- Startseite
- Über Madeleine
- Bilder von Madeleine
- Michaela
- Texte zum besseren Verstehen
- Hambacher Forst
- Alternativer CSD in Köln 2014
- Transgender-News
- hochsensibel
- Interessante Links
- Erläuterung zum Romanprojekt
- Roman / Inhaltsverzeichnis
- Roman / Teil 1: Macht und Ohnmacht
- Roman / Teil 2: Anarchonopolis
- Roman / Teil 3 Aufstand der Bildungsfernen
- Datenschutzerklärung
Nur Steine leben lang
„Wunder gibt es immer wieder“, so sang die deutsche Sängerin Kaja Epstein in den 70ger Jahren. Die Abtei war ein Ort, wie geschaffen für Wunder jeglicher Art. Ständig kam es zu Vorfällen die auf logisch-rationale Weise nicht zu erklären waren.. Angefangen von Menschen die sich von einem zum anderen Augenblick wandelten, ihr Leben radikal änderten, neue Wege einschlugen, über Problemlösungen die geradezu vom Himmel fielen, bis hin zu spektakulären Heilungen von Krankheiten für die es keine medizinische Erklärung gab.
Eine geheimnisvolle Aura breitete sich über dem Gelände aus. Das Gefühl sich vor den Anfechtungen der Welt in Sicherheit zu bringen, das Gefühl jeden noch so komplizierten Konflikt zu lösen, das Bewusstsein in einer allumfassenden Geborgenheit zu leben. Ein neuer Pilgerort hatte sich entwickelt, der jährlich viele Hilfesuchende anzog, die hier nach Linderung für ihre Leiden suchten.
Menschen die dem erhofften Wunder harrten.
Groß war die Freude, wenn es tatsächlich zu Wundern kam, oder wie auch immer man unerklärliche Phänomen zu benennen gedachte.
Was aber wenn sich der gewünschte Effekt am Ende doch nicht einstellte und die Antworten auf die brennenden Fragen ausblieben? Wenn man umsonst auf Heilung wartete oder zu sehen musste, dass der geliebte Mensch nicht mehr zu retten war?
Auch das gab es. Es schien keinen anderen Weg zu geben als den Umgang damit einzuüben.
Auch Wunder haben ihre Grenzen. Die offenbarten sich in manchen Fällen auf besonders krasse Art.
Einer jener Fälle war Yvonne. Ein Mensch den das Leben mit aller Härte gezeichnet hatte.
Hilfe suchend wie so fiele fand sie Zuflucht in der Abtei.
Elena war von Yvonnes Schicksal so ergriffen dass sie diese augenblicklich zu sich nahm und in ihrer WG unterbrachte, auch wenn sich das als ausgesprochen problematisch erweisen sollte, denn Yvonne war schwer behindert. Das brachte es mit sich dass einige Veränderungen in die Gemeinschaft einzogen. Zum Glück funktionierte der Aufzug und auf dem Korridor waren alle Räume barrierefrei erreichbar.
Es gab einmal eine Zeit, da war Yvonne eine wunderschöne junge Frau, voller Tatendrang und Lebensfreude. Das Herz voller Liebe und den Kopf voller Pläne für die Zukunft. Früh hatte sie geheiratet und war mit 20 Jahren schon Mutter eines Sohnes. Trotzdem arbeitete sie besessen an sich um aus ihrem Leben etwas zu machen, studierte, auch wenn sich das mit der Familie oft nur schwer in Einklang bringen lies. Doch irgendwie schafften sie es. Alles schien perfekt. Bis zu jenem Tag an dem der fürchterliche Unfall geschah und Yvonne für immer aus der Bahn werfen sollte, jenes tragische Unglück das sie zum Krüppel machte.
Die junge Frau wurde bei einem Verkehrsunfall so schwer verletzt, dass die Ärzte zunächst jegliche Hoffnung aufgegeben hatte sie am Leben zu halten, so schwerwiegend waren ihre Verletzungen. Kaum einen Stelle an ihrem Körper die unversehrt geblieben war. Viele Operationen waren von Nöten um sie einigermaßen zu stabilisieren. Auch ihr Kopf und ihr Gehirn waren in Mitleidenschaft gezogen.
Tagelang verbrachte sie im Koma. Als sie wieder erwachte schien sich das ganze Ausmaß zu offenbaren. Yvonne würde nie wieder jene Frau sein, die sie einmal war. Übrig geblieben war nur noch eine Hülle erfüllt mit Elend, Leid und nicht enden wollenden Schmerzen. Auch die zahlreichen Operationen konnten ihren Zustand nicht wirklich bessern. Ihr Gesicht tief entstellt, konnte notdürftig wieder hergerichtet werden, aber von ihrer einstigen strahlenden Schönheit blieb nichts weiter übrig als ein Schatten. Laufen konnte sie am Anfang überhaupt nicht. Erst nach unendlich langer Zeit und intensiven Training vermochte sie unter Benutzung von Gehhilfen einige zaghafte Schritte zu bewältigen.
Bleischwer senkte sich die Wahrheit herab, sie würde ihr ganzes Leben hindurch ein Pflegefall bleiben.
Am Anfang lief es mit der Pflege noch recht gut, ihr Mann bemühte sich alles nach besten Wissen und Gewissen zu richten. Doch im Laufe der Zeit schwanden seine Kräfte und die Motivation seiner Frau beizustehen tendierte bald gegen Null. Zudem hatte er auch noch den gemeinsamen Sohn alleine zu betreuen. Irgendwann war es ihm zu viel und er kapitulierte vor der Mehrfachbelastung.
Liebe und Treue hatten sie sich geschworen, in guten wie in schlechten Tagen. Was aber wenn die Schlechten dominierend und die guten rar sind oder gar nicht mehr vorhanden?
Verlassen zu werden ist für jeden Menschen ein tiefer Schicksalsschlag, für einen schwer Behinderten jedoch die blanke Hölle.
Von diesem Zeitpunkt an war Yvonne ganz auf sich gestellt. Zum Glück gab es da noch ihren Bruder Ulf.
Introvertiert und einfältig, einer den das Leben frühzeitig vergessen hatte. Lernbehindert und Sprachgestört. Aber er machte seine Sache gut, tat an Yvonne seinen Dienst ohne nach dem Warum zu fragen. Es war eben so. Da Yvonnes Sprachfähigkeit ebenfalls erheblich gestört war und sie sich nur noch nuschelnd verständlich machen konnte, ergänzten sie sich wunderbar. Bald hatten sie gelernt sich auch ohne Sprache zu verständigen.
Die Jahre vergingen, ein Tag glich dem anderen bis aufs Haar und sie schienen sich in ihrer Tristesse einander abzulösen.
Yvonnes Sohn wuchs heran, sie bekam so gut wie nichts davon mit, denn seine Besuche bei ihr verringerten sich bis sie schließlich ganz ausblieben.
Die Menschen in ihrer Umgebung hielten Yvonne für eine Schwachsinnige und behandelten sie entsprechend, verließ diese einmal das Haus, was selten genug vorkam. Dabei war sie nach wie vor hochintelligent. Die Sticheleien der Leute taten ihr unendlich weh, so dass sie den Entschluss faste fort an dauerhaft in ihrer Behausung zu bleiben.
Im Lande war Revolution, ein Bürgerkrieg schloss sich an. Es ging an ihr vorbei, was hatte sie damit zu tun? Sie war ein Krüppel und würde es bleiben, ob in diesem oder jenen politischen System, es war ohne Belang. Yvonne hatte ihre Zukunft verwirkt, für sie gab es kein Morgen.
Ein kleiner Stern leuchtete am Horizont und signalisierte dass womöglich doch noch ein Hauch von Leben auf sie wartete.
Die Abtei, dort wo man daran arbeitetet dem Rad des Schicksals in die Speichen zu greifen.
Ein Ort an dem Dinge geschahen die Yvonnes Herz mit Hoffnung füllte.
Gerüchte über wundersame Heilungen machten die Runde.
Mit ihrer Gesundheit ging es weiter bergab. Eine Erkrankung machte der folgenden Platz, wie ein Magnet schien sie diese an zu ziehen.
Yvonne war entschlossen den Strohhalm zu ergreifen, sie musste dorthin, ganz gleich wie und auf welche Weise. Zu verlieren hatte sie nichts mehr.
Sie bedrängte ihren Bruder so lange bis der schließlich nachgab.
Und tatsächlich schien es das Schicksal gut mit ihr zu meinen. Elena erfuhr noch am Tag ihrer Ankunft von dem besonders schweren Fall. Umgehend brachte sie diese in ihrer WG unter. Somit war Yvonne vom Tage ihrer Ankunft in den besten Händen. Für Ulf bedeutete es eine Entlastung, der bedurfte dringend einer Pause und die stand ihm auf dem Gelände der Abtei zur Verfügung.
Nun sollte Yvonne eine Liebe zuteil werden die sie noch vor Tagen nicht einmal erträumen konnte.
Die gesamte Schwesternschaft hatte sie auf Anhieb ins Herz geschlossen. Nach kurzer Beratung waren sich alle einig bei Yvonne eine Ausnahme zu machen. Ohne jegliche Probezeit, oder die üblichen Prüfungen wurde sie sofort in die Reihen der Schwestern aufgenommen. Ein einmaliger Vorgang. Aber es bestand ein allgemeiner Konsens darüber dass Yvonne für alle eine große Bereicherung darstellte.
Die begann in ihrem Inneren aufzublühen.
Trotz ihrer schweren Handicaps war sie in die Reihen der Menschen zurückgekehrt.
Konnte ihr Wissen und ihre Erfahrung in eine Gemeinschaft ein bringen und wurde dafür von den anderen geschätzt und anerkannt.
Es kostete Elena viel an Überwindung, aber schließlich war sie bereit mit Yvonne den therapeutischen Beischlaf zu praktizieren.
