Schicksalhafte Begegnung

 

Die erste Nacht in der ungewohnten Umgebung erwies sich für die verwöhnte Quotenprinzessin als wahre Tortur. Der ersehnte Nachtschlaf wollte und wollte sich nicht einfinden. Unruhig wälzte sich Elena von einer Seite auf die andere.

Zuhause hatte sich alles bis ins Detail ihren Bedürfnissen angepasst, hier funktionierte einfach gar nichts.

Das Bett erschien ihr viel zu hart und ihr Kopf lag zu flach. In tiefer Sehnsucht verzehrte sich Elena nach ihrem komfortablen Wasserbett. Zudem wurde das Zimmer von einer stickigen Wärme durchdrungen, das Öffnen des kleinen Fensters verschaffte wenig Linderung denn  draußen schien es ebenso warm wie drinnen, zudem drangen allerlei Geräusche an ihre Ohren.

Doch viel schlimmer waren die Selbstzweifel.  Wie konnte sie nur auf diese abstrusen Vorschläge des alten Cornelius eingehen und seinen Ansinnen nachgeben?

Am liebsten würde sie sich pausenlos ohrfeigen.

In aller Herrgottsfrühe würde sie ihre Siebensachen packen und heimlich das Weite suchen, noch bevor ihr einer dieser Proleten über den Weg lief.

Doch schnell verwarf sie diesen Gedanken, denn das könnte man ihr nur all zu leicht als Schwäche auslegen. Keine gute Reklame wenn das publik würde. Ihre höhere Stellung gebot nun einmal, dass sie auf ihren Ruf zu achten hatte. Ein schlechtes Image konnte sie sich in ihrer Branche auf keinen Fall leisten.

Nein, eine Weile musste sie schon durchhalten. Eine Woche? Genau! Aber nicht einen Tag länger.

Danach würde sie terminliche Gründe ins Feld führen. Es war ja niemand im Stande  ihr das Gegenteil zu beweisen. Eine Woche war für eine gründliche Recherche mehr als genug.

Schließlich galt sie als Ausnahmetalent.

Und überhaupt! Was sollten diese überflüssigen Gedanken? War sie doch diesen Hinterwäldlern gegenüber keine Rechenschaft schuldig.

Einzig der Dichter Kovacs weckte ihr Interesse. Eine bemerkenswerte Gestalt!

Zielstrebig würde sie auf ihn zugehen und seine Nähe suchen.

Mit den anderen Figuren hier hatte sie nichts am Hut.

Als das Morgengrauen damit begann, zögerlich die Schatten der Nacht zu verdrängen, fiel sie in einen leichten Schlaf.

Doch lange währte die Ruhe nicht. Das geschäftige Treiben auf dem Hof ließ sie endgültig resignieren.

Elena suchte eine Erklärung dafür, warum Leute, die keiner regulären Erwerbsarbeit nachgingen, schon so früh auf den Beinen waren. Die offizielle Propaganda bezichtigte doch die Paria stets und ständig der Faulheit und des Parasitentums. Auch sie glaubte der Propaganda, dass diese Leute den ganzen Tag auf der faulen Haut lägen und sich apathisch irgendeiner Zerstreuung hingaben. Zur Kreativität unfähig lautete das vernichtende Urteil. Sie selbst hatte das in unzähligen Sendungen gebetsmühlenartig heruntergerasselt.

Lustlos schwang Elena ihre Beine aus dem Bett und stampfte in das Badezimmer nebenan.

Verdrossen blickte sie in den Spiegel, es würde schon eine gehörige Portion Make-up benötigen, um die Trauerränder unter ihren Augen verschwinden zu lassen.

Sie wollte so fit wie nur irgend möglich erscheinen.

Fünf Minuten benötigte der Wasserhahn bis er endlich warmes Wasser spendete, nicht viel anders erging es ihr unter der Dusche.

Der Tag fing ja gut an. Glänzende Aussichten. Eine ganze Woche hier? Eine einzige Strafe.  Einen Monat? Der alte Cornelius hatte ja nicht alle Tassen im Schrank.

Nachdem sie sich angekleidet hatte, schritt sie zum Fenster und öffnete es. Ihr Blick fiel auf den Innenhof.

Da wurde eine Reihe von Ständen aufgerichtet. Elena schloss daraus, dass es hier in Kürze einen Markt geben würde. Ein Flohmarkt offenbar auf dem irgendwelcher Krimskrams verschachert würde.

Sonderbar! Bisher vertrat sie die Ansicht, Paria wären kaum im Stand, die einfachsten mathematischen Rechnungen zu begreifen und die sollten nun imstande sein, einen Markt zu organisieren. Allein das Wissen darum, wie ein Markt funktionierte, schien einer kleinen Sensation gleich.

Im Gemeinschaftsraum, der auch als Kantine fungierte, nahm sie ein kleines Frühstück ein.

Die Leute gaben sich ausgesprochen Mühe, ihren Wünschen zu entsprechen. Das musste sie ihnen zugestehen.

Von den Hauptakteuren, von denen sie hoffte, sie hier anzutreffen, ließ sich indes niemand blicken. Das dämpfte ihren zeitweiligen Optimismus deutlich.

Sichtlich gelangweilt schlenderte Elena über das Gelände, ließ sich auf der gleichen Bank nieder, auf der sie am Vorabend mit Kovacs diskutiert hatte, sah eine Weile dem Bunten Treiben auf dem Markt zu.

Kovacs Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Ihre Seele in Aufruhr. Sie war keineswegs einer Meinung mit ihm, doch sein entschiedenes Beharren auf seinen Prinzipien hatte einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen.

Aus seinen Worten sprach eine Herzlichkeit, die ihr in ihrem bisherigen Leben nie begegnet war.

Das Glück darf man nicht suchen. Es läuft einem über den Weg, aber immer in umgekehrter Richtung. Diesen Satz hatte sie sich besonders eingeprägt. Was in aller Welt wollte er damit zum Ausdruck bringen? Er sprach in Rätseln, die sich nur ausgesprochen schwer entschlüsseln ließen. Selbst ihr überragender Intellekt vermochte das nicht auf Anhieb.

Wo zum Teufel war der Ausnahmedichter zu finden? Elena verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, den Dialog fortzusetzen.

Sie hielt es auf ihrem Platz nicht mehr aus, es kam ihr so vor, als habe sie Hummeln im Hintern.

Sie musste etwas tun, sich beschäftigen, sich ablenken, aber was?

Eine Menge unerledigter Arbeit hatte sie sich mitgenommen, die ließ sich auch hier bearbeiten , doch fehlte ihr im Moment dafür die Geduld. 

Sie erblickte Kyra die über den Markt direkt auf sie zukommen.

Möglicherweise konnte die ihr  etwas über den Verbleib des merkwürdigen Dichters sagen.

„Guten Morgen, Elena! Na, schon ausgeschlafen?“ begrüßte Kyra sie mit ihrer schon vertrauten kessen Lippe.

„Nicht unbedingt! Aber ich lebe ja noch, das ist mehr als ich erwarten konnte.“

„Das ist in der Tat ein Wunder! Bist was bedeutend Besseres gewohnt, was?

Interessiert dich unser Markt hier? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du hier etwas für deinen gehobenen Bedarf finden wirst!“

„Nicht unbedingt! In meiner Welt gibt es auch Trödelmärkte. Wenn die sich natürlich deutlich von diesem hier unterscheiden mögen!“

„Echt? In deiner Welt gibt es Trödelmärkte?“ nahm Kyra mit Erstaunen zur Kenntnis.

„Warum nicht? Es gibt doch ständig etwas, das die Menschen auf irgend eine Art und Weise loswerden wollen, weil sie Platz für neue Dinge benötigen. Alles, was älter als ein Jahr ist. Von Kleidung angefangen, über Wohnungseinrichtungen bis hin zu Autos, all das wird zu einem Spottpreis an den Mann gebracht.“ klärte Elena auf.

Kyra traute ihren Ohren nicht.

