Colette im Sufiland

 

Betüls Blick zur Armbanduhr signalisierte ihr dass sie schon wieder zu spät kam. Nun, das ließ sich nicht vermeiden. Der Dienst in der Klinik war zu Ende und sie konnte von Glück sagen dass sie nicht wieder Überstunden abzuleisten hatte, wie so häufig in letzter Zeit.

Heute aber freute sie sich auf das Dhikr. Letzte Woche konnte sie nicht daran teilnehmen und die vorletzte auch nicht, Dienst immer wieder Dienst. Es war nicht so dass sie ihren Beruf als Rettungssanitäterin hasste, aber in den letzten Wochen war es einfach des Guten zu viel. Mal ausspannen und in sich gehen, danach verlangte ihre Seele seit geraumer Zeit schon.

Hier in der S-Bahn hoffte sie sich auf den Abend in der Sufi-Gemeinde vorzubereiten, aber auch das wollte nicht so recht gelingen. Der Alltag mit all seinen Herausforderungen und  Anfechtungen haftete wie Knetmasse an ihr und wollte sich nicht von ihr lösen.

Berlin ist kein Dorf und wenn man von Pankow in die Stadtmitte wollte, benötigte man schon eine Menge Zeit. Wie gut das die Sufi es damit nicht so genau nahmen. Oft verspätete sich der Beginn des Dhikr bis zu einer halben Stunde. Darauf hoffte sie auch heute.

Der Blick durch das Fenster der Bahn in die Dämmerung. Ende August, die Tage wurden langsam immer kürzer und bald würde der Herbst das schön angenehm laue Wetter vertreiben und einem tristen Schmuddelwetter Platz machen. Betül hoffte dass mit dessen Erscheinen noch lange nicht zu rechnen war.

Vom Zielbahnhof Alexanderplatz würde sie noch gut 10 min zu Fuß benötigen um ins Zentrum zu gelangen.

Laut Wetterbericht war Regen prognostiziert, aber zum Glück lagen die Wetterfrösche wieder mal daneben, nahm Betül erleichtert zur Kenntnis als sie der Bahn entstieg.

Regen war das letzte was sie jetzt gebrauchen konnte, denn wie so oft hatte sie auch diesmal keinen Schirm dabei.

Die sanfte Brise die ihr auf dem Weg ins Gesicht blies, empfand sie angenehm. Hoffentlich war es im Zentrum heute nicht so warm. Das kam in den Sommermonaten des Öfteren vor, denn die Klimaanlage war noch immer nicht installiert.

Als sie vor dem Haus mit dem auffällig orientalisch geschmückten Schaufenster eintraf senkte sich die Dunkelheit auf Berlin. Sie betätigte den Klingelknopf und wenig später öffnete sich die Tür. Sie betrat das Foyer in Parterre. Stimmengewirr drang aus dem Keller nach oben. Die Treppe hinunter und schon befand sie sich im Flur mit der Garderobe und dem großen Spiegel wieder.

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Diese Frage ließ sich leicht beantworten. Keine der zahlreichen hübschen jungen Frauen die zur Gemeinde gehörten konnten es mit ihr aufnehmen. Die Person dort im Spiegel hatte das Zeug für ein erstklassiges Mannequin, wenn sie denn wollte und  Angebote  in dieser Richtung gab es tatsächlich. Doch die stolze Betül wollte nicht. Sich auf diese Art zur Schau zu stellen kam für sie nicht in Frage. Nicht ihrer Religion oder ihrer strengen Familie wegen, nein. Sie lehnte es aus ehrlichem Herzen ab. Oder sollte sie doch? Seit einigen Wochen rumorte es in ihr. Da meldete sich eine bisher verborgene rebellische Seite in ihr, wachgerufen durch sie! Wo war sie? Betül spähte kurz in den Meditationsraum, konnte sie aber nicht entdecken. Sie, jenes Geheimnis umwitterte Wesen das hier vor etwa 8 Wochen auftauchte und seither regelmäßig zu den Samstagabenddhikr kam. Gekleidet wie eine Frau doch war sie das tatsächlich? Das Kopftuch das sie wie einen Schleier band, ließ meist nur das Gesicht erkennen. Eine Mischung aus androgynen und maskulinen Zügen. Wenn sie sprach, was sie ausgesprochen selten zu tun pflegte, tat sie das mit einer tiefen Männerstimme. Zweifellos, eine Kushra, wie die Pakistani solche Wesen nannten, von Geburt an männlich, übernahmen sie meist schon im Kindesalter die weibliche Rolle und lebten später  als Frau.

Kam sie noch oder würde sie heute ihren Weg nicht hierher finden? Letzteres wäre zu dumm, denn gerade auf diese Person freute sich Betül im Besonderen, vor allem weil sie zwei Abende hatte aussetzen müssen und demzufolge auf deren Gesellschaft verzichten.

Noch war es früh, es sah ganz danach aus, als ob das Dhikr heute wieder auf sich warten ließ.

Zurück zu ihr, es galt sich zurecht zu machen, dafür gab es den großen Spiegel um den Frauen und Mädchen die Möglichkeit zu geben sich zurecht zu machen, was nichts anderes bedeutete als Gesicht und Körper in der entsprechend vorgesehen Weise zu verhüllen.

Betül holte einen Kamm hervor und begann ihr Haar zu bürsten. Rabenschwarz und von einem seidigen Glanz reichte es ihr bis zu Taille, es rahmte ein Gesicht von unglaublicher Schönheit. Ein dunkles Augenpaar wie zwei Edelsteine aus Aximit, der sinnliche Mund, die fein geschwungene leicht gekrümmte Nase, die bronzefarbene Haut, alles in perfekten Einklang. Welche Verschwendung dass alles zu verstecken. Bisher hatte sie ihr Haar offen getragen und kleidete sich modisch-modern, meist eng an liegende Jeans und T-Shirt. Doch neuerdings gab es die Aufforderung an die weiblichen Teilnehmer sich sittlich zu verhüllen, was auch immer das bedeutete. Bisher weitgehend unbeachtet, denn Sheikh Abdul stellte es den Frauen frei sich entsprechend zu verhalten, wofür er von Seiten einiger männlicher Besucher mit reichlich Kritik bedacht wurde, die mit soviel Freizügigkeit nichts anzufangen wussten. Noch aber waren solche Stimmen in der Minderheit.

Betül würde heute ihr Kopftuch tragen, allerdings auf eine Weise, die ihre Schönheit nicht verbarg sondern im Gegenteil noch mehr hervorzuheben schien. Auch wenn sie seit ihren Kindertagen darin geübt war einen Schleier anzulegen, bedeutet es immer wieder viel Geschicklichkeit diese prachtvollen Haare zu bändigen. Zuerst zog sie sich die Unterhaube über den Kopf um die Haare kunstvoll darin zu verstauen. Darüber wurde das eigentliche Tuch gebunden  Ein sinnlich-farbiges Leinentuch das sie nicht in der üblichen Form als Hijab um Kopf und Schultern legte, sondern zu einem Turban band ,der in weiblicher Entsprechung mehr in Richtung Hinterkopf getragen wurde. Am Ende ein echtes Kunstwerk.

Als sie damit fertig war, zog sie die Strümpfe von den Füßen um sich barfuß zu bewegen, so wie sie es tat, jene Person auf die sich noch immer voller Sehnsucht wartete. Kaum dass sie den Gedanken zu Ende dachte, bemerkte sie Schritte auf der Treppe. Sie blickte in die Richtung und ihr Mund formte sich zu einem bezaubernden Lächeln, dass von der Person die dort erschien in der gleichen Weise erwidert wurde.

„Salam!“ Begrüße Betül.

„Salam!“ antwortet die angesprochene freundlich.“ Schön dass du wieder da bist ich habe dich vermisst, die letzten Male.“ Fuhr sie fort.

„Wirklich?“ Erwiderte Betül. „Ganz meinerseits! Es erfüllt mich mit großer Freude dich wieder zu sehen.“

„Ich bin Colette!“ Stellte sie sich vor.

„Ich heiße Betül!“

Colette entledigte sich ihrer Turnschuhe und der Weste, die sie über ihrer Tunika trug, rückte sich den Schleier noch ein wenig zurecht und betrat dann den Andachtsraum, der ganz im Stile einer Moschee eingerichtet war.

Fast übertrieben orientalisch bekleidet, wie schon zuletzt mit einer weiten Pumphose, schritt sie würdevoll zu ihrem in der Zwischenzeit angestammten Platz in einer Ecke.

Gespannt blickte die junge Frau ihr nach. Heute würde sie es wagen und auf zu zugehen, sie an sprechen um etwas zu erfahre. Einfach ihre Nähe suchen. Als sie mit allem fertig war, führte sie ihr Weg wie üblich zunächst in die kleinen Küche neben dem großen Raum, wo sich andere Frauen und Mädchen schon zu schaffen machten um das Festessen zu bereiten, dass nach Abschluss des Dhikr gereicht würde.

Colette saß Gedankenversunken abseits, so als warte sie beständig darauf angesprochen und eingeladen zu werden.

Betül erkannte das und erschien nach einer Weile bei ihr mit einem Tablett, auf dem sich ein Glas mit heißen dampfenden Cay, dem traditionellen türkischen Tee befand, dazu Löffel und zwei Stück Würfelzucker, denn der Tee wurde meist stark gesüßt zu sich genommen.

„Danke!“ Colette nahm das Glas entgegen und erwiderte das Lächeln erneut.

„Wenn…wenn du magst kannst du uns ein wenig helfen? Später wenn du deinen Tee getrunken hast? Ein paar kleine Handgriffe, bevor das Dhikr beginnt sind wir damit fertig.“ Lud Betül ein.

„Ja, gern! Mache ich doch! Es dauert ja sicher noch eine Weile!“ Entgegnete Colette und machte Anstalten sich zu erheben.

„Später! Wenn du deinen Tee getrunken hast!“ Gab Betül zu verstehen und entfernte sich wieder in Richtung Küche.

Es schien als habe Colette nur auf eine solche Aufforderung gewartet. Sie war nicht der Typ der sich aufdrängte. Vielmehr hoffte sie dass man ihr entgegen kam und einlud.

Nach einer Weile erschien Colette tatsächlich in der Küche und half ein wenig mit bei allem was hier so anfiel. Ausgesprochen freundlich von den anderen Frauen, älteren wie jüngeren in deren Mitte aufgenommen.

Auch die jungen Männer die sich im Meditationsraum zu schaffen machten um die letzten technischen Vorkehrungen für einen reibungslosen Ablauf des Dhikr zu veranlassen, behandelten Colette freundlich und mit allem Respekt. Nicht die Spur einer Feindseligkeit, obgleich doch in der Zwischenzeit alle mitbekommen hatten um wen oder was es sich  bei ihr handelte.

Sufi schloss niemanden aus. Bei Sufi gab es nur den Menschen. „Komm, wer oder was auch immer du bist und sei willkommen!“ Lautete die Einladung. Das war die Grundlage ihres Handelns.

Die fremdartige Frau, die hier vor einigen Wochen erschien, wurde demzufolge freundlich in die Gemeinschaft aufgenommen und hielt sich wie selbstverständlich bei den Frauen auf und wurde von denen als eine der Ihren akzeptiert.

In einer Welt  rapider Geschlechtertrennung nicht selbstverständlich. Dementsprechend lange zögerte Colette ihren Wunsch in die Tat umzusetzen diese Gemeinschaft aufzusuchen und beinahe wäre sie der Versuchung erlegen hier in männlicher Identität aufzukreuzen.