Einfach ist es nicht sein Lager mit einem Krüppel zu teilen. Nur all zu verständlich dass sich die Menschen von Schönheit und Anmut angezogen fühlen. Es ist ein gigantischer Unterschied ob ich einen schönen, geschmeidigen, jungen und gesunden Körper in den Händen halte, oder einen kranken, von Behinderungen gezeichneten, womöglich entstellten.
Elena besaß die Kraft, sie hatte die Gabe tiefer zu sehen, blickte in Yvonnes vernarbtes Gesicht und erkannte dahinter die schöne junge Frau die sie einmal war und sie sah das tiefe Leid, die Narben auf Yvonnes Seele, die viel schwerer wogen als jene auf ihrem Körper.
Gegensätze prallten aufeinander, hier die Superfrau, die mit ihrer Sinnlichkeit, ihrer Ausstrahlung alle Blicke auf sich zog und dort das kleine Häufchen Elend von der Welt gemieden und verachtet.
Durch intensiven Körperkontakt hoffte Elena möglichst viel von ihrer Energie auf Yvonne zu übertragen, um deren Selbstheilungskräfte zu aktivieren.
Tatsächlich gelang es ihr nach und nach die neue Freundin psychisch zu stabilisieren.
Körperlich blieb alles beim Alten. So sehr sich Elena auch bemühte ,eine Wunderheilung wollte sich nicht einstellen.
Elena ging tief in sich. Glaubte sie wirklich an Wunder? Sie, eine nach wie vor eher logisch-rational ausgerichtete Person? An etwas zu glauben ist niemals falsch, so lange es positiver Natur ist. Aber eine komplette Heilung schien bei Yvonne so unwahrscheinlich, dass das hoffen auf ein Wunder in jeder Hinsicht als naiv erscheinen musste, dessen war sich auch Elena bewusst.
Aber andererseits? Bei Gabriela hatte es funktioniert.
Gabrielas Krankheit schien unheilbar und tödlich. Sie befand sich im Endstadium und alle hatten sich mit der grausamen Wahrheit abgefunden. Gabriela würde sterben. Noch nichts desto trotz wurde sie wieder gesund. Warum? Es gab verschiedene Versuche einer Deutung, eine logische Erklärung konnte jedoch nie gefunden werden. Kristin zunächst Gabrielas Nebenbuhlerin, hatte die Pflege übernommen, kam ihr näher, wurde schließlich zu ihrer Geliebten. Eine Liebe so groß, so überwältigend das Gabriela gesunden konnte, so einer der zahlreichen Deutungsversuche. Gabriela und Kristin hatten in ihrem Gegenüber die Entsprechung ihres ganzen Lebens gefunden. Die todgeweihte Gabriela hatte allen Grund Heil zu werden. Auf sie wartete ein neuer Lebensabschnitt mit ungeahnten Möglichkeiten.
Noch immer war sie nicht vollständig genesen, die Krankheit war verbannt, vorerst, niemand vermochte mit Gewissheit zu sagen, ob und wann sich diese wieder einstellte. Kristin hatte in Gabriela ihre Meisterin gefunden und entsprechend behandelte sie diese. Achtete darauf dass Gabrielas Fuß auch ja nicht an einen Stein stieß oder ihr ein wie auch immer geartetes Leid widerfuhr.
Gabriela konnte sich zu 100 % auf ihre Geliebte verlassen, durfte sich, wenn sie entkräftet war, in deren Armen fallen lassen und ihre Liebkosungen genießen.
Und Yvonne? Wer wartet auf sie? Welches Abenteuer harte ihrer? Sie ein verkrüppelter, auf ewig an einen Rollstuhl gefesselter Lazarus?
Immerhin hatte sie auf einen Schlag dutzende von Schwestern, eine neue Familie. Genügte das? Yvonne wäre auch schon mit viel weniger zufrieden, sie die vom Leben bereits entwöhnte.
Nein, es machte keinen Sinn Gabrielas und Yvonnes Schicksale zu vergleichen.
Was den therapeutischen Beischlaf betraf, so verbrachte Elena bedeutend mehr Zeit mit Yvonne als üblich.
„Sei nicht enttäuscht Elena, du hast so viel für mich getan seit ich hier lebe. Glaub mir, ich fühle mich gut, den Umständen entsprechend. Mir fehlt schon lange der Glaube an ein medizinisches Wunder. Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden.“ meinte Yvonne eines Morgens, nach dem erwachen zu Elena, in deren Armen sie die ganze Nacht verbracht hatte.
„Deine Sprache Yvonne. Ich finde du kannst schon erheblich besser reden als zu dem Zeitpunkt da du bei uns ankamst. Es geht voran. Du wirst gesunden, es dauert nur länger als ich zunächst annahm. Ich glaube daran. Und wenn ich meine verborgensten Kräfte aktivieren muss, wir werden es schaffen.“ Versuchte Elena ihr Mut zu machen.
„Meinst du?“
„Ja, ich werde nicht eher ruhen, bis es sich bewahrheitet. So vielen konnte ich helfen, auch du wirst dazu gehören:“
„Ich fühle mich wohl bei euch, ich habe erstmals wieder richtig Lust auf Leben. Das ist doch auch schon ein Wunder und du hast es bewirkt.“ Lobte Yvonne.
„Das ist toll! Und ich werde deine Lust noch weiter steigern. Sag was du möchtest und ich werde es dir schenken. Wenn du die Sterne willst, ich hol sie dir vom Himmel.“ Begeisterte sich Elena.
Wortlos kuschelte sich Yvonne in Elenas Arme.
Leise öffnete sich die Tür und Madleen lugte durch den Spalt.
„Seit ihr schon wach?“
„Komm doch rein Madleen!“ Forderte Elena ihre Gefährtin auf.
Madlen tat wie ihr geheißen, betrat den Raum und nahm an der Bettkante Platz.
„Leg dich doch einfach zu uns, dann können wir Yvonne von bedien Seiten verwöhnen und unsere Energie übertragen.“ Schlug Elena vor.
„Eigentlich bin ich gekommen euch zu fragen, ob ihr gedenkt bald aufzustehen, es ist schon Tag.“ Informierte Madleen.
„Du weißt doch, dass ich mir ausreichend Zeit nehme, wenn ich den heilsamen Beischlaf ausübe. Und für Yvonne nehme ich mir besonders viel davon. Aber du hast recht, wir kommen ganz langsam in die Gänge, ist es dir Recht Yvonne?“
„Ja, ich fühle mich gut! Wir können!“ Bestätigte Yvonne.
„Fein! Der Tag hat so viel zu bieten. Es gibt eine Menge an Dingen die wir unternehmen könnten. Zunächst sind aber deine gymnastischen Übungen dran.“
Zu zweit halfen sie Yvonne beim aufstehen und ankleiden. Alles geschah behutsam und voller Sanftheit. Hier waren zwei Frauen am Werk die es verstanden ihre heilenden Hände geschickt einzusetzen.
Yvonne bestand darauf den Weg ins Wohnzimmer zu laufen, mit Hilfe der Krücken gelang ihr das sogar ganz gut.
Zunächst nahmen sie ihr Frühstück ein, später wurde sie von Elena in den Gymnastikraum gebracht der sich im Erdgeschoss des Konventsgebäudes befand. Mit Hilfe des Aufzuges war das leicht zu bewältigen.
Mit ganzer Kraft und Konzentration widmete sich Elena ihrer neuen Freundin, massierte zunächst deren Köper. Später probierten sie sich in Bewegungstherapien.
Yvonne schonte sich nicht, konzentrierte sich ganz auf den Ablauf der Übungen, stets das Ziel vor Augen. Ein Ziel das darin bestand sich irgendwann einmal weitgehend ohne fremde Hilfe fortbewegen zu können. Nur einmal wieder einen Spaziergang machen, ganz allein, einfach dahin gehen wohin sie wollte. Das Gelände der Abtei war so groß und sie kannte noch so gut wie gar nichts davon, obgleich sie nun schon einige Wochen hier verweilte.
„Ab jetzt gehen wir täglich raus, in die Natur. Die Bewegung an der frischen Luft wird dir gut tun. Wenn wir auch vorsichtig sein müssen, damit du dir nicht eine Erkältung zuziehst.“ Meinte Elena, so als ob sie Yvonnes Gedanken zu lesen vermochte.
„Wirklich? Das wäre toll! Aber ich will nicht, das du um meinetwegen deinen ganzen Tagesplan umwirfst. Du hast doch sicher noch andere wichtigere Aufgaben zu erledigen?“
Erkundigte sich Yvonne.
„Es gibt im Moment kaum etwas Wichtigeres als deine Gesundheit. Ich nehme mir die Zeit. Natürlich hätte ich eine Menge zu tun, aber das kann ich mit gutem Gewissen delegieren. Andere aus der Gemeinschaft werden bereitwillig Lasten von meinen Schultern nehmen.“ Versuchte Elena Yvonnes Bedenken zu zerstreuen.
„Ja, wenn du meinst!“
„Die können ruhig mal für ne Weile ohne mich auskommen. Ich tue eh schon zu viel. Die müssen endlich lernen selbständig zu denken und zu handeln. Akratie heißt, alle ziehen am gleichen Strang.“
„Gerne würde ich mich mit dir über solche Dinge austauschen, Elena. Das ist so hoch interessant, das steckt alles so voller Leben. Ich habe mich damit beschäftigt und möchte noch mehr darüber in Erfahrung bringen.“ Bekannte Yvonne.
„Aber ja! Natürlich können wir das. Ich bemerkte sofort, wie wach und wissbegierig du bist. Löchere mich nur mit deinen Fragen, ich will dir gerne alles berichten, soweit es in meinem Ermessen steht.“
„Ich hätte sonst etwas dafür gegeben, wäre ich dabei gewesen, damals, als es richtig zur Sache ging in Melancholanien. Ich bekam nur sehr wenig davon mit. Nicht ungewöhnlich für einen Menschen der so gut wie nie das Haus verlassen konnte. Es ist alles an mir vorüber gezogen. Es schien als sei ich gar kein rechter Teil davon.“ Bedauerte Yvonne mit einem Anflug von Schwermut in der Stimme.