„Wie bitte, älter als ein Jahr ? Das bezeichnest du als Trödel?“

„Sicher! Man kann doch von einem Menschen unmöglich erwarten, dass er über ein Jahr das gleiche Auto fährt. Sollen die Menschen nicht nach einem Jahr das Recht haben, eine neue Wohnungseinrichtung zu bekommen? Von Kleidung ganz zu schweigen.“

„Ich glaub es nicht! Die meint das im Ernst! Sieh hier, die alte Lederjacke hier, die ist mit Sicherheit zwanzig Jahre alt

Ich weiß es nicht genau. Die habe ich mal geschenkt bekommen, ist schon ne  Weile her.“ erwiderte Kyra und wies auf ihre alte abgewetzte Jacke.

„Kann ich mir vorstellen, genauso sieht sie auch aus. Allein bei dem Gedanken, abgetragene Klamotten zu tragen, beginnt es am ganzen Körper zu kribbeln.

Sag mir lieber, wo ich den Dichter Kovacs finde! Hält der sich hier in der Nähe auf?“ Forderte Elena!

„Das glaube ich nicht! Der wohnt ja nicht hier!“

„Ach, ich dachte er sei Teil dieser merkwürdigen Gemeinschaft?“ wunderte sich Elena.

„Für gewöhnlich findest du ihn in seiner Gartenlaube. Er kommt nur hin und wieder zu besonderen Anlässen hierher.“

„Und wo finde ich diese Gartenlaube?“

„Hm, muss so etwa fünf bis sechs Kilometer von hier entfernt sein, schätze ich“ grübelte Kyra. „Die genaue Entfernung kenne ich nicht, bin ja auch recht selten dort. Was sollte ich auch da?“

„Das glaube ich gern! Kannst du mir denn nicht beschreiben, wie ich dorthin komme?“

In Elena breitete sich langsam Unbehagen aus.

„Schwierig, schwierig! Hauptsächlich Feldwege, es geht durch Getreidefelder. Mit dem Auto würde ich da nicht hin fahren, da ruinierst du dir den Boden. Sturzacker.

Du kannst laufen oder besser noch mit dem Rad fahren. Kannst dir eins ausleihen, gibt hier genug davon. Die holen wir aus dem Schrott und bauen sie neu zusammen.“

„Klar, gibt es eigentlich etwas, das ihr nicht aus dem Schrott holt? Ist ja ganz interessant, aber deshalb weiß ich noch immer nicht, wo ich Kovacs finde.“

„Wegbeschreibung, hm, schwierig, schwierig.“ wiederholte sich Kyra. „Ich kann dich aber dorthin führen, wenn du magst. Wir nehmen uns zwei Räder und fahren gemeinsam.“

„Das wäre in der Tat sehr nett von dir.“ bedankte sich Elena, die nur so darauf brannte diesen Ort  endlich für eine Weile verlassen zu können.

„Gern geschehen! Aber was bekomme ich denn dafür, wenn ich das für dich tue?“

 

Nachdem Kyra die beiden Drahtesel besorgt hatte, begaben sie sich in Richtung Gartenkolonie.

Elena tat sich außerordentlich schwer mit dem ungewohnten Gefährt. Nicht etwa, dass sie im Rad fahren ungeübt war, ganz im Gegenteil.

Doch die Fahrräder die sie üblicherweise zu benutzen pflegte, unterschieden sich erheblich von diesem undefinierbaren Vehikel.

Um ihren Venuskörper in Schwung zu halten pflegte sie mit ihrem Spezialmountenbike kilometerlange Strecken zu bewältigen, Geländefahrten über Stock und Stein, starke Steigungen, etc.

Eine superelastische Federung machte auch das Unmöglichste möglich.

Doch wie sie unter diesen widrigen Umständen fünf Kilometer zurücklegen sollte, schien ein unentwirrbares Rätsel.

Jedes Schlagloch, auch die unauffälligste Vertiefung im Boden schüttelte sie ordentlich durch.

`Mein Hintern wird morgen grün und blau sein!` Durchfuhr es ihr.

Erneut bereute sie, sich auf dieses abenteuerliche Wagnis eingelassen zu haben.

Doch der Anblick der Umgebung, in die sie nun eintauchten, entschädigte für den ersten Moment.

Sie radelten an den reifen Getreidefeldern entlang. Bis an den Horizont wogte es, wogte so frei und kraftvoll, dass Formen und Farben der Natur überzufließen schienen.

Der heiße Juliwind, der ihnen entgegenschlug, schaukelte die reifen Ähren in einem immerwährenden Takt.

Landarbeiter bewegten sich still auf ihren Wegen, verweilten nicht staunend. Erfassen sie überhaupt die Schönheit, die sie umgibt? Schoss es Elena durch den Kopf. Offensichtlich nicht. Sind sie doch von klein auf mit der Landschaft verbunden, ja geradezu in sie hineingewachsen, sie haben selbst, war das Leben ihnen günstig, Schönheit in sich aufgenommen.

Doch meistens war ihnen das Leben überhaupt nicht gewogen.

Wer arm ist und sich dem ständigen Kampf um das tägliche Brot ausgesetzt sieht, für den ist natürlich Schönheit nur eine leere Worthülse ohne Bedeutung.

Elena schüttelte den Kopf, so als glaubte sie auf diese Weise, solche ihr völlig fremden Gedanken los zu werden.

Was ging ihr das Schicksal dieser Menschen an?

Kyra bog in einen von weitem kaum erkennbaren Seitenweg ein. Die Landschaft änderte ihr Antlitz schlagartig. Zu ihrer Rechten erstreckte sich der Stausee, auf dessen Wasseroberfläche der Wind leichte Wellen kräuselte. Am gegenüberliegenden Ufer hielten Kraniche Ausschau nach Fischen. Wildenten paddelten schnatternd darauf herum.

Etwas im Hintergrund erstreckte sich ein von Bäumen bedeckter Höhenzug.

Der Feldweg besserte sich deutlich. Elena erblickte die kleine von einem Garten umgebene Hütte, ebenfalls auf einer kleinen Anhöhe gelegen. Rechts davon befand sich der Stausee, zur Linken erblickte sie eine große Weide auf der ein paar Dutzend Rinder sich das sattgrüne Gras schmecken ließen. 

Tiefer Frieden senkte sich über diese Szene. Elena war sichtlich ergriffen. Lange schon hatte sie keine solche emotionale Ergriffenheit mehr verspürt.

Erst Kyras Stimme riss sie aus ihrer meditativen Stimmung.

„So, da wären wir schon. Hast du die Fahrt ohne Blessuren überstanden?“

Elena bejahte ohne weiteren Kommentar und stieg vom Sattel.

Geradezu andächtig betrachtete sie die unscheinbare Gartenlaube vor ihr.

Hier also lebte der große Dichter, dem dereinst ganz Melancholanien zu Füßen lag und dessen Ausstrahlung weit über die Landesgrenzen reichte.

Wie konnte sich ein Mensch nur derart aufgeben? So sehr sie sich auch bemühte, sie fand keine Antwort.

Von innen drangen Stimmen an ihre Ohren. Sie zögerte einzutreten, schritt zunächst bedächtig, um die kleine Hütte, den Blick dabei auf den gepflegten Garten gerichtet. Ein Pluspunkt für Kovacs

Denn gepflegte Gärten hatten es Elena von je her angetan.

Auf der Schattenseite blieb sie stehen, genoss die angenehme Kühle. Durch ein leicht geöffnetes Fenster versuchte sie einen Blick zu erhaschen. Sie erkannte den Dichter von hinten an seinem graumelierten Pferdeschwanz.

Sprach der mit sich selbst, oder befanden sich noch andere im Raum?

Doch ehe sie weiterforschen konnte, lud sie Kovacs ein, der ihre Anwesenheit längst bemerkt hatte.

„Komm doch rein, Elena! Oder traust du dich nicht? Beglücke unsere kleine Runde mit deiner Anwesenheit.“

Ärgerlich gab Elena ihre Zustimmung. Es passte ihr  ganz und gar nicht, auf eine solche Weise genötigt zu werden.

Dem schien auch gar nichts zu entgehen. Dabei hatte sie sich so vorsichtig wie nur eben möglich genähert.

