Die Spiele sind eröffnet

 

Melancholanien bereitete sich unterdessen auf ein Spektakel der Superlative vor, ein Ereignis von dem sich vor allem Neidhardt einen gewaltigen Prestigegewinn versprach. Die Austragung der olympischen Sommerspiele.

Viele Jahre zuvor hatte sich die Regierung des vorrevolutionären Melancholanien um die Austragung der Sommerolympiade beworben. Für die ganze Welt überraschend, konnte sich das kleine, von der Weltöffentlichkeit kaum beachtete Land durchsetzen und erhielt tatsächlich den Zuschlag. In jenen Zeiten ahnte noch niemand etwas von den gravierenden Umbrüchen die auf das Land zurollten und  es von Grund auf verändern sollten. Keiner rechnete mit einer Revolution, einem Bürgerkrieg und der daraus hervor gehenden Installierung einer Diktatur.

In Folge dessen wurden auf internationaler Ebene viele Diskussionen geführt. Sollte man es tatsächlich wagen, die Spiele in einer Diktatur auszurichten, den Diktator Neidhardt dadurch aufwerten und somit eine internationale Bühne zur Verfügung stellen? Es war immerhin ein Regime, dass sich keinen Deut um Menschenrechte kümmerte, vor allem in Bezug auf die Art und Weise, wie mit der neu geschaffenen und inzwischen von vielen Staaten anerkannten Akratasischen Föderation umgegangen wurde. Lange Zeit gab es Bestrebungen die Spiele abzusagen. Doch letztendlich entschied das Internationale Olympische Komitee es darauf ankommen zu lassen. Die Olympiade sollten wie geplant in Melancholanien statt finden, wenn auch mit gemischten Gefühlen.

Neidhardt verbuchte dies als einen großen Sieg, eine internationale Aufwertung die er schon lange anstrebte.

Wieder einmal wurde der Sport zum Spielball der Politik. Das war schon seit den Tagen der Antike so und auch in der Neuzeit wurden die Olympischen Spiele nur all zu oft genutzt um diplomatische Schattengefechte auszufechten.

Sportliche Leistungen als Stellvertreterkrieg verfeindeter Nationen.

Auch Neidhardt gedachte das Ereignis ganz nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.

Schon unmittelbar nach Ende der Revolution wurde ein gigantisches Bauprojekt in Auftrag gegeben. Es schien, als kämen die Zerstörungen des Krieges dem Vorhaben sehr gelegen. Die zerstörte Stadt Manrovia hatte sich dem damals noch in der Ferne liegenden Ereignis von Anfang anzupassen.

Die Sportstätten, das gesamte olympische Dorf mit allem was dazu gehörte, wurde mit brachialer Wucht aus dem Boden gestampft, Rücksicht gab es keine, alles was dem Bauvorhaben im Wege stand ,musste weichen. Andere wichtige Maßnahmen, wie etwa der Bau von Wohnungen und Sozialeinrichtungen wurde hintenan gestellt. Ein Wettlauf mit der Zeit. Im IOC wurden erhebliche Zweifel darüber laut, ob die Baumaßnahmen rechtzeitig ihrer Bestimmung übergeben werden konnten. Hinter vorgehaltener Hand wurde auch über den möglichen Einsatz von hunderten von Zwangsarbeitern gemunkelt.

Einem Wunder gleich, wurde am Ende tatsächlich alles fristgerecht und zur Zufriedenheit aller, der Öffentlichkeit präsentiert.

Auf internationaler Ebene konnte Melancholanien kaum mit herausragenden sportlichen Leistungen punkten. Bisher war es keinem Athleten gelungen auch nur eine Medaille von einer Olympiade, ganz gleich ob Sommer oder Winter, mit nach Hause zu bringen. Hier und da einmal einige Achtungserfolge, das war schon alles, ansonsten war das Land in sportlichen Wettkämpfen ein weißer Fleck     

Neidhardt hatte es sich zum Ziel gesetzt das zu ändern. Überall im Land wurde nach geeigneten Kandidaten und Kandidatinnen gesucht, die ihrer Fahne die Ehre eines Sieges bereiten könnten. Diese durften auf allerlei Privilegien hoffen. Sämtliche Athleten und Athletinnen wurden zu diesem Zweck einfach in die Armee aufgenommen. Die bot ihnen ein sicheres Auskommen. Dort hatten sie nichts weiter zu tun als rund um die Uhr zu trainieren, solange, bis sie vor lauter Kraft kaum noch zu gehen imstande waren. Inwieweit Dopingmittel zum Einsatz kamen blieb ein großes Geheimnis, es konnte vor der Öffentlichkeit nie ganz ausgeschlossen werden.

Neidhardt wünschte Medaillen in allen wichtigen Disziplinen.

Dafür war er auch bereit so manche Kröte zu schlucken, die ihm das IOC vorsetzte.

Die größte von ihnen hieß Akratasien.

Wochenlang wurde darüber debattiert und gestritten, inwieweit die Akratasische Föderation in die Spiele integriert werden konnte. Die melancholanische Regierung erkannte das Gebiet noch immer nicht als eigenständigen Staat an. Sportler aus Akratasien waren eingeladen sich an den Spielen zu beteiligen, natürlich unter der Flagge Melancholaniens, so Neidhardts Angebot. Dass IOC bestand hingegen auf einer melancholanisch-akratasischen Gesamtmannschaft, die unter neutraler Flagge und Hymne antreten sollte.* 

Neidhardt wies diese Forderung am Anfang vehement zurück, später jedoch erklärte er sich damit einverstanden, da er davon ausging dass sich ohnehin kaum ein Athlet aus der Föderation beteiligen würde.

Mit dieser Vermutung lag er gar nicht so daneben, denn es gab in der Tat kaum Interessenten, mit einer Ausnahme die es in sich hatte.

Inga hegte nach wie vor den Wunsch einmal in ihrem Leben an den olympischen Spielen teilzunehmen. Seit sie in der Abtei lebte, trainierte sie auch fast täglich um wieder in Form zu kommen. Ihre Chancen tendierten am Anfang gegen Null.

Jung, kerngesund, ausdauernd, hart im nehmen so präsentierte sich Neidhardts handverlesenen Olympiamannschaft. Die waren alle um die 20 und unverbraucht. Inga war Ende 30, ein Alter in dem für gewöhnlich die meisten Topathleten ihre aktive Laufbahn beenden. Sie war Mutter zweier Kinder und lebte in einer lesbischen Partnerschaft. Aufgrund ihres komplizierten Vorlebens hatte sie jahrelang kein beständiges Training absolvieren können.

Erst in Anarchonopolis fand sie wieder dazu und versuchte nun mit teils brachialen Methoden das Versäumte aufzuholen Sie wollte einfach dabei sein, koste es was es wolle.

Eine große Stütze fand sie in ihrer Frau Sonia. Die stand ihr in zur Seite und glaubte fest an deren Erfolg. Auf Sonia konnte sich Inga in jeder Lebenslage verlassen.

Je näher die Spiele rückten desto besessener trainierte sie. Dabei schonte sie sich nicht, verausgabte sich oft bis zur physischen und psychischen Erschöpfung.Ohne Sonias Fürsorge wahrscheinlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Elena, die Schwesternschaft und die gesamte Föderation entschlossen sich Inga in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Arbeitete sie am Anfang noch ganz normal in ihrem Beruf als Floristin in der Gärtnerei weiter, so wurde sie bald davon freigestellt um sich ganz ihrem Training zu widmen.

Zum Glück bot die Abtei so gut wie alles was sie für ihre Übungen benötigte. In früheren Zeiten war dem Kloster ein Gymnasium angeschlossen. Neben der Schule gab es somit auch eine Turnhalle und einen Freiluftsportplatz. Zwar nicht mehr ganz  modern und der Zeit entsprechend ausgestattet, aber immerhin besser als gar nichts. Doch wie konnte ein professionelles Training aussehen? Inga war gezwungen autodidaktisch zu arbeiten. Auf einen erfahrenen Trainer konnte sie bisher nicht zurückgreifen.

Die Schwesternschaft hielt Ausschau, versuchte einen zu engagieren. Elena selbst hätte diese Aufgabe gerne übernommen, manchmal trainierte sie auch gemeinsam mit Inga um ihr dadurch Mut zu machen. Doch ihre immer zahlreicher werdenden Verpflichtungen ließen es einfach nicht mehr zu. Als Ärztin stand sie ihr natürlich dauerhaft zur Verfügung. Mehrfach checkte sie Inga durch um sicher zu gehen dass diese sich auch nicht zu viel zumutete. Einige Bedenken ließen sich auch nicht von der Hand weisen.  

             

Inga war ursprünglich Siebenkämpferin. Das umfasste 100 Meter Hürdenlauf, Hochsprung, Kugelstoßen, Speerwurf, Weitsprung, 200 Meter und 800 Meterlauf. Doch sie entschied sich ganz auf den Sprint umzusteigen, da sie vor allem dort ihre Stärken vermutete.

Das umfasste den Kurzstreckenlauf von 100m, 200 m zudem die 4x100m Staffel sowie die 4x400 m Staffel.

Hier wähnte sie sich auf sicherem Terrain..

Das Trainingsprogramm dass sie sich auferlegte war hart und belastend.

Ohne Trainer war das ausgesprochen schwierig. Natürlich konnte Inga auf ein profundes Wissen zurückgreifen. Doch lag ihre aktive Zeit viele Jahre zurück. Sie trainierte dementsprechend anarchistisch und ohne jegliche Beratung. Das konnte  auf die Dauer nicht funktionieren. Doch wollte sie sich dadurch nicht entmutigen lassen.

 

Sonia war vor Ort wenn sie ihrer bedurfte. Bei keiner Trainingseinheit lies sie Inga allein, war stets zur Stelle wenn sich ihre Gefährtin überforderte und drohte zusammen zu brechen. Ein Umstand der sich vor allem am Anfang einstellte. Sie betreute nebenbei aber auch noch Ingas Kinder und führte den Haushalt. Nur selten zog sie Hilfe heran.  

Wenn Inga nach ihrem Training erschöpft und mit schmerzenden Gliedern nach Hause kam dann konnte sie sich dessen gewiss sein das Sonia schon bereit stand ihren Körper zu massieren, zu streicheln, und  zu liebkosen.

„Das Training zeigt seine Wirkung Inga. Es kommt mir so vor als würdest du von Woche zu Woche kräftiger. Ach wie sehr ich diese Muskeln  liebe.“ Gestand Sonia während sie Ingas nackten Körper massierte. Inzwischen verstand sie sich ausgezeichnet darin, hatte sich von Elena ein profundes Wissen anlernen lassen.

„Und ich fühle mich einfach nur sauwohl in deinen Händen. Vor allem wenn es überall am Körper zwickt und sticht.“ Versicherte ihr Inga auf dem Bauch liegend und die Berührung genießend.

„Wieder Schmerzen beim Training? Inga sei vorsichtig! Nicht zuviel auf einmal. Du wirst es auch auf andere Weise schaffen. Wenn du dich aber so intensiv schindest wie bisher, könntest du unter Umständen das genaue Gegenteil erreichen.“ Warnte Sonia ihre Partnerin wie so oft in letzter Zeit.

„Ich brauche dieses harte Training. Ich habe viel zu lange ausgesetzt, nun bekomme ich die Quittung. Ich weiß ,dass es gefährlich ist, aber ich darf nicht nachlassen. Schonen kann ich mich nach dem Wettkampf, wenn die Spiele gelaufen sind.“

„Wenn du meinst! Du musst es wissen. Dir scheint vollkommen entgangen zu sein, dass ich mir Sorgen um dich mache.“ Gab Sonia zu verstehen.

„Es ist mir nicht entgangen. Ich sehe deine Angst immer wenn ich dir in die Augen blicke.“

Inga erhob sich und wandte ihre Blick auf die Geliebte.

„Du hast ja Recht! Ich bin mir der Gefahr durchaus bewusst. Ich habe doch auch Angst!“

In Sonias Augen sammelten sich die Tränen.

„Du hast mir erst vor kurzen erzählt das dir häufig schwindelig wird beim laufen, ferner dass du Atemnot verspürst und dir übel wird, dass du Seitenstechen hast und Schmerzen in der Herzgegend und noch einiges mehr. Was… wenn du du dabei…. Zusammenbrichst, wenn der Kreislauf verrückt spielt, wenn das Herz nicht mehr mitmacht….“

Jetzt brach es aus Sonia heraus. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von den Wangen.

„Nicht weinen! Komm her, mein Liebling! Ist alles gut!“

Inga schloss Sonia in ihre Arme und drückte sie an sich.

„Ich will dich nicht verlieren! Ich bin doch so froh dass ich dich gefunden habe. Allein, immer und ewig allein. Dann finde ich mal einen Menschen und alles ist so schön. Ich fühle mich so wohl in deinen Armen. Eine Familie, ich hab eine richtige Familie. Deine Kinder sind schon fast wie meine eigenen die ich nie im Leben haben durfte. Ich könnte es nicht ertragen dich zu verlieren.“

„Das wirst du nicht mein Schatz. Großes Ehrenwort ich werde auf mich aufpassen.“ Versprach Inga während ihre Hände sanft über Sonias Wangen glitten.

„Gleich morgen rede ich mit Elena. Ich bin ohnehin bei ihr am Vormittag. Da lasse ich mich wieder vom Kopf bis zu den Füßen durchchecken. Wir werden beraten was zu tun ist, was ich mir zumuten darf und was nicht. Wenn ich doch nur endlich einen richtigen Trainer hätte. Du weißt was mir die Teilnahme an der Olympiade bedeutet, die Erfüllung eines Lebenstraumes. Einmal, nur ein einziges Mal dabei sein. Wenn es aber zu gefährlich werden sollte, dann höre ich auf. Denn viel, viel wichtiger bist mir du. Du und deine Liebe. Die möchte ich noch sehr lange auskosten.“

Sonia atmete tief durch und schien wieder etwas gefasst.

„Ich glaube an dich Inga. Ich wünsche dir so sehr dass sich dein Traum erfüllt. Ich bin immer an deiner Seite.“

„Das ist mir das aller wichtigste. Es gibt mir die Kraft die ich brauche um weiterzumachen.“

Inga platzierte sich wieder auf der Liege um sich der Massage hinzugeben und Sonia genoss es diesen athletischen Körper zu streicheln.

Nachdem sie sich in ihre Wohnung im Konventsgebäude zurückgezogen hatten, gelang es Sonia sich zu beruhigen. Inga beschäftigte sich noch eine Weile mit ihren Kindern, auch die wollte sie auf keinen Fall vernachlässigen. Viel Zeit blieb nicht dafür. Was für ein Glücksfall dass die beiden ein so gutes Verhältnis zu Sonia gefunden hatten. Eigenartiger weise verstand die es gut mit ihnen umzugehen, die beiden respektierten sie und gehorchten wenn sie eine Anweisung gab.