„ Selbstverständlich lässt sich die Zeit nicht zurückdrehen. Trotzdem können wir die Vergangenheit ins Gedächtnis zurückrufen. Ich werde dir von allem berichten, was uns wichtig erschien.
Hier auf dem Gelände der Abtei hat die Revolution ohnehin nie zu Ende gefunden.Ich würde sogar sagen, dass sie erst jetzt so richtig an Fahrt gewonnen hat.“ Versuchte Elena der Freundin Mut zu machen.
„Und du bist sicher, dass sie auch für jemanden wie mich von Bedeutung ist. Ich habe mich ständig gefragt, was ich mit all dem zu tun habe. Ist es nicht einerlei, unter welchen Verhältnissen man lebt, wenn man ein Krüppel ist.“ Wollte Yvonne wissen.
„Also erstens bist du kein Krüppel. Eine solche Bezeichnung würden wir hier nie für einen Menschen verwenden. Zweitens spielt es schon eine erhebliche Rolle unter welchen Bedingungen du lebst. In einer Gesellschaft in der nur der reiche, junge, schöne, gesunde, intelligente von gutem Stande etwas zählt, wird man auf alle die nicht in dieses Schema passen herabsehen. Wir versuchen hier jedermann und -frau willkommen zu heißen. Niemand ist überflüssig. Alle Menschen verfügen über Qualitäten, seinen sie auch noch so klein und gering. Oft sind es die unscheinbaren Leute, die von einer wahren Fülle der Weisheit durchdrungen sind. Was dich betrifft, du kannst uns allen noch was lehren.“
„Ich? Ich könnte mir nicht vorstellen was?“ Versuchte Yvonne ihr Licht unter den Scheffel zu stellen.
„Mach dich nicht kleiner als du bist, Yvonne. Du kannst uns lehren was es heiß wirkliche Lasten zu tragen. Ein Kreuz zu tragen, wie Pater Liborius es wahrscheinlich ausdrücken würde. Gegen dein Leid sind die Problemchen vieler anderer nur Staub und Schatten, nicht einmal der Erwähnung wert. Du wärst eine großartige Lehrerin für uns alle. Im Reich des Leidens, da warst du zu hause, du kannst uns von dort berichten.“
Elena versuchte ihre Worte genau abzuwägen. Dünn und zerbrechlich ist die Schwelle die von der Verehrung zur Verhöhnung führt. Auch Yvonne hatte genügend an Sprüchen zu hören bekommen, alle gut gemeint aber derart deplatziert, das sie das genaue Gegenteil dessen bewirkten, als ursprünglich beabsichtigt.
Man muss einen Behinderten nicht ständig mit seiner Behinderung konfrontieren.
„Ich will es versuchen. So wie ich immer alles versucht habe. Ich warf die Flinte erst dann ins Korn, wenn ich tatsächlich keine Alternative mehr sah.“
„So ist es recht! Es gibt viele Wege sich dem Kampf zu stellen!“
Im Anschluss an die Behandlung schob Elena Yvonne mit dem Rollstuhl kreuz und quer über das Abteigelände. Es war ein schöner Tag, der Frühling hatte in den letzten Tagen mächtig aufgeholt und eroberte sich langsam aber sicher sein Terrain aus den Händen des Winters zurück. Elena hoffte dass der einsetzende Frühling Yvonnes Lebensgeister zusätzlich aktivieren konnte. Soweit es sich einrichten lies verbrachten sie viel Zeit im Freien.
Nach und nach begann Elena ihre zahlreichen Aufgaben in der Kommune zu vernachlässigen, um sich ganz um Yvonnes Betreuung zu kümmern.
Am Anfang respektierten die Schwestern diese Tatsache, doch als sich immer deutlicher abzeichnete dass es zum Dauerzustand würde, machten die sich ernsthafte Gedanken was sich daraus entwickeln könnte.
Gabriela stellte während der wöchentlichen Zusammenkunft der Schwestern Elena offen zur Rede.
„Ich finde einfach dass du zu viel Zeit mit Yvonne verbringst. Ich will dich keineswegs tadeln. Ich finde es großartig wie du dich ihrer angenommen hast. Aber ich meine, und damit spreche ich sicher im Namen der meisten hier, dass du es ein wenig damit übertreibst.“
„Übertreiben? Wie soll ich das verstehen? Bei einem Schicksal wie jenem von Yvonne kann man gar nicht übertreiben. Oder fühlst du dich vernachlässigt, du und die anderen.“ Gab Elena ungehalten zurück.
„Es geht hier nicht um mich, es geht um die Tatsache dass du deinen übrigen Aufgaben hier in der Abtei nicht mehr nachkommst. Das ist eine Tatsache, die die gesamte Gemeinschaft betrifft. Wir als deine Schwestern haben die Pflicht dich darauf hin zu wiesen, es ist ein wichtiger Grundsatz oder hast du den vergessen?“ rief Gabriela Elena ins Gedächtnis.
„Wir meinen, dass du dich nicht allein um Yvonne kümmern musst. Du könntest uns alle ein beziehen. Wir alle haben Yvonne lieb gewonnen. Wir könnten uns ihrer in der gleichen Weise annehmen.“ schob Cassandra nach.
„Da bin ich ganz anderer Meinung. Ich halte es eher für angebracht, dass ihr mehr und mehr von meinen bisherigen Arbeiten übernehmen könnt um mich anderweitig zu entlasten. Es ist Zeit für mich langsam ins Glied zu treten. Wir wollen einen egalitäre Gemeinschaft sein und streben die Akratie an. Das heißt mit anderen Worten ,dezentralisieren. Das wiederum scheint ihr vergessen zu haben.“ Verwies Elena auf die Regel der Gemeinschaft.
„Das ist richtig Elena. Aber ich finde das es einfach noch zu früh ist, dich schon jetzt zurück zu ziehen. Dein Name ist nun einmal untrennbar mit der gesamten Gemeinschaft verbunden. Wir brauchen dich an der Spitze. Die Leitung liegt in deinen Händen, da sollte sie auch bleiben, zumindest noch für eine gewisse Zeit. Bis wir tatsächlich rief sind für die Akratie.“ Widersprach Gabriela.
„Elena hat völlig Recht! Ich stimme ihr zu, wenn sie schon jetzt damit beginnen will Aufgaben zu delegieren. Ihr wollt es einfach nur bequem haben und euch voll auf Elena verlassen. Ich finde dass überhaupt nicht fair.“ Stärkte Colette Elena den Rücken.
„Ach das ist doch Unsinn Colette. Es ist unfair von dir uns so etwas zu unterstellen.“ Wehrte Cassandra ab.
Madleen hielt sich bewusst zurück. Sie konnte nicht eindeutig entscheiden welcher Meinung sie eher zustimmen sollte. Sie stand zwar im Zweifelsfall immer auf Elenas Seite, doch in diesem Fall neigte sie eher Gabriela zu. Doch würde sie nie auf den Gedanken kommen ihre Gefährtin in der großen Runde in den Rücken zu fallen.
„Ich finde, wir sollten überhaupt nicht über diese Angelegenheit streiten ohne Yvonne selbst gehört zu haben.“ Schlug Sonja vor. „Sie fühlt sich heute nicht wohl und kann an unserer Zusammenkunft nicht teilnehmen. Es wäre besser wir verschieben diesen Punkt, reden darüber wenn Yvonne wieder selbst zugegen ist.“
Schweigen erfüllte den Raum. Sonja hatte wahr gesprochen.
„Yvonne wird euch zustimmen. Davon können wir ausgehen. Sie macht sich doch selbst genügen Vorwürfe darüber dass sie mich ständig in Beschlag nimmt. Diese Frage könnt ihr euch getrost sparen.“ Glaubte Elena zu wissen.
„Ich bin enttäuscht von euch, ich bin einfach nur enttäuscht!“
„Wir wollten dich nicht kränken Elena. Das war niemals unsere Absicht. Wir sehen doch wie sehr du an ihr hängst, aber wir machen uns eben Gedanken um die ganze Gemeinschaft.“ Versuchte Gabriela nochmals in beruhigendem Ton auf Elena einzureden.
„Ich möchte nur einem Menschen, der im Leben erheblich zu kurz kam, ein klein wenig von jener Liebe spenden die ihm ein Leben lang versagt blieb. Das ist alles. Wenn ihr das nicht versteht, sei`s drum. Dann tut ihr mir alle leid.“
Elena erhob sich einfach und verlies den Kapitelsaal, jenem Versammlungsraum der schon den Mönchen für ihre Zusammenkünfte diente, und lies die anderen zurück.
„Siehst du, das hast du nun davon Gabriela! Mit deinen Sprüchen hast du Elena tief verletzt.
Ich habe es dir gleich gesagt. Du weist doch wie sehr ihr Yvonnes Schicksal nahe geht.“ Konterte Chantal.
„Na prima, darauf habe ich gewartet! Du musst mir auch noch in den Rücken fallen. Aber das ist es doch. Elena hängt sich einfach zu sehr an Yvonne. Das ist nicht gut. Sie hat mir vor kurzem an vertraut, dass sie in Erwägung zieht sich vollständig von all ihren Funktionen zurückzuziehen um sich ganz auf Yvonne konzentrieren zu können. Das kann verheerende Folgen für unser Zusammenleben bedeuten.“ Beharrte Gabriela noch immer auf ihrem Standpunkt.
„Jetzt ist es aber genug! Habt ihr vergessen wie es hier einmal zuging, damals, gleich nach der Revolution? Elena war nach Leanders Tod in tiefe Depression gestürzt und konnte gar nichts mehr tun. Und? Wir haben es geschafft. Einige haben die Initiative ergriffen und es ging weiter. Wir müssen imstande sein unsere Aufgaben wahr zunehmen auch wenn Elena nicht zur Verfügung steht!“ Erinnerte Colette die Versammlung an die Krisenzeit.
Gabriela senkte den Kopf, denn sie wusste nur zu gut worauf Colette hinauswollte.