Oder weitere Verzögerung öffnete sie schwungvoll die leicht quietschende Türe als ihr ein „Aua!“ entgegenschleuderte.

Es befanden sich in Tat noch mehrere Personen hier und einem hatte sie gerade die Tür in den Rücken gerammt.

„Pardon, das war keineswegs meine Absicht! Ich hatte ja keine Ahnung, das sich noch andere hier auf halten!“ entfuhr Elena eine eher halbherzige Entschuldigung.

Vier junge Männer hatten auf dem Boden Platz genommen und bildeten einen Halbkreis um den Dichter.

Der Angerempelte wandte sich ihr mit einem vorwurfsvollen Blick zu. 

Ein schlanker, schmal gebauter junger Mann mit feinen, beinahe zarten Gesichtszügen.

Seine dunklen Augen leuchteten vor raschem Verstand und vor noch rascherem Ärger.

Sein Blick schien Elena einen Moment lang zu lähmen.

Freundlich lächelnd saß Kovacs am Boden. Er sprach ruhig und fixierte mit seinen grünen Augen hinter der schwarz umrandeten Brille sein Gegenüber.

„Nur hereinspaziert. Wenn ihr alle ein wenig zusammen rutscht, findet auch Elena einen Platz in unserer Mitte. Kyra, du kannst auch kommen, hast dich ja schon lange nicht mehr sehen lassen. Wieder mal ein wenig Unterricht könnte dir nicht schaden, denke ich.“

„Nee, nee, lass nur! Das ist nix für mich! Führt eure geistreichen Gespräche ohne mich.

Ich bin nur Begleiterin!“

„Na meinetwegen. Bei dir ist ohnehin Hopfen und Malz verloren,“ erwiderte Kovacs, dann wandte er sich Elena zu.

„Schön, dass du gekommen bist! Ich hoffte, dass du mich besuchen kommst.“

Elenas Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. Sie lies sich auf dem Boden direkt neben dem Angerempelten nieder, dessen Blick noch immer wie gebannt an ihr haftete. Verlegen nickte sie ihm zu. Die Situation war ihr ausgesprochen peinlich.

„Ja, hm, wo waren wir denn stehen geblieben. Es scheint ganz so, als habe ich den Faden verloren. Ach ja, du wolltest doch noch etwas wissen, Ronald.“ versuchte sich Kovacs zu besinnen.

„Und du bist tatsächlich davon überzeugt, dass wir imstande wären , die Betriebe in Selbstverwaltung zu übernehmen, zu organisieren und zu bewirtschaften? Das klingt gut, aber wie in aller Welt soll das funktionieren? Ich meine ja nur, es gehört doch schon ein außerordentliches Wissen dazu, ein Unternehmen zu leiten. Gut, sagen wir bei einem Handwerksbetrieb könnte ich mir das durchaus noch vorstellen, aber so ein großer Konzern wie etwa die KPK? Also, das halte ich praktisch für ausgeschlossen. Ich wüsste ja gar nicht, wo wir den Anfang machen solltem.“

„Ganz einfach! Fang erst mal bei dir selber an, Ronald. Fangt alle bei euch an. Überlegt doch mal genauer. Ihr seid doch keine Dummköpfe. In jedem einzelnen von Euch steckt genug Potential, um jeden einzelnen dieser dekadenten Clique in die Tasche zu stecken. Natürlich seit ihr dazu angehalten euch beständig weiterzubilden, das ist eine Grundvoraussetzung. Von nichts kommt nichts. Aber wie ich schon betonte, durch die radikale Arbeitszeitverkürzung habt ihr genügend Zeit zur Verfügung und die solltet ihr nutzen, für Weiterbildung etc.

Denn Bildung ist der Schlüssel zur Befreiung. Gebildete, kritisch Nachforschende kann man nicht so hemmungslos über den Tisch ziehen. Sie hämmern euch Tag für Tag Lügen von der angeblichen Alternativlosigkeit dieses Systems ein. Mit diesem Mythos müssen wir gründlich aufräumen.“ erwiderte Kovacs selbstbewusst.

„Aber wir sind zu wenig. Was nützt es, wenn so ein kärglicher Haufen wie wir uns die Köpfe heiß reden und darüber nachsinnen, was denn so alles getan werden müsste. Die Bevölkerung lässt sich manipulieren, und das ganz freiwillig. An die kommen wir nicht ran. Die jammern zwar beständig, aber im Grunde wollen die doch gar keine Veränderungen.“ resignierte Ronald weiter.

„Ganz richtig, Ronald. Die Bevölkerung gleich einem Tross Herdenvieh, das vorbehaltlos dem Hirten folgt, auch auf die Gefahr hin, das jener es in einen Abgrund zieht.  Es tut mir leid, das offen auszusprechen, viele sind in der Tat nicht mehr in der Verfassung, durch eigene Kraftanstrengung gegenzusteuern. Zu sehr ist deren Geist bereits umnachtet, betäubt von dem tagtäglichen Gesabber, das beständig auf sie niederprasselt. Die zu erreichen, kommt in der Tat der Quatratur des Kreises gleich. Dennoch dürft ihr niemals nachgeben.

 Beginnt bei jenen, die noch ein Fünkchen Verstand besitzen, bei den Unzufriedenen, die auf ähnliche Weise denken. Wir nennen sie die Edelprekas. Leute in gehobenen Posten, die zum Teil Leitungsfunktionen innehaben.“ versuchte Kovacs die resignierende Stimmung anzuheben.

Leander protestierte entschieden.

„Was? Die? Das kannst du getrost vergessen. Die sind ja noch schlimmer als die Privo.

Die bilden sich Gott weiß was ein. Einmal den Dreck entronnen, vergessen die ganz schnell, woher sie stammen.“

„Ich kann deine Reaktion voll und ganz nachvollziehen Leander. Aber bedenke, was du tätest wenn du an deren Stelle wärst. Würdest du anders handeln? Würdest nicht auch die Gunst der Stunde nutzen und die Hand, die sich dir entgegenstreckt, ergreifen um deinen Lebensstandard auch nur ein wenig zu heben? Auch um den Preis, dass du die alten Gefährten verraten müsstest, wenn auch nur indirekt?“

„Niemals! Nie und nimmer! Eher sterbe ich!“ entrüstete sich Leander und auch die anderen signalisierten deutlich ihre Ablehnung.

„Ich will euch nicht ständig widerlegen“ bekannte Kovacs. „Aber wir alle sind nur Menschen.

Wir alle tragen  unsere Triebkräfte in uns, ob wir es nun zugeben oder nicht. Neid und Missgunst, Eifersucht, Habgier, Herrschsucht, die Angewohnheit, auf andere, die unter uns stehen, herabzusehen. All die animalischen Triebe, die uns manchmal unser Leben so erschweren. Es bedarf schon einer gehörigen Portion Selbstbeherrschung, all das zu überwinden.

Besonders das Gefühl, im Leben zu kurz zu kommen, wirft uns immer wieder zu Boden.

Der Eindruck ausgegrenzt und abgehängt zu sein.

Ich möchte versuchen, es euch an einem Beispiel zu erläutern.

Stellt euch doch  ein kleines Kind vor.

In der frühesten Entwicklungsphase geht es um die Erfahrung von liebevoller Akzeptanz und Respekt, auf die das Kind angewiesen ist. Es erfährt nicht nur die Liebe seiner Mutter, sondern auch, dass seine Liebe von Ihr angenommen und wertgeschätzt wird.

Was geschieht aber, wenn dieses geliebt werden nicht vorkommt? Wenn Mutter, natürlich auch Vater, das Kind ständig zurücksetzen, es nicht anerkennen, ihm kalt und unbarmherzig gegenübertreten? Es fühlt sich irgendwann von Selbstverlust und psychischer Vernichtung bedroht.

Und jetzt geschieht das Unfassbare. Als Abwehrmechanismen setzt eine Spaltung der Person ein.“

Sichtlich genervt unterbrach Leander.

„Kovacs, was soll das. Komm auf den Punkt. Rede doch nicht so geschwollen daher. Sprich doch einfach in einer verständlichen Sprache, einer Sprache, die für die Masse geeignet scheint.“

„Entschuldigt! Ich vergaß mich!“ fuhr Kovacs weiter fort.

