Homo Oekonomikus

 

Nach all den negativ geladenen Erlebnissen hatte Leander einfach die Nase voll von der eintönigen Arbeit am Band

Wie durch einen Wink des Schicksals war gerade eine Stelle in der Handseilerei freigeworden und Leander hatte umgehend um seine Versetzung dorthin nachgesucht, die ihm zu seinem Erstaunen auch ohne weiteres bewilligt wurde.

Ursprünglich hatte Leander den Beruf eines Handseilers erlernt. Eine vertraute Art zu arbeiten, die ihm nicht all zu viel Mühe bereiten würde, dachte er.

Es oblag ihm Sprungseile zu fertigen, aus Jute in verschiedenen Längen, mit einer verdickten Mitte. Diese Mitte machte es erforderlich dass jedes Seil per Hand zu drehen war, eine maschinelle Fertigung also ausgeschlossen. Dementsprechend hoch war der Verkaufspreis, die Entlohnung dagegen ausgesprochen niedrig.

Die einzelnen Fäden mussten aufgezogen werden, zu diesem Zweck war es erforderlich einmal nach vorn, dann nach hinten zu laufen, kurz andrehen, dann konnte er die etwa 50cm langen Einlagefäden einarbeiten. Dann wurde Maschine betätigt und mittels eines Leierkopf genannten Holzkolbens, das Seil während des nach vorne Gehens zusammendrehen. Fertig!

Immer in Bewegung, ständig laufen, nach vorne, nach hinten, rückwärts, seitwärts. Es kamen pro Tag schon einige Kilometer zusammen. Die festgesetzte Norm lag bei 400 Seilen pro Schicht, bei einem 8 stündigen Arbeitstag bedeutete das ca. 50 Seile pro Stunde.

Somit standen ihm etwa 1,20 min zur Verfügung um ein Seil zu fertigen.

Alles andere als ein Spaziergang, denn auch die kleinste Verzögerung konnte die Norm untergraben.

Eine Pinkelpause z.B. entsprach dem Verlust von etwa 2-3,5 Seilen. So ein Ausfall konnte nur unter schwierigsten Bedingungen wieder aufgeholt werden. Überstunden  somit geradezu vorprogrammiert.

Leander hatte sich, nach kurzer Anlaufzeit ganz gut eingearbeitet und es ging ihm relativ leicht von der Hand. Erleichternd kam hinzu dass er die Angelegenheit ruhig und gelassen anging.

Ganz anders sein Kollege Tobias der die Laufbahn zu seiner Linken benutzte.

Der erwies sich als hektischer, nervöser, fast ständig gereizter Zeitgenosse.

Panische Angst ergriff  ihn immer dann, wenn er sich vorstellte einmal die vorgegebene Arbeitsnorm nicht zu erreichen. Eine Nichterfüllung dieser Norm kam einer Gotteslästerung gleich.

Schon wenn er am frühen Morgen die Spinnbahn betrat, mit versteinertem Blick und dunklen Rändern unter den Augen, die darauf hindeuteten, das er wieder die halbe Nacht nicht geschlafen hatte, merkte man ihm die ungeheure Spannung an, die ihn zu lähmen schien.

Obgleich er noch keinen einzigen Strick gedreht hatte, war er schweißgebadet und die Hände zitterten. Nur unter allergrößter Anstrengung konnte er sich ein „Guten Morgen!“ abringen und er verbat sich jedwede Störung seines Arbeitsablaufes. Eine wie auch immer geartete Konversation war unter solchen Umständen natürlich ausgeschlossen.

Leander vermied es denn auch, nach anfänglichen Versuchen, ihn überhaupt noch anzusprechen.

Wie ein getriebenes Tier verbrachte der Kollege seinen Arbeitstag und hetzte von einem zum anderen Ende der Laufbahn.

Es hatte den Anschein, als triebe ihn ein unsichtbarer böser Geist beständig zur Eile an. Strick für Strick näherte sich Tobias seinem Endziel. 400, eine heilige Zahl.

35 Jahre war er alt, wirkte aber gut und gerne 15-20 Jahre älter. Aschgrau im Gesicht, verhärmt und ausgemergelt. Das ursprüngliche Schwarz seiner Haare war einem bleichem Grau gewichen.

Mit blutunterlaufenen  Augen und triefend vor Schweiß und keuchend wie ein altes Dampfross, beendete er Tag für Tag seine Schicht.

In den Jahren die er hier schuftete, es waren wohl 19 an der Zahl, hatte er sich zu einem perfekten Workaholic entwickelt. Nichts Menschliches schien ihm mehr an zu haften. Ein Preka nach dem Geschmack seiner Chefs. Auf Belegschaftsversammlungen kam es immer wieder vor, dass er denn auch von seinen Vorgesetzten lobend erwähnt und als leuchtendes Beispiel für eine vollkommene Arbeitsmoral präsentiert wurde.

Die Stückzahl war zum bestimmenden Inhalt seines Lebens geworden. Sein ganzes Tun und Trachten galt allein der Erfüllung der festgesetzten Arbeitsnorm. Es schien geradezu religiöse Züge anzunehmen. Immer dann, wenn er den 400sten Strick aus der Hand legte, glänzten seine Augen vor Ergriffenheit und tiefer Ehrfurcht vor sich selbst. Vor wem sollte er auch sonst in Ehrfurcht erstarren. Ihm allein gebührte der Ruhm, er allein hatte jene Heldentat vollbracht. Leander hingegen tat sich ausgesprochen schwer damit sein tägliches Quantum zu erfüllen. Aber er nahm es mit Gelassenheit zur Kenntnis. Das irritierte Tobias, konnte der sich doch nicht erklären wie ein Mensch bloß mit einer solchen Schmach leben konnte.

Auch Rudolf, ein anderer Kollege, der zu Leanders Rechten seine Seile fertigte, ein ruhiger ausgeglichener Endvierziger konnte schon lange nicht mehr mithalten. Tobias war der Beste, Konnte es etwas Schöneres, Edleres und Vollendeteres geben?

Eines Morgens jedoch schien Rudolf gar nicht gut drauf. Wortlos schritt er auf Tobias zu kam vor ihm zum Stehen und zog sein großes spitzes Seilermesser, schärfte es an einem Wetzstein und fuchtelte vor dessen Gesicht herum. Voller entsetzen flüchtete sich sein Gegenüber auf das große wuchtige Holzregal an der Wand, kletterte ganz nach oben, bis es bedrohlich hin und her zu schaukeln begann.