Die Diskussion ging weiter. Einige verteidigten Elena, andere kritisierten deren Verhalten unverholen.
Madleen konnte es nicht mehr ertragen, erhob sich ebenfalls und verlies wortlos den Raum.
Sie würde sich nicht äußern. Elenas Sorge um Yvonne ging eindeutig zu ihren Lasten. Die ohnehin schon knapp bemessene Zeit die sie mit ihrer Liebsten verbringen durfte, wurde derzeit auf Null gefahren. Es tat ihr weh. Andererseits fühlte sie aber auch mit Yvonne.
Konnte sie jemanden wie ihr überhaupt böse sein? Nein! Sie gönnte Yvonne die schönen Tage die sie mit Elena erleben durfte und noch erleben würde.
Madleen blickte den langen Flur des Kreuzganges hinunter. Von Elena keine Spur.
Sie beschloss ihrer Gefährtin nicht nachzugehen. Für Yvonne war jede Minute kostbar und sie wollte ihr die Illusion auf ein besseres Leben nicht zerstören.
Die Wochen verstrichen und Elena hatte sich Stück für Stück von ihren Funktionen zurückgezogen. Lediglich Tessa bekam noch den Teil den sie von ihrer Mutter erwarten konnte, aber selbst hier begann sie nach und nach zu delegieren. Sie konnte sich auf Madleen verlassen und da gab es auch noch die anderen ,speziell Kristin, die sich ebenfalls der Tochter annahmen. Freie Kapazität für Yvonne. Sie verbrachten viele Stunden am Tag miteinander. Elena scheute auch nicht große Strapazen auf sich zu nehmen, wenn sie etwa Yvonnes Rollstuhl den steilen Berg zum Sandsteinmassiv hinaufrollte war das mit großen körperlichen Anstrengungen verbunden. Doch sie tat es weil sie der Freundin damit eine große Freude bereitete. Yvonne liebte diesen Platz von Anfang an. Spürte sie auch die Kraft die von den Steinen kam?
Wenn ja, konnte sich das nur positiv auf ihr Befinden auswirken.
Yvonne aus dem Rollstuhl zu wuchten und an die Felsen zu tragen kam einer Tortur gleich. Elena war stark, ihr Körper athletisch und muskulös, doch trotzdem war sie eine Frau und das ständige heben eines schweren Körpers zehrte bald an ihren Kräften.
Doch deren freundliches, dankbares Gesicht entschädigte auf hundertfache Weise.
„Ein wunderbarer Ort ist das hier. Danke dass du ihn mir gezeigt hast. Ich fühle mich so wohl hier. Ich spüre wie mich seine Kraft erfasst.“ Begeisterte sich Yvonne.
„Wann immer du magst, bringe ich dich hierher. Mach dir keine Gedanken, wegen der Belastung. Das ist kein Problem für mich, gutes Training um fit zu bleiben. So halte ich meine Form. Sieh mal, ich setze langsam Fett an.“ Elena strich über ihren Bauch.
Beide mussten lachen, denn das war natürlich Unsinn. Elenas Figur präsentierte sich nach wie vor tadellos, kein Lot Fett verunstaltete diesen prachtvollen Körper.
„Bin ich dir aber wirklich nicht zu schwer? Du musst mich nicht tragen. Ich kann doch inzwischen wieder gehen, wenn es auch langsam geht. Du machst dir soviel Mühe mit mir.“
Sorgte sich Yvonne.
„Mir ist keine Mühe zuviel wenn ich dir damit eine Freude bereiten kann!“ erwiderte Elena und lächelte ihr dabei zu.
„Warum bist du so gut zu mir?“
Diese direkte Frage schockierte ein wenig.
„Weil ich dich sehr gern habe!“
„Wirklich nur deshalb?“
Besaß Yvonne auch die Gabe tiefer zu blicken und jene Worte zu hören die ihren Weg nicht über die Lippen fanden?
„Ja! Es bedarf keiner weiteren Worte! Nein, ich glaube du lässt dich nicht täuschen. Es gibt noch einen weiteren Grund, der aber dem ersten keinen Abbruch tut. Du bist für mich eine Herausforderung. Meine Seele ist in Aufruhr, mein Leben quasi auf dem Prüfstand! Seit du bei uns bist lassen mich die Fragen nicht mehr los!“ Bekannte Elena nun.
„Aber warum?“ Wollte Yvonne wissen.
„Es ist ein herrlicher Frühlingstag. Hier sitze ich im Gras, unbekümmert, frei von Sorgen, kerngesund, topfit und intelligent. Ich habe eine reizende Tochter, eine liebevolle zärtliche Geliebte, jede Menge Schwestern, mir in unverbrüchlicher Treue zugetan, unzählige Freunde auf die ich mich verlassen kann, hinzu ein herrliches Gehöft zum wohnen. Alles was das Herz begehrt und ich weiß das ich nichts davon verdient habe. Ein Geschenk. Es ist alles nur geliehen, endlich, jederzeit kann Fortuna ihr Füllhorn schließen und mich ins Unglück stürzen. Seit deiner Ankunft bohrt es in meinem Bewusstsein und ich frage mich beständig was wäre, wäre ich nicht die die ich bin?“
„Aber du hast doch auch Schicksalsschläge verkraften müssen? Leid und Trauer sind auch dir keine Unbekannten mehr!“ Widersprach Yvonne.
„Das ist richtig! Aber mir war es vergönnt mich wieder aufzurichten. Nach der Dunkelheit erschien Licht am anderen Ende des Tunnels. Ich fand zurück ins Leben, eine neue Liebe wartete auf mich und ich konnte den mir vor bestimmten Weg fortsetzen. Aber was ist mit jenen die das nicht vermögen? Was tun wenn sich niemals eine zweite Chance einfindet? Nein, das ist kein Vergleich. Ich sehe dich an und ich schäme mich dafür dass es mir gut geht.“
Elenas Bekenntnis lies Yvonne erschaudern.
„Aber Elena das brauchst du nicht! Glaubst du ich würde dir Vorwürfe deshalb machen? Nein, niemals! Ich blicke auf dich und mir geht es gleich viel besser, wenn ich in dein wunderschönes Gesicht sehen darf. Du bist eine Heilerin! Du hast mich gesund gemacht, auf eine ganz spezielle Art. Ich fühle einen tiefen Frieden in mir, wie noch nie zuvor in meinem Leben.“
Elena schloss Yvonne in ihre Arme und drückte sie fest an sich.
„Du wirst wieder gesund, richtig. Ich glaube fest daran und du musst es auch. Dann werden wir noch viele gemeinsame Stunden miteinander verbringen. Es wird mir eine Freude sein ansehen zu dürfen, wie du Stück für Stück ins Leben zurückkehrst.“ Versicherte Elena.
„Meinst du wirklich? Ich möchte ja glauben, aber ich kann es nicht. Zu unmöglich erscheint es mir. Mein Körper ist ruiniert, da ist nichts mehr zu machen.
Nur ein Wunder könnte heilen?“
„Es ist noch nicht sehr lange her, da zweifelte auch ich. Das wollte mir einfach nicht in den Kopf. Ich war rational eingestellt, im Prinzip bin ich das noch immer. Aber ich bemerke schon seit geraumer Zeit, dass sich eine neue Seite in mir auftut Damals in der alten Zeit, als wir uns um den Dichter Kovacs scharten und ihm lauschten, konnte ich lange Zeit keinen Glauben aufbringen, zu romantisch verklärt klangen dessen Worte. Doch heute bin ich ein gehöriges Stück weiter. Es gibt solche Dinge. Wir müssen allen Unmöglichkeiten zum trotz solchen Phänomenen aufgeschlossen gegenüber sein und begreifen, dass es Dinge gibt die wir nicht fassen können.“ Fuhr Elena fort.
„Wenn du es so siehst dann will ich es auch versuchen. Den großen Dichter, ich hätte ihn gerne persönlich kennen gelernt.“ Gestand Yvonne.
„Ihr hättet euch gut verstanden, da bin ich mir sicher.“
„Womöglich treffe ich ihn ja bald!“ Entfuhr es Yvonne. Elena erschrak angesichts dieser Aussage, vermied es aber darauf einzugehen.
„Wenn dir kalt ist gehen wir lieber wieder rein!“ Bot Elena an.
„Nein, ich möchte noch eine Weile im Freien verbringen. Es ist so schön hier. Es gibt noch so vieles zu entdecken. Glaubst du das ich nach und nach alles mit eigenen Augen zu Gesicht bekomme?“
„Natürlich! Weißt du, da kommt mir plötzlich eine ganz tolle Idee. Was hältst du davon wenn wir uns mal für ein paar Tage im Waldhaus aufhalten. Gehört hast du doch schon davon.“ Schlug Elena vor.
„Das Waldhaus, du erzähltest davon. Und du bist dir sicher, dass es dir keine so großen Umstände macht?“
„Absolut sicher! Es wird möglich. Es gibt auch noch die anderen, die helfen können. Aber den Großteil schaffe ich. Genau dort möchte ich mit dir hin!“
„Das wäre großartig! Das würde mir viel bedeuten. Dort ganz allein mit dir zu sein. So etwas wäre mir früher nie in den Sinn gekommen. Das wäre schön!“ begeisterte sich Yvonne.
Wie ein kleines Kind freute sich Yvonne in den folgenden Tagen auf den Ausflug mit Elena in die Geborgenheit der unberührten Natur.
Doch es sollte nicht mehr dazu kommen.
Wie aus heiterem Himmel verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand rapide.
Es fing mit einer harmlosen Erkältung an. Dann bekam Yvonne plötzlich extrem hohes Fieber. Von Stunde zu Stunde nahmen ihre Kräfte weiter ab.
Niemand hatte eine Erklärung dafür, es schien absolut unlogisch, nachdem sie in der letzten Zeit soviel Leben getankt hatte. Ratlosigkeit und Verzweiflung griffen von Elena Besitz.
Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein.