Nun war sie froh über die Tatsache dass sie als jene Person erschien die ihrem inneren Selbst entsprach, Colette und nichts anderes.

In der Zwischenzeit war Sheikh Abdul eingetroffen und wurde von den jungen Männern der Gemeinschaft in demutsvoller Geste empfangen. Der Handkuss war obligatorisch. Einer reichte ihm den schwarzen Fes als Zeichen seiner Würde. Die anderen trugen den traditionellen Fes aus weinrotem Samt und Kordel.

Sheikh Abdul war ein ansehnlicher stattlicher Mann etwa Mitte fünfzig, mit schwarzen halblangem Haar und einem gepflegten Spitzbart. Bekleidet in die traditionelle Sufi-Tracht.

Eine kurze weiße Tunika und schwarze Pluderhose. Dazu eine dunkelgrüne weit ausladende Weste. Mit sich führte er einen hölzernen Gehstock, den er weniger als Gehhilfe, denn als Zeichen seiner Autorität mit sich führte.

Die jungen Männer geleiten ihn auf seinen Platz, einen großen schwarzen Ledersessel, den man direkt an der Wand platziert hatte, davor ein flauschiges Schaffell um die Füße darauf zu setzen. Wenig später nahm er zunächst auf diesem Fell Platz, denn während des Dhikr saßen alle auf dem Boden.

Nun bildete sich der Kreis. Die Männer im Inneren direkt um den Sheikh gruppiert, die Frauen ließen sich in einem äußeren Kreis nieder. Colette platzierte sich wie selbstverständlich in deren Reihen. Auf gar keinen Fall wäre sie auf die Idee gekommen sich  den Männern zu zurechnen.

Die orientalischen Frauen hatten keinerlei Probleme damit, lediglich eine deutsche Konvertitin, erfüllt mit dem entsprechenden Eifer, störte sich daran und gab zu verstehen dass sie sich durch Colettes Nähe in ihrer Aufnahmefähigkeit für den spirituellen Fluss beeinträchtigt sah. Dementsprechend forderte sie diese mehrfach auf doch bei den Männern Platz zu nehmen, wo sie ihrer Meinung nach hingehörte.

Davon unbeeindruckt stimmte sich Colette sich auf die Meditation ein.

Die Rezitationen wurden wie immer mit dem Bismilah ir rahman ir rahim eingeleitet, der Bitte um das Erbarmen Allahs, unzählige Male wiederholt. Nach einer Weile begannen einige junge Frauen, darunter auch Betül die Bendir zu schlagen, einem Instrument, das dem europäischen Tamburin ähnelte und aus einem einseitig mit Ziegen-oder Schafsleder bespannten kreisrunden Holzrahmen bestand.

Der gleichmäßige Rhythmus lies Colette bald in einen tranceähnlichen Zustand fallen. Um dies zu verstärken wog sie ihren Oberkörper in leicht schwingenden Bewegungen hin und her.

Dann abruptes Ende. Es folgten rezitative Gebete von Sheikh Abdul allein vorgetragen. Daran schloss sich die Vergebungsbitte Estrach ferulag an. Schließlich nach einer Weile der Höhepunkt La illah al ill Allah. Das Trommeln wurde immer heftiger, schließlich erhob sich ein junger Mann, gekleidet in die Derwisch-Tracht, mit dem weit ausladenden bis zu den Knöcheln reichenden weißen Gewand und dem extra hohen Fes auf dem Kopf. Eine tiefe Verbeugung vor dem Sheikh und schon begann er mit dem Derwischtanz, erst langsam dann immer schneller. Die rechte Hand dabei weit nach oben in Richtung Himmel gestreckt, die linke nach unten zur Erde. Den Kopf in Richtung Herz geneigt.

Das weiße Gewand nahm beim Drehen bald die Form einer Glocke an.

Colette bewunderte die Ausdauer. Sie selbst wäre sicher schon nach einer Minute schwindelig zu Boden gegangen. 

Auch dieser Teil der Rezitation endete abrupt. Der Tänzer verneigte sich zum Abschluss erneut vor Sheikh Abdul, ohne die geringsten Anzeichen einer Gleichgewichtsstörung und nahm seinen Platz wieder ein.

Es folgten noch eine ganze Reihe weiterer Gesänge und Gebete. Colettes Blick auf die Uhr an der weißgetünchten Wand signalisierte dass in der Zwischenzeit anderthalb Stunden vergangen waren. Schließlich beendete der Sheikh Abdul mit dem Schlussgebet das Dhikr.

Nach kurzer Pause folgte sogleich das Sohbet. Die Ansprache oder Predigt des Sheikh.

Zu diesem Zweck nahm er nun auf dem Sessel Platz. Einer der jungen Männer brachte schnell das Mikrofon in Stellung. Ein anderer reichte dem Sheikh ein Glas mit Tee. Dieser nahm es entgegen und stellte es auf dem kleinen Anrichtetischchen ab, den bereits eine Vase mit frischen Schnittblumen, ein in einem roten Glas flackernden Teelicht und dem Bildnis von Großsheikh  Nasir, dem Oberhaupt des Ordens, zierte.

Das Sohbet beinhaltet allgemeine Dinge, vor allem das falsche Ego betreffend das es zu überwinden galt. Colette hatte sich bereits damit vertraut gemacht, das es sich dabei um die zentrale Glaubenslehre der Sufi handelte. Das Ego sei zu überwinden um den frei gewordenen Platz mit der göttlichen Energie zu füllen, diese wiederum bereite den Weg zur letzten, zur endgültigen Wahrheit.

Dass leuchtete ein. Eine egoistische Lebenseinstellung ist in den seltensten Fällen geeignet den Weg zur Erkenntnis zu beschreiten. Bescheidenheit und Demut hingegen hilfreiche Attribute zu deren Erlangung.

„Was nutzt dir dein ganzer Reichtum, für den du dich ein Leben lang verausgabt hast? Am Ende deines Lebens stehst du mit leeren Händen da. Nichts, auch nicht die kleinste Kleinigkeit davon kannst du mitnehmen!“ Meinte Sheikh Abdul weiter. Klare Erkenntnis, hatte nicht Jesus schon vor 2000 Jahren auf ähnliche Weise argumentiert?

„Auch deine akademischen Titel die du unter großer Anstrengung und Mühe erworben hast?

Sicher, sie können dir den Doktortitel auf den Grabstein meißeln. Aber was hast du dann konkret davon? Am Ende ist alles vergebens. Am Ende sind wir alle Bettler!“

Martin Luthers letzte Worte auf dem Sterbebett, hier ausgesprochen von einem muslimischen Sufi-Sheikh. Vor der letztgültigen Wahrheit versagt auch das beste Argument. Mit dem Tod kann man nicht handeln, der lässt sich nicht bestechen, weder mit Geld, mit Titel, oder mit Ansehen.

Colette erkannte sich in vielen wieder. Doch wovor sollte sie sich noch fürchten? Hatte sie doch in der Zwischenzeit schon fast alles verloren, was ihr lieb und teuer war. Am Ende würde sie nur ein Leben hinter sich lassen, dass ohnehin nie das Ihre war. Folglich konnte sie durchaus gelassen in den Tag leben.  

Betül hingegen hatte eine ganze Menge zu verlieren. Sinnliche Schönheit und Anmut, Jugend und Gesundheit, liebe Angehörige und Freunde die ihr etwas bedeuteten.

Zwei Menschen so dicht beieinander und doch so fern und verschieden.

Der Sheikh fuhr in seinen Ausführungen fort. Die Zeit verging schnell und schon war er am Ende angelangt.

Nun konnten wieder Fragen gestellt werden aus den Reihen der versammelten Gemeinde.

Als ob sie einer Eingebung folgte erhob sich Colette von ihrem Platz aus den hinteren Reihen und begab sich in die Mitte direkt vor den Sheikh, lies sich auf den Boden nieder und senkte ihr Haupt.

„Sheikh Abdul, mein Körper ist männlich, aber meine Seele weiblich. Ein Leben lang versuchten sie vergeblich einander zu finden. Doch blieb der Weg versperrt. Wer bin ich? Was bin ich? Ein Mensch? Ein Tier? Ein Dämon? Eine Missgeburt? Hat Allah mich gestraft?

Wenn ja, warum, wofür?“

Angespanntes Schweigen senkte sich über die Gemeinde. Eine ketzerische Frage? Wie würde der Sheikh wohl reagieren?

„Aber Colette, was machst du dir für Gedanken?“ Hob Sheikh Abdul an. „Körper und Seele, was glaubst du ist wichtiger?“

„Die Seele!“ Antwortete Colette wie aus der Pistole geschossen.

„Richtig! Der Körper? Was ist da schon. Ein paar Knochen, Gewebe, Flüssigkeit. Er ist uns auf Zeit geliehen. Irgendwann müssen wir ihn loslassen. Wir alle, ausnahmslos. Kein Mensch ist unsterblich. Wenn wir gestorben sind überlassen wir den Körper der Erde, bis er vergangen ist. Die Seele hingegen ist unsterblich, sie ist bei Allah. Schon jetzt, in diesem Augenblick liegt deine Seele in Allahs Schoss. Und wenn deine Seele weiblich ist, dann ist der ganze Mensch weiblich. Dein Körper ist unwichtig. Allah hat dich so geschaffen wie du bist und so bist du richtig.“

Das saß! Colette traute ihren Ohren nicht. Die Versammelten verharrten in schweigender Zustimmung, auch wenn einige männliche Anwesende den Worten des Sheikhs ihre Zustimmung nicht ohne weiteres erteilen wollten.

Abdul erkannte das und versuchte die Situation zu entschärfen.

„Ich möchte euch eine Geschichte erzählen: Eines Tages befand sich der Prophet mit seinen Mitstreitern auf dem Weg zu einer Stadt. Vor den Toren machten sie halt. Mohammed sandte einen seiner Gefährten aus, um die Lage zu erkunden. Dieser tat, wie ihm geheißen.

Nach Stunden kehrte er zurück und war sehr aufgebracht über die seiner Meinung nach sittenlosen Handlungsweisen der dortigen Bewohner. Unter anderem beschwerte er sich über Männer die sich dort wie Frauen kleideten, sich so benahmen, so lebten.

Der Prophet aber wies ihn scharf zurecht. Es stehe ihm nicht an so über Menschen zu urteilen.

Allah habe auch diese Leute geschaffen und zwar so wie sie seien. Wer das missachtet, beleidigt Allah, eben deren Schöpfer. Vielmehr habe Allah gerade diese Menschen besonders lieb, weil sie Ausgestoßene sind.

Ja, es ist schade dass unser wahabitischen* Glaubenseiferer, die sich ansonsten rühmen die Worte des Propheten buchstabengenau zu befolgen, gerade diese oder ähnliche Aussagen erfolgreich verdrängen konnten, so dass sich heute kaum noch jemand ihrer erinnert.

Doch uns Sufi braucht es nicht zu interessieren was die Wahabiten oder Salafisten sagen. Wir spüren die Liebe Allahs auf unsere eigene Art und Weise.

Also Colette freue dich der Liebe die deiner Seele zuteil wird.“

Colette begab sich wieder auf ihren Platz zurück. Tief ergriffen sah Betül zu ihr hinüber. Ihr Entschluss stand fest. Sobald Sheikh Abdul die Sohbet beendet hatte, würde sie zu Colette gehen um ihr ihre tiefe Bewunderung zu offenbaren. Damit hatte sie endlich ein geeignetes Gesprächsthema. Schon lange suchte sie den Kontakt zu ihr, die immer mit so traurigen Augen daherkam. Aber oberflächlicher Smalltalk über das schöne Wetter oder ähnliches war ihre Sache nicht und sie spürte das Colette ähnlich darüber zu denken schien.