Leander bemerkte es und sprang blitzschnell an Rudolfs Seite.

„Sag mal, du hast sie wohl nicht mehr alle? Was soll das? Steck das Messer weg!“

„Nee, nee kann ich nicht. Du warst doch gestern auch dabei, auf der Belegschaftsversammlung. Hast du nicht auch Egberts Worte gehört? Tobias ist uns allen ein großes Vorbild. Ein jeder könne sich von ihm eine Scheibe abschneiden. Genau das will ich jetzt tun. Ich will mir ne Scheibe von ihm abschneiden!“ Lallte Rudolf und Leander bemerkte erst jetzt dessen aufdringliche Schnapsfahne.

„Du bist ja besoffen! Los rüber an deinen Platz! Schluss jetzt mit dem Palaver! Und du Tobias komm runter da! Was soll das denn!“

Leander schubste Rudolf an dessen Arbeitsplatz.

„Sieh zu das du heute nach Möglichkeit keinen ansprichst Rudolf, oder willst du mit deiner Schnapsfahne angeben?“

„Jaja, schon gut! Is ja auch gefährlich, denke ich. Stell dir vor, jeder würde sich von Tobias ne Scheibe abschneiden wollen. Das ginge gar nicht. Da würde von dem armen Kerl ja nichts mehr übrig bleiben. Nichts, außer einem klapprigen Skelett! Hähähä!“

Nur unter großer Anstrengung gelang es Rudolf seinen sonst so routinierten Gang einzulegen.

„Ist doch war Mensch! Der Trottel da  trüben verdirbt uns noch die ganze Norm. Am Ende werden die uns seine Leistung vorhalten. Werden davon ausgehen, das grundsätzlich jeder in der Lage ist so ein Tempo vorzulegen. Wir sind dann die geblaumeierten.“

Wie ein Besessener schwang sich Tobias an seine Arbeit, so als wolle er heute alle Rekorde brechen.

„Neidisch! Nur Neidisch seid ihr! Alle! Jeder einzelne von euch! Ihr könnte es nicht ertragen! Ich bin der Beste! Ich allein! Ich arbeite euch alle an die Wand! Ihr werdet`s schon sehen!“

Warf  Tobias den anderen bruchstückhaft entgegen, während er fädeltet, knotete, rannte wie ein Berserker.

„Häh? Hast du das auch gehört Leander? Der Tobias kann ja reden? Nee, wer hätte das gedacht. Ich glaubte immer er habe sein Sprechvermögen schon lange verloren. Nein, das ich da noch erleben darf.“ Wunderte sich Rudolf.

Tobias schien das aber schon gar nicht mehr zu registrieren, zu sehr nahm ihn seine Arbeit in Anspruch. Wenn er sich richtig in die Sache hineinsteigerte entwickelte er fast so eine Art von Trance.

Der weitere Tag verlief in ruhigen Bahnen. Alles wie gehabt.

In Tobias reifte ein Plan. Er wollte seine Kollegen von nun an Tag für Tag um ein vielfaches überbieten. Und wenn er nur ein Seil pro Tag mehr fertigte. Das heißt, jeden Tag eine weitere Steigerung folgen lies, dann würden die vor Neid in den Boden sinken.

Und so konnte er schließlich kurz vor Feierabend Leander und Rudolf den 401 Strick präsentieren. Dabei wurde er von einem Glücksgefühl von bisher unbekanntem Ausmaß durchdrungen. Es kam ihm so vor als würden ihn  Engelhände augenblicklich in Richtung Wolke 7 tragen. Das war wie Musik in seinen Ohren, 401 Seile, das hatte bisher noch keiner geschafft. So phantastisch konnte nicht mal ein Orgasmus sein. Wenn Egbert, der große Chef das erführe? Was würde ihn erwarten. Ein Schulterklopfen, ein feuchter Händedruck, den würde er seine Lebtag nicht vergessen. Und das war nur der Anfang.

Morgen würden es 402, übermorgen 403, und so weiter und so fort.

Tobias hatte seine Würde zurück. Eine Würde die ihm niemand zu nehmen vermochte.

Nicht auszudenken, wenn es dann erst mal 410 oder gar 415 würden. Seine Begeisterung kannte keine Grenzen.

Wie ein kleiner Junge, der nach langem Warten endlich sein Lieblingsspielzeug in den Händen hielt, lief er durch die Werkshalle um auch den anderen Kollegen seine soeben vollbrachte Heldentat kundzutun. Der Beifall der von allen Seiten auf ihn niederbrandete, genoss er wie Honig in der Kehle. Dabei übersah er vollständig, die Häme, den Hohn und den Spott der sich darin ausdrückte. In Wirklichkeit konnte ihn hier kaum noch einer wirklich ernst nehmen.

 Am Ende des Korridors angekommen, an der Treppe die nach unten in die niedriger gelegenen Werksräume führten, überkam es ihm wie eine Eingebung.450 Seile würde er produzieren, freiwillig, ohne dazu aufgefordert zu werden.

Eine stetige Steigerung. Allerdings konnte sich das als schwierig erweisen, denn innerhalb der Regelarbeitszeit würde das kaum zu bewerkstelligen sein. Überstunden? Selbstverständlich würde er Überstunden machen. Die anderen hatten diese ständig zu klopfen, aber zu dem Zweck die festgesetzte Norm zu erreichen. Er hatte das nicht nötig. Er war imstande pünktlich Feierabend zu machen. Aber er würde freiwillig bleiben um die Norm zu steigern. Nicht auszudenken welche Ehre ihm dann erst zu Teil würde.  In einer Flut feuchter Händedrücken baden. Egberts berühmte feuchte Händedrücke, wie sehnte er sich danach. Welch ein Verlangen, welch eine Entbehrung wenn sie ausblieben.

Ob er dabei auch mehr Geld verdiente, spielt dabei gar nicht einmal die entscheidende Rolle, das war ihm gleich,  hatte doch eh kaum Gelegenheit es auszugeben.

Hier stand einer der seine Bestimmung gefunden hatte.

In seinen Ohren glaubte er wunderbare Musik zu vernehmen. Traumhaft schön, so als ob Bach, Mozart und Beethoven zugleich für ihn aufspielen. Ein Orchester aus himmlischen Klängen nur für ihn allein. Die Anerkennung für eine gigantische Leistung.

„Freiheit für die Fleißigen!“ Lautete nicht so oder ähnlich der Wahlkampfslogan der  Musterdemokratischen Partei bei den letzten Wahlen? Warum kam er ausgerechnet jetzt darauf? Klar! Es dämmerte ihm! Die meinten ihn! Er gehörte dazu! War ein Auserkorener!!