Als es immer deutlicher bergab ging wich Elena nicht mehr von Yvonnes Seite.
Abschied nehmen? Nein, das konnte sie nicht. Voller Verzweiflung klammerte sie sich an die Vorstellung, dass der derzeitige Zustand nur vorübergehend sei und sich die Freundin nach wenigen Tagen wieder auf dem Weg der Besserung befand.
Vergeblich.
Die anderen Schwestern boten ihre Hilfe an, drängten Elena die Sterbebegleitung nicht allein zu übernehmen, doch die lies sich nicht beirren. Bis zum letzten Atemzug wollte sie bei der Freundin sein.
„Las mich nicht allein Elena. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem sterben. Ich möchte stark sein, aber ich fürchte ich schaffe es nicht.“ Sprach Yvonne mit leisem Ton, das Sprechen fiel ihr immer schwerer.
„Ich bin bei dir! Ich werde bei dir bleiben bis es wieder besser wird. Du wirst sehen ,bald können wir wieder nach draußen gehen und noch viel mehr von der wunderschönen Umgebung erkunden.“ Versuchte Elena ihr Mut zu machen, obgleich sie selber nicht mehr daran glaubte.
„Es gibt kein besser mehr Elena, wir müssen Abschied nehmen, du weißt es ebenso wie ich. Ich werden den Kampf verlieren.“ Erwiderte Yvonne.
Elena nickte nur wortlos und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Stark bleiben, jetzt nur nicht zusammenbrechen, war im Moment ihre größte Sorge.
„Danke Elena! Danke für alles! Die Zeit die ich bei euch verbringen durfte war die schönste meines Lebens. Ich bin so froh dass ich das noch erleben durfte. Ihr habt mir soviel Freude gemacht. Jede Stunde hier war ein Geschenk! Ich bin so dankbar dich noch kennen gelernt zu haben! Mach dir keine Vorwürfe! Du hast alles versucht. Ich muss mich damit abfinden.“
Nun konnte Elena nicht mehr, die Schleusen öffneten sich und die Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen.
„Ich lasse dich nicht allein, niemals. Ich werde bei dir sein.“ Meinte Elena mit verzerrter Stimme. Doch sie irrte sich in jener Hinsicht. Denn über diese bewusste Schwelle konnte sie die Freundin nicht begleiten. An jener Barriere würde sie loslassen müssen, dort endete ihre Fürsorge. Ab diesem Moment war Yvonne auf sich gestellt, so wie jeder andere Mensch der seinen Weg ins Schattenreich antritt.
Elena griff nach Yvonnes Händen und drückte diese fest, sie spürte kaum noch Gegendruck. Es schien als glaubte sie die Schwester damit festzuhalten, sie den Klauen des Todes zu entreißen. Umsonst. Schwächer immer schwächer wurde Yvonnes Atem.
„Ich möchte nicht sterben, ich möchte bei dir bleiben, bei euch allen, hier wo ich eine Heimat habe gefunden ….“ röchelte Yvonne nur noch ganz leise.
„Wo bin ich Elena? Wo sind wir?“
„Wir sind zuhause Yvonne. Du bist in deinem Heim dort wo du schon immer hingehörtest.
Es ist schönes Wetter, wir gehen durch den Park, an den Obstgärten vorbei, durch die Plantagen. Die Sonne scheint und wärmt dein Gesicht, du brauchst nicht mehr zu frieren.
Wir passieren die Forellenteiche, vor uns der Wald, sein sattes Grün tut deinen Augen gut.
Du atmest tief ein und aus, es fällt dir nicht schwer, alles geht so leicht von der Hand.
Jetzt um geben uns Bäume, undurchdringliches Dickicht. Geheimnisvoll, wir wissen nicht was uns im Herzen des Waldes erwartet. Eine neue Welt und ein neues Leben…“
Yvonnes Hände entglitten Elenas. Vorbei, ausgelitten. Yvonne hatte ihren Weg auf die andere Seite gefunden.
Elena warf sich auf die Decke und weinte wie ein kleines Mädchen.
„Wo bist du Yvonne? Wo kann ich dich finden? Nicht mehr da, einfach nicht mehr da und das soll alles sein?“
Von dort wo sich Yvonne jetzt befand gab es keine Rückmeldung, jedenfalls nicht in konventioneller Art. Kein Brief, keine email, kein Telefonat konnte sie erreichen. Abgeschnitten! Die Verbindungslinie ins Diesseits durchtrennt.
Wie ging es ihr jetzt dort? Hatte sie noch Schmerzen? Konnte sie wieder laufen? Hatte ihr Gesicht die Schönheit ihrer Jugend zurückbekommen? Oder wartete am Ende doch nur eine absolute Leere, das schwarze Loch, das Nichts? Fragen, Fragen und nochmals Fragen, doch die gingen ins Leere, niemand vermochte eine Antwort zu geben.
Aufgescheucht durch Elenas Gewimmer kamen Madleen, Colette und Kristin ins Zimmer, blickten auf Yvonnes leblosen Körper und erkannten was geschehen war.
Elena erhob sich mit vom weinen verquollenen Augen.
„Ich… ich … ich … kann das nicht! Ich … Ihr müsst euch um sie kümmern, ich lass euch mit ihr allein.“ Elena hastete voller Verzweiflung auf den Flur der Krankenstation, dann weiter hinaus an die frische Luft. Ein schöner Tag, die Sonne verzauberte mit ihren Strahlen die sie zur Erde herabsenkte. Elena bekam davon nichts mit. Alles schien sich im Kreis zu drehen.
Für Elena begann eine entsetzliche Zeit. Seit Leanders Tod hatte sie sich nicht mehr so elend, verlassen, hilflos und dem Schicksal gnadenlos ausgeliefert gefühlt. Doch damals erlitt sie einen Schock und glitt für Monate in eine geistige Umnachtung, somit bekam sie die erste Zeit so gut wie gar nichts mit. Später konnte sie ihre Trauer in kleinen Dosen verarbeiten.
Diesmal war es anders. Jetzt traf die Trauer sie mit voller Wucht und stürzte Elena in ein Trauertrauma . Was sie jetzt durchleben musste ist mit Worten nicht zu beschreiben. Nachvollziehen können das nur jene die sich schon einmal selbst in einer ähnlichen Situation befanden, die einen geliebten Menschen verloren und vor denen sich nur noch ein mörderischer Abgrund auftut, eine nie enden wollende quälende Leere.
Elena sah sich außer Stande die Trauerzeremonie zu leiten und bat statt dessen Colette diesen Dienst zu übernehmen. Sie war zeitweilig sogar versucht der Trauerfeier ganz fern zu bleiben. Doch es ging kein Weg daran vorbei. Sie kam nicht umhin sich dem zu stellen um der Schwester die letzte Ehre zu erweisen. Was konnte sie auch sonst noch für sie tun?
Wie eine alte gebrechliche Großmutter schleppte sich Elena in die Basilika, Schritt für Schritt die Bankreihen entlang auf den offenen Sarg zu. Ihr Blick fiel nun auf Yvonnes Gesicht, es wirkte so als ob diese friedlich schlafe. Die Aura eines tiefen Frieden senkte sich auf ihren Leib.
Vor Schreck hielt Elena die Hand vor dem Mund. Es begann in ihr zu würgen, der Klos im Hals drohte sie zu ersticken. Das sollte Yvonne sein? Eine leblose Hülle, ohne Persönlichkeit?
Elena kauerte sich auf eine Bank, den Blick weit nach unten gerichtet.
„Bitte, bitte, lass die Trauerfeier ganz schnell vergehen!“ Hörte sie eine innere Stimme in sich flehen.
Auch Colette musste mit den Tränen kämpfen während ihrer Zeremonie, unterstützt von Gabriela und Pater Liborius, leitet sie eine schöne rührende und würdevolle Trauerstunde.
Vor allem persönliches kam dabei zum Vorschein.
Das alles konnte Elena noch ertragen, dann aber wurde Yvonnes Lieblingslied eingespielt, >Nur Steine leben lang< des deutschen Liedermachers Hans Hartz, jetzt war es aus. Elena gelang es gerade noch die Steinzeremonie zu absolvieren. Jeder trug einen Erinnerungsstein nach vorn, legte diesen vor dem Sarg auf ein silbernes Tablett. Später würden die Steine auf Yvonnes Grab gelegt, ein Brauch den man aus der jüdischen Religion übernommen hatte.
Elena hatte keine Kraft mehr, sie flüchtet aus der Basilika. Draußen riss sie sich den Kragen ihrer Bluse auf, sie hatte das Gefühl zu ersticken. Nur ja nicht mit ansehen müssen wie die geliebte Schwester für immer mit Erde bedeckt wurde.
Elena eilte in ihre Wohnung, dort hatte sie alles bereitgelegt. Zog sich in Windeseile um, griff nach ihrem Rucksack und rannte über das Abteigelände dem Wald entgegen.
Jetzt nur noch allein sein. Im Waldhaus hoffte sie Frieden zu finden.
Schluchzen, Tränen, immer wieder Tränen, so ging es den gesamten Weg. Sie kam auch an dem Sandsteinmassiv vorbei, dort wo sie noch vor Zeiten mit Yvonne gesessen hatte und alles gut zu werden schien.
Sie stoppte.
Ein Schwall unbeschreiblicher Wut entlud sich. Elena rannte wie eine Besessene auf den Felsen zu.
„“Ich verfluche euch! Ich verfluche euch! Ich hasse euch! Warum habt ihr sie mir genommen? Mörder seid ihr! Feige Mörder! Was hat sie euch getan? Hokuspokus, alles Schwindel, es gibt keine überirdischen Mächte, ihr seid tot, Yvonne aber lebt. Sie wird in meinem Herzen ewig weiterleben euch aber verfluche ich.“
Elena griff nach Steinen die hier zahlreich auf dem Boden lagen und begann nach den Felsen zu werfen, einen nach dem anderen. Diese prallten daran ab, einige hinterließen Kratzer, einer wurde zurückgeschleudert und verfehlte nur ganz knapp Elenas Kopf.