 

Es war die reine Wahrheit. Betül war von tiefer Ehrfurcht erfüllt für einen Menschen der so viel Mut besessen hatte, denn auch sie selbst war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass es einige Männer gab, die diese Überzeugung nicht mit ihr teilten.

Endlich war es soweit das Festessen aufzutragen. Das wurde nach alter Sitte auf dem Fußboden eingenommen. Zu diesem Zweck wurden Kunststoffdecken auf dem Teppichboden ausgebreitet um darauf zu servieren. Betül beteiligte sich daran, während Colette wie immer etwas abseits Platz genommen hatte.   

Schließlich ergriff die junge Frau ihren Teller und gesellte sich an deren Seite.

„Das war absolut Spitze! Ich bewundere deinen Mut und deine Entschlossenheit. Ich hätte fast weinen können als du sprachst. Ich warte schon lange darauf dass solche Dinge ausgesprochen werden. Aber die meisten trauen sich nicht. Die Sufi haben zwar den Ruf tolerant und liberal zu sein, deshalb habe ich mich ihnen angeschlossen, aber solche heißen Eisen werden gerne unter den Teppich gekehrt.“

„Ich danke dir! Ich hoffe die anderen denken ähnlich wie du.“ Antwortet Colette wie immer etwas verlegen.

„Keine Sorge! Die meisten tun es. Die Frauen vor allem und auch viele Männer. Aber natürlich gibt es die ewig Unverbesserlichen die den Buchstaben mehr lieben als den Menschen.“

„Ja, die gibt es überall! In jeder Religion, auf allen Kontinenten, überall auf der Welt. All jene die unser Leben vermiesen und versuchen uns ein schlechtes Gewissen einzureden. Die Welt wird wohl nie ohne sie sein.“ Seufzte Colette.

„Schon lange wollte ich einmal richtig mit dir reden, fand aber nie den geeigneten Zugang. Heute musste ich dich einfach ansprechen. Du siehst immer so traurig aus. Ich kann mir nicht helfen aber es scheint mir dass schweres Leid dein Leben kennzeichnet. So als müsstest du einen schweren Verlust verkraften. Oh, bitte entschuldige. Ich wollte nicht so in dichdringen:“

„Schon gut! Kein Problem! Deine Vermutung trifft den Kern! Da gibt es eine ganze Menge Leid in meinem Leben.“ Bestätigte Colette.

Betül war eine Sehende, ihr konnte man nichts vormachen. Ein Blick in diese traurigen Augen sprach Bände. Es bedurfte gar keiner Worte. Hier saß ein Mensch der einen ungeheuren Schicksalsschlag zu verkraften hatte. Eine bis ins tiefste zerrissene Person. Entwurzelt, heimatlos, einsam und krank. Ein Mensch der es aber meisterhaft verstand bei all dem Schmerz die Haltung zu bewahren und sich nichts anmerken zu lassen. Wie lebte Colette, wo war ihr Zuhause, wenn sie überhaupt noch eines besaß. Nichts bewegte Betül in diesem Moment mehr als hinter ihr Geheimnis zu gelangen.

„Verluste gibt es viele in diesem seltsamen Leben, das ich führe. Aber ich muss damit leben.

Es gibt kein Zurück mehr! Die Türen geschlossen. Es gilt den Blick nach vorne zu richten und die Vergangenheit zu begraben.“

„Darf ich fragen woher du kommst?“ Wagte Betül nun direkt nach zu forschen.

Diese Frage schien Colette sichtlich unangenehm, trotzdem war sie zu einer eindeutigen Antwort bereit.

„Aus Melancholanien! Ich komme aus Melancholanien!“

Sofort machte es bei der jungen Frau Klick.

„Aus Melancholanien? Dann bist du Flüchtling! Ihr habt einen unheimlichen Diktator dort, wenn ich recht informiert bin? Kein Wunder, da würde ich es bestimmt nicht lange aushalten!“

„Das ist richtig! Doch das Komische daran ist das ich seinetwegen gar nicht flüchtete, zumindest nicht vordergründig. Ich komme aus einem besonderen Teil des Landes auf den er gar keinen Zugriff hat.“

„Verstehe ich nicht! Das musst du mir schon etwas genauer erklären.“

„Hast du schon mal von den „Töchtern der Freiheit“ gehört?“

Betül kam ins Grübeln. So geläufig war ihr die Geschichte dieses Landes nicht. Sie entsann sich schon einmal von diesem geheimnisumwitterten Amazonenbund gehört zu haben oder wie auch immer man es bezeichnen mochte. Doch hielt sie das für eine Legende, erfunden von der Boulevardpresse um immer wieder mit einer spannenden Story aufzuwarten.

„Las mich überlegen! Ja, ich denke ich habe schon einmal davon gehört. Und dieser Bund existiert tatsächlich?“

„Ja und ich gehörte dazu. Jetzt nicht mehr. Es waren meine Schwestern, meine Familie, ein Bund der weit über die Bande hinausgeht was Blutsverwandte für einander sind. Sie haben mir sehr wehgetan, verstehst du! Deshalb bin ich fort.“

Das sprechen fiel Colette in zunehmenden Maße schwer. In ihren Augen bildeten sich Tränen.

und nur unter großer Mühe gelang es ihr die Fassung zu bewahren.

„Ich… ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Macht es dir sehr viel aus das Thema zu wechseln?“

„Nein! Bitte entschuldige! Ich wusste nicht dass es dir so nahe geht. Selbstverständlich! Ich werde meine Neugierde zügeln.“ Versprach Betül in hastigem Tonfall.

„Wenn du dich mit den Zuständen in meinem Lande eingehender beschäftigst, wirst du auf vieles stoßen, das eine Erklärung beinhaltet.“ Empfahl Colette weiter.

„Das werde ich tun! Versprochen!“

Es war nicht leicht das Thema zu wechseln. So einfach vom einen auf den anderen Moment.

Etwas verwirrt strich Betül auf ihrem Smartphone herum, von dem sie auch die ganze Zeit des Dhikr und des Sohbet über nicht hatte lassen konnten

„Ich… ich muss mal schnell telefonieren!“ Bin gleich wieder da.“

Das stimmte nicht ganz. Aber sie benötigte erst mal Abstand. Wie aber sollte sie sich Colette gegenüber weiter verhalten? Nach wie vor erweckte die ein immenses Interesse in ihr.

Betül führte mit einer ihrer Freundinnen tatsächlich ein belangloses Telefonat vom Flur aus, den Blick dabei immer voller Neugier in den Andachtsraum gerichtet.

Colette sonderte sich weiter ab. Befand sie sich schon in Aufbruchsstimmung? Gedachte sie die Zusammenkunft schon zu verlassen? Als sie sich unbeobachtet fühlte zog sie kurz den Schleier vom Kopf. Zum Vorschein kamen zerzauste, strohig-graue Haare. Auch jetzt dämmerte es Betül sofort. Diese Haare sahen so aus, nicht etwa weil sie ungepflegt waren. Nein! Es waren die Haare einer Kranken. Krank wie Colettes ganzer Körper und deren Seele. Der Schleier war in diesem Fall kein Attribut der Unterdrückung, wie bei muslimischen Frauen und Mädchen ansonsten der Fall. Für Colette bedeutet er Schutz. Es war leicht vorstellbar welche Hänseleien sie Tag für Tag über sich ergehen lassen musste, aufgrund dieser Haartracht.

Schnell beendete Betül ihr Gespräch um wieder die Nähe dieses alles in allem ungewöhnlichsten Menschen zu suchen, der ihr je begegnet war.

„Willst du schon gehen? Bleib doch noch ein wenig! Oder hast du dringende Verpflichtungen, deren du nachkommen musst?“

„Nein, eigentlich nicht! Auf mich wartet nichts und niemand!“ Bestätigte Colette und lies ich wieder auf den Teppichboden nieder.

Betül beschäftigte sich mit den zahlreichen Kindern die hier herumtobten.

„Hey, lass uns doch einfach die Handynummern austauschen!“ Entfuhr es ihr nach einer Weile. Ein Angebot dem Colette mit großer Freude nachkam.

„Ruf mich doch einfach mal die nächsten Tage an, oder ich melde mich bei dir? Wäre dir das recht?“

„Ja gerne! Natürlich wäre mir das recht?“ Entgegnete Colette sichtlich entspannt.

„Wir können uns auch mal treffen, einen Kaffee trinken irgendwo, oder mal was unternehmen? Was meinst du?“

„Das wäre toll! Ich würde mich freuen!“ Colette kam aus dem Stauen nicht mehr raus.

Diese wundervolle sinnliche junge Frau wollte sich mit ihr treffen? Konnte es so etwas geben?

Wartete kein Mann auf sie, kein Verlobter, Freund, oder wie auch immer? Offensichtlich nicht, denn warum sollte sie sonst ihre Freizeit ausgerechnet einem Menschen wie Colette opfern?

Was konnte sich daraus entwickeln?

Im Moment schien das gar nicht so entscheidend. Colette besaß etwas sehr kostbares,die Handynummer orientalischen Schönheit. Sie konnte jederzeit mit der jungen attraktiven Frau in Verbindung treten und war nicht mehr darauf angewiesen ob sich diese rein zufällig Samstagabend in das Sufi-Zentrum begab. Ein guter Anfang. Ein zeitweiliger Triumph den es so weit als möglich zu genießen galt.

Betül dachte in diesem Moment nicht anders. Schon jetzt, ab diesem Moment waren sie Seelenschwestern, auch wenn keine von beiden zu erklären vermochte, woher diese Anziehungskraft kam.

Somit war es Colette problemlos möglich, sich nach einer Weile heimlich still und leise auszuklinken. Schon morgen würde sie die Tasten ihres Handy bedienen und war imstande Betüls Stimme zu vernehmen. Für heute war es genug. Der Abend endete unter positivem Aspekt. Das hatte Seltenheitswert.

Die Treppe hinauf, dann auf die Straße. Hinein in das pulsierende Leben der Großstadt, dass auch in der Nacht nie richtig zur Ruhe gelangte. Hinein in die Anonymität eines aufgezwungenen Lebens. Doch mit Hilfe solcher kleinen Freuden war es ihr durchaus möglich die Hoffnung noch nicht ganz zu verlieren.

 

Ihren Vorsatz die neue Freundin anzurufen erfüllte Colette wider erwartend nicht. Mehrfach hielt sie das Handy in der Hand, doch brachte es nicht fertig die Nummer zu wählen. Statt- dessen fieberte sie dem Samstagabend entgegen, in der Erwartung die neue Freundin dort wieder anzutreffen. Eine Hoffnung die sich jedoch als Trugschluss erweisen sollte, denn Colette wartete vergeblich. Dem Anschein nach hatte die junge Frau wieder Dienst und konnte sich nicht frei machen. Somit blieb Colette nichts anders übrig als sich vollauf der Andacht zu zuwenden, derentwillen sie eigentlich auch hier her gekommen war.

Nun blieb ihr keine andere Wahl. Wollte sie den gerade erst geknüpften Kontakt nicht wieder aufs Spiel setzen, musste sie in die Offensive gehen.

Sonntagvormittag wählte sie erstmals Betüls Nummer. Doch zu ihrer großen Enttäuschung  vernahm sie nur eine unpersönliche Stimme: „Der Teilnehmer ist derzeit nicht erreichbar, bitte versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal!“

Nach etwa einer Stunde folgte ein zweiter Versuch mit dem gleichen Ergebnis. So ging es den gesamten Tag weiter. Auch der Montag hatte nichts anderes im Gepäck als diesen dummen Spruch am anderen Ende der Leitung. Dienstag, Mittwoch ,Donnerstag , Freitag. Immer das gleiche Ergebnis.