„Vanessa, Jennifer, nun ist es genug! Schluss mit dem herumtoben. Die Mama muss sich ausruhen. Sie muss doch morgen wieder fit sein. Ihr wißt doch worauf es ankommt? Wir wollen die Mama bei der Olympiade gewinnen sehen und dafür muss sie bei Kräften sein.“

Forderte Sonia auf.

„Aber die Mama ist doch schon kräftig. Guck mal sie hat Muskeln wie ein Mann.“

Vanessa griff nach Ingas Oberarmen, die spannte die Muskeln an.  Vanessa umschlang diese mit ihren kleinen Händen und Inga zog sie nach oben.

„Nicht Vanessa du tust der Mama doch weh, die soll sich doch nicht so anstrengen.“ Schimpfte Jennifer, die Zaghaftere von beiden.

„Ja Jennifer das hast du richtig erfasst. Komm Vanessa lass los.“ Gab Sonia zu verstehen. Nur unwillig gehorchte die Angesprochene, fügte sich aber dann der Anordnung ihrer neuen Mama.

„Bringst du uns eine Goldmedaille von der Olympiade mit?“ Wollte Vanessa wissen.

„Natürlich tue ich das! Extra für dich mein Spatz!“

„Oh, dann möchte ich aber auch eine!“ Meldete Jennifer ihren Anspruch an.

„Selbstverständlich bekommst du auch eine. Huch, da muss ich mich aber ganz schön strecken, denn für meine Sonia ist natürlich auch noch eine drin.“ Meinte Inga mit einem Schmunzeln um die Lippen.

„Dann wollen wir nur hoffen dass nicht noch jemand eine möchte. So, nun ist es genug. Ab in die Falle mit euch. Gute-Nacht-Kuss für die Mama und dann in die Federn!“

Nachdem die beiden sich gebührend von ihrer Mutter verabschiedet hatten, geleitete Sonia sie ins Kinderzimmer.

Kurz darauf kam sie zurück, schloss die Tür, zog sich den Schlafrock aus und schlupfte unter die Decke zu Inga.

„Komm her meine Süße, lass dich erst mal knuddeln. Ach du bist einfach wunderbar. Wie du die Kinder im Griff hast, einfach nur cool.“ Inga umschlang ihre Gefährtin und wog sie wie einen Säugling in ihren Armen.

„Hmmm, tut das gut. Knuddel mich ganz fest.“ Wünschte Sonia Sanft glitten ihre Finger über Ingas Oberschenkel.

„Wie kann es sein, das ein Mensch so einen starken Körper hat?  Du kannst dich allemal mit Elena messen. Ich stelle schon jetzt keinen Unterschied mehr fest.. Naja von mir wollen wir da lieber gar nicht erst reden.“ Verächtlich blickte Sonia auf ihren eigenen Leib herab.

Ihr schmächtiger, schlaksiger Körper, mit einem leichten Hang zur Magersucht, konnte sich kaum mit jenem von Inga messen. Die dünnen Arme und Beine, die schmalen Schultern und die kleinen Brüste bildeten einen deutlichen Kontrast zu Ingas Muskelpaket. Aber Gegensätze sollen sich bekanntlich anziehen.

Hier schien es ins Schwarze zu treffen.

„Ja? Und was wäre wenn ich ganz zufällig auf dieses zarte, superschlanke Frauchen abfahre?

Sonia, Keine Minderwertigkeitskomplexe! Du bist total richtig! Richtiger geht schon gar nicht mehr.“ Versuchte Inga zu beruhigen und betastet dabei Sonias Haaransatz.

 

Tags darauf hatte Inga ihren Termin mit Elena. Die checkte die angehende Topathletin richtig durch. Es schienen soweit keine Komplikationen vor zu liegen. Inga hielt ihr Versprechen, das sie ihrer Geliebten gegeben hatte nicht ein. Sie untertrieb deutlich als sie auf eventuell vorhandene Beschwerden zu sprechen kamen.

„Alles in Ordnung! Kein Grund zur Sorge!“ So ihr Grundsatz. Doch Elena hatte ihre Zweifel, ließ sich diese aber nicht anmerken. Sie entschloss sich daher zu einer List. Unbemerkt wollte sie Inga beim Training beobachten und sich ihre Schlussfolgerungen daraus ziehen. Inga war ihre Freundin und deren Leben zu retten schien ihr allemal wichtiger als die wage Hoffnung auf ein Stückchen Blech das man  ihr möglicherweise bei der Olympiade um den Hals hängte.

Wie richtig dieser Entschluss war, sollte sich schon zwei Tage später auf dramatische Weise zeigen.

 

Wie jeden Morgen begann Inga den Tag mit ihrem Jogging. Dies diente  vor allem der Aufwärmung. Doch schon hier begannen ihre Fehler, weil sie sich einfach zu viel auf einmal vornahm. Immer länger, immer weiter wurden ihre Strecken, die sie sich zum Ziel erkoren.

Meist begann sie im Park vor der Basilika und joggte dann über das Gelände, verließ es um sich in den Wald zu begeben. Keine ebene Strecke, denn der Wald wartete mit einer stetigen Steigung. Immer aufwärts, immer höher, immer beschwerlicher.

Für heute hatte sich Inga eine besonders weite Strecke vorgenommen. Sie wollte sich beweisen. Ich schaffe das`, sagte sie sich immer wieder. Ìch bin genauso fit wie ein Teenager.

Kondition, es ging einfach um eine perfekte Kondition.

Nach einer Weile stellte sie fest dass ihr das Atmen immer schwerer fiel und schon meldete sich das Seitestechen wieder. Diesmal aber ausgesprochen heftig. Anhalten ? Eine Pause einlegen? Es wäre nichts dagegen einzuwenden, doch das kam für Inga nicht in Frage. Nicht heute.

Weiter, immer weiter, immer vorwärts gehen, schneller, immer schneller, niemals stehen.

Als sie glaubte die Durststrecke überwunden zu haben spürte sie plötzlich den stechenden Schmerz in der Brustgegend. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Angst, panische Angst bemächtigte sich ihrer. Auf einmal ging alles sekundenschnell. Sie fasste sich an die Brust, rang verzweifelt nach Luft, taumelte in Richtung eines alten knorrigen Baumes und brach dort plötzlich zusammen.

„Inga!!!“ Elena stürzte aus dem Gebüsch, dort wo sie sich in einigen Metern Entfernung verschanzt hatte und hastete auf die am Boden liegende zu.

Zum Glück hatte sie sich einige Zeit vor Inga hierher auf dem Weg begeben. Sie wusste wo Inga zu laufen pflegte. Ihre Wegstrecken gab sie immer bekannt. Dieses Versprechen hatte man ihr abgerungen und das aus gutem Grund wie sich jetzt auf dramatische Weise heraus stellte. Nur deshalb befand sich Elena in der Nähe als es geschah.

Elena beugte sich über die Freundin. Sie röchelte, schien bewusstlos.

„Inga! Hörst du mich? Ich bin es Elena. Sie mich an!“

Elena nahm Ingas Kopf in beide Hände. Da plötzlich begannen deren Augenlider zu zucken, aus ihrer Brust entglitt ein leises Stöhnen.

„Was….was…ist denn? Ich…ich … wo bin ich?“ Stammelt sie dabei noch immer nach Luft ringend.

Elena richte Ingas Oberkörper auf und nahm sie in die Arme.

„Ruhig Inga! Ganz ruhig! Gleichmäßig durchatmen! Es hat dich erwischt. Aber darüber sprechen wir später. Jetzt müssen wir sehen wie wir dich nach hause bringen. Glaubst du, dass du imstande bist zu dich aufzurichten?“

„Ja…ja…natürlich!“ Murmelte Inga noch immer stark benommen und versuchte auf die Beine zu kommen. Nach mehrmaligem Versuch gelang es ihr schließlich unter Elenas tatkräftiger Mithilfe.

„Kannst du auch gehen?“ Wollte Elena wissen.

„Natürlich kann ich das?“

Doch kaum brachte Inga diese Worte über ihre Lippen, versagten die Beine ihren Dienst und Sie rutschte in Elenas Händen zusammen. Erneut machte sich Atemnot bemerkbar.

„Ja, selbstverständlich kannst du das!“ Erwiderte Elena.

Sie lehnte Inga an eine stämmige Buche.

„So erst mal ausruhen. Wie gut das du dir diesem Weg ausgesucht hast. Ist dir nun bewusst wie wichtig es ist, dass wir genau wissen wann und wo du trainierst. Auf diesem Weg können wir einen PKW kommen lassen. Wird nicht einfach, ist aber möglich.“ Elena holte ihr Funkgerät hervor und piepste die ständig besetzte Pforte der Abtei an, erteilte die erforderlichen Anweisungen.

„So, die kommen gleich! Bleib ganz ruhig! Alles wird gut!“

„Elena, mir ist übel! Mir ist so schrecklich übel und schwindelig dazu. Was ist mit mir. Ist es sehr schlimm?“ Hauchte Inga mit leiser Stimme

„Ich weiß es noch nicht! Hast du Schmerzen im linken Arm?“

„Ein bisschen! Ist es ein… ein Infarkt? Du meinst das es ein Infarkt ist?“ Panik sprach aus Ingas Stimme.

„Ganz ruhig Inga! Ich weiß es nicht. Das werden wir sehen, du musst dich beruhigen. Es kann nicht mehr lange dauern bis der Wagen kommt.“

Kreidebleich lehnte Inga an dem Baum, Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und sie atmete hastig und in kurzen Zügen, dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen. 

„Ich hab Angst, Elena, ich hab so große Angst!“

Elena zog sie sanft zu sich , umschlang sie sanft mit ihren Armen.

„Ich glaub ich hör das Auto schon, die sind gleich hier. Dann bringen wir dich nach Hause.“

Auch Elena bekam es langsam aber sicher mit der Angst zu tun.

Endlich kam der PKW.

Lukas fuhr und Heiko begleitete ihn.

„Auweia. Das hätte ich mir denken können Inga. Das es dich einmal umhaut, so hart wie du dich strapazierst.“ Lies Lukas in seiner flapsigen Art heraus.

„Keine Sprüche Lukas. Beiß dir auf die Zunge. Inga geht es schlecht. So  schnell wie möglich nach unten auf die Krankenstation.“ Lautete Elenas Befehl und die beiden gehorchten ohne mit der Wimper zu zucken.  

Schnell waren sie im Tal in der sicheren Umfriedung der Abtei.

Inga wurde auf die Krankenstation gebracht die seit einiger Zeit im Erdgeschoss des Konventsgebäudes untergebracht war. Elena konnte Inga nun gründlich untersuchen. Verabreichte ihr sogleich ein Beruhigungsmittel. Wie gut es doch ist wenn man den Arzt im Hause wohnen hat. Es folget EKG und alles weitere was in solchen Fällen erforderlich ist.

Inga lies teilnahmslos alles über sich ergehen, dabei noch immer bleich wie der Kalk an der Wand.

Inzwischen war auch Sonia verständigt worden und begab sich in Windeseile nach unten. Wartete weinend im Vorzimmer auf das Ergebnis.

„Du hattest noch mal großes Glück, meine Kämpferin, es war kein Infarkt. Aber allemal gefährlich. Ich weiß nicht was geschehen wäre, wenn ich nicht gleich an Ort und Stelle gewesene wäre.“ Sprach Elena während sie zärtlich mit ihrer Hand durch Ingas Haar fuhr.

„Da bin ich beruhigt! Ich danke dir Elena, ich danke dir von Herzen!“ erwiderte Inga, der das sprechen noch immer schwer zu fallen schien.

„Aber… wie …hast du mich so schnell gefunden? Das kann ich nicht verstehen!“

„Wie heißt es doch immer so schön? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ich konnte deiner Aussagen das es dir bis auf ein paar Unpässlichkeiten hervorragend geht, keinen rechten Glaubens schenken. Heimlich habe ich mich auf den Weg gemacht um dich beim Training zu betrachten, um somit meine eigenen Schlüsse zu ziehen. Das ich dann so schnell ein greifen  würde müssen, hätte auch ich nicht vorhersagen können.“ Bekannte Elena.

„Damit lagst du vollkommen richtig Elena. Ich habe grob fahrlässig gehandelt. Ich sehe es ein. Es war ein großer Fehler. Ich wollte doch nur die Beste sein. Naja, damit ist es jetzt wohl Essig. Olympia ade schätze ich!“ Bedauerte Inga.

„Das musst du wissen! Aber wenn du ganz ehrlich zu dir bist, geht  wohl kein Weg dran vorbei. Das Unmögliche lässt sich nun mal nicht einfangen wie ein Schmetterling.

Das Risiko ist einfach viel zu groß. Heute ist es noch mal gut gegangen, aber das nächste Mal? Überleg doch mal.“

„Ich hab mich so darauf gefreut. Ich wollte an mich arbeiten, wollte unserer Fahne zum Sieg verhelfen und es diesen arroganten Schnöseln da drüben zeigen.“

Elena griff nach Ingas Händen und drückt sie.

„Ach, lass die doch. Was interessiert uns Neidhardt und sein Klüngel. Sollen die doch ihren Triumph haben, meinetwegen lass sie in Medaillen schwimmen. Du bist wichtig, du und deine Gesundheit. Wenn du jetzt aufgibst wird dir niemand einen Vorwurf machen. Du hast es versucht, es hat nicht funktioniert. Na und?  Denke daran, dass du Verantwortung hast, vor allem für deine Kinder. Was wird aus ihnen? Und denke auch an Sonia. Die braucht dich. Ich denke das ist dir bewusst. Wenn du gehst, wird sie das nicht lange überleben. Soll ich euch etwa alle beide betrauern“

„Ich brauche Sonia doch auch! Ich hab sie so lieb. Sie ist so ein wundervoller Mensch.“

„Siehst du und deshalb musst du leben. Damit ihre eure Liebe noch möglichst lange in vollen Zügen genießen könnt.“

„Du hast Recht Elena. Ich gebe auf. Ich habe Menschen die ich liebe, zum ersten Mal ein richtiges Zuhause und  Aufgaben die mir Spaß machen. Und so soll es bleiben. Ich gebe noch heute meinen Rückzug bekannt. Aber ich möchte vorher noch mit Sonia sprechen.“

Sonja drohte jeden Moment vor Angst zusammen zu brechen.

„Ich werde sie verlieren! Du wirst sehen Madleen, ich werde meine große Liebe verlieren.

Ich spüre das Unheil. Ich habe sie ständig gewarnt, immer versucht auf sie einzureden, aber sie hört einfach nicht. Der grenzenlose Ehrgeiz hat sie blind gemacht für jede Realität.

Sie ist so stur, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Aber sie ist auch so lieb, ich hab sie so unendlich gern.“

„Beruhige dich Sonia. Inga ist bei Elena in den besten Händen. Vertraue auf deren Heilkraft.