„Also ich will damit sagen: Das Kind beginnt sich innerlich zu wehren. Da es nun aber vollständig von seinen Eltern abhängig ist und die Ungerechtigkeiten nicht richtig zu deuten vermag, sucht es Ersatz für seine Wut. Einmal richtet es seine Wut gegen sich selbst, klagt sich ständig an, für ein Versagen als Kind, was doch gar nicht stattfindet. Oder eine zweite Möglichkeit: Es beginnt Sündenböcke zu suchen und diese stellvertretend dafür verantwortlich zu machen.

Also noch mal in Stichpunkten: Nicht die Eltern sind schuld sondern entweder ich oder andere, die dafür herhalten müssen!“

„Interessante Theorie, muss ich zugeben. Was aber hat das denn mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun?“ schaltete sich nun Elena ein, die es bisher vorgezogen hatte, zu schweigen.

„Sehr viel, Elena! Schau doch mal! Das Kind war ein Beispiel für die Unterschicht, die Paria, vor allem aber auch die Prekas, die akut von einer Parisierung betroffen sind. Sie sind total Obrigkeitsfixiert. Sie wollen nicht wahrhaben, dass sie ungerecht behandelt werden, zumal sie es  fast pausenlos von den Medien eingehämmert bekommen.

Sie beginnen die Schuld bei sich zu suchen. Ich bin ja so schlecht. Ich bin schuldig an der Gesellschaft geworden, deshalb bin ich durch das Netz gefallen. Oder ihr in eurer Fabrik!

Wie oft klagt ihr euch selber an, dass ihr nicht genug ranklotzt, dass ihr noch mehr Leistung erbringen könntet, wenn ihr nur wolltet. Das ihr noch viel besser für euch selber sorgen könntet. Dieses Minderwertigkeitsgefühl bringt nicht wenige an den Rand der Verzweiflung.

Dann beginnt die Suche nach Sündenböcken. Die Preka schimpfen auf die Paria, die versuchen, wieder aufzusteigen. Die sind schuld, die nehmen uns die Arbeitsplätze und somit unsere Stellung in der Gesellschaft weg. Oder Fremde, die in unser Land kommen.

Nicht die Obrigkeit ist verantwortlich für die Misere, nein, es ist das arme Schwein nebenan, dem es unter Umständen noch schlechter ergeht. Das alles sind Auswüchse, die sich seit neuestem in unserem Land bündeln in solchen obskuren Vereinigungen wie den Patrioten oder wie sie sich auch nennen mögen, bündeln und organisieren..

Es tut immer gut zu wissen, dass man noch nicht auf die unterste Stufe abgesunken ist und es noch  immer  Menschen gibt, die noch geringer geachtet werden.

Die Obrigkeit unterstützt sowohl die Selbstanklage, als auch die Sündenbockstrategie nach besten Kräften. Nichts fürchten sie mehr als Einigkeit.“

„Abenteuerlich, Kovacs, ausgesprochen abenteuerlich, und naiv zugleich.“ entgegnete Elena mit abwertender Geste. “Ich kann mich nicht entsinnen, jemals etwas Abstruseres gehört zu haben.“

„Ich bin durchaus geneigt, dir zu glauben Elena,“ stimmte Kovacs ihr zu „In deinen Kreisen wird selbstverständlich nicht über diese Problematik gesprochen.“

„Irrtum, großer Dichter! Wir analysieren sehr genau, was in der Gesellschaft vor sich geht.

Es gibt immerhin acht große Wirtschaftsforschungsinstitute, die sich mit der Materie beschäftigen.  Leute von denen lade ich regelmäßig in meine Sendungen ein. Die forschen gezielt. Einig sind sie sich alle über den Umstand, dass es keine Alternative gibt. Jene, die das Gegenteil behaupten, streuen den Menschen Sand in die Augen.

Die Leute sollten sich vermehrt solche populärwissenschaftlichen Beiträge ansehen, das würde ihren Wissenstand deutlich heben.“ konterte Elena zielgerichtet.

„Populärwissenschaftlich, ich würde das doch eher als pseudowissenschaftlich bezeichnen.

Denn sie verkennen das Kernproblem total. Jenes besteht darin, dass unsere Gesellschaft nun einmal in Gewinner und Verlieren gespalten ist und die Frage bleibt: Gibt es eine Möglichkeit, diese Spaltung zu überwinden? Wir müssen uns einfach auf die Suche nach einer Gesellschaft begeben, in der alle ihren Platz finden und so leben können, dass die natürlichen Grundlagen auch für die zukünftigen Generationen erhalten bleiben.“ hielt ihr Kovacs entgegen.

„Aber die haben wir doch!“ entrüstete sich Elena. „Jeder befindet sich auf dem Platz, der ihm gebührt, kann seinen Platz finden, wenn er nur intensiv danach strebt. Jeder ist seines Glückes Schmied.

Aufstiegschancen sind in reichen Maß vorhanden. Wer es aber nun allen Erwartungen zum Trotz nicht schafft? Was soll man denn machen?“

Elena erntete schallendes Gelächter ob ihrer Aussage. Wut schwoll in ihrem Inneren.

Sollte sie gehen? Warum tat sie sich das überhaupt an?

Andererseits wollte sie aber auch nicht vorschnell eine Niederlage eingestehen.

„Jeder ist seines Glückes Schmied, echt? Was für ein Unsinn.

Aufstiegschancen, dass ich nicht lache. Wie soll'n das funktionieren. Alle haben die gleichen Bildungsmöglichkeiten. Wo denn?

Die sind einfach der Meinung, ein Preka braucht gerade soviel Bildung, um im alltäglichen Produktionsprozeß bestehen zu können. Wir benötigen jetzt das nötige Wissen, um uns befreien zu können.

Die versuchen doch ganz bewusst uns zu verblöden. Und das schlimme dabei ist die Naivität der Masse.“ ereiferte sich der junge Mann neben Elena, nachdem er aufgesprungen und mit den Armen wild gestikuliert hatte.“

„Beruhige dich doch, Leander. Schon allein die Tatsache, dass ihr regelmäßig zu mir kommt und mit mir im Gespräch seid, unterstreicht eure Fähigkeiten. Ihr seid keine ungebildeten Proleten. Ihr hebt euch deutlich von eurer Umwelt ab. Ihr alle seid Suchende, Suchende nach neuen Formen des Zusammenlebens und euer Suchen hat euch in Unruhe versetzt

Und diese Unruhe bewegt eure Herzen.

So fandet ihr euch alle bei mir ein.

Damit habt ihr den ersten Schritt getan.

Jede Revolution beginnt zunächst im Herzen.“

„Das reicht aber nicht aus, Kovacs, wir brauchen Konzepte, etwas, mit dem wir arbeiten können. Deshalb sind wir zu dir gekommen. Aber scheinbar willst du es uns  nicht verraten.“ meinte ein anderer mit deutlich verärgertem Unterton.

„Weil ich glaube das es dafür noch zu früh ist, Ansgar. Es bedarf viel Zeit um an einer neuen Welt zu arbeiten. Der kleinste Fehler könnte alles zunichte machen bevor es überhaupt beginnt. Wir müssen Schritt für Schritt vorankommen. Aus diesem Grund muss ich euch erst einmal emotional vorbereiten.“

Kovacs Beschwichtigungsversuch schien keine große Wirkung zu entfalten. Sowohl Ansgar als auch Leander signalisierten durch ihr Kopfschütteln ihre Ablehnung.

„Also, wenn ich da an Neidhardt denke, der bezieht glasklare Positionen. Der sprich offen aus, was er zu tun gedenkt, für ihn sind die Fronten klar umrissen. Ich bin der Ansicht, wir sollten ebenso …“

Mit ungewöhnlicher Schärfe hinderte Kovacs Ansgar am weiterreden..