Wozu schaffen sich Menschen eigentlich Handys an, wenn sie sie am Ende doch nicht benutzen?

Samstagvormittag. Wie nicht anders zu erwarten, das gleiche ernüchternde Ergebnis. Schluss! Aus! Dann eben nicht! Einmal mehr einer falschen Hoffnung erlegen, wie schon  unzählige Male in ihrem Leben.

Die Samstage empfand Colette besonders schlimm. Die boten reichlich Nahrung für die Depression, die sich wie ein schwarzer Vogel bedrohlich über ihr ausbreitete und jeden Augenblick imstande war sich erbarmungslos auf ihr Opfer zu stürzen.

Davor fürchtete sich Colette ganz besonders und sie glaubte die Schwingen dieses Unheilsbringers schon am Himmel gesichtet zu haben.

Dann piepste ihr Handy und am andern Ende meldete sich Betül. Erlösung! Die Retterin mit ihrer sinnlichen Stimme.

Die Glückshormone tanzten Tango. Die Depression mit einem Schlag wie weggefegt. Verschwindet aus meinem Leben, ihr Dämonen der Finsternis, heute habt keine Macht mehr über mich.

„Hallo schön dass ich dich erreiche meine liebe. Bitte entschuldige, dass ich nicht an das Telefon ging. Es war einfach zuviel Stress, verstehst du. So viel zu tun, dass ich kaum Gelegenheit dazu hatte.“ Betüls Ausrede klang nicht sehr plausibel. Doch Colette störte es nicht. Jetzt war sie dran und das war ausschlaggebend.

„Schon gut! Schön dass du dich doch noch meldest.“

„Wie geht es dir heute?“

„Danke ganz gut! Und dir?“

„Ja, auch gut!“

„Kommst du heute Abend?“ Die entscheidende Frage die Colette auf der Zunge brannte.

„Ich versuche es! Aber versprechen kann ich nichts. Auch heute muss ich mit Überstunden rechnen. Aber ich kann ja auch noch später kommen.“

„Das wäre schön! Da würde ich mich freuen! Aber toll das du dich gemeldet hast. Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.“ Gestand Colette freimütig.

„Ich …ich werde mich von jetzt ab regelmäßig bei dir melden. Versprochen! Großes Ehrenwort. Ich muss jetzt Schluss machen. Bin schon wieder im Stress. Aber heute Abend… heute Abend sehen wir uns ganz bestimmt.“

Der Tag schien gerettet, zumindest vorübergehend, denn ob sie heute wirklich beim Dhikr erscheinen würde war keinesfalls sicher.

 

Selbstverständlich hatte Betül die letzten Tage das Handy ständig läuten hören Auf dem Display konnte sie deutlich Colettes Namen lesen, doch ganz bewusst vermieden sich zu melden.

Jetzt, im nach hinein tat es ihr unendlich leid und sie wollte es wieder gut machen. Koste es was es wolle, sie musste an diesem Abend zum Dhikr, daran ging kein Weg  vorbei.

Die zurückliegende Woche hatte sich Betül ausgiebig mit der Geschichte Melancholaniens befasst. Jenes eigenartige Land in der Mitte Europas, dort wo die Menschen ein dem deutschen ähnlichen Dialekt sprachen und derzeit unter der Diktatur einer sich als revolutionär gebärdenden Partei standen, deren Anführer ein gewisser Neidhardt, das Land mit eiserner Faust regierte. Ja, tatsächlich! Da gab es auch jene Enklave die sich seinem Machtanspruch widersetzte. Eine Art libertärer Kommune, die sich auf dem Gelände einer ehemaligen Abtei befand, von der Außenwelt streng isoliert. Von dort also kam Colette. Das klang abenteuerlich. Betül konnte es kaum glauben. Einer von zahlreichen Gründen warum sie die Kontaktaufnahme zurückgewiesen hatte. Wie sollte sie Colette gegenübertreten? Welche Gefühle hegte sie tatsächlich für diese mysteriöse Person? War es nur reine Neugier auf ein außergewöhnliches Leben, oder steckte da noch mehr dahinter? Fragen über Fragen und kaum eine zufrieden stellende Antwort in Sicht.

Und was suchte Colette ausgerechnet in einer Sufi-Gemeinde? In Melancholanien gab es kaum muslimische Gläubige.

Dass es sich bei ihr um eine Suchende handelte, hatte Betül längst begriffen. Colette schien alles verloren. Da sie sich weigerte sich darüber auszusprechen, musste es schon schwer auf ihrer Seele lasten. Sie gedachte einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit zu ziehen, was ihr offensichtlich nicht gelang, sosehr sie sich auch bemühte. Keineswegs wollte sie Colette falsche Hoffnungen machen. Doch andererseits machte sie die Feststellung dass ihre Gefühle in der Zwischenzeit einen Grad erreicht hatten der weit über das hinaus gingen was man als rein freundschaftlich hätte bezeichnen können.

 

Das Dhikr hatte schon lange begonnen und Colettes sehnsüchtiger Blick hin zum Flur steigerte die Spannung von Minute zu Minute. Würde Betül noch erscheinen oder musste sie wieder vergeblich warten.

Die Uhr zeigte schließlich 21 Uhr und noch immer war sie nicht eingetroffen. Naja, das wär`s erst einmal. Dann eben nicht. Da tauchte die Erwartete auf und lies sich gleich an Colettes Seite nieder, schmiegte sich zu deren großer Freude eng an sie und griff sogar nach ihrer Hand. Eine gebührende Entschädigung für ein langes zermürbendes Warten.

An diesem Abend leitet Sheikh Mehmet die Zeremonie, eigens dafür aus der Türkei angereist.

Das anschließende Sohbet hielt er auch auf türkisch. Ein Begleiter nahm die Übersetzung ins Deutsche vor.

Beim anschließenden Festmahl saßen Colette und Betül noch zusammen. Doch die junge Frau verabschiedete sich frühzeitig wieder. Sie habe Nachtdienst und müsse sich wieder auf den Weg machen. Eigens für das Dhikr hatte sie sich frei genommen, vor allem um Colette wieder zu sehen. Nun schienen die Wogen erst einmal geglättet.

Die konnte nun in gelöster Stimmung und im Frieden mit sich selbst ihren Heimweg antreten.

 

Schon der erste Anruf stellte die gewünschte Verbindung her. Betül meldete sich mit ihrer liebevollen Stimme und schon war die Verabredung getroffen. Sonntagnachmittag in Berlin, das Wetter wie geschaffen für einen Ausflug und in solch einer Metropole konnte Mensch so allerhand unternehmen.

Die Fahrt zum Alexanderplatz gestaltet sich als reines Vergnügen, wie immer wenn am mit sich selbst im Reinen ist.

„Und nun besteigen wir den Fernsehturm!“ Lud Betül ein.

„Besteigen!“ Wunderte sich Colette.

„Natürlich fahren wir im Aufzug. Eine Treppe bis hinauf in die Aussichtsplattform wäre schon eine echte Zumutung!“

Der Lift brachte sie in anderthalb Minuten auf die erwünschte Höhe und die grandiose Aussicht über die Stadt ließ die gewaltigen Dimensionen erkennen.

Seid sie in der Stadt eingetroffen war hatte sich Colette vor genommen diesen Turm näher in Augenschein zu nehmen, doch ihr Vorhaben bisher nicht in die Tat umgesetzt.

Gemeinsam war es bedeutend angenehmer diesen Blick zu genießen.

Ihren Kaffee nahmen sie wieder ebenerdig ein mit Blick auf die gewaltige im Sonnenlicht glänzende Silberkuppel.

Betül erwies sich als kundige Fremdenführerin.

„Ja, 1969 wurde der Turm eingeweiht, in den alten Zeiten, als es noch zwei deutsche Staaten gab und eine undurchdringliche Mauer Berlin in zwei Hälften teilte Ich war damals noch nicht auf der Welt. Der wuchtige Bau überragt den alten Funkturm im Westen der Stadt um einiges. Einer der Gründe für dessen Entstehen. Vor allem aber wollte Walter Ulbricht, der damalige Staatschef der DDR ein Bauwerk das alle Kirchen der Stadt weit in den Schatten stellte um die Überlegenheit jener Ideologie zur Schau zu stellen derer er sich verpflichtet fühlte.

Doch die Einweihung war gerade vollzogen als sich Ulbricht eines Morgens auf dem Weg in seine Residenz befand. Sein Blick fiel auf die Kuppel und der Schreck fuhr ihm in die Knochen. Die aufgehende Sonne spiegelte sich darin in Form eines riesigen goldenen Kreuzes.**

Ein Bauwerk geschaffen um sämtliche Kirchen der Stadt zu übertreffen präsentierte nun das größte weithin sichtbare Kreuz der Stadt. Ist das nicht eine phantastische Geschichte?“

„Ja! Die Religion lässt sich eben nicht abschaffen. Sie bedient sich immer Mittel und Wege um zu den Menschen durch zu dringen.“ Glaubte Colette zu wissen.

„Was hat dich nun wirklich zu den Sufi geführt? Ich kann es noch immer nicht ganz nachvollziehen! Spürtest du etwas? Ein Zeichen? Einen Hinweis, wenn auch nur versteckter Natur?“ Wollte Betül in Erfahrung bringen.

„Ich interessiere mich schon lange dafür! Eigentlich für alles das in welcher Form auch immer, mit Mystik zu tun hat. Sufi zieht mich magisch an. Ich selbst habe bisher auch noch keine Erklärung dafür.“ Gab Colette zur Antwort.

„Nun ich denke, die brauchst du auch gar nicht zu suchen. Fändest du eine wäre es ja kein Mysterium mehr.“

Betüls Deutung schien plausibel.

„Da magst du Recht haben. Trotzdem suche ich nach Erklärungen. Ich strebe nach Erkenntnis. Ich möchte erkennen. Sufi scheint mir ein ausgesprochen geeigneter Weg zum letztgültigen Geheimnis.“ Erwiderte Colette.

„Hm, bei mir ist es ähnlich, auch wenn ich aus einer anderen Tradition komme.

Du hast Sheikh Abduls Worte gehört. Sufi ist universell. Du musst nicht zum muslimischen Glauben übertreten, um ein Sufi zu werden. Dass ist das Schöne daran. Leider sind unsere Glaubenseiferer in dieser Hinsicht ganz anderer Meinung. Auch hier in dieser Gemeinde werden solche Stimmen immer lauter. Die kritisieren  ständig herum, dass das alles nichts mit einem rechtgläubigen Islam zu tun habe oder so.“ Antwortete Betül während sie in ihrer Kaffeetasse rührte.

„Hört sich interessant an. Ich denke hier bin ich schon mal richtig!“

„Das bist du auf jeden Fall. Dessen war ich mir bewusst schon als ich dich zum ersten Male sah.“

„Viele Ansichten die hier vertreten werden erinnern mich an ähnliches aus meiner alten Heimat. Das wird es wohl sein. Ich sehe eine ganze Reihe von Übereinstimmungen mit unserer Lehre. Ja, die Welt ist klein.“

Unbewusst hatte sie selbst wieder dieses Thema angeschnitten, was sie doch eigentlich zu vermeiden suchte. Aber der Verlust all dessen was einem im Leben lieb und teuer ist lässt sich eben nicht mit einem Fingerschnippen beiseite schieben.