Elena wird ihr auch den Kopf waschen, sie überzeugen dass sie zu weit gegangen ist. Glaube mir es wird alles gut. Wahrscheinlich war dieser Dämpfer erforderlich um Inga auf den rechten Weg zurück zu zwingen.“

Sonia schluchzte herzzerreißend, die Tränen flossen unaufhörlich und ständig musste sie sich in ihr Taschentuch schnäuzen.

„Meinst du? Ich wär mir da nicht so sicher. Sie hat nur dieses Ziel und das wird sie durchpeitschen, koste es was es wolle. Ich hab doch nur sie. Ich war so lange alleine, hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Dann kam ich hierher und traf auf sie. Es war für mich… Ich kann es nicht beschreiben wie wunderschön das Gefühl ist endlich richtig geliebt zu werden und auch lieben zu können. Und das soll jetzt alles vorbei sein? Einfach so, von einem auf den anderen Augenblick.“

„Es wird alles wieder gut, Sonia! Inga kommt wieder zu Kräften. Ihr werdet euer gemeinsames Leben noch lange teilen können. Sieh mal, ihr seit eine richtige kleine Familie.

Es tut gut euch alle bei einander zu sehen. Das sieht man das ihr glücklich seid, und….“

Das öffnen der Tür beendete Madleens Redefluss abrupt.

„Sonia komm! Deiner Liebsten geht es schon viel besser. Alles gut! Kein Infarkt! Sie möchte dich jetzt sehen!“

Wie von der Tarantel gestochen fuhr die Angesprochene in die Höhe und eilte in das Nachbarzimmer.

„Inga, ach bin ich erleichtert. Ich hab mir so große Sorgen um dich gemacht. Es war ein Gefühl als hätte man mir glühende Kohlen ins Herz gesenkt.“ Sofort meldeten sich die Tränen wieder und hinderten Sonia am weiter sprechen. Sie fiel ihrer Liebsten einfach wieder um den Hals.

„Ist ja gut! Alles wieder gut! Naja, mich hat`s eben umgehauen. Aber ich denke ich werde schon bald wieder aufstehen können.“ Versuchte Inga zu beruhigen, was ihr aber nicht sonderlich gelang, denn auf Sonias Stirn bildeten sich schon wieder Sorgenfalten.

„Aber du willst doch nicht wieder mit dem Training anfangen, jetzt nach dem das geschehen ist?“

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich hatte Zeit mir alles in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Auch wenn es mir schwer fällt. Ich werde das Training nicht fortsetzen können. Dieses Ereignis hat mich aufgeweckt. Ich werfe das Handtuch. Ich gebe auf. Die Olympiade findet ohne mich statt. Du und die Kinder das ist mir  das Wichtigste.“

Ein Gefühl tiefer Erleichterung durchdrang Sonia und lies sie wie einen Stern leuchten

„Ach bin ich froh. Das ist eine gute Nachricht. Ich bin mir natürlich bewusst wie wichtig die Spiele für dich sind und ich hätte dich gerne bei den Wettkämpfen bewundert. Aber dass ist besser. Niemals sollst du deine Gesundheit so leichtfertig aufs Spiel setzen. Wir sind eine Familie und wollen es auch bleiben.“ Sonia fiel ihr erneut um den Hals.

„Apropos, wo sind den Vanessa und Jennifer?“ Wollte Inga wissen.

„Gut versorgt. Im Moment sind sie bei Gabriela und Kristin. Ich habe mit denen vereinbart dass sie sich um die Kinder kümmern, wenn wir beim Training sind, damit ich mich dir voll widmen kann. Naja, das ist ja von nun an nicht mehr nötig.“

„Ja, das ist nicht mehr nötig! Antwortete Inga und tiefe Enttäuschung sprach aus ihrer Stimme.

„Mach dir nichts draus Liebste!“

„Nein tue ich nicht Sonia. Von nun an trete ich kürzer! Großes Ehrenwort!“

Die Tür öffnete sich mit einem Ruck und Chantal dran aufgeregt in das Behandlungszimmer.

„Na was ist denn mit dir los? Was bringst du denn für Nachrichten?“ Erkundigte sich Madleen.

„Sehr gute würde ich sagen! Stellt euch vor wir haben einen Trainer. Gerade kam die Meldung durch. Wir haben tatsächlich einen gefunden der bereit ist Inga zu trainieren. Der soll sehr gut sein, wie ich in Erfahrung bringen konnte. Werner, er kommt aus Deutschland und soll in seiner Laufbahn schon einige Athleten zur Goldmedaille verholfen haben.“

Alle Anwesenden senkten den Kopf. Sonias Herz pochte vor Verzweiflung, nur Inga strahlte über das ganze Gesicht.

„Was ist denn? Habe ich etwas Falsches gesagt? Ach, deshalb! Ich komme wohl zu spät oder?“

„Ja, ich fürchte! Inga hat entschieden aufzugeben. Sie wird nicht an den Spielen teilnehmen. Ihre Gesundheit ist einfach wichtiger. Du kannst absagen, denke ich!“ Versuchte Elena zu erläutern.

„Nein! Tue das bitte nicht! Ich gebe doch nicht auf! Es bleibt dabei. Ich werde an den Spielen teilnehmen!“ Revidierte Inga sogleich ihre Entscheidung. Dann griff sie sofort nach Sonias Hand. Doch die senkte nur das Haupt. Die tägliche Angst würde ihr noch für etliche Wochen erhalten bleiben.

 

Nach einigen Tagen traf Werner, der neue Trainer ein. Ein großer muskulöser Mann um die 60 Jahre, mit kurz geschorenen grauen Haaren und einer gesunden sonnengebräunten Hautfarbe. Seine Bewegungen wirkten leicht und geübt, so als kämen diese von einem 30 jährigen.

Werner kam aus Deutschland, genauer aus dem Osten jenes Landes, dass sich vor Zeiten einmal DDR nannte. Dort hatte er im Auftrag der Staatsführung die Topathleten trainiert und einige zum olympischen Ruhm verholfen. Sein Name war lange Zeit in aller Munde.

Doch dann kam die Zeit da sich die DDR anschickte aus der Geschichte zu verschwinden um in einem größeren Deutschland aufzugehen. Für Leute wie Werner hatte man ab jenem Zeitpunkt keine Verwendung mehr. Ihm wurde zu große Nähe zur abgesetzten Staatsführung der untergegangenen DDR nachgesagt, schließlich wurde sogar behauptet er habe für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet und auf dessen Befehl die ihm an vertrauten Sportler mit Dopingmitteln aufgeputscht.

All das ließ sich natürlich nicht beweisen, aber trotzdem war es aus mit der Karriere.

Werner hielt sich in der Folgezeit mit Gelegenheitsjobs über Wasser, etwa als Platzmeister von Sportplätzen. Nebenbei arbeitet er als Trainer für drittklassige Sportvereine aus der Provinz. Nicht sehr erbaulich für einen der einmal an der Spitze stand,aber auf diese Weise hatte er die Möglichkeit in Übung zu bleiben.

Das Angebot aus Akratasien erreichte ihn zu einer Zeit, als er schon jegliche Hoffung aufgegeben hatte irgendwann einmal in die Reihen des Spitzensportes zurückzukehren.

Melancholanien und Akratasien?  Erinnerte das nicht an die Zustände in seiner Heimat? Glaubte er die Vergangenheit zurückzuholen?

Mit Inga verstand er sich auf Anhieb! Beste Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Ihr Verhältnis war rein freundschaftlich, von beiden Seiten. Am ehesten konnte man  darin wohl als eine Art Vater-Tochter-Beziehung sehen. Sonia  hatte nichts zu befürchten.

 

Bis zu Werners Eintreffen pausierte Inga und versuchte sich so weit als möglich zu erholen. Hielt sich mit nur leichten Gymnastikübungen in Form.

Schließlich kam der Tag als sie sich sicher genug fühlte um wieder in das volle Trainingsprogramm einzusteigen.

Werner hatte zu diesem Zweck ein tragfähiges Konzept entwickelt, wie mit Inga in Zukunft zu verfahren war.

Ihr anarchistischer grenzenloser Kampfgeist musste sich in ein Korsett aus festen Regel und Anweisungen fügen. Es galt auf eine ganze Reihe von Bestimmungen zu achten, mit Auswirkungen auf ihren ganzen Tagesablauf.

„Also Inga, in Zukunft bestimme ich über die Art deines Trainings. Wie viel, wie lange und welcher Art die Trainingseinheiten sind. Darüber musst du dir im Klaren sein. Viel ist nicht immer gleichbedeutend mit gut. Es nützt rein gar nichts wenn du dich gleich beim Aufwärmen verausgabst und dir dann im entscheidenden Moment die Kräfte fehlen. Wenn du derart übertreibst, dass du wieder umkippst, hat niemand etwas davon.“ Begann Werner mit seiner Einführung.

Inga hatte auf der kleinen Natursteinmauer, die den Sportplatz vom übrigen Gelände abgrenzte, Platz genommen und lauschte gespannt seinen Worten.

Es versprach ein schöner Tag zu werden. Die Sonne wärmte bereits jetzt, am Vormittag ordentlich ein, brannte von einem fast wolkenlosen Himmel und vertrieb den morgendlichen Tau im Gras sehr rasch.

Frühsommer, nur noch wenige Wochen bis zur Eröffnung der Spiele. Würde es ihr gelingen den immensen Rückstand aufzuholen? Inga begann immer deutlicher an sich zu zweifeln. Selbst mit einem Trainer wie Werner bedeutete das eine Sysiphosarbeit.

„Ich habe verstanden und ich verspreche dir mich korrekt nach dem zu richten das du vorgibst. Glaubst du, dass ich es schaffe? Das ich noch aufholen kann, was ich versäumte?“

„Was ich glaube ist zunächst einmal irrelevant. Viel wichtiger ist doch ob du noch an dich glaubst. Wenn nicht, brauchen wir erst gar nicht anzufangen. Dann kann ich wieder in meine Heimat zurückkehren und für mich war diese Episode  nichts weiter als ein Ausflug. Wenn du es dir dennoch  zutraust, sollten wir rasch beginnen und keine Zeit mehr verlieren.“ Schärfte ihr Werner weiter ein.

„Der Meinung bin ich auch. Ich will es! Wenn meine Zweifel auch groß sind, ich möchte es schaffen. Nein, ich werde es schaffen! Na denn, lass uns gleich mit dem Training beginnen.“ Inga hüpfte von der Mauer und begann auf dem Boden mit den Füßen zu tänzeln.

„Halt, halt! Nicht immer gleich so voreilig! Wir beginnen früh genug. Hast du dir den Trainingsplan angesehen, den ich dir zusammen gestellt habe?“

„Ja, natürlich! Habe ihn genaustens studiert!“ Antwortete Inga.

„Das ist gut! Was hast du daraus gelernt? Gehen wir noch mal alles durch!  Also, du bist Sprinterin. Was sind die grundlegenden Bewegungselemente im Sprint?“

Inga kam ins Grübeln. Doch dann erinnerte sie sich.

„Ähm… ja äh. Aktiver, geradliniger Fußaufsatz auf den Ballen, beim Abdruck optimale Streckung in Fuß-,Knie-und Hüftgelenk, zweckmäßiges Anfersen, dann geradlinige Armbewegung aus der Schulter, Armwinkel etwa 90°:“

Inga winkelt die Arme an, ballte dabei die Fäuste, ihre starken Muskeln spannten sich.

„Ja, aufrechte, unverkrampfte Rumpf-und Kopfhaltung, deutlich sichtbare Phasenstruktur und Fußspitzen in vorderer Schwungphase angezogen.“

Inga begann auf der Stelle zu laufen. Sie hatte ihre Lektion gut gelernt.

„Sehr gut! Entscheidend ist dich damit auseinanderzusetzen, genau zu überlegen was es bedeutet. Das ist nicht einfach nur theoretischer Kram, sondern auch die kleinste Kleinigkeit wird von Bedeutung wenn es in den Wettkampf geht. Dein Körper ist sehr gut in Form, nicht wenige Männer würden dich um diese Muskeln beneiden, aber gehe sorgsam damit um, gebrauche sie gut und überlegt.“

„Ich werde deine Anweisungen beherzigen, Wort für Wort!“ Versprach Inga.

„Na das wollen wir hoffen. Alles muss aufeinander abgestimmt werden. Da wäre einmal ein hoher Grad der Beherrschung der Bewegungsabläufe, dann die Verbesserung von Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer. Das bewusste Erfassen technischer Grundelemente, theoretisches Wissen zum ABC-Training und seiner Rolle beim Erwerb von Bewegungsfertigkeiten. Schließlich sollte auch keinesfalls deine Einstellung, Motivation, Lernerfolgshoffnung und die Sozialerfahrung vergessen werden.“ Fuhr Werner mit seinem Vortrag fort.

„Ich werde mich bemühen alles einzubeziehen. Auch wenn ich gestehen muss dass mir schon jetzt der Schädel davon brummt . Hm, wenn ich das alles vorher gewusst hätte, dann wäre ich wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen….“

Werner schnitt ihr das Wort ab.

„Nicht so Inga! Nicht schon am Anfang resignieren, das ist Gift für deine Motivation überhaupt weiter zu machen. Genug geredet. Fangen wir mal mit deinen Füßen an. Schuhe ausziehen!“

Inga gehorchte ohne mit der Wimper zu zucken.

„Guter weicher Rasen hier, das ist gut! Also Fußtraining: Zehenspitzengang, Arme in die Höhe, richtig ausstrecken!“

Inga begann auf den Zehenspitzen zu laufen.

„Gut! Jetzt auf den Zehenballen laufen!“

Inga setzte den Zehenballen auf und bewegte sich hin und her.

„Fersengang!“ Inga zog die Fußspitzen nach oben und begann auf den Fersen zu laufen.

Es folgten Gehen auf dem Innen-und Außenrist.

Danach das betonte Gehen. Der Sportler setzt dabei den Fuß auf der Ferse auf, rollt über die ganze Sohle ab und leitet mit dem Abdruck nach vorn-oben über die Fußspitze den nächsten Schritt ein.

Es folgten dann noch Übungen wie das gehen mit dem wechselseitigen Kniehub. Die Oberschenkel werden dabei wechselseitig in die Waagerechte gehoben. Die Fußspitzen sind dabei angezogen.

Im Anschluss die Funktionsgymnastik. Auf dem Boden liegend musste Inga nun verschiedene Übungen absolvieren.

„Wenn es dir im Moment auch etwas zu viel wird mit diesen Drehübungen, sie sind entscheidend wichtig für all deine Bewegungsabläufe und deren Optimierung. Alles kommt dabei auf die Wirbelsäule an. Denn von einer Optimierung der Bewegungsabläufe kann nicht gesprochen werden, wenn die Wirbelsäule nicht ausreichend stabilisiert werden kann. Das kann zum Energieverlust führen. Mit der mangelnden Stabilisierungsfähigkeit ist häufig schon der Grundstein für spätere Verletzungen gelegt. Und die wollen wir doch vermeiden“

„Ja, wenn es sich einrichten ließe wäre ich sehr beruhig!“ Gab Inga zu verstehen.