,Wenn das so ist, Ansgar, dann geh doch zu Neidhardt. Ich verstehe wirklich nicht, warum du überhaupt noch zu mir kommst. Schließ dich Neidhardt an und unterstütze ihn beim Bombenwerfen. Nein, das kann keine Lösung sein. Neidhardts Vorstellungen haben nur eines im Sinn. Eine Diktatur durch eine andere zu ersetzen.“

Natürlich hatte Kovacs längst in Erfahrung gebracht das Ansgar, ebenso wie Ronald schon lange Neidhardts Leute waren, zog es jedoch vor sein Wissen darum zu hüten. 

Elena hatte genug gehört um die Tragweite dieser Zusammenkunft zu durchschauen.

Träumte sie das nur. Die debattierten doch tatsächlich über einen Umsturzversuch.

Nichts hielt sie mehr auf ihren Platz, sie musste einfach ihre Missbilligung zum Ausdruck bringen.

„Ich glaube, ich höre nicht recht. Kovacs, bisher war ich immer der Meinung, dass du nur ein bedauernswürdiger Narr bist, doch diese Ansicht muss ich gründlich revidieren. Was ich eben zu Ohren bekommen habe, übersteigt alle Befürchtungen. Das ist glatter Hochverrat.

Ihr sitzt einfach hier und diskutiert in aller Ruhe Pläne zum Umsturz unserer freiheitlichen Ordnung. Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein.

Normalerweise wäre ich verpflichtet, euch auf der Stelle anzuzeigen für diese Ungeheuerlichkeiten.“

Sie bedachte ihr Gegenüber mit einem abschätzigen Blick. Eisiges Schweigen breitete sich in der kleinen Hütte aus. 

Sollte sie nun gehen oder noch bleiben?

Was sie gehört hatte genügte. Mehr bedurfte es nicht. Sie strebte nur noch danach, diesem Schlund von Anmaßung und Verrat zu entschwinden.

Andererseits gab es da eine seltsame Macht die sie am Gehen hinderte.

Schließlich obsiegte die Neugierde über den Patriotismus und sie entschloss erneut sich zum Bleiben.

Ihrer Pflicht als treue Staatsbürgerin konnte sie auch noch am Folgetag nachkommen. Auf einen Tag mehr kam es wirklich nicht mehr an.

Doch es stand  fest, das sie diese Verschwörerbande ans Messer liefern musste.

Kovacs schwieg bedächtig. Er hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet und es war  von Anfang an sein Plan, Elena mit einer solchen Situation zu konfrontieren. Nur die Heftigkeit ihrer Reaktion überraschte ihn.

Den anderen Anwesenden jedoch, allesamt uneingeweiht, stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben.

Besonders Leander schien seiner Gefühle kaum noch Herr zu werden. Angst und Zorn breiteten sich gleichermaßen wie ein Blutfleck in seinem Kopf aus. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Hilflosigkeit und Wut. 

„Du bist Elena, nicht wahr? Genau, du bist es. Lange hegte ich Zweifel, aber deine Reaktion verrät dich. Ich hörte schon davon, dass du dich in Cornelius Gefolgschaft auf halten sollst, glaubte aber nicht so recht daran.

Kovacs, willst du uns allesamt dem Henker überantworten. Wenn du lebensmüde bist, gut, deine Sache, aber ich bin es nicht. Wie konntest du Elena zu unserer Zusammenkunft einladen?

Warum hast du nicht gleich Thoralf den Großmeister des Blauen Ordens gerufen,  wäre das nicht einfacher gewesen? Hast du komplett den Verstand verloren?“

Leanders Entrüstung kannte keine Grenzen.

Kovacs versuchte zu beschwichtigen.

„Ich habe sie gar nicht zu diesem Treffen eingeladen, aber damit gerechnet, dass sie einmal zu mir kommt. Dass sie gleich am zweiten Tag ihres Verweilens bei Cornelius der Einladung Folge leistete, kam selbst für mich überraschend. Ich wollte mit ihr zunächst unter vier Augen sprechen, das heute ausgerechnet unsere Zusammenkunft ist, reiner Zufall. Aber da sie nun mal hier ist, können wir damit beginnen, unsere Argumente auszutauschen. Das war meine Absicht.  Ich möchte deine Meinung hören, Elena.“

Aller Augen richteten sich in diesem Moment auf Elena, die, noch immer von Wut durchdrungen, am Boden Platz genommen hatte.

„Ich weiß gar nicht, warum ihr mich so vorwurfsvoll anblickt, habe ich etwa solch verschwörerische Reden geschwungen oder ihr?“

„Aber wir sind keine Verschwörer. Wir wollen doch lediglich mehr Gerechtigkeit in diesem Land. Ist das denn in deinen Augen so entsetzlich.“ schaltete sich Ronald ein.

„Lass nur, Ronald, vergebliche Liebesmühe, bei der beißt du auf Granit. Wir kennen doch alle Elenas Auftritte im Fernsehen. Ihre arrogante und herablassende Art, von uns zu reden. Die wird ihre Meinung niemals ändern.“ erregte sich Leander von neuem.

„Nun, das würde ich nicht unbedingt sagen.“ widersprach Kovacs. „Elena ist gekommen, um sich ein objektives Bild von den Zuständen hier zu machen, das spricht zunächst einmal für sie. Sie wird eine Zeitlang in der Kulturfabrik leben und unser Leben studieren.  Ich halte es für durchaus möglich, dass sie ihre Ansichten revidiert, zumindest die eine oder andere.“

„Da bist du falsch informiert, Kovacs. Ich bin hier, um mit Cornelius ein Interview zu machen, das ist der einzige Grund. Ich habe mich überreden lassen, ein paar Wochen zu bleiben, den Alltag mit euch zu teilen, da mir Cornelius ansonsten das Interview verweigert. Ich sehe ein, dass es ein Fehler war, darauf einzugehen. Wenn das so ist, dann pfeife ich auf das Interview und sehe zu, dass ich schleunigst hier verschwinde.“ wehrte Elena entschieden ab.

„Na bitte! Was habe ich gesagt. Sie bestätigt meine Vermutung selbst. Elena gibt auf unsere Sorgen keinen Pfifferling. Auch du großer Dichter wirst kaum imstande sein, diese Nuss zu knacken.“

Leanders Erregung steigerte sich von Augenblick zu Augenblick.

Ansgar, der den beiden gegenüber saß, erhob sich und kam auf Elena zu.

Er war von hohem Wuchs. Seine scharfen Augen strahlten Wärme aus, der dicke schwarze Vollbart verstärkte den Eindruck von Reife und Männlichkeit, obgleich er erst Ende zwanzig schien.                   

„Du bist also Elena. Lass die doch reden. Ich jedenfalls bin froh, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Überzeuge dich mit eigenen Augen, wie es um die Menschen hier bestellt ist und folglich kannst in einer deiner nächsten Sendungen vernünftig über uns berichten. Ich glaube, dass wir so etwas dringend benötigen.

Ich freue mich deine Bekanntschaft zu machen.“

Er streckte ihr seine Hand entgegen in der naiven Hoffnung, dass sie seinen Gruss erwidere.

„Aber ich freue mich ganz und gar nicht. Auf so eine Bekanntschaft kann ich gerne verzichten. Ich pflege mit Terroristen keinen Umgang. Jemand, der einen Erzverbrecher wie Neidhardt hochleben lässt, ist für mich nichts weiter als ein stumpfsinniger Prolet.“

Wie ein begossener Pudel tappte Ansgar an seinen Platz zurück. Er vermochte seine maßlose Enttäuschung kaum zu verbergen.

„Tja, sieht ganz so aus, als ob du dich gerade zum Trottel hast machen lassen, guter Ansgar, dass geschieht dir recht, wie kann man nur so naiv durchs Leben gehen. Neidhardt mag dein Held sein, gut akzeptiert. Nur wenige Preka sind bereit, ihm zu folgen. Für die Privo ist er schlicht ein Ketzer.“ gab Leander zu verstehen, nachdem er laut aufgelacht hatte.

Elena erhob sich schwungvoll aus ihrer Sitzstellung und blickte abschätzig auf die Sitzenden herab.