Betül hakte nicht weiter nach, wie immer diplomatisch, wartet sie darauf ob ihre Gesprächspartnerin weiter darauf einging oder das Thema wechselte.

Colette hatte in der Gemeinschaft der sie an gehörte und die sie für immer verloren glaubte, eine herausragende Stellung eingenommen. Das war so offensichtlich, dass es die Spatzen von den Dächern pfiffen. Hier hingegen war sie ein Niemand, das personifizierte Nichts, Teil einer anonymen Masse von abertausend weiteren Bedeutungslosen.

„Es gibt keine wirklichen Zufälle. Es scheint alles vor bestimmt. Jedes Blatt, das der Herbstwind von seinem Zweig weht, fällt in einer ganz bestimmten Weise zu Boden. Die alte Ordnung wie sie seit Jahrtausenden besteht. Auch wir Menschen sind nur ein Teil davon. Unser Leben verläuft in einem Rhythmus der schon seinen Takt bestimmte, lange bevor wir überhaupt geboren wurden. Wir können nicht einfach weglaufen und uns unserer Bestimmung entziehen. Tun wir es dennoch  sind wir verloren. Unser eigentliches Ich holt uns immer wieder ein und verlangt Rechenschaft. In einer Welt die nicht unserer Bestimmung entspricht sind wir dem Untergang geweiht.“

Colette rang nach Luft, es schien als habe jemand einen Zentner schweren Block auf ihre Brust gelegt. Kaum noch in der Lage zu sprechen lehnte sie sich weit nach hinten und blickte zum azurblauen Himmel der sich über die lärmende Großstadt breitete.

Betül griff nach ihrer Hand und drückte sie ganz fest. In diesem Moment schien sich der Krampf zu lösen.    

„Du musst nicht darüber reden, wenn es dir schwer fällt. Auch wenn es die Seele erleichtert, nicht immer ist es gut sich zu offenbaren.“

„Danke! Es geht schon wieder! kein Grund zur Sorge! Ich werde schon damit fertig. Mein Leben verlangt einfach nach einer Entscheidung. Ich muss mich ihr stellen und zwar schon sehr bald.“ Gestand Colette nun doch.

„Dann tue was du tun musst!“ Riet Betül und Traurigkeit klang aus ihrer Stimme.

 

Die beiden trafen sich noch einige Male und jedes Mal war die Resonanz  ausgesprochen positiv Sie besuchten den großen Tierpark im Osten der Stadt, den Treptower Park und noch so einiges was die Stadt zu bieten hatte.

Es gelang ihnen dabei sich vollständig auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Die Vergangenheit blieb unter Verschluss und die Zukunft musste warten.

Sie lebten den Augenblick ohne Erwartungen und genossen das was sich ihnen bot.

Betüls Dienstplan machte dem bald ein Ende und schließlich sahen sie sich nur Samstagabend während des Dhikr.

Die junge Frau ging auf die neue wesentlich ältere Freundin zu, kuschelte sie an sie, so als sei es das normalste auf der Welt. E schien niemanden zu stören.

Viele der anderen jungen Frauen begannen sich zu verändern. Ließen einfach das Kopftuch weg, begann sich zu schminken, oder die Nägel zu lackieren. Colettes Vorbild begann immer deutlicher Wirkung zu zeigen. Selbstbewusstsein bestimmte das Handeln der Frauen. Lockere und gelöste Spannung die allen gut zu bekommen schien.

Allen? Nein, nicht allen! Immer deutlicher traten Unstimmigkeiten zutage, heimlich ausgetragen, hinter verschlossenen Türen.  Nach außen wurde weiter die traute Einigkeit zelebriert.

Die Reihen innerhalb der Männer begannen sich zu lichten. Vor allem die Imame befreundeter Moscheegemeinden blieben den Meditationen in zunehmendem Maße fern.

 

„Nächstes Wochenende bin ich nicht hier!“ Teilte Betül ihrer neuen Freundin mit, die jene Aussage mit traurigem Blick zur Kenntnis nahm.

„Ich besuche unser Zentrum auf dem Lande. Ganz weit unten im Allgäu. Warum kommst du nicht einfach mit? Ich könnte mir vorstellen, dass es dir gefallen wird. Alles noch viel intensiver und kompakter als hier.“

„Das würde ich schon gern. Aber du weißt dass das unmöglich ist. Die Unterbringung erfolgt dort in großen Schlafräumen. Männer und Frauen getrennt. Wo glaubst du würde ich dann unterkommen?“ Gab Colette zu bedenken.  

Die junge Frau blickte verlegen zur Decke und war im Augenblick nicht imstande etwas zu erwidern, denn Colettes Feststellung war nicht von der Hand zu weisen.

„Na… das dürfte sich doch klären … irgendwie. Daran sollten wir es nicht scheitern lassen.

Wir… wir werde dich da schon unterkriegen!“ Begann sie nach einer Weile zu stammeln. Doch die Art wie sie die Worte über ihre Lippen brachte lies deutlich darauf schließen das sie ihrer Aussage selber keinen großen Glauben schenkte.

„Gib‘s zu! Du bist dir zutiefst unsicher!“ Stellte Colette fest.

Erneut senkte Betül den Kopf.

„Ist schon in Ordnung! Für mich ist das normal. Das bin ich gewohnt, bzw. war es. Dann kam jene Zeit da ich glaubte angenommen zu sein. Einfach dazu gehören. Ein zu Hause haben. Wissen wo ich hingehöre. Doch damit ist es vorbei. Ich werde niemals irgendwo dazu gehören. Bis zu meinem Lebensende eine Fremde unter Fremden sein. Die einsame Wanderin in der Nacht.“

„Aber das ist irre! Sheikh Abdul hat es dir gesagt, du bist akzeptiert. Alle haben es gehört an jenem Abend. Dann sollen sie sich auch gefälligst danach halten.“ Wut sprach aus Betüls Stimme.

„Oberflächlich vielleicht. Aber ich spüre die Spannung die sich immer deutlicher in diesem Raum ausbreitet, wenn wir zusammen kommen. Tief im Verborgenen sitzt die Aversion. Es gibt auch hier nicht wenige die sich durch meine Gegenwart verunsichert fühlen.“

„Dann müssen wir kämpfen!“ Brauste Betül auf.

„Kämpfen? Gegen wen? Gegen Gott, oder das Bild dass sich die Menschen von ihm geschaffen haben? Kämpfen, gegen die Autorität, die im Namen jenes Gottes spricht? Nein, das ist unmöglich. Ich will nicht daran schuld sein, dass so eine Gemeinschaft wie diese auseinanderbricht. Für einen Moment glaubte ich ein winziges Stück Heimat gefunden. Doch ich werde loslassen müssen. Mich auf das Unvermeidlich einstellen. Wenn es soweit ist muss  ich mich wohl oder übel zurückziehen.“

Wortlos fiel Betül Colette um den Hals und klammerte sich an sie. Tränen bildeten sich in ihren Augen.

„Werden wir uns verlieren?“

„Nun wir können uns ja auch weiterhin treffen, und verabreden, was gemeinsam unternehmen.“ Schlug Colette vor.

„Das können wir sicher.“ Betül wandte sich ab. Sie hatte verstanden. Da neigte sich etwas seinem unwillkürlichem Ende entgegen.

Der Abend verlief ohne besondere Vorkommnisse.

 

Als sich Colette eine Woche später auf dem Weg ins Zentrum befand ahnte sie noch nichts von den tiefgreifenden Veränderungen die sie dort erwarteten.

Es ging ihr gut und sie freute sich auf den Abend, der längst zu einem festen Termin in ihrer Wochenplanung geworden war. Mit Betül brauchte sie wohl nicht zu rechnen. Doch das war nicht weiter tragisch.

Als sie den Andachtsraum betrat fand sie sich vor einer großen Wand aus weißen Stoffbahnen wieder, die einen kleinen Bereich ganz in der hinteren Ecke abgrenzten. Was hatte das zu bedeuten? Sie nahm zunächst ihren gewohnten Platz ein und harrte der Dinge die sich noch ereignen sollten. Nach kurzer Zeit wurde sie von Yussuf aufgefordert sich hinter die Stoffbahn zu begeben. Widerwillig kam sie der Aufforderung nach.

Ein Beklemmungsgefühl bemächtigte sich ihrer, so als versagte ihr der Atem.

Nach einer Weile erschienen auch andere Frauen und ließen sich auf dem Boden nieder. Doch es waren bei weitem nicht so viele als sonst üblich.

Schließlich erschien Gülcan, eine der Frauen mit der sich Colette in der Zwischenzeit angefreundet hatte und die etwa in ihrem Alter war.

„Was hat das denn zu bedeuten?“ Wollte Colette wissen und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stoffbahn.

„Ab sofort müssen alle Frauen hinter den Vorhang. Eine Anordnung unseres neuen Oberhauptes Großsheikh Nasir. Auch verschleiern müssen wir uns in Zukunft wieder.“

„Aber das kann doch gar nicht sein. Wie soll das denn funktionieren?“

„Tja, da kann man nichts machen. Wir dürfen das nicht in Frage stellen!“ Gab die Freundin zur Antwort.

„Aber warum denn? Warum lasst ihr euch das gefallen?“ Colettes Enttäuschung kannte keine Grenzen.

„Es kommt uns nicht zu die Entscheidung des großen Meisters zu kritisieren. Ob es uns gefällt oder nicht ist dabei ohne Bedeutung. Es ist unsere Tradition. Ja, ich denke, es ist auch besser so. Wenn ich ehrlich bin hat es mich immer gestört. Auf diese Weise können die Energien bedeutend besser fließen. Männer und Frauen zusammen im Gebet das geht eigentlich gar nicht.“

Gülcans Erklärung befriedigte Colette in keiner Weise. Und man brauchte kein Hellseher zu sein um heraus zu finden, dass diese Worte nicht aus dem Herzen kamen, sondern gespielt waren. In Wirklichkeit litt Gülcan ebenso unter der neuen Direktive und wagte nur nicht ihre Worte offen auszusprechen.

„Also ich habe da erhebliche Probleme damit!“ Gab Colette zu verstehen. „Da bekomme ich ja Platzangst, das schnürt mich ein. Man sieht ja gar nichts mehr, nichts von alledem was da vorne geschieht.“

„Das muss auch nicht sein. Das lenkt uns nur ab. Ich glaube, so können wir uns bedeutend besser konzentrieren, wenn wir nur den Worten lauschen.“ Versuchte Gülcan eine Antwort.

„Aber die Männer dürfen das oder? Gut, einverstanden. Ich könnte das akzeptieren unter der Voraussetzung dass sich die Männer ebenfalls hinter einen Vorhang auf der anderen Seite zurückziehen und der Sheikh alleine in der Mitte sitzt.“

Gülcan schien nicht verstehen zu wollen.

„Na die Männer dürfen dem Dhikr selbstverständlich auch weiterhin beiwohnen. Es sind ja schließlich…..Männer:“

„Und das erklärt alles?“

„Ja, sicher! Das erklärt alles! Du musst entscheiden. Natürlich kannst du gerne als Mann hier erscheinen, in Zukunft, dann steht es dir zu dich ebenfalls nach vorne zu setzen.“

Die Klatsche saß. Bisher ging Colette immer davon aus dass Gülcan sie als Frau betrachtete.

Dem war offensichtlich nicht so.

In der Zwischenzeit kamen weitere Frauen hinzu. Es waren auch Deutsche darunter. Einige empfanden den neuen Zustand als Zumutung und verließen umgehend die Andachtsstätte.