Beim werfen des letzten Steines verlor Elena den Halt und stürzte nach vorne der Länge nach auf den Boden. Dabei schlug sie sich leicht den linken Ellenbogen auf.
Mit den Fäusten trommelte sie auf den Boden, dabei immer noch laut schluchzend.
„Ich verfluche euch! Ich verfluche euch!“
Nach einer Weile gelang es ihr sich zu erheben. Der Wutanfall hatte eine geringfügige Linderung zur Folge. Wie benommen setzte sie ihren Weg nun langsam und bedächtig fort.
„Zusammenreißen! Du musst dich zusammenreißen! Ruhig werden, alles mit Besonnenheit verarbeiten!“ Redetet sie zu sich selbst.
Endlich hatte sie das Waldhaus erreicht. Doch beim betreten wurde ihr bewusst, dass es doch kein so guter Einfall war, ausgerechnete hierher zu kommen.
Alles erinnerte an Yvonne, obgleich diese das Haus niemals betreten hatte. Gemeinsam wollte sie hier ein paar Tage verbringen, so der ursprüngliche Plan. Nun war die Freundin tot und sie wurde von einer unbeschreiblichen Leere heimgesucht.
Der Gang durch die Räume offenbarte ihr noch einmal auf brutale Weise wie einsam sie sich derzeit fühlte.
Sie ging wieder nach draußen und nahm auf einer Holzbank platz, senkte den Kopf und wieder begannen die Tränen zu fließen. Es schien als würden aus der Ferne die Klänge von W:A. Mozarts Requiem an ihre Ohren dringen.
Nach einer Weile spürte sie wie ihr jemand die Hand auf die rechte Schulter drückte.
„Ich habe euch doch gesagt dass ich den Tag für mich brauche. Kann ich denn nicht einmal für ein paar Stunden allein mit meinem Schmerze sein, Colette?“
Elena wandte den Blick nach hinten und zuckte zusammen.
„Du?“
Anarchaphilias Augen blickten voller Mitleid auf die Verzweifelte.
„Warum habe ich dich für Colette gehalten? Jetzt erst bemerke ich wie ähnlich ihr euch seht. Warum ist mir das nicht schon viel früher aufgegangen?“
„Du hast nach mir gerufen, ich bin zur Stelle. Du hast mich verflucht. Sicher hattest du deine Gründe. Auch wenn es ungerecht ist.“ Antwortete die Erscheinung.
„Natürlich! Jetzt suchst du mich auf! Du kommst immer nur dann wenn alles zu Ende ist. Wenn man dich braucht bist du nie zur Stelle. Ihr Götter, oder was ihr auch zu sein vor gebt, haltet euch immer schön im Hintergrund wenn die Menschen leiden. Ihr seit Illusionen und nichts weiter.“
Die angesprochenen nahm zu Elenas Rechten Platz und legte zart ihren Arm um die noch immer weinende.
" So einfach ist das. Jetzt bist du da nimmst und die kleine Elena in die Arme, streichelst sie und alles ist in Butter. Das hast du dir gedacht. Gar nichts ist in Ordnung. Wo warst du, als Yvonne im sterben lag? Warum hast du nicht ihre Hände genommen? Warum gabst du ihr nicht die Kraft zum weiter leben? Du hast sie mir genommen, so wie Leander und Kovacs, Miriam und noch viele andere. Es macht dir Spaß mir immer gerade jene zu nehmen die meinem Herzen am nächsten stehen.“
Elena entwand sich mit einem Ruck der Umarmung.
„Du bist von tiefem Schmerz durchdrungen. Das erklärt deinen Zorn. Er ist nur all zu verständlich…“
„Spar dir deine Worte, ich will nichts mehr hören. Behandele mich nicht so herablassend wie ein kleines Kind!“ Fiel Elena ihr ins Wort.
Es folgte Schweigen, langes Schweigen. Anarchaphilia drängte nicht weiter mit Worten, die nur zerstören, wo sie nicht hingehören. Es war an Elena den Faden wieder aufzuheben.
„Nein, du bist nicht wirklich. Du kannst nicht wirklich sein. Illusion, reine Wunschvorstellung, denn gäbe es dich wäre die Anklage gegen dich und deinesgleichen, sollte es noch mehr von eurer Sorte geben, gigantisch. Das ist es: Gott ist es der sich vor einem Weltgericht verantworten müsste, für all das Leid. Für all die Verkrüppelten, die Entstellten, die krebskranken Kinder, die nie eine Chance im Leben bekommen werden. Für all die verhungerten, ermordeten, zu Tode gequälten. Für all die Opfer von Kriegen und Ungerechtigkeiten die es seit der Entstehung dieser Welt gegeben hat.
Ich war schon fast so weit dir zu vertrauen, wenn auch noch immer Zweifel in mir nagte.
Mit Yvonnes Tod hast du alles zunichte gemacht.“
Durchbrach Elena mit diesem ungeheuerlichen Vorwurf die Stille.
„Ich weiß nicht was ich darauf sagen soll, Elena. Du wirst mir doch nur wieder das Wort verbieten, wenn ich den Versuch einer Erklärung wage. Nichts geschieht ohne Sinn in dieser Welt. Es gibt keine Zufälle, nur Zusammenhänge. Ich weiß nicht ob das ein Trost für dich ist. Mit Sicherheit nicht in diesem Moment. Aber nach einer bestimmten Zeit wirst du imstande sein zu begreifen, was heute ganz und gar keinen Sinn zu machen scheint.“
Sprach Anarchaphilia mit sanfter Stimme.
„Sinn? Welchen Sinn sollte denn Yvonnes Tod haben, zu dieser Zeit. Jetzt belehrte mich bloß nicht mit solchen Sprüchen etwa von jener Art etwa, dass wir alle einmal sterben müssen, als ob ich da nicht selber darauf käme. Natürlich müssen wir alle einmal sterben, aber doch nicht so.“
„Doch Elena, wenn es danach geht, wäre jeder Tod sinnlos.“
„Willst du mich zur Närrin machen?“ Schimpfte Elena. „Es macht doch wohl einen Unterschied ob ein Mensch nach einem langen, erfüllten Leben mit 90 Jahren friedlich entschläft, oder ob ein junger Mensch brutal aus dem Leben gerissen wird. Und was Yvonne betrifft. Was hatte sie denn von ihrem Leben? Ein fürchterlicher Unfall der all ihre Zukunftsperspektiven zunichte machte, gefolgt von einem Leben in Schmerzen und Isolation, ohne Aussicht auf Besserung. Endlich schafft sie es, kommt hierher, erfährt zum aller ersten Mal Liebe und Zuwendung, Anerkennung und Freude. In ihr keimt Hoffnung auf, sie fasst Vertrauen in das Leben und beginnt sich mühsam aufzurichten. Und dann? Du lässt sie einfach sterben. So, jetzt bist du an der Reihe. Bitte! Klär mich auf! Ich bin ganz Ohr!“
„Ich will es gerne versuchen, auch auf die Gefahr hin dass du mir dabei an die Gurgel gehst.
Man nennt es Ausgleich. Die Balance dafür das es Leute gibt die mit einem erfüllten und zufriedenen Leben gesegnet sind. Gäbe es die Unglücklichen nicht, wären sich die Glücklichen ihres Glückes kaum bewusst. Diese Einsicht stammt nicht von mir. Du selbst hast sie gefunden. Erinnerst du dich? Es ist noch nicht lange her! Du hast es Yvonne gegenüber geäußert und ihr gestanden, dass du tiefe Scham dafür empfindest.“
„Aufhören!“ Elena hielt sich die Ohren zu und schoss in die Höhe.
„Darauf habe ich gewartet! Ich bin Schuld, natürlich. Ich habe Yvonne auf dem Gewissen.
Was bist du, wer bist du? Wer gibt dir das Recht so ein grausames Urteil über einen trauernden Menschen zu fällen?“
„Es war nie meine Absicht ein Urteil über dich zu fällen. Ich mache dich auch keineswegs für Yvonnes Tod verantwortlich. Es ist erstaunlich dass du mir so etwas zutraust.
Ich möchte dir einen Rat geben. Sprich dich mit Menschen aus, teile in den nun kommenden Tagen der Trauer deinen Schmerz. Vielleicht gelingt es dir dann auch den Sinn zu erfassen.
Da wäre zum Beispiel Pater Liborius. Er repräsentiert eine Religion deren Lehre darin besteht, dass ein Gott seinen eigenen Sohn leiden und sterben lässt um die Menschheit mit sich zu versöhnen. Jesus wird zu Opfer dass die Menschen freikauft.“
„Das ist doch Unsinn! Ich habe nie daran geglaubt und Pater Liborius im Übrigen auch nicht, deshalb ist er ja mit seiner Kirche in Konflikt geraten. Jesus selbst würde so etwas von sich weisen. Er predigte einen liebenden Gott, einen der verzeihen kann, auch ohne blutige Opferrituale. Den brutalen Schlächtergott haben andere erfunden, leider beriefen sie sich dabei auf Jesus. Was hätte denn dieses Opfer für einen Sinn? Ist die Welt dadurch besser geworden seit jener Zeit vor 2000 Jahren als das Kreuz auf Golgatha aufgerichtet wurde? Nein! Eher noch schlechter von Jahrhundert zu Jahrhundert. Sinnlos wie der Tod Jesu am Kreuz ist nun jener von Yvonne. So wenig wie Jesus für andere starb, ist Yvonne für mich gestorben.“ Wies Elena Anarchaphilias Deutungsversuch empört zurück.
„Du hast mich missverstanden Elena. Ich will dir zugute halten, dass dein Schmerz dich blind für ein klares Urteilsvermögen macht. Wo möglich habe ich mich auch missverständlich ausgedrückt, auch das soll vorkommen. Betrachten wir es von einer anderen Seite. Klartext!
