 Meine Gefangenschaft hat mir die Augen für viele Probleme geöffnet, die sich bedrohlich über uns ausbreiten. Vorher war ich mir dessen gar nicht so bewusst. Also hätte mein Martyrium durchaus etwas Sinnvolles. Es war eine Art Wink mit dem Zaunpfahl.

Es wird Veränderungen geben müssen wenn wir überleben wollen!“

„Was meinst du damit? Veränderungen in wie fern?“ Rätselte Madleen.

„Überlegt doch mal! Was wäre geschehen, wenn ich tatsächlich Schaden erlitten hätte, womöglich den Tod gefunden um es präziser auszudrücken?“

Mutter und Tochter sahen sich nur wortlos an, so als habe es ihnen die Sprache verschlagen.

„An eurer Reaktion kann ich ermessen wie schwer ihr euch damit tut. Es ist so wie es ist. Ihr findet keine Antwort. Anarchonopolis ist viel zu sehr auf meine Person ausgerichtet. Sollte mir etwas zustoßen und ich nicht mehr zur Verfügung stehen, bricht hier alles wie ein Kartenhaus zusammen. So wie damals nach der Revolution, als die Kommune nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Wir können Colette auf Knien danken, das sie in jenen Zeiten die Courage aufbrachte, alles einigermaßen am Laufen zu halten.“

„Du hast Recht Elena! Ohne dich dürfte es sehr schwierig werden das Begonnene fortzusetzen.“

Besann sich Madleen schließlich. „Ja, die Gemeinschaft ist auf dich fixiert, auf wen auch sonst? Du gabst uns Inspiration, hast uns die Augen geöffnet für so viele Dinge. Du bist den Menschen zum Leitbild geworden.“

„Oder zum Leithammel. Womöglich wäre das der bessere Ausdruck. Genau das ist der falsche Weg. Das habe ich nie angestrebt. Aber es ist mir zugefallen und es fällt weiter, immer wieder von neuem. Ich möchte dass die Menschen selbst bestimmt leben und arbeiten können. Stattdessen suchen sie doch wieder nur eine neue Form von Hierarchie. Eine Herrschaft löst die andere ab. Die Herrscher dieser Welt geben sich die Klinke in die Hand. Nun ist dem Anschein nach Elena an der Reihe.“

„Ja und? Was ist denn so fürchterlich an dem Gedanken? Du bist zur Anführerin auserkoren. Es zeichnet dich aus. Also dann tue deine Aufgabe. Wir alle werden dich nach besten Kräften unterstützen. Ich kann deine Befürchtungen nicht nachvollziehen.“

„Deine Worte machen mir Angst Annett!“ Wehrte sich Elena entschieden.

„Sicher, ich bin zur Anführerin auserkoren, nehmen wir das als Tatsache hin. Aber doch nur um die Menschen ein Stückweit zu begleiten, sie aus ihrer Umnachtung zu befreien, sie schlussendlich der Eigenverantwortung zu überlassen. Was glaubt ihr warum ich auf den Königinnentitel verzichtete? Ihn stattdessen Colette überließ bei der er bedeutend besser aufgehoben ist?“

„Colette ist wie geschaffen für dieses Amt. Ich denke, sie könnte es auch weiterführen, sollte, was die Göttin verhindern möge, dir tatsächlich etwas zustoßen. Gabriela nicht zu vergessen, die könnte sie dabei unterstützen. Wäre sicherlich überlegenswert, so eine Art Nachfolge mal zu regeln.“ schlug Madleen vor. Doch sie vermied es tunlichst zu gestehen, dass sie es bereits getan hatte, am Tag vor der Befreiungsaktion.

„Ein interessanter Vorschlag! Sehr gut! Darüber müssen wir alle, die gesamte Schwesternschaft reden, sobald ich wieder auf den Beinen bin. Dich selbst wollen wir keineswegs übergehen. Neben mir und Colette bist du die dritte im Bunde.  Wir sind ein Dreigestirn. Im Moment müssen wir das akzeptieren. Es handelt sich um ein Übergangsstadium. Niemals aber dürfen wir die Akratie aus dem Blick verlieren. Das ist unser eigentliches Ziel und nur dort wollen wir hin.“

Madleen schmiegte sich an ihre Geliebte und beschenkte sie mit ihrer Zärtlichkeit.

Annett näherte sich ihr von der anderen Seite.

„Aber du wärst eine wahrhafte Königin, voll der Würde, der Erhabenheit und Gerechtigkeit!“

Annett himmelte ihre neue Tochter geradezu an.

Elena erschrak ob dieser geradezu schwärmerischen Begeisterung . Doch sie wagte nicht zu widersprechen. Sie befand sich vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Wie sollte sie die Menschen überzeugen. Überzeugen von einer Lebensweise, die ihr selbst noch nicht in ihrer ganzen Tragweite bewusst war. Wo konnte sie ansetzen?