„Du hast eine gute Ärztin wie ich vernommen habe?“

„ Elena ist die beste die ich mir vorstellen kann. Bei ihr fühle ich mich in sicheren Händen.“

„Na, dann ist ja alles klar! Du musst immer damit rechnen dass es schwierig wird. Immerhin bist du nicht mehr ganz so jung für den Hochleistungssport, wenn ich das mal so sagen darf, oder stört dich das?“

„Nein, ich bin mir vollkommen bewusst dass die überwiegende Anzahl der Athleten etwa 10-15 Jahre jünger sind als ich. Mit Ende 30 ist man schon ein Dinosaurier im Sport. Mich plagt einiges. Vor allem immer wieder diese Wadenkrämpfe!“ Gab Inga zu verstehen.

„Deshalb ist die genaue Abfolge der Trainingseinheiten auch so wichtig. Aber auch ausreichende Regenerationszeiten. Erholung ist ein entscheidender Bestandteil und natürlich auch die richtige Ernährung. Aber darüber sprechen wir später. Vor allem wenn deine Gefährtin dabei ist, denn für sie ist es auch wichtig zu wissen, was sie dir in der Folgezeit für Speis und Trank vorsetzen darf und welche sich ganz und gar nicht eignet.“ Fuhr Werner mit seinen Erläuterungen fort.

Inga trainierte weiter.

In der Zwischenzeit war Sonia zu den beiden gestoßen. Nach anfänglicher Distanz gelang es ihr ein gutes Verhältnis zu Werner aufzubauen. Der bekam somit nicht nur eine Tochter, sondern gleich Schwiegertochter nebst Enkelkindern dazu geschenkt.

„Guten Morgen Sonia! Schön dass ich dich treffe ! Wir müssen uns mal über Ingas Ernährungsplan unterhalten, denn wie ich gehört habe bist du diejenige die sich darum kümmert.“ Begrüßte Werner Sonia.

„Ja! Auf was muss ich in Zukunft achten?“

„Hm, eine ganze Menge. Das kann man nicht so zwischen Tür und Angel bereden. Ich mache dir einen richtigen Plan.  Du musst unbedingt darauf achten dass sich Inga daran hält. Die Ernährung ist sehr wichtig für den Leistungssport.“

" Ich werde es versuchen. Viel Zeit bleibt uns  nicht mehr!“ Erwiderte Sonia, während sie zusah wie Inga auf dem Sportplatz ihre Runden drehte.

„Drum eben! Aber ich denke wir schaffen das noch.“

„Hey Sonia! Komm! Willst du nicht ein paar Übungen mit mir machen? Würde dir sicher gut tun!“ Rief Inga ihrer Frau von der Laufbahn zu.

„Nicht so viel reden Inga während deines Trainings! Denke daran, das bedeutet immer eine Verschwendung von Kraftreserven!“ Erinnerte Werner  an den alten Grundsatz.

„Aber Inga hat natürlich recht! Ein wenig sportliche Betätigung würde dir wirklich nicht schaden.“ Werner betrachtete Sonias superschlanken Körper mit einem Gefühl das sowohl Mitleid wie auch Unverständnis verstrahlte

Diese errötete sogleich. Aufgrund der stetig steigenden Temperaturen trug sie auch heute nur ein dünnes Kleid aus feinem Leinen, ein Umstand der eine nähere Betrachtung ihres Körper problemlos zuließ.

„Aber ich kann doch nicht jetzt noch anfangen auf Hochleistung zu trainieren.“ Antwortete die angesprochenen voller Verwunderung.

„Das meine wir auch gar nicht. Selbstverständlich sollst du deinen Körper nicht in der gleichen Intension schinden wie das Inga tut. Nein, hier und da ein paar Übungen gemeinsam mit ihr durchführen würde euch beiden gut bekommen. Du hast wahrscheinlich nie richtigen Sport betrieben, stimmts?“

„Stimmt!  Sieht man gleich! Da kann ich kaum mit halten!“ Sonia strich sich über Beine und Arme.

„Das brauchst du nicht. Aber denke darüber nach. Ein paar Übungen würden sich sehr positiv auf deine Muskulatur auswirken.“ Beharrte Werner weiter auf seinem Vorschlag.

„Was meinst du, ob die Kinder Inga mal beim Training zu sehen können. Die würden sich freuen ihre Mama mal in Aktion zu sehen.“ Versuchte Sonia vom Thema abzulenken.

„Ja, ich denke schon. Aber alles mit Maß. Es darf Inga nicht zu sehr ablenken. Sie muss ganz bei der Sache sein.“

„Ich weiß! Du meinst wegen der Vergeudung der Kraftreserven!“ erinnerte sich Sonia.

„Genau die! Ich sehe du bist voll bei der Sache, das ist gut! Nein, nein bring die Kinder ruhig mal mit. Es kann nicht schaden.“

 

Die Tage verstrichen schnell, wie immer wenn man nur den einen Wunsch verspürt, nämlich mehr Zeit zur Verfügung zu haben, mehr Zeit zur Vorbereitung, mehr Zeit auch um sich ausreichend zu regenerieren. Doch die Spiele rückten immer näher und damit Ingas große Bewährung.

Das Training steigerte sich bis zu jenem Punk, dass Inga tatsächlich zu einer Höchstleistung imstande schien.

Diese hielt sich peinlichst genau an Werners Anweisungen. Somit konnte sie das ganze Pensum ohne große Blessuren überstehen, wenn sie auch fast ständig erschöpft und ausgelaugt und mit schmerzenden Gliedern nach Hause kam. Ihrer Motivation weiterzumachen tat das keinen Abbruch.

 

 An einem Freitag Anfang Juli blickte die ganze Welt auf Manrovia und harrte der Eröffnung der Sommerolympiade.

Inga sollte die einzige Teilnehmerin aus der Akratasischen Föderation bleiben, einige weitere Bewerber waren zu dem Entschluss gekommen aufzugeben. Noch bis zum Schluss hatte Neidhardt auch auf Ingas Rückzug gehofft, um eine rein melancholanische Mannschaft präsentieren zu können. Doch deren Präsens machte weiterhin eine melancholanisch/akratasische Gruppe erforderlich.

Mit einem jedoch konnte sich Neidhardt durchsetzten. Alle Athleten starteten unter der melancholanschen Fahne, nicht wie ursprünglich verfügt im Zeichen einer neutralen Olympiaflagge.

Auch Inga würde dadurch de facto für Melancholanien und nicht für Akratasien starten, ein Umstand der ihr ungeheuer wehtat.

Weiterhin gab es allerlei Querelen um die Präsenz der Vertreter Akratasiens bei den Spielen

Elena selbst durfte in ihrer Eigenschaft als Ingas Ärztin und Physiotherapeutin offiziell dabei sein, nicht aber in ihrer Funktion als Kanzlerin. Colette wurde der Besuch als Privatperson gestattet. Die Königin wurde vollständig ignoriert, ebenso erging es allen anderen  aus dem Kabinett, die ihre Teilnahme planten.

Jedwedes Zusammentreffen mit den Vertretern der melancholanischen Regierung oder der Staatspartei wurde untersagt. Ein Kontakt zu Neidhardt, Cornelius oder weiteren Vertretern somit verunmöglicht.

Es würde demzufolge bei flüchtigen Blickkontakten bleiben.

Elena bedauerte das zutiefst. Andererseits aber gestattete ihr umfangreiches Tagespensum, das ihr mit der Ingas Betreuung zugefallen war, kaum Zeit für andere Dinge.

Im olympischen Dorf wurde Inga gemeinsam mit der melancholanischen Mannschaft untergebracht, auch wenn ihr ein isolierter Wohnbereich zugewiesen wurde, ließen sich Kontakte mit den übrigen Mannschaftsmitgliedern kaum vermeiden. Zu den anderen konnte sie ein gutes Verhältnis aufbauen. Die scherten sich nicht viel um die Anweisungen der Staats-und-Parteiführung, die den Kontakt auf ein Minimum reduziert wünschten.

Neben Sonia waren nur noch Elena, ihr Trainer Werner sowie eine weitere Person als Betreuung zugelassen.

Aber die anderen aus der Schwesternschaft halfen mit wo es sich nur einrichten ließ.

Um die Kinder kümmerten sich Gabriela und Kristin.

Die gesamte Pressearbeit übernahm Chantal, sie es hervorragend verstand mit den Medien umzugehen. Im Vorfeld der Wettkämpfe ließ sie niemanden an Inga heran, um diese nicht noch zusätzlich zu belasten.

 

Die Eröffnungszeremonie gestaltete sich in den vorgegebenen und seit Jahrzehnten gewohnten Bahnen. Einmarsch der Teilnehmermannschaften. Die Melancholanier schritten nebst Inga in ihrer Eigenschaft als Gastgeber als Letzte ein.

Sonia hatte mit den anderen auf der Besucherbühne Platz genommen, Vanessa und Jennifer harrten auf deren Schoss voller Spannung dem Auftreten der Mama. Als sie ihrer ansichtig wurden, kannte die Begeisterung keine Grenzen.

Das olympische Feuer wurde entzündet und der Eid geleistet.

Die Eröffnungsansprache oblag Cornelius. Neidhardt hielt sich zurück, nach wie vor begleitete er kein Staatsamt. Ein geschickter Schachzug.

Elena blickte die ganze Zeit voller Wehmut zu dem alten Mann hinüber. Wäre es klug an den folgenden Tagen einfach den Kontakt zu suchen? Ein Friedensangebot unterbreiten? Elena schwanke, wog ab, für oder wider. Sie entschloss sich dass Vorhaben zu vergessen. Es war einfach zu riskant. Immerhin lag schon genügend Spannung in der Luft und drohte beständig zu eskalieren.

Abwarten, einfach abwarten! Möglicherweise geschahen noch Zeichen und Wunder, mit denen niemand rechnete.

In der Arena folgen künstlerische Darbietungen, musikalischer, tänzerischer oder akrobatischer Art. Alles wirkte sehr professionell. Da hatte die melancholanische Führung so manches im Angebot, dass sich sehen lassen konnte.

Millionen blickten in diesen Momenten auf das kleine Land mitten in Europas Herzen.

Ingas Traum hatte sich bereits in diesen Augenblicken erfüllt. Dabei sei. Einfach nur die Atmosphäre spüren auf die so lange hatte  warten müssen. Nun war es so weit, sie war dabei, sie befand sich in Mitten einer Nationalmannschaft. Nun nur noch in der Kampfbahn eine gute Figur machen, dann hatte sie was sie wollte. Mehr kam ihr nicht in den Sinn. Auf Medaillen zu hoffen schien vermessen.

 

In den nächsten Tagen absolvierte Inga ihre Trainingseinheiten weiter wie gewohnt. Die leichtathletischen Disziplinen kamen erst in einigen Tagen an die Reihe. Also noch eine gewisse Galgenfrist bis zum Start.

Die Qualifikation war Nervenaufreibend. Vorlauf, Viertelfinale, Halbfinale. Inga gab alles um weiter zu kommen und sie schaffte es, mehr schlecht als recht, doch wer fragt am Ende auf welche Weise sich der Erfolgt einstellt. Zwischendurch verließ sie immer wieder der Mut und sie dachte ans Aufgeben.

Ich bin dabei, ich war am Start, bei einer Olympiade. Ich darf meine Gesundheit nicht ruinieren. Da gibt es Menschen die auf mich warten, Sonia und die Kinder und auch all die anderen die für mich inzwischen zu einer Familie wurden. Keiner würde ihr Vorhaltungen machen.

Doch sie gab nicht auf! Noch nicht! Schob den Entschluss immer weiter hinaus. Bis…

Schlussendlich stand sie im Finale. Jetzt gab es keinen Rückzieher mehr.

Den Siegern winkten die Medaillen, Gold, Silber, Bronze, weitere gute Nachplatzierungen.

Wäre für Inga etwas drin? Sie wollte nicht darüber nachdenken.

Der Vortag war frei und stand ihr zur Verfügung. Vor allem war Ruhe und Regeneration angesagt.

Die Spannung steigerte sich ins Unermessliche und mit ihr kam die Nervosität, die ihr den Verstand zu rauben drohte.

Sonia versuchte ihre Geliebte so gut es ging in der Balance zu halten.

„Ich schaffe es nicht Sonia! Ich werde versagen! Glaub mir ich werde nicht nur mich blamieren, nein uns alle. Anarchonopolis, ganz Akratasien. Damit werden sie erneut einen Grund haben, unsere Ideen an die wir glauben in den Dreck zu treten.“ Prophezeite Inga in einem Anflug düsterer Gedanken.

„Inga, niemand wird über dich lachen, oder über uns. Sieh doch, du hast es so weit gebracht. Du stehst im Finale. Wer hätte das noch vor ein paar Tagen für möglich gehalten. Wenn du eine Medaille verpasst bist du immer noch unter den best platzierten.“ Versuchte Sonia ihre Partnerin zu beruhigen.

„Ich weiß nicht! Ich bin soweit gekommen. Du hast Recht, ich sollte mich freuen, stattdessen überkommt mich die Angst. Ein Gefühl, ich kann es nicht beschreiben. Du befindest dich vor dem Gipfel, wähnst dich schon am Ziel. Doch dann kommt der Absturz. Ich denke das geht einem jenen so der den Zenit erreicht hat. Alles oder nichts! Was werde ich bekommen?“

„Alles Inga, alles! Ich glaube fest an dich! Zugegeben, ich habe nach wie vor die gleiche Angst. Vor allem aber Furcht dass dir etwas zustoßen könnte ist es die mich lähmt. Noch bis vor kurzem hoffte ich tatsächlich dass du dich zum Aufgeben entschließt. Doch seit feststeht dass du im Endspurt laufen wurde mir bewusst das du es schaffen kannst.“ Versicherte Sonia weiter.

„Ach wenn ich dich nicht hätte!“ Inga umarmte Sonia und küßte sie.

„Wenn nur nicht die Schmerzen wären.“

„Immer noch Schmerzen? Im Rücken?“

„Ja und in den Beinen! Es gelingt mir manchmal nur mit Mühe aufzutreten, vor allem nach  einer harten Trainingseinheit.“

„Lass dich davon nicht beirren. Ist nicht weiter tragisch. Kann passieren! Dann heißt es gegensteuern. Gymnastik und massieren.“

Gab Werner zu verstehen als er den Trainingsraum betrat. Offensichtlich hatte er Ingas letzte Worte ungewollt mitgehört.

„Hat sich Elena noch einmal versichert ob du auch in Form bist?“ erkundigte er sich dann.