„Ich habe genug von euren Verschwörungstheorien. Das reicht! Ich glaubte, hier mit dir ein anregendes Gespräch zu führen, Kovacs, aber offensichtlich habe ich mich geirrt. Ich fand dich interessant und unterhaltend gestern Abend, aber ich sehe ein, dass es ein Fehler war, dir mein Vertrauen zu schenken. Ich verabschiede mich, gehabt euch wohl.“

Noch immer die blanke Wut in den Eingeweiden verspürend riss Elena die Tür auf und trat ins Freie , rief nach Kyra, erhielt aber keine Antwort. Ihre Begleiterin hatte sich schon längst aus dem Staub gemacht. Sei's drum! So blieb keine andere Möglichkeit, als den Weg zurück alleine zu erkunden. Sie schwang sich auf den alten Drahtesel und setzte sich in Bewegung. Ein warmer Wind zerzauste ihr das Haar. Die Gedanken nahmen ihr Bewusstsein so sehr in Beschlag, dass sie die Umwelt kaum beachtete. Schließlich musste sie resigniert feststellen, dass sie sich verfahren hatte. Sie versuchte ihre Position zu bestimmen, doch es gelang ihr nicht. Hier sah alles irgendwie gleich aus. Schöne Bescherung!

Ein Moment der Unachtsamkeit ließ ihr Rad gegen einen großen Stein rollen, der dort einfach auf dem Weg lag, so, als habe er nur auf sie gewartet. Elena konnte im letzten Augenblick einen schweren Sturz vermeiden, doch im Vorderrad war eine Acht, unmöglich, sich damit weiter fortzubewegen.

Heute schien ihr wohl nichts erspart zu bleiben ... Sie stieg ab und ließ das Rad achtlos in einen kleinen Graben am Wegrand fallen. Sie zog es vor, die Gegend erst einmal zu Fuß zu erkunden.

 

Unterdessen setzte sich in Kovacs Gartenhaus die hitzige Debatte auch ohne Elena weiter fort.

„Also Kovacs, ich kann nur annehmen, dass du von allen guten Geistern verlassen warst, Elena hierher zu bestellen. Sie ist und bleibt eine unserer schlimmsten Feinde. Ich kann mir nicht erklären, was du dir dabei gedacht hast.“ klagte Ronald an.

„Beruhige dich! Beruhigt euch alle! Glaubt mir, nichts wird geschehen, was uns in Gefahr bringt. Gut, Elena ist eine Feindin, zumindest im Moment noch. Denn wer sagt, dass das so bleiben muss. Ich denke, wir haben heute wieder eine winziges Teilchen bei ihr in Bewegung gesetzt.“ verteidigte sich der Angeklagte.

„Elena und sich ändern? Wie kommst du denn darauf? Das ist doch lächerlich!“ wiegelte Ronald ab.

„Hast du gesehen, auf welche Weise sie mich beleidigt hat,“ stimmte Ansgar zu. „ich habe ihr die Hand der Versöhnung gereicht und sie dankt es mir mit Verachtung. Nein, solche Leute ändern sich nicht. Da gehe ich jede Wette ein.“

„Wir sprechen uns in ein paar Wochen wieder, dann sind wir schlauer. Dann wird sich zeigen, wer unter uns die größere Weitsicht  hat.“ erwiderte Kovacs.

 

Elena hatte in der Zwischenzeit einen kleinen Weiher erreicht. Wie ein klares Auge blickte er ihr entgegen, abgeerntete Felder umgaben ihn. Krähen, die zwischen Getreidestoppeln nach herabgefallenen Körnern suchten, flogen kreischend davon.

Elena nahm auf einer kleinen Anhöhe Platz und überblickte das Gewässer. Eine leichte Brise, die vom Feld herüberwehte, bildete kleine Wellen auf der Oberfläche.

 

Doch auf die stolze Schönheit wirkte der Anblick ganz und gar nicht beruhigend. Im Gegenteil, jetzt erst wurde sie sich der Tatsache voll bewusst, in welchen Strudel sie hier geraten war.

Das waren Aufrührer, die hier am Werke waren, der Dichter Kovacs war einer ihrer Rädelsführer. Und dem hatte sie zunächst ihr Vertrauen geschenkt. Denen ging es darum, die fest verankerte Ordnung umzustürzen. Einer Ordnung, welche ihr und ihresgleichen Sicherheit, Wohlstand und Geborgenheit garantierten. Es gab nicht den geringsten Grund, daran zu rütteln. Wie kamen die dazu? Welche Anmaßung für Preka oder gar Paria die gleichen Rechte einzufordern. Wer es nicht schaffte, in der heiligen melancholanischen Gesellschaft seinen Platz zu sichern und voranzukommen, trug dafür selbst die Schuld. So lautet die Doktrin. Basta!

 

Hastig kramte Elena in ihrer Handtasche  und suchte dort nach ihrem Handy, brauchte lange, bis sie fündig wurde, so sehr war sie in Rage.

Sie suchte und fand die eingespeicherte Nummer. Es tutete mehrmals.

„Nun mach schon, mach schon! Geh endlich ran!“

„Ja, Elena? Was ist? Was kann ich für dich tun?“ vernahm sie Frederics Stimme.

„Ja, äh ich bin's! Hör mal, ich...äh...ich brauche deine Hilfe! Ich bin hier... ähm... ich weiß überhaupt nicht, wo ich mich gerade befinde!“ stammelte die sonst so redetalentierte  in ihr Telefon.

„Langsam, langsam! Was ist denn mir dir? Du scheinst ja total aufgelöst. Was ist denn geschehen? Was soll das heißen, du weißt nicht wo du bist?“ wollte Frederic wissen, während er gerade im Begriff war einer attraktiven Blondine, die sich nackt auf dem Bett neben ihm ausstreckte, den Rücken zu kraulen.

„Ach, wie soll ich dir das jetzt erklären? Keine Ahnung! Ich bin total aufgebracht, ja richtig, denn das was ich hier zu hören bekomme, kann einem schon auf die Palme bringen. Bescheuert hier, total bescheuert, sage ich dir.“

„Hab ich dir doch gesagt! Hast du etwas anderes erwartet? Das sind unkultivierte Proleten. Es wundert mich gar nicht, dass es dir die Sprache verschlagen hat.“ entgegnete Frederic etwas höhnisch.

„Jaja, natürlich du hattest wieder mal Recht.Genieße deinen Triumph. Doch das nützt mir im Moment rein gar nichts. Ich...ich bin hier irgendwo im Umland von Manrovia. In diese Gegend hat es mich noch nie verschlagen. Ich habe doch tatsächlich die Orientierung verloren. Ich finde einfach nicht mehr zurück, verstehst du?“

„Ich verstehe nur Bahnhof! Aber mit einem kannst du recht haben! Dass du die Orientierung verloren hast, ist mir schon seit geraumer Zeit bei dir aufgefallen!“

„Verdammt noch mal, stell dich nicht so an. Das meine ich doch gar nicht. Ich war bei diesem Dichter Kovacs. Der mal eine Berühmtheit war vor Zeiten.“

„Kovacs, hm, lass mich überlegen? Ja, könnte sein.  Stimmt, ich erinnere mich. Auch einer der vergessen hat, wo er hingehört und der seinen Stand verraten hat. Was in aller Welt treibst du bei dem?“ unterbrach Frederic.

„Recherchen! Alles der Recherchen wegen. Nur deshalb bin ich hier oder hast du das vergessen. Darum geht es aber im Moment nicht. Verstehst du? Der lebt ganz heruntergekommen in einer Art Gartenlaube, weit draußen in der Pampa. Ich war gerade bei ihm und befinde mich auf dem Rückweg. Aber ich habe mich total verirrt. Finde nicht zurück. Ich weiß nicht, was ich tun soll?“

„Zurückfinden? Das musst du in der Tat! Selber schuld, Elena, ich hab dich gewarnt Aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Das bringt nur Ärger. Tja, da sieh zu, wie du zurechtkommst!“ erwiderte Frederic dem man  die Schadenfreude ansehen konnte.

„Was? Du willst damit sagen, dass du mir nicht helfen kannst?“ schrie Elena voller Entsetzen.