„Siehst du Colette. Auf diese Weise wird unser Dhikr gereinigt. All jene die wieder gehen und sich mit der neuen Anordnung nicht einverstanden erklären, beweisen damit nur dass ihnen die Andacht nie wirklich wichtig war. Wäre es ihnen ernst damit würden sie bleiben. So aber lassen sie erkennen dass sie bisher nicht ehrlichen Herzens dabei waren.“ Versuchte sich Gülcan weiter in einer Erklärung.

Aha, so einfach war das. Der Oberpatriarch verkündet ein Dogma und alle Untergeben haben zu folgen. Wer sich weigerte galt als Häretiker und war in Folge dessen fehl am Platz.

So funktionierte die androzentrisch ausgerichtet Religion seit Jahrtausenden und niemand vermochte diesen Umstand Paroli zu bieten.

Wut formte sich in Colette. Grenzenlose Wut über diese Anmaßung. Die waren gerade im Begriff ihr jenes kleine Stück Heimat dass sie sich in den letzten Wochen so mühevoll erkämpft hatte, wieder zu nehmen. Denn unter diesen Voraussetzungen konnte sie sich nicht vorstellen das Dhikr weiter zu besuchen.

Schließlich begannen die Rezitationen. Hinter dem Vorhang wurde es richtig dunkel, nur noch schemenhaft waren die Konturen von Personen zu erkennen.

Ein junge Frau, die Colette ebenfalls gut kannte, die für ihre leicht aufmüpfige Art bekannt war und sich weigerte ein Kopftuch zu tragen, wagte es den Vorhang leicht zu öffnen, so dass ein kleiner Blick auf den inneren Kreis möglich wurde. Schnell wurde der Vorhang von einem der jungen Männer wieder geschlossen.

Eine Demütigung ohne Gleichen. Weitere Frauen verließen die Runde, sie würden nie wieder kommen.

Das sich anschließende Sohbet beschäftigte sich eingehend mit den neuen restriktiven Maßnahmen.

„Unser Großmeister hat diese Anordnungen erlassen. Wenn sie uns auch nicht gefallen, so müssen wir uns ihnen fügen.“ Setzte der Sheikh an und man konnte an seinem Tonfall deutlich seine Missbilligung erkennen.

„Wir habe zu sehr auf unser Ego gesetzt, die letzten Wochen und Monate. Unserer Lebensweise, die wir hier praktizierten entsprach nicht Gottes Willen. Männer und Frauen können nun einmal nicht gemeinsam beten oder meditieren. Die göttliche Ordnung wird auf diese Weise erheblich in Frage gestellt.“

Aber das glaubst du doch selber nicht. Dachte Colette wutentbrannt, aber selbstverständlich vermied sie es den Gedanken auszusprechen.

Die göttliche Ordnung wird gestört, nur weil Männer und Frauen gleichberechtigt meditieren?

Die göttliche Ordnung? Nein, die männliche. Eine Religion von Männern für Männer. Frauen waren dabei gerade Mal Beiwerk. Ist Gott männlich, ist das männliche Gott!***

Die alte Leier. Ein Glaubenssatz, ausgelatscht wie ein paar alte Schuhe, aber einfach nicht zu überwinden.

 

Auch das Essen wurde von nun an getrennt eingenommen. Als erstes wurden die Männer bedient, versteht sich von selbst Als die gesättigt waren, kamen die Frauen an der Reihe. Widerwillig stocherte Colette auf ihrem Teller. Der Bissen schien ihr im Hals stecken zu bleiben. Kaum Gespräche. Die Stoffbahn wirkte wie eine undurchtrennbare Mauer aus Granit. Ein immer deutlicher werdendes Gefühl der Angst drückte Colettes Herz wie eine Faust zusammen. Sie konnte nicht mehr bleiben. Früher als sonst üblich verließ sie die Runde.

Frische Luft, erst mal durchatmen. Wie ein Roboter bewegte sie sich durch die Menschenmassen. Alles schien ihr zuwider in diesem Moment. Das konnte doch alles nicht sein. Warum in aller Welt musste das geschehen?

Unwiederbringlich wurde hier eine großartige Chance vertan. Eine Gemeinschaft die einen weltoffenen, modernen, toleranten und liberalen Islam vertrat. Einen farbigen, sinnesfrohen Islam der die Menschen einlädt und nicht sortiert. Ein Islam der Kunst und Kultur integrierte und förderte. Ein Islam des offenen Dialoges unterschiedlicher Anschauungen und Meinungen. Ein diametraler Gegensatz zu all jenen Lehren die nur auf Unterwerfung und Ausgrenzung bauten.

 

Am anderen Morgen erhob sich Colette zur üblichen Zeit, recht früh um die Küche in der WG in der sie vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte für sich allein zu haben.

Sonntag, auch dieser Tag stand wie gewohnt besonders ihren spirituellen Bedürfnissen zur Verfügung. Sie besuchte für gewöhnlich die Kirchen verschiedener Konfessionen, die in Berlin zahlreich zur Verfügung standen. Seit sie im Exil lebte verspürte sie geradezu einen Heißhunger auf solche Dinge. Eigenartig, in Melancholanien hatte sie sich vor allem als Anarchistin hervorgetan und fühlte sich dem politischen Kampf verpflichtet. Doch frei von religiöser Hinwendung war sie nie.

Befriedigung fand sie heute nicht. Zu sehr waren ihre Gedanken noch im gestrigen Tag verhaftet.

Wieder einmal heimatlos. Wie schon so oft in ihrem Leben. Woher nahmen die Menschen das Recht sie immer wieder auszuschließen? Dabei hatte sie die letzten Wochen so viel an Hoffnung geschöpft.

Warum sie plötzlich ein so großes Interesse für den muslimischen Glauben aufbrachte vermochte sie nicht erklären. Doch Betül hatte Recht. Sufi steht über dem Islam, wie über allen Religionen schlechthin. So oder ähnlich konnte die Antwort lauten.

Sie musste sich mit ihrer Freundin verständigen, sich mit ihr darüber austauschen. Sie wählte Betüls Nummer auf dem Handy doch der Ruf ging ins Leere. Naja, dann musste sie es eben später noch einmal versuchen. Was würde die Vertraute zu all dem sagen? Colette brannte darauf deren Meinung in Erfahrung zu bringen. Leider scheiterten auch sämtliche weiteren Versuche der Kontaktaufnahme, so dass sich Colette am Ende noch bedeutend einsamer fühlte.

 

Auch die ganze folgende Woche gelang es Colette nicht die junge Schöne, die gerade im Begriff war ihr Herz zu erobern zu erreichen. Absicht? Was bezweckte Betül damit?

Colette selbst hegte schon lange Zweifel an dieser Beziehung. So sehr sie es sich auch wünschte, das konnte nicht funktionieren. Betül war halb so alt wie sie selbst und mit ihrer sinnlich –erotischen Ausstrahlung konnte sie jeden um die Finger wickeln. Mit größter Wahrscheinlichkeit war sie schon lange in festen Händen. Zu glauben dass die junge Frau eine Liebesbeziehung mit ihr anstrebte war mehr als naiv.

Bisher hatte sie sich in Distanz geübt und das war gut so.

Einen Schlussstrich ziehen? Auf keinen Fall wollte Colette in eine emotionale Abhängigkeit geraten. Das konnte ihr nur zum Schaden gereichen. Schuster bleib bei deinen Leisten. Das alte Sprichwort bewahrheitet sich immer wieder aufs Neue.

Warten, erneut warten bis zum nächsten Samstagabend. Ja, sie würde zum Dhikr gehen. Diesmal war sie vorbereitet. Auf keinen Fall wollte sie die Flinte vorzeitig ins Korn werfen.

 

Betül hingegen plagten derweil ganz andere Sorgen. Schon lange hatten ihre Eltern eine Ehe arrangiert. Ihre Familie war wohlhabend und zugleich strenggläubig in einem traditionellen Islam sunnitischer Prägung verankert. Ihr Vater erfolgreicher Geschäftsmann, wünschte für seine Tochter eine ebenso gute Partie. Die ließ sich leicht finden. Der zukünftige Schwiegersohn, ein aufstrebender Jungunternehmer mit den besten Aussichten, war schnell gefunden. Betül erwartete ein sorgenfreies Leben, fern aller sozialer Anfechtung, aber fremdbestimmt in einem goldenen Käfig. Was sie selbst von dieser angestrebten

Verbindung hielt war ohne Belang. Sie war eine Frau und hatte sich zu fügen. Mit ihrem Vater auf Augenhöhe reden, unvorstellbar, kam einem Sakrileg gleich.

Aber bisher hatte sie es verstanden sich , auf welche Weise auch immer, irgendwie durchzusetzen, wenn auch nach langen zermürbenden Auseinandersetzungen. Schon dass sie Abitur gemacht und einen Beruf erlernt hatte galt als für eine zukünftige muslimische Ehefrau und Mutter als sittenwidrig. Ihre Hinwendung zu Sufi und den damit verbundenen mystischen wie liberale Islamvorstellungen bekam sie stets und ständig um die Ohren gehauen. Für den Vater hatte Sufi nur sehr wenig mit einem wahrhaften Islam zu tun.

Zum Glück besaß sie eine eigene Wohnung welche sie mit ihrem selbst verdienten Geld unterhalten konnte.  

Einen Freund hatte sie auch, selbstverständlich ohne Wissen ihrer Eltern, denn es war ein deutscher mit ausgesprochen säkularen Ansichten der ihre Begeisterung für Sufi ebensowenig nachvollziehen konnte, wenn auch aus völlig anderen Beweggründen als ihr Vater.

In der letzten Zeit kriselte es daher immer heftiger in der Beziehung und Betül spielte mit dem Gedanken Schluss zu machen.

Ein Leben ausgefüllt mit reichlich Konfliktmaterial. Somit verwunderte es nicht weiter, dass sie sich nicht auch noch um eine einsame alternde Transfrau wie Colette kümmern konnte.

Andererseits hatte aber gerade die Begegnung mit diesem sonderbaren, aus allen Rollen und Klischees fallenden Wesen in Betül eine Art Erweckung ausgelöst. Immer deutlicher fühlte sie sich von ihr magisch angezogen. Sie spürte ein eigenartiges Gefühl grenzenloser Freiheit immer dann wenn Colette erschien. Eine Art von Deja vu Erlebnis, so als kannte sie die doppelgeschlechtliche Person aus einem früheren Leben, einer anderen Dimension, einer fremdartigen Welt, ja einer verlorenen Heimat. Es hatte den Anschein dass Colette für die Lösung all ihrer Probleme stand. Aber warum? Das brachte es mit sich dass sie gleichsam Angst verspürte. Vor allem deshalb begann sie sich von ihr zurückzuziehen. Oder sollte sie gerade jetzt die Nähe suchen? Betül schien hin und her gerissen.

Ihre Probleme vertraute sie der ungewöhnlichen Freundin bisher nicht an und sie gedachte auch zukünftig weitgehend über ihr Privatleben zu schweigen. Warum sollte sie sich offenbaren? Immerhin hatte auch Colette nicht allzuviel über sich und ihr Leben preisgegeben.

Der Respekt den sie einander entgegenbrachten durfte nicht durch unbedachte Neugier aufs Spiel gesetzt werden. So wie es war musste es wohl bleiben. Sie würden sich gelegentlich treffen, vielleicht auch wieder etwas gemeinsam unternehmen, nicht mehr und nicht weniger.