„Ja, soweit in Ordnung sagt sie! Das übliche. Ich soll mich richtig ausruhen, vor dem Start.“

„Richtig! Ruhe, aber total. Lenke dich nicht mit nichtigen Dingen ab. Das könnte am Ende noch an deinen Kräften zehren. Mensch, das sich das noch erleben darf. Du startest im Finale. Du hast es bis hierher geschafft. Ich muss zugeben, das ich skeptisch war, als wir uns kennen lernten. Du wirktest stark und durchtrainiert, aber ich zweifelte ob es ausreicht um wirklich an den Start zu gehen.. Nun bin ich überzeugt, dass du einen guten Lauf geben wirst. Halte dich gut. Nichts riskieren.“

„Das werde ich! Ich hoffe nur dass ich die Nacht gut schlafen kann. Ich fürchte ich werde mich vor Aufregung in den Kissen wälzen. Ach schade dass du nicht bei mir sein kannst Liebste. In deinen Armen würde ich die Ruhe finden derer ich so dringend bedarf.“ Bedauerte Inga.

„Ich wäre auch so gerne bei dir. Aber wenn es nicht geht, dann eben nicht. Später da holen wir alles nach.“ Bestätigte Sonia.

„Ich finde so eine asketische Übung vor dem großen Auftritt sehr sinnvoll. Auch das könnte an deine Kräften zehren.“ Flocht Werner noch in das Gespräch.

 

In der Nacht als alle sich zur Ruhe begeben hatten, erhielt Inga doch noch Besuch. Elena hatte sich eingeschlichen um ihr ein Dopingmittel von besonderer Art zu verabreichen. Sie entkleidete sich und schlüpfte unter Ingas Decke. Sie praktizierte in dieser Nacht den Therapeutischen Beischlaf. Durch den engen Körperkontakt hofft sie viel an Kraft, Ausdauer aber auch Schutz auf Ingas Körper  zu übertragen. Sie blieb die ganze Nacht. Während dessen verbrachte Sonia die Nacht gemeinsam mit Madleen. Auch ihr tat es gut sich fallen zu lassen um seelisch auftanken.

Inga würde guten Gewissens zum Wettkampf antreten, denn dieses Doping stand nicht auf der Verbotsliste. Seine Spuren würden sich im Körper auch nicht nachweisen lassen.

Am Morgen verschwand Elena schnell, um Inga noch genügend Zeit zum relaxen zu gewähren.

 

Der 100m Sprint sollte gegen 12 Uhr Mittag beginnen. Schon lange vorher füllte sich die Besuchertribüne. Viele die eigens für die Wettkämpfe ein Visum erhalten hatten, fanden sich pünktlich ein.

Sonia hatte sich von Inga verabschiedet, es war ihr nicht gelungen deren Nervosität zu vertreiben. Die verbrachte die Zeit mit Werner um sich die letzten Instruktionen abzuholen. Werner und Elena waren die einzigen die das Geschehen an der Laufbahn, also aus nächster Nähe verfolgen konnten.

Sonia hatte sich mit den anderen auf den für die Akratasier bereitgestellten Teil der Besucherränge zurückgezogen. Vanessa und Jennifer konnten es vor Ungeduld kaum noch aushalten. Sonia hatte alle Hände voll damit zu tun sie zu bändigen.

„Also gleich ist es soweit. Bald werdet ihr die Mama wieder bewundern können.“

„Und sie läuft direkt an uns vorbei?“ Wollte Vanessa wissen.

„Ja, direkt hier unten!“ Sonia wies mit dem Zeigefinger in Richtung Arena.“Wenn sie gestartet ist, dann müsst ihr sie gaaaanz toll anfeuern. Habt ihr verstanden? So wie wir es uns verabredet haben.“

„Ja dass tun wir! Glaubst du denn das die Mama wirklich gewinnt?“ Meinte Jennifer mit ein wenig Zweifel in der Stimme.

„Aber natürlich! Ihr wollt doch das eure Mama die Beste wird, oder?“

„Ja!“ kam es bei beiden wie aus der Pistole geschossen.

„Also! Dann müssen wir in Gedanken bei ihr sein und ihr ganz fest die Daumen drücken! Dann wird sie ganz bestimmt gewinnen.“ Meinte Sonia.

„Wie macht man das denn? Die Daumen drücken?“ Erkundigte sich Vanessa und probierte mit ihren Fingern einige Stellungen.

„Na du kannst Fragen stellen.“ Also kommt hier ich zeig es euch. Finger ineinander falten, die Daumen obendrauf. Ja, so ist es richtig. Und nun drücken.“

Die beiden strengten sich sichtlich an und hatten ihren Spaß dabei. So überbrückten sie die Zeit bis zum Start.

„ Chantal, wo bleibst du denn. Ich dachte schon du kommst überhaupt nicht mehr. Du verpasst doch glatt den Start.“ Begrüßt Eve ihre Geliebte voller Ungeduld.

„Stress, Stress, Stress. Musste noch ein paar aufdringliche Paparazzi abwimmeln. Unmöglich, die sind lästig wie die Schmeißfliegen. Inga wird als eine der Favoriten gehandelt. Das ist natürlich hervorragend. Aber stell die vor sie gewinnt tatsächlich, nicht auszudenken, wie die Pressefritzen dann über sie herfallen.“ Chantal war im Begriff sich seelisch und moralisch auf ihre neue Funktion als Ingas Pressesprecherin vorzubereiten.

„Hey Kristin, kann du etwas sehen? Gehen die schon an den Start?“ Wollte Alexandra wissen.

„Noch immer nichts zu sehen. Wieder mal so ne Verzögerung. Die haben auch eine Panne nach der anderen mit ihrer Organisation.“ Erwiderte die Angesprochene die auf einem der höheren Sitze Platz genommen und somit eine bessere Sicht nach hinten hatte.

„Eigentlich müsst der Start schon lange erfolgt sein, zumindest wenn alles nach Plan verläuft.“ Warf Colette ein.

„Also nach Plan läuft hier gar nichts. Typisch Melancholanien. Hier hat sich auch kein bisschen was verändert.“ Glaubte Gabriela zu wissen.

Unten in der Wettkampfarena blickte Elena gespannt in die tosenden Menschenmengen, die Spannung steigerte sich von Minute zu Minute. Sie erhoffte einige bekannte Gesichter zu erblicken, vor allem Cornelius. Aber der schien wohl gar nicht anwesend. Neidhardt hingegen konnte man auch aus weiter Entfernung ohne Fernglas erkennen. Die wuchtige Gestalt, gekleidet in seine mausgraue Parteiuniform, stand auf der Ehrentribüne und lehnte sich weit über die Brüstung, auch er gespannt wie alle anderen.

Was das Wetter betraf kündigte sich ein warmer Tag an. Elena hoffte dass es nicht gar zu heiß würde, das wäre  Inga nicht sehr dienlich.

In den anderen Bereichen des Stadion wurden derweil andere Disziplinen ausgetragen. Etwa Weitsprung, Kugelstoßen oder auch Diskuswurf.

Endlich ertönte ein Gong und der 100m Sprint wurde angekündigt. Nun war es soweit, die Stunde der Wahrheit nahte.

Die Sprinterinnen verschiedener Nationen betraten die Kampfbahn. Neben Inga hatte sich auch noch eine weitere Läuferin aus Melancholanien qualifiziert, was der Dramatik noch einmal zusätzliche Spannung verlieh.

Als Inga in der Arena gesichtet wurde tobten die akratasischen Ränge, allen voran die Schwestern.

„Da, da unten seht ihr? Da ist die Mama! Seht sie euch an! Sieht sie nicht bezaubernd aus?“ Sprach Sonia voller Begeisterung zu den Kindern, die ihre Hälse weit in die Höhe reckten, um besser zu sehen.

Ein anderer hingegen schien bei ihrem Anblick ganz und gar nicht begeistert. Neidhardts Mine verzog sich zu einer grimmigen Fratze, denn Inga hatte sich mit einem Kampfdress besonderer Art bekleidet.

Grün-Rosa, die Farben der Akratasischen Föderation.

Die Sonne lies ihre Strahlen auf Ingas athletischen Körper gleiten und brachte deren traumhafte Muskeln voll zur Geltung. Ihre langen rotbraunen Haare hatte sie zu einem dicken Pferdeschwanz nach hinten gebunden.

Noch ein wenig Zeit, die Aufforderung zur Platzierung lies noch auf sich warten. Inga tänzelte wie die anderen noch auf der Bahn um sich aufzuwärmen.

„Ich wünsche dir Alles Gute, Inga. Viel Kraft und Ausdauer und vor allem Schutz und Segen. Wir alle sind bei dir. Du läufst nicht nur für dich, nein für uns alle. Für Akratasien, für die Freiheit:“ Flüsterte Elena leise vor sich hin.

Dann ertönte das Signal zum Start. Alle Athleten hatten sich in die Startlöcher zu begeben.

Inga platzierte sich, preßte die Handflächen auf den sandigen Boden, spannte dabei ihre Muskeln an den Beinen aus.

Gespannte Ruhe als der Start verkündet wurde. Tausend Gedanken schwirrten wie Bienen durch Ingas Kopf, sie versuchte sie zu verscheuchen, doch es gelang ihr nicht. Dann spürte sie ein leichtes Zwicken in der linken Wade. Nein, jetzt nur keinen Krampf.! Das wäre entsetzlich. Das Herz klopfte und der Puls raste. Ein Druck in der Herzgegend steigerte die Angst zusätzlich.  

„Auf die Plätze! Fertig! Los!“ Es knallte und die Sprinter setzen sich in Bewegung. Inga kam schlecht aus dem Startloch. Unverzeihlich, das würde sie nie mehr aufholen. Doch dann geschah das Unerwartete. So als hätte sie eine Rakete im Rücken, wurde Inga von einer ungebändigten Kraft erfasst. Für einen Sekundenbruchteil wähnte sie Elena an ihrer Seite.

Wie ein Taifun brauste sie an den anderen vorbei und vergrößerte den Abstand in  beträchtlichem Maße.

Elegant und graziös wie eine Gazelle steuerte sie die Ziellinie an, etwa zwei Meter davon riss sie die Arme in Siegerpose in die Höhe und strahlte mit einem verführerischen Lächeln über das ganze Gesicht. Die Ränge tobten vor Begeisterung.

Ganz nahe am Geschehen auch der Reporter des deutschen Fernsehens Harry Hastig. Hier sein Sensationskommentar:

„ Start liebe Zuschauer. Oh, das sieht ganz und gar nicht gut für Inga aus. Rückstand, das ist wohl nicht mehr aufzuholen. Aber nein! Was ist das denn? Träume ich? Seht euch das an! Ist es denn die Möglichkeit! Inga zieht an den anderen vorbei, so als würden die sich gar nicht bewegen. Sie lässt die haushohen Favoriten aus den USA und China weit hinter sich. Es ist nicht zu glauben! Was für eine Powerfrau. Seht euch diesen Körper an, mit welcher Kraft sie läuft. Das ist nicht mehr einzuholen. Jaaaa! Im Ziel! Sie hat es geschafft! Goldmedaille! Nein es ist noch mehr. Ich glaube nicht was da verkündet wird. Das ist Weltrekord! 10, 48 Sekunden. Das hat noch keine vor ihr geschafft. Meine Damen und Herren, voller Stolz kann ich ihnen sagen: Und ich bin dabei gewesen!“

Inga taumelte über die Kampfbahn und konnte gerade noch vor den Zuschauerrängen ihre Geschwindigkeit drosseln. Dann beugte sie sich tief nach unten, stützte dabei die Handflächen auf ihre Knie und rang nach Luft. Ihr war schwindelig und die ganze Welt schien sich um sie zu drehen.

Wie zwei Blitze eilten ihr Elena und Werner am Außenring der Kampfbahn entgegen, konnte sie gerade noch vor dem Zusammenbrechen stützen. Elena hatte in ihrer Tasche alles was sie für den ernstfall brauchte 

„Ich …ich habs geschafft? Oder? Ich….ich … bin durch nicht wahr? ... stammelte Inga während sie in Elenas Hände glitt.

„Ruhig Inga! Ganz ruhig atmen, schön gleichmäßig ein und aus! Gleich ist es vorbei. Du hast es geschafft. Du bist die Siegerin, du hast sie alle in die Tasche gesteckt. Wir alle sind mächtig stolz auf dich. Sieh mal da oben Neidhardt! Könnte mir vorstellen wir der gerade vor Wut schäumt!“

„Wunderbar! Das war phantastisch! So etwas habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Inga du hast den Weltrekord gebrochen Ich bin einfach nur sprachlos. Ich bin stolz dich trainiert zu haben.“ Bekundete nun auch Werner seine Freude. Dann nahmen sie Inga in die Mitte und schützen sie mit ihrer Wärme.

Nun hielt es auch Sonia nicht mehr auf der Zuschauertribüne. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmassen um zu ihrer Geliebten zu gelangen. Auch die Kinder wollten, wurden aber von Gabriela und Kristin aufgehalten.

Niemand vermochte Sonia zu stoppen als sie so über den Rasen eilte um zu ihrer Inga zu gelangen. Dann endlich erreichte sie diese und fiel ihr um den Hals.

„Ach, wie ich dich liebe, meine starke Heldin. Ich kann es noch gar nicht glauben. Du hast Gold geholt. Ich bin so stolz auf dich.“

„Na dann seit ihr ja schon zu dritt mit eurem Stolz, ich denke ich werde noch viele solcher Reden hören heute und die nächsten Tage. Entgegnete Inga dabei immer noch leicht nach Luft schnappend.

„Wie fühlst du dich`? Alles in Ordnung? Geht es dir gut? Wollte Sonia weiter wissen.

„Mir ist es nie besser ergangen Sonia! Erst jetzt, langsam, ganz langsam wird mir bewusst was tatsächlich geschehen ist.“

„ Großes! Sehr großes ist geschehen. Sieh dir die Menschen an und du kannst dich davon überzeugen!“ Werner wies mit der Hand auf die noch immer tobenden Menschenmengen.

Langsam beruhigte sich alles wieder. Gemeinsam suchten sie einen Weg, weg von der Kampfbahn. Inga musste sich nun auf die Siegerehrung vorbereiten, die in Kürze erfolgen sollte.

Nachdem sich Inga ein wenig ausgeruht und frisch gemacht hatte, schritt sie  ihrer Auszeichnung entgegen. Sie trug einen schlichten weißen Jogginganzug und weiße Leinenturnschuhe. Den verordneten roten Trainingsanzug mit den aufgenähten Symbolen der melancholanischen Staatspartei hatte sie abgelehnt. Aber niemand vermochte ihr den Weg zu versperren, das hätte einen Aufschrei der Empörung heraufbeschworen den Neidhardt unbedingt zu vermeiden gedachte, deshalb lies man sie gewähren.

Die bestplatzierten Athletinnen nahmen Aufstellung und wurden der Reihe nach aufgerufen. Bronze ging nach China, Silber an die USA und Gold nach… Ja wer hatte das Gold nun wirklich verdient? Melancholanien ertönte es. Erfüllt mit Stolz über ihre Leistung betrat Inga das Podest. Schwermut bemächtigte sich ihrer. Für Melancholanien also hatte sie das Gold errungen.