Du spieltest mit dem Gedanken alles aufzugeben um dich nur noch Yvonne zu widmen. So ist doch? Oder habe ich dich falsch interpretiert?“
„Nein! Das ist korrekt! Ich wollte mich vorübergehend zurückziehen. Na und?“ Bestätigte Elena die Richtigkeit der Aussage.
„Ein lobenswerter Vorsatz, auf den ersten Blick zunächst. Doch hast du die Folgen berücksichtigt, die dein Handeln unter Umständen heraufbeschworen hätte? Dir ist bewusst wie wichtig deine Person für die ganze Gemeinschaft ist. Du kannst dich nicht einfach zurücknehmen! Du wirst hier gebraucht, zumindest noch für eine bestimmte Zeit. Im Moment kann dich niemand ersetzen.“
„Na jetzt hört doch alles auf! Dein Name ist Anarchaphilia, das heißt, Liebe die Herrschaftslosigkeit. Du predigst uns beständig dass wir uns nicht so wichtig nehmen sollen, dass wir Hierarchien abbauen oder gar nicht erst auf kommen lassen. Das im Grunde jeder und jede ersetzbar sei. Und jetzt höre ich solche Worte aus deinem Munde. Weißt du überhaupt was du willst? Ich glaube nicht. Ich bin entbehrlich. Ich bin nur ein Mensch wie jeder andere auch. Es gibt in der Abtei eine Menge Leute die mich ersetzen können. Colette, Madleen und Gabriela könnten an meiner Stelle die Geschäfte führen, die haben allemal das Zeug dazu, auch Männer wie Ronald oder Ansgar zeichnen sich durch hervorragende Führungsqualitäten aus. Sie wären imstande ohne mich auszukommen oder sie hätten es eben lernen müssen.“ Widersprach Elena energisch.
Die Diskussion drohte abzustürzen. Beider Argumente entbehrten der Logik nicht. Elena konnte sich bedenkenlos auf die Grundsätze berufen. Ziel der gesamten Kommune war noch immer eine von Hierarchien befreite Gesellschaft. Eine dominierende Person wie sie es nun einmal war, musste sich demzufolge selbst zurücknehmen wollte sie nicht riskieren dass sich die Entwicklung in ihr Gegenteil verkehrte. Anarchaphilia hingegen erkannte nur zu genau dass damit verbundenen Risiko. Elena war einfach zu wichtig. Ihr Rückzug konnte nur ganz langsam und bedächtig erfolgen, quasi per Zeitlupe.
„Elena du bist von Beginn deines Lebens an für diese Aufgabe hier bestimmt. Entschuldige wenn ich jetzt ins pathetische abrutsche, dass ist ansonsten gar nicht meine Art, aber auf eine andere Weise komme ich bei dir nicht weiter. Du bist Pionierin in jeder Hinsicht. Von dir wird der Anstoß zur Schaffung einer gewaltfreien herrschaftslosen Gesellschaft ausgehen. Ein Gemeinwesen dass es versteht in vollständiger Harmonie mit der Natur zu Leben um so ein ökologisches Gleichgewicht wieder herzustellen, so wie es in den Urzeiten der Menschheit einmal funktionierte.“
„Ich verstehe überhaupt nicht was dass mit Yvonnes Tod zu tun haben soll?“ Empörte sich Elena erneut.
„Hättest du dich Yvonne mit ganzer Kraft gewidmet, wäre es dir unmöglich gewesen deine Aufgabe zu erfüllen. Es klingt hart, ich weiß. Aber die Wahrheit ist nun mal des Öfteren brutal. Nun bist du wieder frei deiner Bestimmung nachzukommen. Eine wichtige Lektion, die dir zuteil wurde.“
Elena nahm wieder Platz auf der Holzbank, hielt aber bewusst Distanz zu der Erscheinung an ihrer Seite.
„Zugegeben, es klingt plausibel, für dich, für deinesgleichen. Akzeptieren kann ich es deshalb noch lange nicht. Ahhh, da fällt mir ein, so etwas Ähnliches hast du mir schon einmal gesagt.“
Elena schlug sich mit der Handfläche auf die Stirn.
„Ich erinnere mich, da ging es um Leanders Tod. Du faseltest so ein Zeug von Bestimmung und das sein Tod unausweichlich wäre. Auch damals habe ich dagegen protestiert.“
„Und inzwischen hast du deinen Frieden damit gemacht! Ist es denn nicht so Elena?“
Nun hatte Anarchaphilia den Kern der Sache freigelegt.
Elena schwieg verwirrt.
„Ist es denn nicht so Elena?“
„Ja es ist so! Aber nur weil ich mich nicht von der Trauer zerfressen lassen wollte.“
„Ebenso wird dir das mit Yvonne gelingen, später, wenn Gras über die Sache gewachsen ist.
Jetzt trauere um deine liebe Freundin und Schwestern du hast ein Recht darauf. Es steht dir zu, dich fallen zu lassen, dich dem Schmerz hinzugeben. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt musst du ins Leben zurückkehren.“
„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig!“
„Jetzt gefällst du mir schon bedeutend besser. All, das was du gesagt hast. all die bösen Anklagen, deine Flüche usw. Vergessen! Schwamm drüber! Dein tiefes Leid gab dir das Recht dazu. Und? Versöhnung!“
Anarchaphilia streckte Elena die Hand entgegen, zaghaft griff diese danach.
„Versöhnung!“ Bestätigte Elena. „Doch trotzdem bleiben viele Fragen offen. Was meine spezielle Situation betrifft, magst es so sein. Aber allgemein? Warum müssen Menschen sterben, warum die einen früher die anderen später. Warum die einen nach einem glücklichen Leben die anderen nach einem leidvollen? Was ist dafür verantwortlich? Reiner Zufall? Karma? Ein oberster Richter? Wie ergibt sich die Reihenfolge? Nach welchen Kriterien wird hier verfahren?“
Anarchaphilia senke ihren Kopf. Elenas Fragen brachten sie in große Verlegenheit. Allen Anschein gibt es Fragen, auf die selbst die Götter keine Antwort wissen.
Nach einer Weile erhob sich Elena, sie fühlte sich benommen, müde und abgespannt. Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange hatte sie hier gesessen? Yvonne, immer wieder Yvonne. Wo bist du jetzt meine Liebe? Geht es dir gut, dort drüben, wo immer es auch sein mag? Wie weit bist du schon vorangekommen, auf deinem Weg in die Unendlichkeit?
Elena blickte auf ihre Armbanduhr. Genau sechzig Stunden waren seit Yvonnes Ableben vergangen, zweieinhalb Tage. Solange war sie weg. Wann kommst du zurück? Aber nein Yvonne war tot, sie konnte nicht wiederkommen? Nie mehr!
Elena schüttelte sich, es lief ihr eiskalt über den Rücken. So präsentieren sie sich, die Gedanken der Trauernden, der Hinterbliebenen, der vergeblich wartenden.
Es gibt Leute die greifen zum Telefon und wählen die Nummer des Verstorbenen, doch der meldet sich nicht, er kann sich nicht melden. Andere schreiben Briefe, lange Briefe, sie werden den Empfänger nie erreichen.
Elena ging in die Hütte zurück. Stille, keiner sprach. Ihr Blick zur Uhr an der Wand signalisierte ihr das schon wieder 5 min vergangen waren seid ihrer letzten Zeitermittlung.
Du brauchst nicht auf die Uhr zu sehen Elena, Yvonne kommt nicht mehr zurück.
Zumindest hatte sich Elena beruhigt. Es folgte ein weiterer Spaziergang. Danach kramte sie in den Papieren die sie mitgenommen hatte. Sinnlos, sie war nicht imstande sich darauf zu konzentrieren. Auch das Buch dass sie zu lesen gedachte legte sie aus den Händen, nachdem sie mühevoll zwei Seiten geschafft hatte.
„Yvonne wo bist du? Es ist Abend, der Tag hat sich geneigt. Du fürchtest dich im Dunkel, hast du mir gesagt. Ist dir kalt? Soll ich dir die Decke überlegen. Aber nein, Tote frieren nicht! Woher wissen die Leute das? Hat man je einen Toten gefragt ob er tatsächlich keine Kälte spürt? Zum Glück haben wir Frühling, da ist der Boden wenigstens nicht gefroren.
So viel Erde haben sie auf deinem Körper ausgebreitet, bekommst du noch genügend Luft, erdrückt dich diese nicht? Aber was redest du Elena, Tote brauchen nicht mehr zu atmen.
Yvonne spürt die Erde auf ihren Körper nicht.“
Elena erhob sich von der Couch. Mehrmals lief sie durch das Zimmer.
Es war inzwischen später Abend, Zeit zum schlafen gehen. Doch kaum hatte sie sich hingelegt, überkam sie der nächste Weinkrampf, es wollte noch mal raus. In der Nacht schlägt das Trauertrauma besonders erbarmungslos zu.
Endlich schlief sie ein und träumte von Yvonne, von wem auch sonst. Eigenartig im Traum konnte Yvonne plötzlich laufen, sie erhob sich einfach aus dem Rollstuhl und kam auf Elena zu, landete sicher in deren Armen. Alles gut Yvonne, du wirst sehen, jetzt wird alles besser, ein neues Leben wartet auf dich. Aber Elena du phantasierst, Yvonne ist doch tot, kein neues Leben, nur der kalte Tod.
Schweißgebadet erwachte Elena, früher Morgen.
„Yvonne?“ Keine Antwort!
„Aber ich habe doch eben mit dir gesprochen?“ Ein Traum, Elena!
Nur im Traum wirst du deiner Freundin in Zukunft noch begegnen können..
Es sticht entsetzlich in der Herzgegend. Ach. Wären doch die Träume real.
Der Blick auf den Wecker neben dem Bett. Drei Tage, schon drei Tage bist du fort. Wie soll ich es nur ohne dich aushalten? Was wird sein, wenn daraus drei Wochen werden, drei Monate, drei Jahre? Wie werde ich mich dann fühlen. Habe ich dich vergessen, oder denke ich noch ab und zu an dich? Was für eine Frage, ich werde dich nie vergessen, niemals. Ich schwöre es dir Yvonne. Die wirklich Toten sind jene an die sich niemand mehr erinnert. Jeden Tag werde ich deiner gedenken, schon deshalb bist du niemals wirklich tot, meine liebe Kleine.