 

 

Am nächsten Morgen gelang es Madleen nur unter großer Mühe, Elena am aufstehen zu hindern. Trotz Schmerzen hatte die sich in den Kopf gesetzt zumindest stundenweise das Bett zu verlassen. Am Ende setzte sich die Geliebte durch, doch lange würde sich Elena nicht mehr halten lassen.

Als einen kleinen Lichtblick betrachtete diese den Umstand, dass sie endlich ihre Tochter wieder sehen konnte.

Alle waren sich einig darin, das Wagnis einzugehen.

Kristin hatte Tessa am Abend vorher mit sich genommen. Bereitwillig machte sie sich gleich am Morgen auf den Weg zu Elena.

Nach Tagen der Trennung konnte diese ihre Tochter endlich wieder in die Arme schließen.

„Na mein kleiner Spatz wie war es denn bei der Kristin? Habt ihr euch gut verstanden?“

„Kristin, meine Freundin. Liebe Kristin, schöne Kristin!“ Blubberte Tessa.

„Das hört sich ja ganz toll an..“

Elena knuddelte ihre Tochter eng an sich, hin und wieder das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Geste ziehend. Aber sie wollte sich ihrer Tochter gegenüber nichts anmerken lassen. Schließlich kuschelte sich die Kleine ganz eng an ihren Körper.

„Kristin, ich weiß gar nicht was ich wie ich dir danke soll. Du hast dich so liebevoll um Tessa gekümmert!“

„Ach was!  Ich habe es gern getan. Tessa ist doch so ein liebes Mädchen und für ihr Alter schon so verständig.“

„ Dass ist sie in der Tat. Wie ich hörte warst auch du zugegen als ich befreit wurde. Da hast du einiges bei mir gut. Komm setz dich zu mir!“

Elena machte die Bettkante frei und Kristin kam der Bitte mit einem etwas leicht geröteten Kopf aber trotzdem liebend gern nach.

Sanft legte Elena ihren Arm um Kristins Schulter.

„Ich spürte, seit jenem Tag da dich zum ersten Male sah, dass du ein ganz wertvoller Mensch bist, auch wenn ich am Anfang vielleicht einmal etwas grob zu dir war. Jetzt hast du unter Beweis gestellt das du einen bedeutsamen Weg gehen kannst, an meiner Seite, gemeinsam mit den anderen die mir etwas bedeuten.Hier ist dein Platz und dort gehörst du hin. Es ist von Anbeginn vorbestimmt.“

„Ich…ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Ich hab mir gar keine großen Gedanken darüber gemacht. Ganz spontan entschloss ich mich Madleen zu begleiten, das war alles. Und sehr viel hab ich auch nicht tun müssen. Sie war es die die ganze Aktion plante und dich letztendlich auch befreite.“

„Stell dein Licht nicht unter den Scheffel Kristin. Ihr alle habt euch bewiesen und seit über euch hinausgewachsen. Du ganz besonders. Von Madleen war zu erwarten dass sie so handeln würde, ich hätte das gleiche für sie getan. Dir aber hätte niemand einen Vorwurf gemacht wenn du zuhause geblieben wärst, aber du bist mitgekommen und das alleine zählt.“

„ Aber Madleen, nein es muss gesagt werden. Ich hätte mich glatt in sie verlieben können, so sehr hab ich sie bewundert an jenem Tag. Wie sie gekämpft hat, wie eine Besessene. Ihr eigenes Leben setzte sie aufs Spiel. Es hätte auch schief gehen können. Ein Moment sah es ganz danach aus. Sehr brenzlig. Ich fürchtete um ihr Leben, betrachtete alles aus der Distanz. Eingreifen konnte ich nicht.

Aber ich hätte es getan, wenn es mir möglich erschiene wäre.“

In der Zwischenzeit war Annett eingetroffen und hantierte unbemerkt im Nachbarzimmer herum, auf diese Weise war es ihr möglich dem Gespräch am Rande beizuwohnen.

„Einen Kampf? Es gab einen Kampf? Berichte weiter Kristin. Ich möchte so gern wissen was geschah. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Es sind nur Fetzen von Gedanken die durch meinen Kopf schwirren. Ja, sie war bei mir im Kerker, hielt mich in den Armen, ich hörte Wortgefechte, ich stand auf bewegte mich nach draußen? Dann ist alles weg, die Erinnerungen ausgelöscht. Bitte Kristin, erzähl doch! Ich muss es einfach wissen! Madleen schweigt sich aus. Es hat den Anschein als sei ihr die ganze Angelegenheit peinlich.“

„Peinlich? Wieso peinlich? Madleen ist eine Heldin, wenn du mich fragst. Wieso sollte ihr diese Sache unangenehm sein? Sie hat mit diesem Kerl gekämpft wie eine Löwin. Ich… ich hatte manchmal den Eindruck sie sei nicht bei Sinnen. Mehr als einmal schwebte sie in Lebensgefahr, der Kerl war ihr hoffnungslos überlegen, aber sie ließ nicht locker. Ich glaube fast, sie wäre für dich gestorben, sie achtete nicht auf ihre eigene Sicherheit. Dein Leben war ihr wichtiger als das Ihre."