Langsam erklommen die Fahnen ihre Stellung bis sie am oberen Teil des Fahnenmastes angelangt waren. Die Flagge Melancholaniens flatterte im warmen Wind des Nachmittages. Neidhardts Symbole wehte über Ingas Kopf, dazu ertönte Glory Melancholania aus dem Lautsprecher. Ingas Augen füllten sich mit Tränen. Nein, dafür hatte sie sich nicht wochenlang geschunden und sogar ihre Gesundheit auf`s Spiel gesetzt. Sie griff in die Brusttasche und holte ein Stück bunten Stoff hervor, entfaltet diesen und hielt ihn in den Wind. Grün-Rosa und darauf der Schwarz-Rote Stern. Die Fahne der Akratsaischen Föderation.

Nun entlud sich die Begeisterung.

„Bravo Inga! Du bist wunderbar! Wir lieben dich! Schrien die Schwestern und alle die bei ihnen auf der Tribüne waren. Elena warf ihr eine Kusshand zu und streckte beide Daumen weit nach oben.

Eisiges Schweigen hingegen auf der Ehrenloge der melancholanisches Staats-und -Parteiführung. Hasserfüllt senkte Neidhardt sein Haupt. Die Provokation war gelungen. Die Ehre Akratasiens wieder hergestellt.

Nachdem die Nationalhymne verklungen war und sich die Sportler von ihren Podesten entfernt hatten ,harrten alle der Dinge, die Ingas Spontanaktion noch nach sich ziehen konnte. Wie würde Neidhardt reagieren. Inga war Bürgerin der Akratasischen Föderation, irgendwelche Strafaktionen hatte sie nicht zu befürchten. Das konnte Neidhardt nicht wagen. Das einzige was sie fürchten müsste wäre eine Sperre. Doch welcher Bauer schlachtet seine beste Milchkuh?

Die anderen melancholanischen Athleten hatten sich in den zurückliegenden Tagen nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was die sportlichen Leistungen betraf. Inga stach aus der eher mittelmäßigen Schar hervor wie ein Schwan unter lauter Gänsen. Nach diesem Sieg hatte sie endgültig den Status einer Galionsfigur.

Etwas benommen bewegte sie sich auf den Ausgang zu. Ehe sie sich versah war sie von ihren Schwestern umringt.

„Klasse Inga, dein Einfall mit der Fahne war genial. Damit hast du dich endgültig in die Herzen einer ganzen Nation gekämpft. Neidhardt ist blamiert. Du hast jetzt einiges gut bei uns allen.“ Wurde sie von Elena in Empfang genommen.

„Ach was bin ich doch glücklich an deiner Seite. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich bewundere für diese Tat. So etwas auszuführen, dafür fehlte mir wahrscheinlich der Mut.“ Sonia umarmte Inga und deckte ihr Gesicht mit einer Flut von Küssen ein.

„Ich weiß nicht was über mich gekommen ist, als ich die Fahne in meiner Jackentasche versteckte. Mir war bewusst das Neidhardt die Abmachung brechen würde. Aber mein Vorhaben auch auszuführen? Ich war mir nicht sicher ob ich tatsächlich dazu imstande wäre. Am Ende war es einfach so eine Reflexreaktion.“ Versuchte Inga zu erklären.

„Eine mit der du in die Geschichte eingehen wirst.  Mit dieser Tat bis du unsterblich!“ Frohlockte Colette. „Dein Name ist jetzt in aller Munde. Überall auf der Welt wird sich die Öffentlichkeit für dich interessieren.

„Apropos! Ich schätze es wird gleich einen gewaltigen Ansturm von Presseleuten und Fotographen geben. Die lauern doch nur auf ihre Gelegenheit. Wie sollen wir uns verhalten? Nun kann ich die nicht mehr so einfach abwimmeln. Inga, du wirst dich ihnen stellen müssen. Aber keine Angst ich bin bei dir und kann auch regeln wenn du es willst.“ Fiel Chantal ein.

„Da bin ich beruhigt! Danke Chantal, ich werde deine Unterstützung brauchen, deine und auch die der anderen. Vor allem auf deine Nähe möchte ich nicht mehr verzichten.“ Fest drückte sie Sonia an ihre Seite.

„Aber bedenke dass der Wettkampf weitergeht. Das bedeutet weiter trainieren wie gewohnt. Schon in zwei Tagen steht die nächste Disziplin auf dem Plan. Dann wirst du auf der 200m Strecke dein Können unter Beweis stellen.“ Schaltet sich Werner ein.

„Natürlich und auch dort werde ich versuchen mein Bestes zu geben. Das wäre ja ein Ding wenn ich hier noch mal eine Medaille holen.“

„Also nach deinem heutigen Abschneiden, wundert mich gar nichts mehr. Aber wir wollen uns nicht zu sehr nach den oberen Früchten ausstrecken. Immer auf dem Teppich bleiben“ Meinte Werner darauf.

 

In den folgenden Tagen gelang es Inga ihre Erfolgsserie weiter auszubauen. Das Unglaubliche bewahrheitete sich. Beim 200m -Sprint konnte sie ihre zweite Goldmedaille holen und mit 21, 48 sec einen weiteren Weltrekord sprengen. Der Ablauf zu diesem fast schon historischen Szenario ähnelte jenem zwei Tage zuvor fast bis aufs Haar.  Als Inga schließlich drei Tage später auch noch die 4x400m Staffel zum Sieg führte waren alle restlos aus dem Häuschen. Bei der letzten Disziplin kam es auf Teamarbeit an, Inga übernahm als Schlussläuferin den Staffelstab.Die Vierermannschaft war ausgesprochen gut aufeinander abgespielt. Bei der nun folgenden Siegerehrung verzichtete Inga auf die Protestaktion mit dem grün-rosa Banner, da ihr ja nicht allein der Sieg zukam, sondern auch den anderen drei Läuferinnen. Ganz Melancholanien, nein die ganze Welt stand Kopf. Quasi über Nacht wurde ein Superstar geboren. So zumindest verkündete es die Boulevardpresse.

Allerlei Spekulationen machten die Runde, darunter auch ausgesprochen hanebüchene. Woher hatte diese Frau ihre enorme Kraft. War hier Doping im Spiel? Inga ließ sich mehrmals freiwillig testen und es ließen sich keine verbotenen Substanzen nachweisen. Wo konnte man also dann den Schlüssel für diese außergewöhnliche Leistung finden?

Bald setzte die in solchen Fällen übliche Legendenbildung ein.

Ihr Privatleben wurde gründlich durchforstet, von nun an blieb kaum noch etwas im Verborgenen, so sehr Inga das auch wünschte. Sie hatte Weltrekorde eingefahren, sie eine Frau Ende 30, Mutter zweier Kindern und in einer lesbischen Beziehung lebend, ein gefundenes Fressen für die Presseheinis.

Inga konnte sich glücklich schätzen in Chantal eine professionelle Kennerin dieser Szene an der Seite zu haben, die geschickt lancierte und  es vermochte Inga so gut es ging aus der Schusslinie zu nehmen.

Trotzdem lies es sich nicht vermeiden dass sich alle möglichen Leute an ihre Fersen hefteten und versuchten zu ihr vorzudringen.

Einem dem es gelang war auch Björn, ihr Ex-Mann, der ihr unmittelbar nach ihrer letzten Siegerehrung über den Weg lief.

Erschrocken blickte Inga in dessen Gesicht. Sofort ergriffen negative Emotionen von ihr Besitz.

Gedanken an eine längst vergangene Zeit. An eine Zeit die Inga tief in den untersten Schichten ihres Bewusstseins vergraben hatte. Die sollten dort für alle Zeit versiegelt und verschlossen lagern und nach Möglichkeiten keinen Schaden mehr anrichten. Was wollte er von ihr?

„Hallo Inga! Ich hoffe du kennst mich noch?“

„Wie könnte ich dich je vergessen Björn!“

„War ja ne tolle Leistung von dir! Ich hab dir fest die Daumen gedrückt. Als du dann durch die Ziellinie gingst, konnte ich es kaum glauben! Ich möchte dich beglückwünschen zu deinem Sieg. Du warst fabelhaft.“

„Ich danke dir Björn. Schön dass es dir gefallen hat.“ Antwortet Inga in der Hoffnung dieses Gespräch möglichst bald zu beenden.

„Ich… ich wollte dir nur sagen wie leid mir alles tut. Du weist schon was ich meine. Ich habe viel über uns nachgedacht, ganz besonders in den letzten Wochen. Ach könnte ich nur die Zeit zurückdrehen. Ich würde so viele anders machen.“

Was sollte das heißen? Inga kannte ihren einstigen Lebensgefährten nicht wieder. Solche Sprüche hörte sie aus seinem Mund zum ersten Mal.

„Ich..ich wollte dich fragen, ob wir naja, ich meine ob du mir noch eine Chance geben willst.

Wollen wir es nicht noch einmal miteinander versuchen?“

Was wollte er damit zum Ausdruck bringen. Sprach echte Reue aus seinen Worten oder suchte er ihre Nähe nur um sich, nun da sie zu einer Berühmtheit geworden, in ihrem Erfolg zu sonnen?

„Da muss ich dich leider enttäuschen. Das möchte ich ganz und gar nicht. Unsere gemeinsame Zeit liegt hinter uns. Es gibt kein Zurück. Das was ich damals erlebte reicht mir für das ganze Leben.“ Lehnte Inga sein Ansinnen mit Entschiedenheit ab.

„Aber, ich habe mich wirklich geändert Inga! Ich bin heute ein ganz anderer. Glaube mir: ich werde versuchen den  angerichteten Schaden wieder gut zu machen.“

„Zwecklos Björn! Ich will nicht! Nie mehr!“

„Aber unsere Kinder! Denk auch an deren Leben. Die brauchen doch eine richtige Familie.

Wie schön es doch wäre, könnten wir alle wieder beisammen sein.“

Wieder einmal mussten die Kinder als Bindemittel herhalten, doch Inga blieb eisern.

„Wenn du damit auf meine neue Beziehung anspielst, kann ich nur sagen, dass es eine wundervolle Familie ist. Die Kinder fühlen sich dort pudelwohl. Selbstverständlich wirst du auch weiterhin Kontakt zu ihnen haben. Dem werde ich, wie schon früher, nicht im Wege Stehen. Aber mich wirst du nicht wieder bekommen. Du bist frei. Suche dir eine neue Beziehung, ich wünsche dir Glück bei der Suche. Auf mich brauchst du nicht zu warten. Sieh es ein. Die beste Lösung für uns beide.“

Björn senkte den Kopf. Es war sinnlos weiter auf sie einzureden. Dabei meinte er es wirklich ernst. Er hatte sich eingestehen müsse welch ein Schatz ihm damals aus der Hand geglitten war als er Inga aus dem Hause prügelte. Unzählige Male schon hatte er sich selbst dafür gescholten.  Es war tatsächliche echte Reue, die hier aus ihm sprach. Doch es war zu spät.

„Lass uns einen Schlussstrich ziehen. Es ist vorbei. Ich habe mein Herz verschenkt, an jemanden der es besser zu schätzen weiß als du es jemals konntest. Lass uns in Frieden auseinander gehen.“ bekräftigte Inga noch einmal.

Tränen traten in Björns Augen, es gelang ihm gerade noch Haltung zu bewahren.

„Nun, dem ist wohl nichts mehr hinzu zufügen. Ich sehe es ein. Es hat keinen Zweck. Ich werde dich wohl nicht umstimmen können, so sehr ich es auch hoffte.“

„Nein das kannst du nicht!“

„Nun denn! Dann wünsche ich dir auch viel Glück. In allem ,persönlich wie auch beruflich. Da werde ich dich demnächst wohl auf allerlei Hochglanzmagazinen bewundern dürfen. Dann bleibt mir wenigstes etwas von dir.“ Bedauerte Björn resignierend.

„Ja, schon möglich!“

„Dann lebe wohl! Ich werde dich nie vergessen, Inga! Lebe wohl und finde dein Glück!“

„Danke Björn! Lebe auch du wohl. Finde auch du ein neues Glück!“ Inga überwand ihre innere Aversion, machte einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn zum Abschied.

Betrübt und niedergeschlagen verließ ihr Ex die Szene und verschwand in der pulsierenden Menschenmenge des Stadion. Inga atmete tief durch. Geschafft! Da plötzlich spürte sie wie leid er ihr auf einmal tat. Das konnte doch nicht sein. Dieser Mann der ihr soviel angetan hatte, tat ihr leid? Er hatte sich dem Anschein nach geändert. Er bereute was er ihr angetan, das war offensichtlich. Aber es gab kein zurück in eine Zeit die nur noch schemenhaft aus dem Nebel der Vergangenheit zu ihr blickte.

Es galt nach vorn zu schauen. Es schien eine glanzvolle Zukunft ihrer aufzuwarten.

Wo war Sonia, wo waren ihre Kinder? Wo waren all die anderen aus ihrem neuen Zuhause.

Daran und nur daran wollte sie jetzt denken.

Sie bahnte sich ihren Weg zurück ins Stadion. Die anderen hatte die Arena in der Zwischenzeit verlassen. Inga beschloss sich umzuziehen und sich ebenfalls auf dem weg zu machen.

Heute gab es kein Event mehr. Für den morgigen Vormittag war eine Pressekonferenz angesetzt. Dort sollte Inga den verschiedenen Presseorganen ein Interview geben. Doch jetzt wollte sie, wenn möglich, den Presseleuten aus dem Weg gehen.

Als sie ihren Umkleideraum betrat fand sie dort Sonia vor. Zusammengekauert in einer Ecke sitzend, kreidebleich und am ganzen Körper zitternd, die Augen vom vielen Weinen ganz verquollen.

Schnell eilte Inga auf ihre Gefährtin zu und nahm sie in die Arme.

„Mein Gott, Sonia: Was ist denn geschehen? Du bist ja vollkommen aus der Fassung.  Wer hat dir ein Leid getan?“

„Du warst es!“

„Ich? Wieso ich?“

„Ich habe euch gesehen, dich und deinen Ex. Lange habt ihr gesprochen und euch schließlich sogar umarmt. Ich habe es immer befürchtet. Irgendwann kommt er, um dich mir wegzunehmen. Er wird dich um den Finger wickeln, bis du nachgibst. Klar, jetzt wo du berühmt bist, kommt er um sich mit deinen Lorbeeren zu schmücken. Ich bin übrig. Ich bin überflüssig. Du streifst mich von dir wie ein paar alte Handschuhe.“ Brach es aus Sonia heraus.

Inga wusste nicht wie ihr geschah.

„Was redest du da? Sonia! Sonia hör mir zu!“ Inga nahm Sonias Gesicht in beide Handflächen und versuchte sie zu beruhigen.