Ihm standen Freiheit und Wohlstand zu, auch wenn ihm seine Arbeit kaum eine Gelegenheit bot davon Gebrauch zu machen. Er zählte zu den ganz besonders Fleißigen.

Doch plötzlich mischte sich Angst in seine Euphorie!  Dies würde jede Menge Neid und Missgunst auf den Plan rufen. Er würde kämpfen müssen, jeden Tage von neuem, jede Stunde, jede Minute, jeden Herzschlag seines Lebens, bis zum Tod. Ein Entrinnen gab es nicht.

Aber er war fest entschlossen diese Herausforderung anzunehmen.

 

Schon am Folgetag begann Tobias seinen Plan in die Tat umzusetzen. Zunächst musste er sein Arbeitstempo erheblich steigern. Das bedeutete, dass er pro Seil weniger als eine Minute zur Verfügung hatte. Das zog weitere Einschränkungen nach sich.

Pinkelpausen konnte es demzufolge nur noch im äußersten Notfall geben. Um das zu erreichen, musste er das Trinken drastisch reduzieren. Es versteht sich von selbst, dass dieser Umstand seiner Gesundheit nicht gerade dienlich war. Der Flüssigkeitsmangel barg die Gefahr einer Dehydrierung. Sein Körper wurde erheblich darunter leiden. Aber kein Opfer war ihm zu drastisch um seinem Ziel,der Erhöhung der Arbeitsnorm, Stück für Stück näher zu kommen. Irgendwann trank er gar nicht mehr während der Arbeitszeit, das erfüllte ihn mit Stolz, dadurch konnte er etwa 20 min an zusätzlicher Zeit herausholen.

Freiwillig hängte er noch mindestens eine Stunde an die Regelarbeitszeit. Schritt er dann am Abend durch das Werkstor kam er sich vor wie ein abgetakeltes Wrack. Die ganze Welt schien sich um ihn zu drehen. Die Umwelt begann vor seinen Augen zu verschwimmen und er glaubte Stimmen zu vernehmen die aus dem Nichts zu ihm sprachen.

Mit letzter Kraft schleppte er sich in seine triste Altbauwohnung. Zu Hause wartete niemand mehr auf ihn, denn seine Frau hatte ihn schon vor langer Zeit verlassen. Was konnte frau auch anstellen, mit einem Typ der sein ganzes Leben nur einem Ziel gewidmet hatte, der Stückzahl, sie allein war seine wirkliche Geliebte.

Es gab nur ein Gesprächsthema, wenn er Feierabend hatte, die Stückzahl. Seine Frau war ebenfalls berufstätig und auch ihr Leben wurde weitgehend vom Akkord bestimmt.

Doch setzte sich bei dieser einestages die Erkenntnis durch, dass das Leben durchaus auch noch andere Vorzüge zu bieten hatte als den täglichen Drang, am Fließband die Schnellste zu sein. Zudem schienen ihr die feuchten Händedrücke ihres Chefs nicht annähernd so viel zu bedeuten.

Tobias war kaum imstande das nach zu vollziehen. Wofür lebte ein Mensch wenn nicht für den Umstand seinem Chef zu gefallen. Doch er konnte seine Frau nicht dazu bewegen, es ihm gleich zu tun.

Freizeit war ein unbekanntes Wort.  Eine Leere Hülse ohne Inhalt. Freie Zeit war Ruhezeit. Schließlich musste er sich  erholen um am anderen Morgen wieder fit zu sein. Irgend etwas zu unternehmen in der freien Zeit, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Die entsprechenden Bitten seiner Frau erschienen ihm rätselhaft. Was in aller Welt wollte die von ihm?  Ausgehen, was erleben? Warum? Leben, das tat er in der Fabrik, die Stückzahl war sein Leben. Sie verlieh seiner Existenz eine Daseinsberechtigung und das genügte ihm.

Früher, als er noch jünger war, da hatte er am Anfang seiner Beziehung noch richtigen Sex. Doch im Laufe der Zeit  konnte er sich kaum noch etwas darunter vorstellen. Kam er von der Schicht, müde, ausgebrannt und abgeschlafft, empfand er es als Zumutung, wenn seine Frau ihr Recht einforderte. Auf was für Ideen die kam. Immerhin hatte er seine ganze Kraft und Leistungsfähigkeit in der Fabrik verbraucht, dann verlangte es ihm nur noch nach Ruhe. Und selbst wenn er es versuchte, gelang es ihm gar nicht mehr sich zu konzentrieren. Denn in Gedanken war er längst schon wieder an seiner Maschine. Die Stückzahl verfolgte ihn sogar bis in seine Träume. Konnte es schönere Träume geben?

Nun saß er hier, einsam und verlassen, ohne Familie, ohne wirkliche Freunde. Geblieben war allein der Zauber des Akkord.

Eine große Hilfe bei der Bewältigung seiner Probleme wurde ihm natürlich das Fernsehen. Knipste er den Apparat ein, fand er was er suchte, Bestätigung. Andächtig lauschte er allabendlich, wie viele Millionen andere Melancholanier auch, den Experten, die sich in ihren Weisheiten zu überbieten suchten. Das sich die Leistung wieder lohnen müsse, das nur den Fleißigen Ruhm und Ehre gebühre und wie pervers es sei sich nicht mehr beteiligen zu können an der alltäglichen  Kraftanstrengung.

Tobias ließ sich immer wieder zu neuen Leistungen anspornen. Doch auch das Gewissen meldetet sich beständig zu Wort. Es hatte den Anschein, als leiste er noch immer nicht genug.  Was in aller Welt hätte er denn noch tun sollen? Ständig unzufrieden! Er konnte noch mehr aus sich herausholen. Er würde seine Ausdauer schon unter Beweis stellen. Er war der Beste, er würde sie alle ausstechen. Niemand konnte ihm das Wasser reichen.

 

Die Tage plätscherten dahin, eintönig-gleichförmig, wie ein langsam austrocknender Bach. Es geschah nichts was auch nur einer kleinen Erwähnung wert wäre. Gäbe es da nicht zufällig einen Kalender an der Wand, dessen Umfang  sich täglich um ein Blatt Papier verringerte, man konnte geneigt sein zu vermuten, die Zeit sei zum Stillstand gekommen.