„Wie denn, Elena? Meinst du, ich schicke einen Suchtrupp, der dich aufspüren soll  oder erwartest du das ich gar persönlich komme? Du hast wirklich Nerven. Meldest dich manchmal wochenlang überhaupt nicht und nun soll ich alles stehen und legen lassen und dir zur Hilfe eilen? “

„So oder so hatte ich mir das vorgestellt!“ gestand Elena.

„Ich selber? Gar nicht möglich! Bin überhaupt nicht im Lande!“

„Was, nicht im Melancholanien? Wo...wo treibst du dich denn rum?“

„Dein Gedächtnis scheint in der Tat schon einige Blessuren davon getragen zu haben. Ich befinde mich an der Riviera, auf meiner Yacht. Hast du das vergessen?“ Klärte Frederic auf.

„Na toll! Großartig! Das ist ja ne feine Nachricht!“ empörte sich Elena.

„Darf ich dich daran erinnern, dass ich dich eingeladen hatte mitzukommen? Vergessen? Klar! Du wolltest nicht! zogst es vor dich statt dessen dieser Proleten zu widmen. Tut mir leid, ich kann dich nicht bedauern. Lässt mich hier allein damit ich  hier in Sehnsucht vergehe und mich im Verzicht und Enthaltsamkeit üben muss.“

Frederic betatschte dabei die vollen Brüste seiner neuesten Eroberung und es gelang ihm nur unter großer Anstrengung, sein hämisches Lachen zu verkneifen.

„Spar dir deine Sprüche. Ich kann mir vorstellen, wie dein Verzicht aussieht. Blond, Brünett oder vielleicht mal schwarz? Willst du mir nun helfen oder nicht?“

„Ich kann nicht! Nein, ich denke nicht daran! Sieh zu, wie du dich da rauswindest. Meine Warnung hast du in den Wind geschrieben. Nun musst du damit fertig werden. Das ist mein letztes Wort.“

„Ich hoffe, du erstickst daran. Verdammter Mistkerl! Das werde ich dir nicht vergessen! Du.... hallo?“

Frederic hatte einfach die Austaste betätigt.

„Drückt einfach weg! Blöder Wichser du!“

Wutentbrannt packte Elena ihr Telefon in ihre Umhängetasche. Wen konnte sie noch um Hilfe bitten? Sie kannte eine Menge Leute. Ihre zahlreichen Freundinnen? Mit denen drohte die gleiche Pleite wie mit Frederic, die würden sich halb totlachen und das mit Recht.

Nein, hier musste sie alleine durch.

Sie schritt sogleich zur Tat. Doch so sehr sie sich auch in Konzentration übte, fand sie den Rückweg nicht. Stets und ständig schien sie sich im Kreis zu bewegen und kehrte immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurück.

Elena glaubte langsam aber sicher dem Wahnsinn zu verfallen. 

Erneut ließ sie sich am Ufer des kleinen Weiher nieder.

„Ruhe bewahren, vor allem Ruhe bewahren! Jetzt nur nicht durchdrehen. Es gibt für alles eine Lösung, auch für dieses Problem. Nichts ist unlösbar. Ruhe immer nur Ruhe bewahren!“ versuchte sie beruhigend auf sich selber einzureden um dann im nächsten Augenblick ihrer Verzweiflung den Weg zu bahnen in dem sie schrie:

„Ich will aber nicht ruhig bleiben! Es ist zum Kotzen! Ausgerechnet mir muss so etwas geschehen. Es reicht! Sowie ich bei Cornelius angekommen bin packe ich meine Siebensachen und haue ab.

Ihr wurde auf einmal übel und schwindelig dazu. Sie atmete langsam und tief durch, doch auch dann wollte sich keine Besserung einstellen.

Ein Gefühl innerer Beklemmung, so als stünde ihr eine schwere Prüfung bevor, bemächtigte sich ihrer. Dabei erfreute sie sich doch noch vor wenigen Augenblicken bester Stimmung.

Was um alles in der Welt ging da in ihr vor. In ihr und um ihr. Denn plötzlich bemerkte sie wie sich ihr jemand näherte und unmittelbar hinter ihr zum Stehen kam. Sie blickte sich um, konnte aber zu ihrem Erstaunen niemanden sehen.

„Aradia bleib! Geh nicht wieder zurück. Hier ist dein neues Zuhause. Hier bist du Mensch, hier darfst du sein.“ hörte sie eine Frauenstimme.

„Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Wenn ich irgendwo nicht dazugehöre , dann hier.. Lass dir das gesagt sein, wer immer du auch bist. Zeige dich mir! Wer bist du? Wie kommst du auf die Idee, mir Vorschriften zu machen?“ empörte sich Elena über diese Anmaßung. 

„Feige seid ihr! Feige seid ihr alle! Fühlt euch nur in der Gruppe stark, was? Alleine vermögt ihr gar nichts. Jeder ist für sich und sein Leben selbst verantwortlich. Wer es vermag, darf leben, wer nicht, hat eben Pech gehabt, so läuft das nun mal. Wer bin ich, dass ich es ändern könnte oder auch nur wollte?“

„Wenn du glaubst, dass du für dein Leben selbst verantwortlich sein kannst, dann beweise es, Elena! Was willst du tun, wenn du aus deinem Leben gerissen wirst, wenn man dir plötzlich all deine Privilegien nimmt und du ganz auf dich gestellt bist? Würdest du zurechtkommen?“ hörte sie die merkwürdige Stimme wieder.

„Ha, nichts leichter als das! Ich würde meine Fähigkeiten in die Waagschale werfen und sie anwenden. Ich habe eine Menge gelernt, und darauf kann ich immer bauen.  Zum Beispiel einfach arbeiten in einem meiner Berufe. Ich bin Ärztin, Ärzte werden immer gebraucht. Da mache ich mir keine Sorgen.“ behauptete Elena selbstsicher.

„Richtig! Das ist ein Weg! Was aber würdest du tun, wenn du über jene Fähigkeiten nicht verfügen könntest, wenn dein Intelligenzquotient nicht so überdurchschnittlich hoch wäre und es dir in Folge dessen schwer fiele, einfache Zusammenhänge zu begreifen, oder eine simple Rechenaufgabe zu lösen?  Stell dir vor, du wärst nicht in der Lage sechs Fremdsprachen zu beherrschen und so weiter und so fort. Was dann?““ hakte die Stimme weiter nach.

Das machte Elena zum ersten Mal unsicher und sie musste schon genau überlegen was sie dem entgegen halten konnte.

„Wenn ich  dich auch nicht sehen kann, weil du dich feige versteckt hältst, will ich doch antworten. Ich werde von vielen als überdurchschnittlich attraktiv bezeichnet.  Eine erlesene Schönheit, ein Juwel, Superfrau und was sie mir nicht alles für Namen geben.  Dann wäre mein Körper eben mein Kapital. Wir bezeichnen so etwas als Humankapital. Ihn könne ich wirksam einsetzen, auf ihn kann ich mich immer verlassen. Einem solchen Antlitz schlägt keine eine Bitte aus.“ war sich Elena sicher.

„Auch das wäre eine Möglichkeit! Zugegeben! Und wenn du nun nicht über so ein  hübsches Gesicht verfügtest, könntest du nicht diesen wundervoll geformten Körper dein eigen nennen? Ja, du bist eine wahre Schönheit, Elena, die Menschen drehen sich nach dir um, weil sie dich bewundern. Bewundern und beneiden. Aber stell dir vor, du wärst hässlich und total unscheinbar? Sag mir, was dann?“

Elena bemerkte, wie ihr plötzlich übel wurde, denn sie sah sich vollständig in die Ecke getrieben. Ihr schienen die Argumente auszugehen. Aber sie wollte sich noch nicht geschlagen geben.

„Es... es gibt immer eine Möglichkeit. Jeder kann es schaffen, allein auf das Wollen kommt es an.“ Kaum hatte sie die Worte über ihre Lippen, reuten sie ihr schon, denn so argumentieren nur Leute, die keine Alternative kennen und versuchen, dadurch ihre Unsicherheit zu verbergen.