„Wie kannst du so etwas von mir glauben. Gut, Björn ist mir nicht zufällig über den Weg gelaufen. Er hat mich gesucht. Wir haben uns ausgesprochen und das war richtig so. Wir  sind mit einander im Reinen. Richtig! Er wollte wieder mit mir an pendeln, zunächst. Aber ich habe ihm endgültig den Laufpass gegeben und stell dir vor er hat es am Ende akzeptiert. Er wird uns in Ruhe lassen. Wir haben seinerseits nichts mehr zu befürchten. Das ist doch eine gute Nachricht. Der Kontakt besteht natürlich weiter aufgrund der Kinder, denn die darf ich ihm nicht vorenthalten. Aber mit ihm bin ich fertig. Glaub mir Sonia, du musst mir glauben.“

„Was bleibt mir anders übrig. Ich will dich nicht verlieren! Ich kann nicht leben ohne dich. Ich hab so schrecklich Angst wieder allein zu sein.“ Entgegnete Sonia mit weinerlicher Stimme.

„Aber es besteht kein Grund zur Sorge! Wir gehören zusammen. Wir haben uns gesucht und gefunden. Nichts und niemand kann uns jemals wieder trennen! Kein Björn und auch kein Anderer.“ Redete Inga weiter auf ihre Partnerin ein.

„Ich gönne dir den Erfolg. Ich freue mich mit dir von Herzen. Aber ich sehe schon was da alles auf uns zukommt. Du bist jetzt eine Berühmtheit. Die ganze Welt kennt dein Gesicht und vor allem diesen traumhaften Körper. Die Paparazzi werden an uns hängen und uns keine ruhige Minute lassen.“ befürchtete Sonia sicher nicht ganz zu Unrecht.

„Aber in Anarchonopolis sind wir doch sicher. Die Klostermauern schützen uns vor allem Ungemach. Die Grenze hat in diesem Fall ausnahmsweise mal was Gutes. Und dann ist auch noch Chantal die sich in solchen Dingen bestens auskennt und natürlich Elena und all die anderen die uns in einem sicheren Netz auffangen.“

„Keine Klostermauer ist stark genug um uns auf Dauer abzuschirmen. Die finden einen Weg. Alle werde sie kommen und dich mit Angeboten überschütten. Zum Beispiel für die Werbung, oder als Fotomodell, für Hochglanzmagazine, für den Film, das Fernsehen und was weiß ich. Wo möglich auch als Nacktmodell, das würde mich nicht wundern. Sie werden dich mit Liebesbriefen überfluten. Jetzt wo du berühmt und womöglich bald auch reich bist kannst du jeden oder jede haben. Mich braust du dann nicht mehr.“

„Glaubst du das wirklich von mir? Sieh mich an! Blick mir in die Augen und dann sag es noch einmal zu mir.“

Sonia schwieg verwirrt. Sie konnte dieser Aufforderung nicht nachkommen. Inga griff nach Sonias Händen und drückte sie ganz fest.

„Wie kannst du mir so etwas zutrauen? Ich liebe dich! Muss ich noch mehr sagen?

Lass doch die Leute auf mich starren, sollen sie sich dabei die Augen herausschrauben wie die Steckzwiebeln. Von mir aus. Wenn es ihnen Spaß macht, lass sie meinen Leib betrachten. Mehr werden sie davon nicht bekommen. Nur du bist es ,der das Privileg zufällt, diesen Körper, in den Armen zu halten. Er gehört dir, dir allein. Mach mit ihm was du willst und ich werde es genießen. Verstehst du mich? Niemals könnte ich dich in die Wüste schicken. Der Tag an dem ich das tue soll der letzte meines Lebens sein.“

„Wirklich?“

„Ja wirklich! Welchen Beweis soll ich dir noch erbringen. Sag etwas und ich tue es für dich!

Und was die Medaillen betrifft. Ich habe sie errungen. Nun ist der Kampf zu Ende. All die Diskussion wem sie nun wirklich gehören, dem melancholanischen Staat oder der akratasischen Föderation ist mir im Grunde piep egal. Wenn Neidhardt sie für sich beansprucht, kann er sie haben. Ich schenke sie ihm. Soll er sie einrahmen und über seinen Schreibtisch hängen. Ich besitze etwas viel Besseres, einen Schatz von erhabener Schönheit. Ich möchte mit keinem auf der Welt tauschen.“ Bekräftigte Inga abermals mit Nachdruck.

„Du meinst mich damit?“

„Natürlich! Wen denn sonst? Ach mein Dummerchen, wie kannst du nur so misstrauisch sein?“

Inga umschlang ihre Geliebte und fuhr mit der Hand durch deren Haar.    

„Ich…ich will doch nur, dass alles wieder so wie früher wird. Damals, wir hatten uns gerade kennen gelernt. Es war alles so neu für mich. Und es war so schön. Ich habe Angst dass mir alles verloren geht.“ Zweifelte Sonia weiter.

„Aber es wird wieder wie früher. Sieh mal, die Spiele sind bald vorüber, noch drei Tage, dann ist alles Geschichte. Dann geht es nach Hause. Sicher am Anfang wird es noch ein wenig Trubel geben. Aber dann kehren wir zum Alltag zurück. Ich habe kein Interesse an anderen Welten. Ich sehne mich nicht nach einer Villa mit Dienstpersonal und dergleichen mehr.

Mir gefällt es in der Abtei. Diese Gemeinschaft ist einmalig auf der Welt, warum sollte ich sie aufgeben?“

„Aber du könntest es. Wenn du wolltest könntest du es. Du bist ein Star, ein richtiger Star.“

Meinte Sonia.

„Ach und zu einem Star gehören auch die Starallüren meinst du. Nicht bei mir. Gut, ich habe mit Elena gesprochen. Sollten sie mir Angebote machen, könnte ich durchaus ein paar Werbeverträge eingehen. Eine zusätzliche Einnahmequelle für Anarchonopolis wäre nicht schlecht. Aber das kommt allen zu gute, der ganzen Gemeinschaft. Sicher, ein kleines Stückchen für uns persönlich könnten wir selbstverständlich beanspruchen. Was hältst du davon wenn wir mal eine richtige Reise unternehmen, wir zwei und die Kinder. Nach all dem Stress der vergangenen Wochen haben wir uns wirklich verdient. Und wir müssten auch nicht auf Dauer im Konventsgebäude wohnen. Vielleicht findet sich mal ein kleines Haus für uns und auf dem Abteigelände.. Mehr brauche ich nicht.“

Sonia beruhigte sich langsam. Doch Inga gelang es einfach nicht deren Verlustängste dauerhaft zu vertreiben. Erst jetzt drang ihr ins Bewusstsein wie sehr Sonia an ihr hing, wie anhängig sie von ihr war. Die Angst den gerade erst gewonnenen Menschen wieder zu verlieren schien Sonia regelrecht zu lähmen. Was konnte Inga tun, außer immer wieder zu versichern, dass jene Ängste unbegründet waren. Nur wer einmal richtig einsam war, nur wer so lange hatte verzichten müssen und die Hoffnung schon fast aufgegeben, konnte nachvollziehen was in Sonia vorging. Ingas neuer Status als Berühmtheit würde weiter wie ein Damoklesschwert über beiden baumeln.

 

Die am Folgetag stattfindende Pressekonferenz gedachte Inga zu nutzen um Sonia einen ganz besonderen Liebesbeweis zu erbringen.

Der Raum im Pressezentrum war gut gefüllt an jenem Morgen. Medienvertreter vieler Nationen fanden sich ein um den neue Stern am Athletenhimmel genauer unter die Lupe zu nehmen. Inga hielt es vor Aufregung kaum noch aus. Eine völlig neue Erfahrung. Sie hatte nicht die Spur einer Ahnung, wie das Interview verlaufen sollte. Zum Glück saß ein profunder Beistand an ihrer Seite. Chantal zu ihrer Rechten war mit solchen Dingen wohl vertraut und würde sie genau beraten. Ebenso ihr Trainer Werner, der zu ihrer Linken Platz genommen hatte.

Elena war nicht zugegen. Im Gegensatz zu Neidhardt hielt sie sich an die getroffenen Absprachen und vermied jeglichen öffentlichen Auftritt, der Anlass zu Spekulationen hätte bieten könnte. Sie verfolgte das Geschehen gemeinsam mit den andern vor dem Fernseher in ihrem Hotelzimmer.

„Alles in Ordnung Inga? Bist du aufgeregt?“ Erkundigte sich Chantal.

„Das kann man wohl sagen. Ich zittere am ganzen Leib. Lieber würde ich jetzt noch mal einen 400 m Lauf absolvieren. Da kenn ich mich aus. Aber hier? Ich hab Angst dass die mich aufs Glatteis führen.“ Gestand Inga im Flüsterton, obgleich die Mikrofone noch gar nicht eingestellt und niemand etwas hören konnte.

„Mach dir keine Sorge! Ich bin da, ich werde für dich sprechen wenn du glaubst unsicher zu sein. Ich kenne meine Pappenheimer. Die meisten werden fair mit dir umgehen. Es gibt aber auch echte Provokateure, vor denn musst du dich in Acht nehmen.“

„Na, prima! Das sind ja goldige Aussichten!“

„Nur Mut! Ich werde dich rechtzeitig aus der aus der Schusslinie nehmen!“

Unter der Tischplatte drückte Chantal Ingas Hand.

Noch bevor die ersten Fragen gestellt werden konnten wollte Inga ein allgemeines Statement abgeben um somit die Flucht nach vorne anzutreten.

Chantal begrüßte kurz die Anwesenden und übergab das Wort an Inga.

„Ich danke ihnen allen dass sie hier so zahlreich erschienen sind. Ich hätte mir nie träumen lassen dass sich die Welt einmal so intensiv für meine sportlichen Leistungen interessiert. Sicher brennen sie alle darauf zu erfahren, wie ich so etwas vollbringen konnte. Ehrlich gesagt, habe ich selbst keine Erklärung dafür. Nie und nimmer rechnete ich mit einer Medaille als ich hierher kam, schon gar nicht mit Gold und mit einem Weltrekord noch viel weniger. Und dass sich alles noch zweimal wiederholte macht mich sprachlos. Training, einfach nur hartes Training. Ich weiß, sie werden mir nicht glauben. Vielmehr werden sie denken, dass sagen alle, ist doch ein alter Hut. Mit Sicherheit war kein Doping im Spiel. Sie können die Testergebnisse gerne einsehen. Alles ging mit rechten Dingen zu. Daran gibt es keinen Zweifel.

Nie wäre ich ohne Unterstützung dorthin gelangt. Und die gab es reichlich. Elena und die gesamte Schwesternschaft haben es mir ermöglicht, sie standen von Anfang an zu mir und glaubten an mein Talent. Deren Unterstützung war mit sicher und jene der gesamten Einwohner der akratasischen Föderation.“

Der Seitenhieb auf Neidhardts Intoleranz war ihr gelungen. Überall im Saal signalisierten die Reporter Kopf nickend ihre Zustimmung.

Natürlich auch mein Trainer Werner, der gerade noch rechtzeitig kam um mich am Aufgeben zu hindern. Seine Methoden haben mich am Ende geformt und auf den rechten Weg gebracht. Ohne ihn kein Erfolgt!“

Genugtuung und Stolz zeichnete sich auf Werners Gesicht.

„Doch einen Menschen möchte ich ganz besonders erwähnen. Jemanden  für den ich im Besonderen oben auf dem Podest stand und der mir wichtiger ist als alle Medaillen und Titel und Ehrungen. Meine Frau Sonia.“

Sonia die etwas abseits im Raum Platz genommen hatte errötete und senkte instinktiv den Blick.

„Sonia stand stets an meiner Seite, war immer für mich da, für mich und meine Kinder, nein für unsere Kinder. Sonia hat mich immer wieder angespornt und mir die Zuversicht geschenkt, dass ich es schaffen kann. Liebe Sonia, du hättest neben mir stehen müssen auf dem Podest, das war nicht möglich. Deshalb möchte ich dass du zu uns nach oben kommst, damit alle Welt sehen kann, mit wem ich mein Leben teile. Mit dir und mit keinem anderen.“

Chantal erhob sich und platzierte einen Stuhl zwischen sich und Inga.

Sonia zitterte und das Atmen viel ihr schwer. Als sie sich erhob taumelte sie, doch dann gelang ihr Haltung zu wahren und sie schritt zum Podium. Lauter Beifall setzte ein. Kein Zweifel mit dieser Geste hatte sich Inga endgültig die Herzen der Welt erobert.

Schüchtern wie immer nahm Sonia Platz und senkte erneut den Blick zum Boden.

Inga legte den Arm um deren Schulter und verabreichte ihr einen sanften Kuss.

Ein geschickter Schachzug, der selbst Chantal überraschte, denn nach jener Geste wagte niemand mehr im Saal Fragen sexistischen Inhaltes zu stellen. Ausgesprochen vorsichtig und sachlich ging es dann mit inhaltlichen Fragen weiter. Zu ihrer Art und Weise zu trainieren und was sie für Zukunftspläne hätte. Wie sie sich überhaupt das vor ihr liegende Leben vorstelle und so weiter und so fort.

„Ich kann ihnen allen versichern, dass meine sportliche Karriere mit dieser Olympiade endet. Es gibt kein weiter. Ich habe erreicht was ich wollte und nun heißt es sich zurückzuziehen. Ich werde meine Gesundheit oder gar mein Leben nicht weiter aufs Spiel setzen. Es gibt wichtigeres als eine Karriere. Den einen Grund kennen sie, sie sitzt neben mir.

Sonia und unsere Kinder. Denen möchte ich mich vor allem widmen und hinzu kommen sicher auch noch einige Aufgaben in Anarchonoplis. Aber die große Welt wird auf mich verzichten müssen.“

„Das ist schade! Das ist sehr schade.“ Meldete sich nun Harry Hastig vom deutschen Fernsehen zu Wort. „Mit Sicherheit hat jeder hier im Saal dafür Verständnis. Auch wenn wir bedauern, Inga nicht mehr erleben zu können wenn sie einen weiteren Triumph verzeichnen kann.“

„Nun wenn sie auf die nächste Olympiade anspielen, in vier Jahren, dann hätte ich die 40 überschritten, das ist dann doch wohl eher unglaubwürdig.“ Unterstrich Inga ihren Vorsatz noch einmal.

„Aber es hat einfach nur gut getan zu sehen, wie sich Menschen behaupten können und Inga ist der Beweis dafür. Menschen im fortgeschrittenen Alter sind durchaus noch zu überragendem fähig.“ frohlockte Harry Hastig.

Menschen im fortgeschrittenen Alter? Ist eine Frau Ende 30 schon im fortgeschrittenen Alter?

Jedenfalls wurde diese Devise den Menschen stets und ständig suggeriert. Den perversen Jugendkult, der Menschen ab einem bestimmten Alter brutal selektiert und  auf das Abstellgleis schiebt, traf man nicht nur im Leistungssport an, sondern der verbreitete sein Gift in allen möglichen Variationen. In Akratasien versuchte man dem bei zukommen. Doch selbst dort schien sich die Idee von der Emanzipation der Älteren oder älter gewordenen nur schwer durchzusetzen.