 

„Aber warum denn dieser Vorhang? Ich verstehe das nicht! Es war doch immer so schön wenn wir gemeinsam rezitierten, sangen, tanzen, aßen. Das soll nun alles ein Ende haben? ich.. ich kann es nicht glauben.“ Bedauerte Betül als sie mit Colette und einigen anderen Frauen am Samstagabend nach dem Dhikr beim Essen hinter dem Vorhang saßen.

Ihre Enttäuschung war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Die Entscheidung ist auf jeden Fall richtig. Es steht uns nicht zu die Anordnung des Großsheikh in Frage zu stellen.“ Antwortete Lamya, die Frau eines Sufimeisters aus Syrien.

„Aber ich fühle mich ausgegrenzt. Von allem abgeschnitten. Es ist als ob jemand mit Gewalt die Energiezufuhr unterbunden hätte.“ Beschwerte sich Betül weiter.

„Wir müssen uns fügen und gehorchen. Da geht kein Weg vorbei. So war es immer…“

„…und so wird es immer bleiben!“ Beendete Gülcan den Satz.

„Weil wir Frauen sind, wolltest du damit sagen!“ Erwiderte Betül in ernstem Tonfall.

„Ja! Du musst das positive darin sehen. Wenn ich recht überlege, war es mir immer ein wenig unangenehm. Es ist besser wenn wir nicht mit den Männern gemeinsam meditieren. Ich habe mich stets ein wenig gestört gefühlt. Ich denke so kann die Energie viel besser fließen.“ Fuhr Gylcan fort.

„Ach so! Wenn du dass so siehst! Ich habe hingegen eine ganz andere Erfahrung gemacht!“ widersprach Betül und Colette signalisierte Kopf nickend ihre Zustimmung. Der schien es besser zu schweigen. Ihr Groll galt weniger den Männern, denn von denen erwartete sie im Prinzip nichts anderes. Vielmehr war es die Haltung der Frauen die sie nicht nachvollziehen konnte und deshalb verabscheute.

Warum ließen die sich das gefallen? Das alles grenzte doch gewaltig an Freiheitsberaubung.

„Es ist halt unsere Tradition!“ Hörte sie Lamya sagen. Das mochte sein, aber was hatte das mit Religion oder Spiritualität zu tun? Was sollte das für ein Gott sein, der es zuließ dass sich ein Geschlecht auf Kosten des oder der anderen einseitig Privilegien herausnahm?

Was hatte Priorität? Die Tradition oder die eigentliche religiöse Ausrichtung. Diese Frage würde sie nur allzu gerne Sheikh Abdul vortragen. Welche Antwort hätte der wohl parat?

Doch sie unterließ eine solche Provokation. Zumal es auch technisch kaum noch möglich war, denn selbst wenn eine der Frauen eine Frage stellte, durfte sie dabei den Vorhang nicht lüften. Offensichtlich wollte man sie der Möglichkeit dadurch berauben.

Colette kratzte sich nervös am Kopf und bewegte sich ungeduldig am Boden von einer auf die andere Seite. Der Vorhang, jenes Symbol der Diskriminierung löste wieder dieses bedrückende Gefühl bei ihr aus.

Im Gegensatz zu früher war sie froh als sich der Abend endlich seinem Ende zuneigte. Deutlich weniger Besucher als sonst. Vor allem die Frauen begannen sich zurück zu ziehen. Wen wundert’s?

Es war damit zu rechnen, dass es am Ende zu einer reinen Männerrunde schrumpfte. Colette konnte sich des Eindruckes nicht erwehren als ob dies von Anfang an deren Absicht war.

Somit sollte eben alles wieder zu seiner gewohnten Ordnung zurückkehren. Doch wer hatte die gemacht? Doch auch wieder nur die Männer.

Die Sehnsucht nach Melancholanien, ihrer Heimat drängte immer deutliche in ihr Bewusstsein. Was würden wohl die Schwestern zu all dem sagen? Auf dem Gelände der Abtei, in der Kommune, hatten die Frauen die Oberhand, sie selbst war in einer hervorgehobenen Position. All das hatte aber nicht zwangsläufig zur Folge, dass sich dort die Männer unterdrückt fühlen mussten.

Hier sah sich Colette einer Diskriminierung ausgesetzt. Aber die war von einer anderen Art als jene die sie in den früheren Zeiten hatte über sich ergehen lassen müssen. In diesem Kreis wurde sie als Frau ausgegrenzt und nicht als Kundra. Ein erheblicher Unterschied, denn sie konnte diese Diskriminierung mit anderen Frauen teilen. Auf diese Weise fühlte sie sich auf merkwürdige Art akzeptiert. Ein Umstand den Betül kaum verstehen würde.

 

Nachdem sie das Zentrum verlassen hatten, begaben sich die beiden noch in ein kleines Café um die Ecke um gemeinsam ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Ein Umstand der Colette sehr entgegen kam.

„Was bilden die sich nur ein. Ich glaubte hier eine echte Heimat gefunden zu haben. Die lockere Atmosphäre, die ganze offene Gemeinschaft. Und nun? Da kann ich keinen großen Unterschied mehr feststellen zu den sonst üblichen Bedingungen.“

„Du sprichst mir aus der Seele Betül. Mir geht es nicht anders im Moment.“ Stimmte Colette zu.

„Was ich nicht verstehe ist, warum Sheikh Abdul das so einfach hinnimmt? Ich lernte ihn als einen Menschen von großer toleranter Haltung kennen?“

„Colette, auch die Sufi sind keine Demokratie, sondern eine Monarchie. Dir ist doch nicht entgangen welch dominierende Stellung der Großsheikh bei uns einnimmt. Seinen Anordnungen kann man sich nicht widersetzen. Auch Sheikh Abdul ist dazu nicht befugt. Der muss sich fügen. Oder ein anderer übernimmt seine Stellung. So ist das.“ Versuchte Betül eine Erläuterung.

„Ja, so ist das mit den Hierarchien.  Nicht umsonst empfand ich mein ganzes Leben lang eine erhebliche Aversion dagegen. Alle Menschen sollte gleich sein, gerade auch was religiöse oder spirituelle Dinge betrifft.“ Lies Colette deutlich ihre anarchistische Gesinnung durchblicken.

„Du bist in einer ganz anderen Tradition verwurzelt. Du kannst demzufolge vieles nicht nachvollziehen, was für jemanden wie mich zu Alltag gehört.“

„Aber du bist doch nicht zufrieden mit deinem Alltag. Du kannst dich nicht verstellen, ich sehe genau dass du nicht glücklich bist mit der Art wie du lebst, bzw. wie du von anderen gelebt wirst. Du möchtest ausbrechen, aber dir fehlt derzeit noch der Mut.“ Sagte Colette der Freundin war.

„Aber du bist auch nicht glücklich! Auch du kannst mich nicht täuschen. Du hast es gewagt und bist ausgebrochen! Und? Was hat es dir gebracht? Du vereinsamst jeden Tag ein Stück weit mehr. Du welkst wie eine Rose im Herbstwind langsam vor dich hin bis nur noch Staub und Schatten von dir übrig ist:“

Betüls Aussage traf die alternde Kundra tief. Gerade das Zitat von Staub und Schatten setzte ihr zu. Am Schlimmsten jedoch war die Tatsache, dass die junge Frau damit voll ins Schwarze traf. Denn genauso fühlte sie sich. Nach Hause wollte sie, in die Heimat, dort wo sie hingehörte. Aber da war kein Zuhause in dass sie hätte heimkehren können. Ihr stand es am allerwenigsten zu, anderen kluge Ratschläge darüber zu erteilen was ein eventuelles Ausbrechen aus bedrückenden Lebenssituationen betraf. Sie konnte sich getrost an die eigene Nasenspitze fassen.  

„Bitte entschuldige meine liebe. Ich wollte dich nicht kränken. Das ist mir einfach nur so herausgerutscht. Ich habe kein Recht dich zu maßregeln. Du bist alt genug um meine Mutter zu sein.“ Bat Betül ehrlichen Herzens um Verzeihung.

„Schon gut! Danke dir dass du nicht gesagt hast, ich könnte dein Vater sein. Nein, es trifft ja zu. Ich sollte vor meiner Haustüre kehren, da hat sich in vielen Jahren mehr als genug an Schutt angesammelt, den es erst einmal zu beseitigen gilt. Ich hegte eine Zeitlang die Hoffnung wir könnten einander Stütze und Halt sein. Aber das hat sich wohl als Trugschluss erwiesen.“ Resignierte Colette.

„Aber warum denn? Das tun wir doch schon seit geraumer Zeit und wir können es auch weiterhin so handhaben. Du bist meine Freundin und deine Freundschaft ist mir teuer. Ich weiß nicht wie lange ich noch zum Dhikr gehe unter den neuen Umständen. Ich glaube dass ich kaum noch die Kraft dazu aufbringe. Dann werden wir uns eben anderweitig treffen. Uns wird schon etwas geeignete einfallen.“

„Und du bist dir sicher dass das funktioniert?“

„Ja! Warum denn nicht?“

Wieder war Colette nahe dran der Versuchung zu erliegen in Betüls Privatleben einzudringen. Doch sie verkniff sich die Frage danach ob sie die Zeit für solche Treffen überhaupt aufzubringen imstande war.

„Sag mal! Warum gründen die Frauen nicht einen eigenen Meditationskreis um unabhängig von den Männern ihr eigenes Ding zu machen?“ Warf Colette in den Raum.

„Habe ich auch schon überlegt! Das klappt nicht! Ist einfach zu riskant. Die meisten Frauen sind verheiratet und haben Familie. Das würden deren Ehemänner niemals erlauben. Ich gehe mal davon aus, dass einige von denen auch hinter all der Anschwärzerei stehen.“ Lehnte Betül ab.

„Aber wir sind hier in Berlin und nicht in einer Stadt im Orient. Warum gelingt es den Frauen, die zum Teil schon viele Jahre hier leben, nicht, sich zu emanzipieren. In diesem Land geht es zwar alles andere als gerecht zu, aber wenigstens können sich die Menschen hier frei bewegen.

Eine gewagte These die Colette aufstellte. Die Antwort war einfach.

„Weil die Menschen ihre Tradition mitgebracht haben und hier weiter leben. Der Familienverband ist wichtig um sich in einer fremdländischen Umgebung zu behaupten.“

„Aber die Frauen bleiben doch ihrer Tradition verbunden.“ Glaubte Colette zu wissen.

 „Das scheitert schon an den technischen Möglichkeiten. Wo sollten sie sich treffen. Das ginge nur in Privatwohnungen, doch wäre dafür das Einverständnis des Ehemannes erst recht von Nöten.“ Klärte Betül auf.

„Aber es gibt hier in der Stadt eine ganze Reihe von Einrichtungen speziell für muslimische Frauen. Es müsste doch möglich sein dort etwas Entsprechendes finden.“

„Du machst dir viele Gedanken Colette. Ich finde es auch in Ordnung und positiv wie du dich sorgst. Aber all diese Überlegungen scheitern letztendlich an den Realitäten. Ich weiß nicht was ich tun werde in nächster Zeit. Verändern, ja mein Leben verlangt nach Veränderung! Du hattest tatsächlich Recht mit deinem Hinweis. Aber ich muss dabei mit Vernunft und Augenmaß vor gehen und darf nicht mit der Tür ins Haus fallen.

Ich habe mich übrigens in der letzten Zeit intensiv mit der Situation in deinem Heimatland beschäftig.

Interessante Vorgänge dort.“

Geschickt versuchte Betül das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Würde es ihr gelingen heute etwas Entsprechendes von der Freundin zu erfahren?

Warum gestand ihr Colette nicht, warum sie tatsächlich ihre Heimat verlassen musste?