„Elena stell dir vor, du wärst zudem krank, oder hättest eine Behinderung. Könntest deine Sinnesorgane nicht einsetzen, säßest im Rollstuhl, bettlägerig, oder womöglich eine verachtete Kundra. Ich könnte noch viel hinzufügen. Was dann, schlaue Elena? Was dann?“

„Aufhören! Ich will mir das nicht länger anhören! Das ist ja zum Kotzen. Was soll das? Warum redest du so einen Schwachsinn .  Natürlich  könnte das sein. Ist es aber nicht. Ich bin hier und ich bin, wie ich bin und darauf bin ich stolz.“

„Stolz? Wie kommst du darauf? Es sind Geschenke,nichts weiter als Geschenke, die dein Leben reicher machen. Wie kann ein Mensch auf Geschenke stolz sein? Dankbar!  Das wäre der rechte Ausdruck. Aber dieser Begriff ist dir ein Fremdwort, in deinem Vokabular kommt der nicht einmal vor. Eine Elena braucht keinem zu danken, nicht einmal sich selbst, so stark ist sie von ihrem Ego besessen. All das, was du dein Eigen nennst, ist dir geschenkt. Schönheit und Anmut, Liebreiz und Charisma, Intelligenz, Durchsetzungsvermögen, Kreativität und Phantasie und nicht zuletzt Wohlstand und Luxus. All das wurde dir geschenkt, Elena, du hast es dir nicht erworben! Keinen Finger brauchtest du dafür zu rühren.

Es ist dir an vertraut, es kann dir aber ebenso wieder genommen werden. Schlagartig, einfach so. Von einem auf den anderen Moment"

Plötzlich bekam es Elena mit der Angst zu tun. Ein nie gekanntes Gefühl der Hilflosigkeit und des ausgeliefert sein durchdrang sie und ließ sie frösteln, obgleich es noch immer sommerlich warm war.

„Lass mich in Ruhe mit deinem Horrorszenario. Ich will nichts mehr hören.“

Sie hielt sich die Ohren zu doch die Stimme durchbrach auch diesen Filter.

„Du kannst dich nicht vor der Wahrheit verschließen, Elena. Sie wird dich erreichen, selbst wenn du dich verbarrikadierst. Dein Leben ist ständig in Gefahr. An jedem Ort, zu jeder Stunde kann dir ein Unglück geschehen. Ein Unfall? Ein Verbrechen? Eine plötzlich ausbrechende Krankheit? Alles ist vorstellbar und schließlich bist du wie jeder Mensch auch dem Alterungsprozess unterworfen. Irgendwann ist es aus mit deiner Schönheit und deiner Anmut, dann welkst du dahin wie eine Rose im Herbst, bis du schließlich dem totalen Verfall ausgeliefert bist. Dein Körper ist dann nur noch eine unansehnliche verwesende Masse, die der Erde übergeben wird, dann heißt es nur noch Erde zu Erde und Staub zu Staub. Du bist keine Unsterbliche, Elena, auch wenn du dir das des Öfteren einzureden versuchst.“

Elena stürzte zu Boden und ein Weinkrampf überkam sie.

„Lass mich in Ruhe! Warum tust du mir das an? Warum sagst du mir das? Wer bin  ich das ich mir das anhören  muss? Du scheinst mich ja abgrundtief zu hassen.“

„Ganz im Gegenteil, ich liebe dich und möchte dich retten!“

„Dann lass mich doch endlich in Ruhe!"

„Das werde ich tun, wenn du mir noch eine Bitte erfüllst!“

„Ich tue alles, wenn du mich nur zufrieden lässt und ich meinen Weg finden kann.“

„Ich werde den Weg dir weisen! Von diesem Augenblick an geschieht nichts mehr in deinem Leben ohne mein Zutun. Geh an den kleinen Weiher dort, siehst du, wie sich die Abendsonne darin spiegelt? Blicke hinein und du wirst dich selbst erkennen!“

Elena rutschte auf allen Vieren an das Ufer und tat wie ihr geheißen, im selben Augenblick schickte sich die Sonne an, als blutroter Feuerball am Horizonz zu verschwinden.

Aus dem Wasser blickte Elena ein unheimliches und extrem hässliches Gesicht entgegen. Diese erschrak ob dieses Anblickes gewaltig und wich instinktiv zurück, so als fürchte sie von der Gestalt ins Wasser gezogen zu werden.

Doch wenig später traute sie sich wieder einen Blick zu erhaschen. Immer noch diese hässliche Fratze.

„Wer bist du? Was bist du?“ entfuhr es Elena.

 Dein böser Engel, Elena!“ sprach das Spiegelbild zu ihr.

„Das ist Elena, wie sie hätte sein können, wäre das Schicksal nicht gnädig zu ihr gewesen und hätte ihr ein solch schönes Antlitz geschenkt. Präge es dir gut ein, Tochter. Es wird dich dein Leben klang begleiten und dich stets an diesen Augenblick erinnern. Alles ist geschenkt, vergiss das nie. Alles kommt wie es kommt, ein jegliches zu seiner Zeit. Du hast das seltene Privileg ein zugreifen ins Geschehen. Nutze es gut! Überlege was du mit deinen zahlreichen Geschenken in Zukunft anzufangen gedenkst.“ meldete sich die Stimme wieder in ihrem Bewusstsein.

Anschließend wagte Elena ein drittes Mal einen Blick in das Gewässer. Diesmal blickte sie in die starren Augen einer Toten.

„Du bist das, Elena. Du weilst schon lange nicht mehr unter den Lebendigen, du bist eine lebende Tote. Ein Zombie, der jedes Gespür für die Realität verloren hat.“

Elena stieß einen furchterregenden Schrei aus, so dass es einem durch Mark und Bein gehen konnte.

Dann begann sie sich von diesem unheimlichen Ort zu entfernen, wurde immer schneller immer hastiger. Rannte wie um ihr Leben. Sie nahm keine Notiz mehr von ihrer Umwelt, alles um sie herum schien sich im Kreis zu drehen. Angst, unbeschreibliche Angst bemächtigte sich ihrer. Todesangst! Die Angst aus diesem Leben zu verschwinden und sich im Nirgendwo aufzulösen.

Es entging ihr auch, dass sie in der Zwischenzeit längst den Außenbezirk der Stadt erreicht hatte und sich durch die kleinen Gassen fortbewegte.

Von da an verließen sie die Erinnerungen.

Sie fand sich plötzlich total verstört in ihrer Kammer wieder, vermochte nicht zu sagen, wie sie hier her gekommen war. Nur vom Hörensagen konnte sie in Erfahrung bringen, dass Cornelius sich ihretwegen Sorgen gemacht und ein paar Leute auf die Suche befohlen hatte. Die fanden die völlig Verstörte und brachten sie in die alte Kulturfabrik. Sie war, als man ihrer fündig wurde, nicht in der Lage, irgendwelche Angaben zu ihrer Person zu machen, konnte nicht einmal ihren Namen nennen.

Furcht, abgrundtiefe Furcht. Zwei Tage lang traute sich Elena überhaupt nicht aus ihrem Zimmer. Sie lag einfach nur apathisch auf dem Bett und tat gar nichts. Manchmal überkam sie heftiger Schüttelfrost und sie zitterte wie Espenlaub. Dann besserte sich ihr Zustand. Sie schien wieder ganz die Alte, zumindest konnte man das aus ihrem Auftreten schließen. Doch umgab sie sich mit der Aura des Unnahbaren, die niemanden zu nahe treten wollte. Es entging kaum jemandem, dass etwas in ihr vor sich ging, wenn auch keiner imstande war, zu sagen, in welche Richtung sie sich bewegte.

Des Weiteren schien Elena auf einmal jegliches Zeitgefühl verloren. Sie sah sich außerstande festzustellen, ob sie nun einen Tag, eine Woche, einen Monat oder gar ein Jahr hier lebte. Die Zeit hatte einfach ihre Bedeutung verloren oder bewegte sich in einem anderen für sie völlig unerklärlichen Takt?

Wollte sie nicht nach einer Woche das Weite suchen? Womöglich sogar schon am nächsten Tag aufbrechen, um all das, was sie hier erleben musste so bald als möglich zu vergessen? Davon war erstaunlicherweise keine Rede mehr.