Festgefahrenen Klischees entgegenzutreten war zu allen Zeiten eine Herausforderung besonderer Art.

Die Fragestunde setzte sich fort. Natürlich kam man auch auf den Medaillenstreit zu sprechen, der hinter den Kulissen in aller Heftigkeit ausgetragen wurde. Neidhardt beanspruchte Ingas Medaillen für Melancholanien, eine Tatsache, von denen die Leute aus Anarchonopolis ganz und gar nicht begeistert waren.    

„Gestartet bin ich ursprünglich für eine melancholanisch/akratasische Gemeinschaftsgruppe.

Damit hätte ich, hätten wir gut leben können. Leider aber hat die melancholanische Regierung es vorgezogen, die Vereinbarung zu brechen. Das brachte es mit sich dass ich unter der melancholanischen Fahne starten musste. Ich habe mit meiner Aktion auf dem Siegerpodest gegen diese Anmaßung protestiert. Meine Farben sind grün-pink mit dem schwarz-roten Stern. Akratasien ist mein Land und kein anderes. Ihm gehören demzufolge die Medaillen.“

Gab Inga zu verstehen und sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie bei dieser Überzeugung zu bleiben gedachte.

„Was aber, sollte Neidhardt auf seiner Forderung bestehen und die Medaillen weiterhin für Melancholanien beanspruchen. Würden sie ihm diese aushändigen.“ Wollte ein amerikanischer Reporter wissen.

„Wenn er persönlich in der Abtei erscheint und ganz freundlich darum bittet, würde ich es mir überlegen.“ Erwiderte Inga, eine Aussage, die bei den Anwesenden Heiterkeit auslöste.

„Nein, jetzt mal im ernst. Mit welchen Reaktionen von Seiten der melancholanischen Staatsführung rechnet ihr in Akratasien. Was wird Neidhardt wohl als nächstes tun?“ Hakte der Reporter weiter nach.

„Nun, das kann ich  nicht wissen. Das müssen sie ihn schon selber fragen. Ich bin kaum imstande für ihn oder seine Regierung zu sprechen.“

Inga hatte sich mit dieser Antwort genau richtig verhalten. Denn es war beabsichtigt auch weiterhin abzuwarten und sich nicht auf sinnlose Diskussionen einzulassen.

„Die Medaillen sind erst einmal bei mir und da sind sie gut aufgehoben. Ich denke alles Weitere können wir zu einem geeigneten Zeitpunkt klären.“

Damit hatte Inga schon ein gutes Schlusswort gesetzt.

Auch an Werner gab es Anfragen, zum Beispiel wie seine Lebensplanung aussehe, was er zu tun gedachte. Ob er in Akratasien bleiben oder wieder in seine Heimat zurückkehren wollte.

Sehr zur Überraschung anderer gab dieser zu verstehen dass er möglicherweise in Akratasien bleiben wollte.

„Es gefällt mir hier. Binnen kurzer Zeit konnte ich so viele Freundschaften schließen, das ist einfach nur enorm. Es sind ausgesprochen nette Menschen dort. Ich habe alles was ich brauche. Ich werde mich jetzt zur Ruhe setzen. Vielleicht nebenbei ein wenig um den sportlichen Nachwuchs kümmern, oder so. Durch Ingas grandiose Leistung fühle ich mich voll rehabilitiert. Meine Ehre als Trainer ist wieder hergestellt, eine Ehre die mir mein Heimatland genommen hat. Es gibt also mehr als nur einen Grund in Akratasien zu bleiben. Das heißt natürlich wenn die Leute mich dort haben wollen.“ Erklärte sich dieser kurz und knapp.

„Na, was für eine Frage.“ Inga fiel ihm um den Hals.

Eine Geste die einen erneuten Beifallstrom erntete.

Ein guter Ausgang der Pressekonferenz, besser als von vielen zunächst prognostiziert.

„Du hast dich hervorragend geschlagen Inga. Ich brauchte überhaupt nicht ein zugreifen. Auch auf dieser Kampfbahn konntest du viele Punkte sammeln..“ Lobte Chantal während sie sich den Weg zum Ausgang suchten.

„Ich hab einfach drauf los geredet. Alles was mir so in den Kopf kam. Vorbereitet war ich überhaupt nicht. Ich kann nicht sagen wie mir das gelingen konnte.“ Antwortete Inga,  nun innerlich bedeutend ausgeglichener als noch eine Stunde zuvor.

„Ja, manchmal ist Spontaneität die beste Waffe. Du kannst bestens damit umgehen.“ Meinte Chantal.

Sehr zu deren Unmut gelang es ihnen sich an den Fotographen vorbei zu schleichen. Für diesen Tag hatten sie sich gekonnt aus der Affäre gezogen.

 

So schnell die Spiele begannen, so rasch neigten sie sich ihrem Ede entgegen. Bei der Abschlussfeier wurden noch einmal alle Register gezogen. Selbst Elena gestand im nach hinein, dass ihr diese Feier gefiel, die einzelnen Darbietungen, aber auch die gesamte Atmosphäre. Wenn man sich nicht genau hinsah, ließ sich die Diktatur dahinter kaum noch ausmachen.

Der Einmarsch der melancholanischen Mannschaft löste wieder einen Sturm der Begeisterung aus. Der galt natürlich vor allem Inga, die an deren Spitze marschierte. Ihre drei Medaillen glitzerten im Sonnenlicht vor ihrer Brust und ihr Gesicht strahlte vor Freude und Genugtuung. Sie war zweifellos der Star der gesamten Veranstaltung, diesem Triumph mochte ihr niemand nehmen. Die Überraschung war gelungen und würde einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Da alle Augen auf sie gerichtet waren nutzte Elena die Gelegenheit um sich heimlich einen Weg durch die Menschenmengen zu bahnen. Es gelang ihr auch weitgehend unerkannt zu bleiben.

Sie unternahm einen „Spaziergang“ durch das Stadion. So nannte sie den Vorgang später. Die ganze Olympiade hindurch hatte sie sich deutlich zurückgehalten, doch nun war es ihrer Meinung nach Zeit für eine stille Provokation. Ihr Weg führte sie die Aschenbahn entlang, bis sie sich direkt unter der Regierungstribüne wieder fand. Dort hatte sich die gesamte melancholanische Staats-und-Parteiführung eingefunden. Erst spät bemerkten die Vertreter, wer dort unten Stellung bezogen hatte und zu ihnen emporblickte. Die Anspannung entsprechend groß und mit ihr die Ratlosigkeit.

Mit Tränen in den Augen und einem Lächeln auf den Lippen hob der alte Cornelius für einen Moment die Hand zu einem stillen Gruß, Elena erwiderte diesen mit einem leichten Kopfnicken. 

Auch Neidhardt blickte nach unten, doch war seine Mine hart wie ein Kieselstein.

Kurzzeitig kreuzten sich ihre Blicke.

Gerade noch rechtzeitig hatten die Presseleute davon Wind bekommen und es entlud sich ein Blitzlichtgewitter.

Schon Tags darauf ging das Bild um die Welt. Elena und ihr Blick zum Diktator. Die Aussagekraft war eindeutig und bedurfte keiner Worte.

 

Die Frage die alles andere in den Schatten stellte war: Wie würde Neidhardt reagieren?

Ein Donnerwetter, ein Orkan der mit geballter Kraft über die Abtei fegte? Weit gefehlt.

Der Generalsekretär übte sich weiter darin gehörig Kreide zu fressen. Er versuchte es mit der sanften Tour. Inga wurde von der melancholanischen Regierung Stück für Stück vereinnahmt. In den Zeitungen las man kein böses Wort und auch Rundfunk und Fernsehen überschlugen sich in positiver Berichterstattung über „Ihren“ neuen aufgehenden Stern. Die Aktion mit der grün-rosa Fahne, vergessen. Keiner Erwähnung wert. Man tat so, als habe dieses Ereignis niemals statt gefunden. Die Bevölkerung vergisst schnell, diesen Grundsatz der alten vorrevolutionären Regierungen hatte sich nun auch die allmächtige Staatspartei zu Eigen gemacht.

Den Blick nach vorne gerichtet, die Vergangenheit ruhen lassen, auch wenn diese erst ein paar Tage zurücklag.

Nachdem Inga mit allen anderen nach Hause in die Abtei, nach Anarchonopolis zurückgekehrt war und ihr dort von der Bewohnern ein triumphaler Empfang bereitet worden war, erschien noch am gleichen Tag ein Bote der melancholanischen Regierung und übergab eine Depesche.

Die Angebote hatten es in sich. Sollte Inga zustimmen, wäre sie ab diesem Moment in die melancholansiche Armee aufgenommen, mit dem Dienstgrad eines Oberst und dem Gehalt eines Staatssekretärs. Ferner stand ihr ein Sitz im melancholanischen Parlament zu. Ihre Aufgaben bestanden vor allem darin sich der wenig erfolgreichen melancholanischen Leichtathleten an zunehmen um sie zu trainieren.

Selbstverständlich würde ihr eine schmucke Villa am Rande Manrovias zur Verfügung gestellt, mit allem was dazu gehörte. Dienstwagen und Dienstpersonal inbegriffen. Zudem hatte sie Zutritt zu allen gesellschaftlichen Ereignissen und Veranstaltungen der Staatsführung und der Partei.

Ein gewaltiges Füllhorn an Ehren und Privilegien, das sich über ihrem Haupte ergoß. 

Eine lockende Versuchung.

Natürlich sollte Inga als Gegenleistung Mitglied der Partei werden und sich öffentlich von allen distanzieren was mit Akratasien zu tun hatte.

Für Inga stand die Antwort fest, ihr war bewusst wo sie hingehörte.

 

„Na was meint ihr? Soll ich wirklich eine Uniform anziehen und den Offizier spielen?“

Wollte Inga wissen nachdem sie sich endlich wieder gemeinsam mit Sonia und den Kindern in die vier Wände ihrer Wohnung im Konventsgebäude zurückgezogen hatte.

„Müssen wir dann vor dir stramm stehen, wie in einer richtigen Armee?“ erkundigte sich Vanessa.

„Na was dachtest du denn? Dann wird jeden Tag ganz stramm exerziert. So wie sich das geziemt für eine Armee.“ Erwiderte Inga mit ironischem Unterton.

„Da fange ich gleich mal zu üben an!“ Vanessa schlug die Hacken zusammen und marschierte ganz korrekt im Stechschritt an Inga auf und ab.

Die konnte sich ein Lachen nicht mehr verkneifen.

„Guck doch mal Sonia sieh dir unsere kleine Heldin an. Früh übt sich, würde ich sagen.“

Sonia war im Schlafzimmer mit dem Auspacken von Ingas Garderobe beschäftig und warf einen kurzen Blick auf das Geschehen.

„Jaja, wie die Mutter so die Tochter. Inga lass doch die Späße, du machst die Kinder noch ganz nervös wenn du so redest.“

„Warum denn? Ist doch nur ein Spaß.“

„Hmm, Späße mit der Armee, die haben mir noch nie gefallen! Entgegnete Sonia mit erster Mine.

„Mir doch auch nicht Sonia!“

„Werden wir dann unter richtigen Soldaten leben?“ Forschte Vanessa weiter.

„Nein, wir würden dann ein schönes großes Haus beziehen, mit viel, viel Platz, einem schönen Garten mit Swimming Pool und vielem mehr.“

Jennifer begann zu weinen.

„Ich will aber hier nicht weg! Es ist so schön hier und ich habe so viel Freunde gefunden.“

„Siehst du nun was du angerichtet hast.“ Mahnte Sonia.

„Aber meine Kleine. Du brauchst doch nicht von hier weg. Wir allen werden selbstverständlich hier wohnen bleiben. Das war doch nur Spaß. Mir gefällt es hier doch auch am allerbesten.“ Inga nahm ihre Tochter auf den Schoss um sie zu trösten.

„Wir.. wir bleiben hier? Wirklich? Versprochen?“

„Ganz großes Ehrenwort! Dass heißt für eine kurze Weile fahren wir weg. In den Süden, ans Meer. Das habt ihr euch doch immer gewünscht. Danach kommen wir wieder zurück und alles wird wieder so wie immer. Gefällt euch das?“

„Oh ja!“ Kam es wie aus der Pistole geschossen.

„Sonia, komm doch rüber, das kannst du doch später machen!“

Die angesprochene gehorchte und gesellte sich hinzu.

„Also hört zu ihr drei. Nichts und niemand wird uns auseinander bringen! Nichts und niemand wird uns unsere Heimat nehmen! Und nichts und niemand soll jemals zwischen uns stehen. Großes Indianerehrenwort.“

 

Ein paar Tage zur Ruhe kommen, dann setzten sie ihren Plan in die Tat um und begaben sich in Richtung Mittelmeer. Ausspannen! Sich fallen lassen! Nach der Hektik der vergangenen Wochen hatten sie es sich auch redlich verdient

Sie verlebten zu dritt einen schönen erholsamen Urlaub. Dann kehrten sie nach Anarchonopolis zurück.

Inga und Sonia nahmen ihre Tätigkeiten wieder auf. Sonia in ihrer Kunstgewerbewerkstatt, Inga in ihrer Blumenbinderei. Sicher ganz so einfach konnte es nicht mehr werden, denn Inga wurde nun enger in den Aufgabenbereich der Schwesternschaft eingebunden, gelang nun in den inneren Kreis. Des weitern war sie häufig unterwegs um sich dem akratasischen Sportlernachwuchs zu widmen. Jungen und Mädchen die ihr nacheifern wollte ein Vorbild sein.

Aus dem Ausland überschlugen sich, wie nicht anders zu erwarten die Angebote in Werbung, Film und Fernsehen. Männermagazine wollten sie, wen wundert`s, auch als Nacktmodell.

Inga verlor die Bodenhaftung nicht. Sie blieb auf dem Teppich. Einige seriöse Angebote nahm sie an, musste zu diesem Zweck auch Auslandreisen unternehmen und kehrte immer wieder heim.

Wer ein echtes zuhause gefunden, benötigt die weite Welt mit ihren Verlockungen nicht um sein Glück zu finden.

 

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 Vorlage für Inga ist die amerikanische Sprinterin Florence Griffith-Joyner (1959-1998).

Die dreifache Olympiasiegerin von 1988 mit den stahlharten Muskeln gilt als schnellste Frau der Welt. Ihre Weltrekorde sind bis heute ungeschlagen.

 

 

Vorlage für Werner sind eine ganze Reihe von Trainern aus dem Spitzesport der ehemaligen DDR die nach der Wiedervereinigung unter allerlei Verdächtigungen (Stasi oder Doping) ihren Hut nehmen mussten.

 

* BRD und DDR traten zu den olympischen Spielen 1956, 1960 und 1964 mit einer gesamtdeutschen Mannschaft unter einer eigens geschaffenen Olympiafahne und Beethovens „Ode an die Freude“ als Olympiahymne an.