Sie hatte eine bedeutende Rolle im Laufe der melancholanischen Revolution gespielt und es zu einem enormen Ansehen gebracht. Doch die Verhältnisse entwickelten sich nicht in die angestrebte Richtung und nun gab es dort eine Diktatur. Colette gehörte zu denen die sich widersetzten. Die Informationen aus Melancholanien waren spärlich weil der Diktator Neidhardt alles daran setzte, die wahren Zustände zu verschleiern.

Colette war eine Kämpferin für Recht und Freiheit, das stand fest! Eine Tatsache für die man sich doch nicht zu schämen brauchte, im Gegenteil. Oder gab es da noch ein dunkles, ein negatives Geheimnis? 

„Du hat in deinem Land für die Freiheit gekämpft, so wie das auch viele meiner Landsleute in ihrer Heimat tun. Ich versteh nicht warum du mir diese Tatsache verschwiegen hast. Das ist  doch etwas Positive auf das ein Mensch mit Stolz blicken kann.“

„Ich bat dich darum dieses Thema nicht anzusprechen, weil ich einfach nicht darüber reden will. Ja, ich habe gekämpft! Das ist richtig! Aber es war vergebens! Verstehst du? Am Ende war alles umsonst. So ist das nun mal mit jenen die immer nur das Gute wollen. Zu guter Letzt stehen sie mit leeren Händen da und müssen sich eingestehen dass es besser gewesen wäre gar nicht erst ins Geschehen eingegriffen zu haben. Deshalb betrachte ich dieses Kapitel in meinem Leben als abgeschlossen.“

„Das glaube ich dir nicht! Du hängst nach wie vor an deiner Heimat! Und wenn du dir auch noch so große Mühe gibst. Du kannst einfach nicht loslassen! Du suchst verzweifelt nach Alternativen, aber die lassen sich nicht finden!“

Colette senkte nur noch müde den Kopf. Es war erstaunlich wie es Betül verstand in ihre Seele zu dringen und die tiefen Verletzungen frei zu legen.

„Es macht wohl kein Sinn weiter zu leugnen. Es stimmt! Ich kann einfach nicht loslassen. Es verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Eine interessante Stadt, dieses Berlin, aber jeden Augenblick den ich hier verbringe ist verlorene Zeit. Ich gehöre hier nicht her. Ich muss zurück. Auf mich wartet eine Unmenge an Aufgaben Auch wenn ich nicht weiß wie ich das vollbringen soll und alles in den Sternen steht. Ob ich den Schritt in die Kommune wagen kann? Ob ich dort noch willkommen bin? Ich habe Alternativen gesucht. Etwas das meinem Leben Sinn und Halt geben könnte. Ich griff einfach nach jeden erstbesten Strohhalm der sich mir darbot. So ist das wenn man in der Fremde weilt und nichts und niemanden mehr hat. Da tun sich in deinem Bewusstsein bisher völlig unentdeckte Kanäle auf.“

Betül griff nach Colettes Hand.

„Es könnte gut sein, dass dein Exil von vorn herein vorherbestimmt war, eben damit du zu diesen Erkenntnisse gelangst. Erkenntnisse die dir in einer späteren Lebensphase zugute kommen. Dann wenn dein Exil zu Ende ist und du wieder Heimatboden unter den Füßen spürst.“

„Wann wird das sein? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ja, ich werde nach Melancholanien zurückkehren. Aber ob und wann ich die Kommune wieder sehe? Ich halte das in der derzeitigen Situation für so gut wie ausgeschlossen.“

Aber warum, was ist geschehen, dass du dich nicht nach Hause traust? Dachte Betül aber erneut verkniff sie sich die entscheidende Frage.

Stattdessen versuchte sie nur Trost zu spenden.

„Da darfst die Hoffnung niemals aufgeben. Alles Leid hat einmal ein Ende, auf jede Nacht folgt ein neuer frischer Tag. Ich bin überzeugt, dass sich auch dein Leid einmal in Glück verwandelt. Ich wünsche dir alles nur erdenklich Gute.“

Ein Schlusswort wohl, für diesen Abend. Aber Colette konnte nicht ahnen dass es ein Abschied für sehr lange Zeit werden sollte.

Denn ihre Wege sollten sich hier nicht mehr kreuzen.

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Am darauf folgenden Samstagabend wartete Colette vergeblich auf die Freundin. Betül hatte entschieden, sich erst einmal vom Sufi-Zentrum zurückzuziehen. Zu schwer wog  der Einschnitt dem sie sich nicht weiter auszusetzen gedachte. Sie blieb in Verbindung mit Sheikh Abdul, hatte versprochen nach einer bestimmten Zeit wieder zu kommen. Wann genau, das ließ sie offen.

Zunächst galt es ihre Familienangelegenheiten zu klären. Im Inneren blieb sie jedoch eine Sufi. Daran konnten auch solche Vorkommnisse nicht ändern.

Colette kam noch einige Mal wieder. Immer kleiner wurde die Schar der Meditierenden. Zum Schluss versammelten sich vielleicht noch fünf oder sechs. Drei Männer um den Sheikh, zwei Frauen hinter dem Vorhang. Kein Derwischtanz mehr , keine Trommel, keine Flöte. Auch ein Festessen wurde nicht mehr gereicht. Das lohnte nicht mehr. Wer hätte denn auch kochen sollen, wenn keine Frauen mehr dafür zur Verfügung standen.

Auch Colettes Motivation tendierte zum Schluss gegen Null. Noch einmal ein kurzes Gespräch mit dem Sheikh indem sie ihm mitteilte dass sie beabsichtigte in ihre Heimat zurück zu kehren.

„Schade, ich werde dich sehr vermissen Colette. Vor allem da du als eine der wenigen bis jetzt durchgehalten hast. Das ehrt dich. Aber dem Ruf in die Heimat muss man folgen. Jeder wird Verständnis dafür aufbringen. Wohl dem der noch ein zuhause sein eigen nennen kann.“

Ja, wohl dem! Durchfuhr es die einsame Kundra. Sie hatte keine Ahnung was ihr bei ihrer Rückkehr nach Melancholanien erwartete. Die Abtei würde sicher noch lange auf sie warten.

„Ein interessantes Land, deine Heimat. Ich würde es gern selber einmal kennen lernen, dann wenn sich die Verhältnisse in klein wenig zum Positiven gewendet haben.“ Fuhr der Sheikh fort.

„Ja, ich hoffe das werden sie irgendwann, in naher oder ferner Zukunft.“ Colette musste sich zusammen nehmen, Tränen füllten ihre Augen.

„Ich habe so ein Gespür dafür was noch kommt. Ich denke dass wir uns eines Tages wieder sehen. Ganz bestimmt werden wir das. In einer für uns beiden günstigeren Zeit. Bis dahin lass es dir gut gehen. Allah möge mit dir sein und seinen Segen über dir ausbreiten auf all deinen Wegen.“

Sheikh Abdul nahm seinen hölzernen Gehstock und drückte dessen Spitze sanft auf Colettes Brust, an der Stelle wo sich das Herz befindet. Auf das die positiven Energien fließen mögen

Mit diesem besonderen Segen ausgestattet verließ Colette das Sufi-Zentrum in dem Bewusstsein, es nie wieder zu betreten.

Wieder ein Kapitel in ihrem Leben abgeschlossen. Wieder stand sie vor einer Veränderung deren Ergebnis sie noch nicht abzuschätzen wusste.

 

In den kommenden Tagen bereitete sie ihre Abreise vor. Dabei ließ sie sich bewusst Zeit und setzte sich nicht unnötig unter Druck.

Wohin aber würde sie tatsächlich gehen? Nach Melancholanien zurück? Wollte sie das wirklich? Was suchte sie dort? Sicher, es war ihre Heimat. Doch der Weg zu den Gefährtinnen in der Abtei war versperrt, so glaubte sie zumindest. Reine Einbildung wie sich später herausstellen sollte.

Was hatte sie sonst für Optionen? Ihre Ersparnisse, so gut wie aufgebraucht. Eine kleine Weile würde sie noch davon leben können, und dann? Großes Fragezeichen.

Sie hatte hier viele Menschen kennen gelernt, vor allem jüngere die, offensichtlich unbeeindruckt von sozialem Druck, einfach so in den Tag lebten und nur das taten was ihnen lag und Spaß machte. Generation Sorglos nannte Colette diese Leute, die sie durchaus sympathisch fand, aber deren Lebensmaxime sie nie ganz nachvollziehen konnte.

Sie selbst lebte zwar auch nicht viel anders, doch war es bei ihr nicht ganz freiwillig. Sie wollte wieder etwas Sinnvolles tun. Etwas das ihrem ureigensten Naturell entsprach.

Berlin würde sie mit Sicherheit den Rücken kehren, denn sie hatte erst einmal genug von der Großstadt und all ihren Fallstricken.

Noch eine Weile in Deutschland bleiben und erst später nach Melancholanien zurückkehren wenn es wirklich unvermeidlich war? Das schien die bessere Lösung. Sie musste eine Entscheidung treffen und zwar sehr bald.

 

Erst viel später sollte Betül in Erfahrung bringen mit wem sie es bei Colette tatsächlich zu tun hatte. Doch da war es bereits zu spät, die ungewöhnliche Freundin schon über alle Berge. Nicht mehr auffindbar, so als habe sie sich in Luft aufgelöst.

Dass es sich bei ihr um etwas Besonderes handelte war Betül schon frühzeitig in den Sinn gekommen, doch welche Dimensionen wirklich dahinter steckten offenbarte sich erst im nach hinein. Eine alles in allem vertane Chance. Das wurde ihr mit einem Male schlagartig bewusst. Doch was hätte sie tun können, als Colette noch leibhaftig vor saß? Was könnte sie jetzt tun, da sie nicht mehr hier war? Einfach alles stehen und liegen lassen um diesem geheimnisvollen Wesen zu folgen, wenn es sein musste um die ganze Welt? Solche Wünsche drängten sich ihr ständig auf.

Zunächst schob sie alles beiseite. Irrational! Träume! Sich von träumen leiten lassen? 

Oder etwa doch? Das unmögliche möglich machen? War das ihre Bestimmung? Hatte Allah am Ende einen ganz besonderen Auftrag für sie, den sie einfach noch nicht erfassen konnte?

Sie musste sich mit Sheikh Abdul beraten. Nach einer bestimmten Zeit würde sie diesen aufsuchen. Der wusste immer Rat. Und würde ihr bestimmt auch in dieser Angelegenheit den Weg weisen können.    

Ein Weg der sie unweigerlich an Colettes Seite führen würde.

 

 

 

 

  • Wahabiten= Extrem Strenge Richtung innerhalb des Sunnitischen Islam, folgen der hanbalitischen Rechtsschule, Gründer ist der Theologe Muhammad ibn Abd al Wahabs (1703-1792) extrem intolerant, nehmen sie für sich in Anspruch die einzig wahre Lehre des Islam zu vertreten, in Saudi-Arabien Staatsreligion

 

**  Ulbricht beabsichtigte umfangreiche Sanierungsarbeiten um das Kreuz unsichtbar zu

      machen

            Notfalls sogar den Abriss des Fernsehturmes, seine Entmachtung im Jahre

            vereitelte dieses Vorhaben, sein Nachfolger Honecker hatte offensichtlich keine Pro-

            bleme mit dem Lichtkreuz

 

      *** „Wenn Gott männlich ist, ist das männliche Gott! Originalzitat von Mary Daly (1928-   

               2010) amerikanische radikal-feministische Theologin und bekennende Lesbe, leider

               folgte sie einem biologistischem Frauenbild und galt als transphob