Tobias steigerte seine Leistung tatsächlich jeden Tag um je einen Strick. Inzwischen war er bei 410 angelangt und nichts schien diesem Triumph zu gefährden. Mit einer Mischung aus Neid und Ehrfurcht blickten die Kollegen zu ihm herüber, so glaubte er zumindest. In Wirklichkeit interessierte das was er täglich produzierte schon lange keinen mehr.

Doch dann kam der Tag der sein Leben vollständig aus der Bahn werfen sollte. Ein Ereignis so unverhofft, so dominierend, das es fast an Worten fehlt um auszudrücken was Tobias empfand.

Eines Morgens erschien ein neuer Kollege. Der benutzte die vierte Laufbahn, zu Tobias Rechten, die schon seit langer Zeit ihrer Benutzung verlustig gegangen war.

Im Grunde ein ganz normaler Vorgang ohne Belang, kaum der Rede wert. Tobias achtete ohnehin schon lange nicht mehr auf das was sich um ihn herum abspielte. Es wäre ihm ein leichtes gewesen auch den neuen Kollegen vollständig zu ignorieren. Doch bei dem hier schien das auf eine drastische Art und Weise nicht zu funktionieren.

Dirk war ein muskelbepackter Glatzkopf, gesund, durchtrainiert und etwa 10 Jahre jünger als Tobias, eine Art Frohnatur, die so leicht nichts aus der Fassung bringen mochte, ständig zu irgend welchen Scherzen aufgelegt. Der schien überhaupt keine Berührungsängste zu kennen. Schon am ersten Tag riss er einen Witz nach dem anderen.   

Das klang etwa so:

„Eij Leute wißt ihr eigentlich was der Unterschied zwischen einem Motorrad und einem Nachttopf ist?“

„Nee, aber du wirst es uns sicher gleich sagen!“ Gab Leander zu verstehen.

„Es gibt keinen! Auf beide musst du dich draufsetzen und Gas geben! Ehähähähä!“

Allgemeines Gelächter war die Antwort.

Das setzte sich dann über den gesamten Tag weiter fort. Es stellte sich bald heraus, das Dirk scheinbar großen Gefallen gefunden hatte an den Worten die mit sch… begannen. Seine ganzen Kalauer drehten sich um dieses Thema.

„Also, sitzen zwei Bayern in einen Zugabteil zusammen. Sagt der eine zum anderen: > Seeeh, hams in die Hos`n gschissen?<

>Jo, warum?<

>Jo und da sitzen`s noch hirr?<

<Jo i bin doch noch gor net fertig<

Ehähähähähä!“

Auch hierbei gab es ein Lachkonzert. Es schien als übertrug er seine Heiterkeit auf die Kollegen. Es tat den anderen gut. Das verhalf dem tristen Alltag für eine kurze Zeit zu einem farbigen Anstrich.

Die folgenden Tage setzte sich das ununterbrochen fort. Niemand konnte in Erfahrung bringen woher Dirk all diese Sprüche bezog.

Bald schon machte sich bei den Zuhörern bald eine allgemeine Ermüdungserscheinung bemerkbar. Stück für Stück wich die anfängliche Heiterkeit der Langeweile.

Wie viel Humor erträgt ein Mensch? Vor allem dann, wenn sich dieser Humor auf so penetrante Weise aufdrängt und sich nicht danach erkundigt, ob er überhaupt willkommen ist.

Doch während Leander und Rudolf der ganzen Tortur noch mit Gelassenheit begegneten, in der Hoffnung, dass sich das Reservoir an Fäkalwitzen bald erschöpfen würde, litt Tobias wie ein Hund. Überhaupt, das ganze Erscheinungsbild das Dirk auf ihn ausstrahlte, empfand er als bedrohlich. Doch was das Schlimmste von allem war. Dirk schaffte dabei seine Arbeit und zwar so perfekt, dass er keine Miene dabei verzog. Die einzelnen Arbeitsvorgänge gingen ihm mit einer Leichtigkeit von der Hand, die Tobias so noch nie zu Gesicht bekommen hatte.

Jeder Arbeitsschritt saß. 400 Seile waren schnell gefertigt. Es blieb ihm noch genügend Zeit um seinen Arbeitsplatz zu säubern und um aufzuräumen. Der hätte mit Leichtigkeit auch noch gut und gerne 20 Seile mehr hochlegen können.

Tobias wurde immer hektischer und nervöser. Ständig fiel ihm der Leierkopf zu Boden und beim zusammendrehen riss der fast fertige Strick am vorderen Laufrad weg. Die Folge, seine Arbeitsleistung nahm rapide ab. 415 waren sein bisheriges Bestergebnis, nun viel er auf 407 zurück und von Tag zu Tag wurden es noch weniger. Hier bahnte sich eine Katastrophe von ungeahntem Ausmaße an.

Und dann noch die Witze, diese elenden, schäbigen Witze. Es war nicht mehr zu ertragen.

Tobias arbeitete sich Seil um Seil auf den Wahnsinn zu.

„Eij Leute, kennt ihr den schon: Ein Russe sitzt auf dem Roten Platz in Moskau, vor sich einen großen Bottich prall voll gefüllt mit Scheiße. Mit einem großen Quirl rührt er darin. Über ein kleines Rinnsaal wird Wasser in den Bottich geleitet.

Kommt plötzlich ein Amerikaner über den Platz gelaufen und fragt:> Heh Kamerad, was machst du da eigentlich?<

Sagt der Russe: > Ich machen Sozialismus!<

Fragt der Amerikaner: > Wieso? Ich denke ihr seit jetzt wieder dabei den Kapitalismus zu machen?<

Sagt der Russe: > Ach so! Richtig! Wasser halt!< Ehähähähähä!“

Dirk nahm einen kräftigen Schluck Mineralwasser, legte seinen Kopf in den Nacken und rülpste volle Pulle in Richtung Decke.

Diesmal wollte keine so rechte Heiterkeit auf kommen, denn die Pointe konnte sich erst nach und nach erschließen.

Dirk wollte gerade zur Aufklärung ansetzen ,als Tobias plötzlich ausflippte.

„Es reicht! Ich habe genug! Diese dämlichen Witze! Ich kann sie nicht mehr hören! Die kommen mir aus den Ohren! Seit Tagen schon hören wir nichts anderes Als Scheiße, Pisse, Kotze. Ständig nur rülpsen und furzen. Mir wird übel, mir wird speiübel. Hast du denn gar nichts anderes auf Lager?“

„Ja aber schon der Dr. Martin Luther sagte dereinst zu seinen Gästen: Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat euch das Mal nicht geschmacket?“ Konterte Dirk wie immer schlagfertig.