Elena erhob sich, mühevoll schleppte sie sich ins Badezimmer. Ein neuer Tag mit schönem Frühlingswetter. Dankbar nahm Elena das zur Kenntnis, nicht auszudenken wenn jetzt kühles Regenwetter auf sie wartete
Es klopfte an der Tür, Elena schreckte zusammen.
„Yvonne? Bist du es?“ Ja sie kommt zurück. Alles nur ein böser Traum, meine Liebe hat sie aus ihrem dunklen Grab befreit. Nein Elena auch deine Liebe kann sie dir nicht wieder bringen.
Da klopfte es noch einmal.
Zaghaft öffnete Elena die Tür. Es war nicht Yvonne, dort wartete nur Lukas und drückte ihr eine Papiertüte in die Hand.
„Einen lieben Gruss von Madleen, Sesambrötchen ofenfrisch aus der Klosterbäckerei. Ich soll in Erfahrung bringen wie es dir geht Elena und ob du etwas brauchst. Wenn ja, kein Problem, Lukas besorgt alles.“
„Danke dir! Es geht, es geht so leidlich. Madleen braucht sich keine Gedanken machen, es wird schon wieder.“
Doch die verquollenen Augen sprechen eine andere Sprache, offenbarten Lukas, dass es eben nicht zum Besten stand.
„Ich werde es ihr ausrichten. Aber wie gesagt, wenn du Hilfe brauchst, einfach meine Nummer wählen. Oder eine andere, wir sind alle für dich da.“
„Danke! Aber das ist nicht nötig!“
Elena schloss die Tür.
„Sieh mal Yvonne frische Sesambrötchen, die mögen wir beide. Gleich koche ich Kaffee und werde uns das Frühstück in der Küche bereiten.“
Elena, Yvonne wird nicht mir dir frühstücken, sie bedarf keiner Nahrung mehr, niemals wieder. Du wirst die Brötchen ganz alleine essen.
Elena ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder. In ihrem Hals begann es wieder zu würden.
Sie wollte die kranke Yvonne hier in dieser Hütte nach Strich und Faden verwöhnen.
Dazu würde es nun nicht mehr kommen. Alles vorbei, alles aus. Statt dessen saß sie alleine hier und die Leere in ihrem Herzen begann sie zu erdrücken.
Da plötzlich wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass es gar nicht ausschließlich um Yvonne ging. Nein, auch die anderen Verstorbenen, die Unersetzlichen meldeten sich in ihr Bewusstsein zurück. Leander, dessen Tod sie nie wirklich verarbeitet hatte, erschien vor ihr, der Mann den sie einst so liebte und dem sie ihre Tochter verdankte. Kovacs, ihr Freund der wie ein großer Bruder zu ihr stand und nicht zu letzt ihre Mutter, die starb als Elena noch ein kleines Mädchen war. Jetzt kam alles wieder hoch,
Yvonne war der Auslöser.
„Tod, alle sind sie tot. Alle hat man mir genommen. Wären wir doch wie Steine, dann könnten wir ewig miteinander leben und bräuchten keinen Tod zu fürchten“
Elena erhob sich, doch sie begann zu taumeln und landete wieder unsanft auf dem Stuhl, sich dabei an der Tischplatte festkrallend.
„Jetzt nur nicht verrückt werden! Ich muss da durch. Ich darf mich nicht so gehen lassen.
Ich bin stark, ich schaffe das.“
Elena versuchte sich zu konzentrieren, atmete mehrmals tief durch. Ihr Herz klopfte und ihr Puls raste. Auf irgendeine Art und Weise musste sie es fertig bringen das Trauertrauma zu bezwingen. Kein Mensch würde einen Nutzen daraus ziehen, wenn sie ihren psychischen Absturz zuließ. Weder die Lebenden noch die Toten.
Doch es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung um dorthin zu gelangen. Langsam, nur ganz langsam spürte sie, wie sich die Entspannung einstellte.
Ablenkung, sie brauchte Ablenkung. So viel als möglich wollte sie den noch jungen Tag im Freien verbringen.
Tagsüber ging es schon ganz gut. Aber die Nächte, voller Furcht legte sie sich nieder, jetzt Yvonne im Traum zu begegnen, zerriss ihr einfach nur das Herz.
Nachdem sich Elena drei Tage und Nächte dem Schmerz hingegeben hatte, kehrte sich in die Abtei zurück.
Langsam schritt sie den langen Kreuzgang entlang, vorbei an jenen, die sich dort gerade eingefunden hatten, schloss die Tür zu ihrem Büro auf und verschwand dahinter.
Madleen die sich mit den anderen im Flur aufhielt folgte ihr. Zaghaft öffnete sie die Tür.
„Alles in Ordnung Elena? Wie fühlst du dich mein Liebes?“
„Hallo Madleen! Wie ich mich fühle? Hm, es geht wieder. Mach dir keine Gedanken. Es wird schon wieder. Das Leben geht weiter. Immer weiter, weiter vorwärts gehen. Es muss weitergehen, denn sonst wäre alles was wir tun umsonst.“
Elena ließ sich auf den mit schwarzen Leder bezogenen Drehstuhl nieder.
„Ist viel Post gekommen?“
„Ja das übliche Quantum eben. Ein ganzer Wäschekorb seit vorgestern. Dazu eine Unmenge an Emails. Ich habe schon mal mit dem sortieren begonnen. Aber du musst doch nicht arbeiten heute. Ruh dich aus! Überlass es uns! Wenn es wieder besser geht, kommst du einfach wieder hinzu!“ schlug Madleen vor.
„Nein! Ich muss etwas tun! Ich brauche dringend Ablenkung! Auf keinen Fall müßig gehen, dann kehren die Depressionen zurück. Wenn es auch schwer fällt. Ich muss mich beschäftigen. Eine Unmenge an Briefen und Emails sichten und beantworten, genau das Richtige, trockene Verwaltungsarbeit ist die beste Medizin!“
„War es so schlimm?“
Elena nickte nur.
Madleen trat auf ihre Gefährtin zu legte ihren Arm um deren Schulter, drückte sie fest an sich, dann begann sie sanft durch Elenas kupferrote Locken zu streichen.
„Danke dir Madleen! Du weißt immer worauf es ankommt, im rechten Moment. Halt mich fest, ganz fest!“
Und wieder bahnten die Tränen sich ihren Weg über Elenas Wangen.
„Ganz ruhig Elena! Alles wird gut!“
„Weißt du, es ist einfach alles wieder hochgekommen. All die Menschen die gegangen sind und die mir so ans Herz gewachsen, kehrten in der Erinnerung zurück. Ich glaubte damit fertig zu sein. Wähnte mich am Ende der Trauer, aber das war ein Irrtum. Nichts habe ich verarbeitet. Meine Mutter, Leander, Kovacs und jetzt Yvonne. Es ist so furchtbar einen Menschen zu verlieren den man gerne hat.“ Berichtete Elena mit weinerlicher Stimme.
„Ja, das ist es! Ich kann dich gut verstehen! Ich bin für dich da. Du musst dich nicht alleine damit quälen. Komm zu mir, zu Colette und allen die dir am nächsten stehen, wir versuchen dir Trost zu spenden.“
Flüsterte Madleen ihr leise in das Ohr.
„Es ist nicht vorbei! Niemals!Das Leid kehrt beständig wieder. Das Leben ist nichts weiter als ein immer Währendes Abschied nehmen. Wenn ich daran denke, wird mir Angst und Bange.
Ich liebe dich so sehr und ich bin von lauter Menschen umgeben die ich unendlich gern habe.
Aber irgendwann heißt es für immer Lebewohl sagen, wieder Verlust, Trauer, nicht enden wollendes Leid. Dann wünsche ich mir nur dass ich einmal als erste gehe, damit ich nicht deinen Tod beweinen muss oder den eines anderen lieben Menschen.
Denn den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen, die man lieb hat, muss man leben und das ist furchtbar.“
**********
Text vom Lied „ Nur Steine leben lang“ von Hans Hartz (1943-2002) aus dem Jahre 1983
Immer wenn ich hoch zum Himmel seh`
Frag ich soll das alles sein?
Das bisschen Zeit hier zwischen Sonne und Schnee
Zwischen Wasser und Wein
Und denk ich an dich, dann wär`ich gern ein Stein
Nur Steine leben lang
Sie kennen keine Zeit und keinen Zwang
Das bisschen Wasser das sie kleiner macht
Ist wie ein Streichholz in der Nacht
Und wär`n wir wie ein Stein
Dann könnt`ich hundertmal und mehr mit dir zusammen sein
Oh wär`n wir wie ein Stein
Immer wenn ich in die Sonne seh`
Dann fühl ich mich unendlich klein
Wenn sie noch brennt, bin ich schon lange nicht mehr da
Und das soll alles sein?
Und seh ich dich an dann wär`ich gern ein Stein
`Nur Steine leben lang
Sie kennen keine Zeit und keinen Zwang
Das bisschen Wasser das sie kleiner macht,
ist wie ein Streichholz in der Nacht
Und wär`n wir wie ein Stein
Dann könnt`ich hundertmal und mehr mit dir zusammen sein
Oh, wär`n wir wie ein Stein
Und was uns bleibt ist immer vorwärts geh`n
Nur immer weiter, weiter, niemals steh`n
Und ab und zu mal in den Himmel seh`n
Und doch nichts versteh`n
Nur Steine leben lang,
sie kennen keine Zeit und keinen Zwang
das bisschen Wasser das sie kleiner macht,
ist wie ein Streichholz in der Nacht.
Und wär`wir wie ein Stein
Dann könnt ich hundertmal und mehr mit dir zusammen sein
Oh, wär`n wir wie ein Stein