Wie gelähmt folgte Elena der Schilderung. Sie fand keine Worte der Erwiderung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. 

„ Du und Madleen ihr seit euch sehr ähnlich!“ Entgegnete Elena, als sie sich wieder etwas gefasst hatte. „Beide neigt ihr dazu eure Fähigkeiten klein zu reden, anderen den Vortritt zu lassen, auch wenn es das gar nicht notwendig ist.“

„Hat dir Madleen denn nichts erzählt? Sag nur, du hattest von all dem keine Ahnung.“

„Keinen blassen Schimmer. Nicht ein Wort hat sie darüber verloren. Ich bat sie darum genau zu berichten was dort geschah, doch sie druckste nur herum. Meinte, sie wolle mich mit all dem nicht belasten.“

„Hab ich etwas Falsches gesagt, oder? Das ich aber auch meinen Mund nicht halten kann!“ Schämte sich Kristin.

„Auf keinen Fall! Du hast vollkommen richtig gehandelt. Es war ganz wichtig diese Tatsache in Erfahrung zu bringen. Ich bin es, die beschämt sein muss. Nun weiß ich gar nicht wie ich Madleen unter die Augen treten soll. Es musste wohl soweit kommen. Nun ist sie mir wahrhaft ebenbürtig. Damit ist eine völlig neue Situation eingetreten.“

Beruhigte Elena. Annett hielt es im Nachbarzimmer kaum noch aus. Doch sie wollte sich nicht bloßstellen.

„Es war ein fürchterlicher Kerl, mit dem sie es zu tun hatte.“ Setzte Kristin schließlich ihre Berichterstattung fort. „Eigenartig, sie schien ihn irgendwie zu kennen, von früher oder so. Sie nannte ihn Rolf.“  

Elena fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Das konnte nicht sein!

„Rolf? Das ist ja entsetzlich! Auch das noch. Oh meine Madleen, meine geliebte Gefährtin. Da ist ihr wahrlich nichts erspart geblieben.“

Jetzt stürmte Annett ins Zimmer.

„Verzeih, dass ich euch belauscht habe. Aber das ist einfach zu viel. Auch ich war ahnungslos als ich hierher kam. Meine Kleine, wie muss sie gelitten haben:“

„Ich verstehe gar nichts mehr. Wer ist denn dieser Rolf?“ Wollte Kristin wissen.

„Selbstverständlich kannst du das nicht wissen. Es ist ihr Ex-Mann.“ Klärte Elena auf.

„Ihr Ex-Mann? Wie Furcht erregend. Aber den ist sie ja nun ein für alle mal los.“

 „Soll das etwa heißen, dass  Madleen ihn getötet hat. Das wird ja immer schlimmer.“ Entsetzte sich Elena.

„Nein, nein. Er ist tot, das ist richtig. Aber er starb nicht von ihrer Hand. Letztendlich war es ein Unfall.“ Antwortete Kristin wie aus der Pistole geschossen.

„Der Göttin sei gedankt! Aber die Begegnung muss auf sie wie ein Trauma wirken. Und ich liege hier herum, lasse mich von ihr bedienen und verwöhnen und bemerke nichts von dem tiefen Schmerz, der bleischwer auf ihrer Seele lastet.“

„Das ist doch nicht deine Schuld . Du warst sehr krank. Aber ich hätte es spüren müssen. Ich glaubte stets, das ich meine Tochter gut kenne.“ Klagte sich Annett an.

„Wir müssen es wieder richten. Das heißt ich muss es tun. Ich muss Madleen  darauf an sprechen, auch wenn ich die passende Gelegenheit noch finden muss. Ich fürchte mich davor. Ach du Schreck. Jetzt haben wir ganz die kleine Tessa vergessen.“

Elena hätschelte ihre Tochter, die das Gespräch recht gelassen genommen hatte.

„Kristin kann ich dir Tessa noch mal für eine Weile an vertrauen? Das wäre sehr lieb. Lasst mich bitte allein. Ich muss nachdenken, muss in mich gehen mir etwas einfallen lassen.“

Annett und Kristin verließen gemeinsam mit Tessa das Schlafzimmer.

Draußen klärte Annett Kristin noch weiter über die Zusammenhänge auf. Darüber was es mit Rolf auf sich hatte und so weiter und so fort.

Elena blieb etwas verwirrt zurück. Trauer grub sich erneut in ihre Seele.

 

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* siehe Prolog-Aradias Fluch: Aradia, das raum-und-zeitlose Wesen, am Zeitloch sitzend, sich die Geschichte  der Menschheit betrachtend, in der Lage sich jederzeit einer Zeitepoche anzuschließen