Das aber brachte Tobias nun vollends auf die Palme.

„Aufhören! Genug! Ich will nicht mehr! Behalte deine Klugscheißerei für dich!“

„Ei ei, jetzt hast du aber selber das Wort Scheiße in den Mund genommen!“ Stellte Dirk nun mit Genugtuung fest und grinste dabei über das ganze Gesicht.

„Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr! Ich mache das nicht mehr mit! Dieses dämliche Grinsen, wie ein Honigkuchenpferd. Ich werde verrückt, ich werde waaaaahhhnsinnig!“

Tobias packte seinen Leierkopf und schleuderte diesen mit voller Wucht gegen das geschlossenen Fenster, so dass deren Scheibe mit einem heftigen Geklirr in tausend Scherben zerbarst. Dann hüpfte er wie ein Rumpelstilzchen auf seiner Laufbahn herum, bis er schließlich mit blutrotem Kopf und Schaum vor dem Mund nach draußen ließ.

„Was`n mit dem los? Hat der jetzt den Verstand verloren?“ Entsetzte sich Rudolf.

„Ich könnte mir vorstellen, dass ihm die viele Scheiße in den Magen gefahren ist. Dirk, ist es wirklich nötig?  Ich muss schon sagen. Was zu viel ist ,ist zu viel. Ist es denn nicht möglich das du dich mal ne Zeit zurückhältst mit deinen derben Witzen?“ gab Leander zu verstehen.

„Schuldigung!“ Man, ich konnte ja nicht wissen das der so zart besaitet ist. Wollte doch nur mal en Spaß machen!“ Entgegnete der angesprochene.

„Na das ist dir auch gelungen! Volle Kanne!“ Meinte Leander.

 

Tobias hatte es in der Zwischenzeit bis auf die Toilette geschafft. Dort öffnete er das Fenster um nach Luft zu schnappen. Vor seinen Augen tanzten kunterbunte Lichtblitze. Und es rauschte bedrohlich in den Ohren. Langsam, nur ganz langsam setze sein Bewusstsein wieder ein und er erinnerte sich seines Auftrittes.

Voller Entsetzen nahm er zur Kenntnis, dass ihm diese Szene wertvolle Zeit gekostet hatte. Wie viele Seile hätte er wohl während jener unproduktiven Periode fertigen können?

Und was die Fensterscheibe betraf. Es verstand sich von selbst, dass er die ersetzen musste. Das machte bestimmt einen Tagesverdienst aus, wenn nicht noch mehr.

Einem Nervenzusammenbruch gerade noch mal entronnen, begab er sich langsam an seinen Arbeitsplatz zurück. Das Herz flatterte ihm und im Kopf hämmerte es beträchtlich. Wie ein Geist schlich er wieder auf seine Laufbahn.

„Na wieder da?“ Höhnte Dirk.

Wieder stieg Wut in ihm hoch. Doch er schluckte den Klos hinunter und  versuchte mit seiner Arbeit zu fortzufahren. Doch fand er seinen Leierkopf nicht.

„Suchst`dnn Leierkopf? Der liegt unten auf`m Hof. Oder haste gedacht wie holen den für dich wieder hoch?“ Stachelte Dirk weiter.

Unverzüglich rannte Tobias auf den Hof und begann sein wichtigstes Handwerkszeug zu suchen. Doch der wollte sich nicht finden lassen. Panik bemächtigte sich seiner.

„Ehä, ehähähähähä!“ Hörte er Dirk von oben aus dem zersplitterten Fenster lachen. Das schob den Stachel noch tiefer in sein Herz.

„Dirk? Meinst du nicht, das es für heute genug ist?“ Wollte Leander wissen. „Ich denke, du hast in ausreichendem Maße gestänkert. Lass Tobias einfach in Ruhe, wenn er wieder oben ist. Ich hab den so noch nie erlebt, seit ich in dieser Abteilung arbeite. Irgend wann brennt scheinbar bei jedem mal die Sicherung durch. Aber man sollte wissen wann es Zeit ist Schluss zu machen.“

„Aber der Typ ist doch echt irre. Der gehört, wenn du mich fragst in die Geschlossene. So was sollte man nicht auf die Menschheit loslassen.“ Glaubte Dirk zu wissen.

„Mag sein! Trotzdem! Ich denke, das es für heute reicht. Versuche doch wenigstens dich ein wenig zurückzuhalten.“ Schlug Leander vor.

„Gut, ok! Meinetwegen. Ich versuche das Maul zu halten, obwohl ich nicht hunderpro versichern kann ob mir das gelingt.“ Versprach Dirk zähneknirschend.

Unterdessen hatte Tobias seine Suche nach dem verschwundenen Leierkopf erfolgreich beendet. Beim Aufheben des Corpus Delikti spürte er einen stechenden Schmerz in der Hüftgegend. Woran lag das? An der Aufregung? Oder hatte das längerfristige Ursachen? Er vermochte es nicht zu deuten.

Auf jeden Fall war ihm dadurch wieder wertvolle Zeit durch die Lappen gegangen.

Wortlos betrat er seine Laufbahn und machte sich unverzüglich daran seiner Arbeit nach zu gehen. Nun hieß es, sich mächtig ins Zeug legen um den Verlust auszugleichen.

Dirk hielt wie versprochen seinen Mund, obgleich es ihm schwer fiel. Nur den erneuten Rülpser konnte er nicht an sich halten.

Dafür  schaltete sich Rudolf ein, der sich eine Pinkelpause gegönnt und den vorherigen Dialog zwischen Leander und Dirk nicht mitbekommen hatte.

„Sag mal Tobias, was soll denn nun eigentlich aus den Scherben werden? Willst du die dort lassen? Soll sich am Ende noch einer daran verletzen? Vor allem, wenn wir nachher den Raum fegen, dürfte das sehr gefährlich werden. Oder erwartest du, das einer von uns deinen Dreck entsorgt?“

Mit zitterigen Händen nahm Tobias das Gesagte zur Kenntnis und musst sich eingestehen, dass Rudolf die Wahrheit sprach. Es lag an ihm die Scherben zu beseitigen.

Gerade einmal zwei Seile konnte er drehen, schon wieder musste er seine Arbeit unterbrechen.

Nein, heute würde er die Norm mit Sicherheit nicht mehr erreichen.

Ein Vorstellung so grausam, so entsetzlich, das er gar nicht wagte an sich die Folgen auszumalen.

Im Hals spürte er den Klos, in der Herzgegend einen stechenden Schmerz und die Hände verkrampften sich. Aber trotzdem schritt er zur Tür um sich mit Handfeger und Kehrschaufel zu bewaffnen.

Einen Teil bekam er auf das Kehrblech, aber natürlich nicht alles. Dann blickte er im Raum und hielt Ausschau nach einer Möglichkeit die Scherben zu deponieren.

„Du willst aber doch nicht im ernst die Scherben zu dem Juteabfall schütten. Bring das gefälligst runter auf den Hof, da wo der Glasbruch gelagert wird.“ Rief ihm Rudolf entgegen.

Mit dem Kehrblech in der Hand begab sich Tobias erneut auf den Hof, die Tonnen mit dem Glasabfall ließen sich lange nicht finden. Endlich! Weg mit dem Zeug, aber das war noch lange nicht alles. Wie viele Male würde er noch laufen müssen.

Oben angekommen setzte er sein Werk fort.

„Sag mal Tobias; warum besorgst du dir denn keinen Eimer? Da schüttest du alles rein und bringst den gesamten Inhalt nach unten. Oder willst du noch drei vier mal mit der Kehrschaufel nach unten rennen? Also mich geht`s ja nichts an, aber ich denke, so wirst du deine Stückzahl heute kaum noch erreichen:“ Neckte Rudolf weiter.

Jetzt war es raus. Die Achillesferse getroffen. Die heilige Stückzahl, sein ein und alles, einfach in den Schmutz getreten. Schweißperlen bildeten sich auf Tobias Stirn. Wie konnte ein Mensch nur so grausam sein. Es schnürte ihm die Kehle zu und die Luft drohte auszubleiben.

Verzweifelt suchte er nach einem Eimer, der sich aber nicht finden lies. Wutschnaubend rannte Tobias nach draußen.

„Ich glaube jetzt dreht er endgültig durch!“ meinte Rudolf.

„Leute, ich sage es noch mal! Es reicht! Lasst ihn einfach in Ruhe!“ Gebot Leander streng.

„Wieso, ich hab doch gar nichts gesagt!“ Beschwerte sich Dirk.

„Dich meine ich  nicht! Rudolf, lass ihn einfach, wenn er wieder zurückkommt. Ich denke, es ist heute schon genug zu Bruch gegangen.“

„Drum eben! Drum eben! Ich meine doch nur, der hätte in seiner blindwütigen Arbeitswut die Scherben einfach liegen lassen und einer von uns sich womöglich noch verletzt daran.“ Hielt ihm Rudolf entgegen.

„Er ist ja im Begriff aufzuräumen. Also, Ruhe jetzt, verdammt noch mal! Alle beide!“

Keiner wagte jetzt noch zu widersprechen.

Wie ein gehetztes Tier kehrte Tobias in die Werkstatt zurück, er hat doch tatsächlich einen Eimer gefunden.

Nun begann er die Scherben in den Eimer zu füllen, so dass es jedes Mal heftig klirrte. Das rief den Vorarbeiter auf den Plan. Kurt, von allen nur Kurti gerufen, betrat den Raum und hielt sich die Hände vors Gesicht.

„Was ist denn hier los? Wer hat das Fenster zertrümmert? Seit ihr verrückt geworden?“

„Wir? Was heißt hier wir? Der wars! Oder was glaubst du warum der die Scherben aufließt?“ Beschwerte sich Dirk.

„Wie in aller Welt ist das denn passiert? Ich meine, eine Scheibe geht doch nicht einfach so zu Bruch, oder?“ Wollte Kurti wissen.

„Iss mir was dagegen gefallen!“ Stammelte Tobias verlegen vor sich hin.

„Dagegen gefallen? Hm! Naja, wird wohl so sein. Du weißt was das bedeutet. Wer was zerdeppert, muss für den entstandenen Schaden aufkommen. Na da kannst du aber froh sein das wir Frühsommer haben und es warm ist.  Stell dir vor es wäre kalter Januar. Dann prost Neujahr. Muss ich gleich morgen jemand schicken. Zum Glück haben wir einen Glaser im Haus. Aber die Splitter im Fensterkreuz die machst du gefälligst selber raus“ wies ihn Kurti an. Wortlos setzte Tobias seine Tätigkeit fort.

Nur so schnell wie möglich fertig werden. Damit dieser Horror ein Ende fand.

Fast geschafft nur noch einen kleinen Splitter entfernen, dann merkte er den Schmerz. Geschnitten, direkt in den Zeigefinger, so dass das Blut in Strömen floss.

Nach einem kurzen Schock, die bittere Erkenntnis. Mit einem verletzte Zeigefinger, konnte er  keinen Strick mehr drehen. Oder, wenn dann nur unter ganz großen Schwierigkeiten und  Schmerzen.

„Ätsch! Geschnitten! Ungeschicktes Fleisch muss weg! Spottete Dirk nun wieder, während Tobias den schmerzenden Finger im Mund verstaute.

Nein, heute blieb ihm wahrlich nichts erspart.

„Ha..ha.. haste mal nen Pflaster?“ stotterte Tobias  zu Leander. Der öffnete auch sogleich den Verbandskasten und kramte nach einem geeigneten Verband. Denn ein Pflaster allein reichte nicht aus. Schließlich hatte der in Erster Hilfe bewanderte einen fachmännischen Verband um den Finger angelegt.

„Ja aber, wie in aller Welt soll ich denn damit meine Seile drehen?“ Hilflosigkeit bemächtigte sich seiner.

„Das ist nun wirklich nicht mein Problem! Ich denke du gehst zu Kurti und sagst ihm dass du dich verletzt hast. Natürlich kannst du damit nicht seilern. Da machst du eben heute was anderes. Transportarbeiten oder so! Aber sagen musst du es.“ Schlug Leander vor.

„Kommt…Kommt nicht in Frage! Ich muss auf meine Zahl kommen. Das…das geht doch nicht. Ich muss es einfach versuchen!“ Widersprach Tobias energisch.

„Ach mach doch was du willst! Ich habe es nur gut gemeint.“ Bog Leander ab, nachdem ihm aufging wie sinnlos es war mit Tobias darüber zu streiten.

Der versuchte verzweifelt seine Seile zu drehen, selbstverständlich gelang es ihm nicht. Eins nach dem andern missglückte. Panik überwältigte ihn von Augenblick zu Augenblick mehr. Schnell hatte sich der Abfallsack gefüllt.

„Also es geht mich zwar nichts an. Aber meinst du wirklich, Das du so weiter machen kannst?

Du produzierst mit dem lädierten Finger nur noch Ausschuss. Ich glaube nicht das Kurti davon begeistert ist:“ Glaubte Rudolf ihm unter die Nase reiben zu müssen.

„Halt die Schnauze! Haaaaalt die Schnauze! Lass mich in Ruhe!  Du Blödmann, du absolute Null! Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren.“ Polterte Tobias überlaut.

Rudolf war im Begriff auf ihn loszugehen. Doch Leander hielt ihn zurück.

Dann packte er Tobias kurz entschlossen am Ärmel und zog in auf den Flur.

„So jetzt reicht es. Ich habe die Nase voll, mit euch allen. Wir gehen jetzt zu Kurti. Der soll entscheiden. So geht das jedenfalls nicht mehr mit euch weiter.“

„Nein, ich will nicht! Lass mich Ruhe! Lass mich in Ruheeeee!“ Tobias begann um sich zu schlagen. Doch Leander entwand sich und mit einem geschickten Griff hatte er ihn im Schwitzkasten, schleifte ihn im Anschluss direkt zum Vorarbeiter.

„Was ist denn mit euch los? Seit ihr denn jetzt vollkommen übergeschnappt?“ Wollte Kurti wissen.

„Alles in Ordnung!“ Versuchte Leander der angespannten Situation die Schärfe zu nehmen.

„Sieh her Tobias hat sich verletzt! Jetzt kann er natürlich nicht mehr seilern. Aber er hat es versucht, was ihm natürlich nicht gelang. Entscheide du was er tun soll für den Rest des Tages:“

„Klar, wenn ihr nicht mehr weiter wißt, dann muss der alte Kurti ran. Man bist du ein ungeschickter Kerl. Na gut, bleib eben hier. Setzt dich dahin. Wir werden den Tag schon über die Runden bringen. Ach ja, hier du kannst die Karabinerhaken sortieren, sind unterschiedliche Größen, da haste erst mal ne Weile Beschäftigung.“

Leander verabschiedete sich um seiner Arbeit zu widmen. Nun musste auch er sich mächtig ins Zeug legen um noch seine Norm zu erreichen. Jeder dachten hier nur an sich.  Wie es ihm dabei erging ,danach fragte keiner.

Äußerst unwillig begann Tobias mit der ungeliebten Arbeit. Den Blick dabei immer auf die nun kurzzeitig verwaiste Laufbahn im Nachbarraum gerichtet, die er von hier aus sehen konnte. Nein, ihm so etwas anzutun. Was war nur geschehen? Er war dem Nervenzusammenbruch gerade noch einmal entkommen. Aber wie würde es weitergehen?

Immer wieder bettelte er Kurti an, ihn doch wieder auf die Bahn zu lassen. Er würde es trotz des schmerzenden Finger doch noch schaffen. Dieser lehnte jedoch stets mit Nachdruck ab.

Es half nichts, er musste den Tag mit dieser unbefriedigenden Arbeit füllen und schließlich beenden.

Keine Überstunden heute. Ein pünktlicher Feierabend, das hatte Seltenheitswert. Den hatte ihm der verletzte Finger eingebracht.

„Also kein Akkord heute, ich schreibe dir Durchschnitt auf, Stundenlohn zu den üblichen Konditionen.“ Bot Kurti an.

„Aber, wa..wa..was…wird denn a…a..a…aus den Sei….len vo.. vo  vo.. vom frühen Vo..Vormittag!“ Stotterte Tobias.

„Na hab dich doch nicht so. Sind ja gar nicht viele, die wirst du doch verschmerzen können. Man bist du penibel. So was is mir ja noch nie untergekommen.“ Wies Kurti das Ansinnen schroff zurück.

Tobias wollte protestieren, doch nun bekam er kein Wort mehr heraus. Offensichtlich büßte er nun  die Fähigkeit des Sprechens vollständig ein.

Wie ein geprügelter Hund verlies er den Betrieb und begab sich schnurstracks nach hause, die hämischen Blick der Kollegen ignorierend. Die Nachricht über seinen Ausraster hatte sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Firma verbreitet.

Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, so früh zu Hause, er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er die Fülle an Zeit totschlagen sollte.

Seine Gedanken galten allein der Sorge um den morgigen Tag. Wäre er imstande seiner gewohnten Tätigkeit nachzukommen?

Er fand keinen Frieden. Vor allem die Nacht wurde zu einer Tortur von gigantischem Ausmaß.

Der schmerzende Finger, das Stechen in der Herzgegend, das Hämmern im Kopf, die Atemnot, es war einfach nur grauenhaft. An Schlaf nicht zu denken. Wie in aller Welt sollte er seine Kräfte regenerieren, um am Morgen wieder leistungsfähig zu sein? Er fand keine Antwort. Wälzte sich nur unruhig von einer Seite auf die andere.

Da plötzlich kamen sie wieder, die Stimmen aus der Dunkelheit. „Ehä…ehähähähä!“ Glaubte er nun Dirks aufdringliche Lache zu vernehmen. Angstvoll zog er die Decke über den Kopf, ein heftiger Schweißausbruch folgte. Das beklemmende Gefühl in der Herzgegend nahm bedrohliche Formen an. „Ehä..ehähgähähähä!“ Es hörte nicht auf. War es nun soweit? Stand der Wahnsinn bereit sein fürchterliches Werk zu vollenden? Er hielt sich beide Ohren zu. „Ehä…ehähähähähgähähähä!“ Wirkungslos! Die Stimme kam aus seinem Inneren. Er schlug die Decke zurück. Eine regelrechte Lache an Schweiß hatte sich auf dem Kopfkissen gebildet.

Er hörte Schritte, erst ganz leise, dann immer lauter immer deutlicher. Schritte auf der Zudecke. Da kamen Gestalten auf ihn zu, kleine Zwerge tanzten auf seinem Bauch ihm dabei hämisch zu grinsend. Voller Panik schloss er die Augen. Doch er sah sie auch dann noch.  Einer von ihnen hatte Dirks Aussehen. „Ehä…ehähähähähähähä!“ Er warf die Decke zurück und ließ sich in panischer Angst auf den Boden gleiten. Dann flüchtete er wie von der Tarantel gestochen in das Badezimmer, die Tür hinter sich abschließend. Den Kopf unter den Wasserhahn. Die kalte Dusche erfrischte. Hatte sie aber auch die bösen Geister vertrieben? Der Blick in den Spiegel, die Augen blutrot, das Gesicht kreidebleich. Der Blick auf den Finger, Blut drang durch den Verband. Damit würde er morgen er unmöglich arbeitenkönnen, kein Akkord, die Norm unerreichbar. Angst, Panik, Hilflosigkeit, das Gefühl ausgeliefert zu sein, ohne Aussicht sich allem zu entziehen.

Dann in die Küche. Eine halbe Flasche Schnaps stand dort auf dem Küchentisch. Er griff nach ihr und leerte sie in einem Zug. Es würgte und schüttelte ihn. Im Hintergrund hörte er es wieder. „Ehä…ehähähähähähä!“ Ab ins Schlafzimmer unter die Decke. Der Alkohol begann seine Wirkung zu entfalten. Bald fiel er einen unruhigen Schlaf.

 

Nur unter Aufbietung der allerletzten Kraftreserven vermochte es Tobias am frühen Morgen seine Arbeitsstätte zu erreichen.

Er kam genau anderthalb Minuten zu spät. Der Pförtner veranstaltete ein fürchterliches Theater. Und das ihm, ihm dem Supervorbild, von dem sich noch wenige Tagen  zuvor alle anderen eine möglichst große Scheiben abschneiden sollten. Für dieses schwere Vergehen konnte es nur eine strenge Abmahnung geben.

„Ja, du kannst gerne einen Tag Urlaub nehmen. Ich habe strenge Anweisung von Egbert keinen zu spät kommenden durch das Tor zu lassen!“ Meinte der Pförtner, sich dabei wie ein Auerhahn aufplusternd.

Tobias war nicht imstande etwas zu erwidern, stimmte bereitwillig zu und trat wie ein begossener Pudel seinen Heimweg an. Einen ganzen Tag frei? Wie in aller Welt sollte er die Zeit totschlagen?  Es versprach ein schöner Tag zu werden. Frühsommer, eine der sinnlichsten Jahreszeiten. Angenehme Wärme streichelte seine Haut. Langsamen Schrittes durchstreifte er den Park. Vogelgezwitscher, Kinderlachen schwappte zu ihm rüber, während er sich auf einer Bank niederließ. Doch er bekam von all den vielen positiven Eindrücken nicht das Geringste mit. In Gedanken weilte er nur bei seiner Geliebten, seiner Norm. Einen ganzen Tag war er dazu verdonnert ihr untreu zu sein, ihr, der sein ganzes Tun und Trachten galt.

Wie konnten die nur so grausam sein. Anderthalb Minuten, wie schnell hätte er die wieder aufgeholt. Andererseits, mit dem schmerzenden Finger, kein leichtes Unterfangen.

Apathisch starrte er nur so vor sich hin, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Bitte, bitte, lass die Zeit ganz schnell vergehen, hörte er sich inständig flehen.

Der schöne Tag verstrich ohne dass er sich dessen bewusst wurde.

 

Die folgende Nacht schlief er besser. Dafür wurde er von Alpträumen geradezu umzingelt.

Er sah sich durch die Fabrikhallen hetzen. Er versuchte seinen Arbeitsplatz zu erreichen, doch er schaffte es nicht. Es schien ,als sinke er mit jeden Schritt tiefer in den Boden ein . Auf allen vieren gelangte er zu seiner Maschine. Zog sich mit letzter Kraft an einem Tisch empor. Doch wieder schien ihn etwas davon abzuhalten sein Werk zu tun.

Da, in der Ecke bemerkte er eine graue Gestalt. Mit finsteren Augen blickte sie zu ihm herüber.

„Wer, wer bist du? Stammelte Tobias.

„Dein böser Engel!“

„Was, was willst du von mir?“

„Du hast mich verlassen, du bist mir untreu geworden, das kann ich nicht ungestraft lassen!“

„Was habe ich versäumt? Sage es mir doch! Wie soll ich mich ansonsten bessern?“

„Ich bin die Arbeitsnorm, die du verrietst! Ein Nichts bist du ohne mich! Ich habe dich zu dem gemacht was du bist. Sinnlos und leer ist dein Leben ohne meine Allmacht über dich, bedeutungslos. Ich werde dich jetzt verlassen. Nie wieder wirst du in meine Nähe kommen, nie wieder, solange du lebst!“

Tobias fiel auf die Knie.

„Nein bitte bleib! Ich tue alles was du willst! Ich arbeite 24 Stunden am Tag, wenn es sein muss, aber bitte verlass mich nicht!“

„Nein, es ist zu spät! Ich gehe, du wirst mir folgen, in den nächsten 24 Stunden!“

Da tat sich ein großes schwarzes Loch auf, das ihm zu verschlingen drohte.

Schweißgebadet erwachte Tobias, das Herz raste und der Kopf schmerzte grausam.

Wie konnte er all das nur wieder ins rechte Lot rücken.

 

Er hatte sich am Morgen etwa eine Stunde früher als üblich erhoben. In Windeseile ging es zur Fabrik, nur ja nicht wieder zu spät kommen, noch so einen Tag würde er nicht überleben.

Am Tor war er der erste. Noch zu. Angespannt wippte er von einem Bein aufs andere. Klopfte und klingelte. Mit verschlafenem Blick schlich der Pförtner auf ihn zu.

„Ja ja schon gut! He, heute so früh, iss doch noch ne halbe Stunde Zeit.“

Tobias achtet nicht auf ihn, sondern hastete wie besessen nach drinnen, ungewöhnliche Ruhe umgab ihn von allen Seiten.

Ein Gutes hatte der unfreiwillige Urlaubstag, dem Finger wurde eine heilsame Pause zuteil. Trotzdem spannte und schmerzte es noch immer, wenn er auffädelte und einlegte, aber immerhin eine halbe Stunde Zeit gewonnen. Er war noch immer zu langsam, viel zu langsam. Höhnisch grinste ihm die Norm aus seinem Unterbewussten entgegen.

So lange er alleine war, lief es ganz passabel. Als die anderen erschienen und ihre Maschine in Betrieb setzen,sollte er erneut mit der kalten Wahrheit konfrontiert werden.

Dirk erschien als letzter. Zunächst der obligatorische Schluck aus der Pulle und der sich anschließende Rülpser zur Decke: „Aaahhhk, oh!“

Dann begann er mit der Arbeit. Noch herrschte Ruhe. Wann würde der erste Witz des Tages folgen. Man konnte nur mutmaßen.

Schließlich war es soweit. Erstaunlicherweise verzichtete Dirk auf seine üblichen  Fäkalwitze, ein kleiner Fortschritt, dafür strotzte das was er jetzt zum Besten gab von grenzenloser Idiotie.

„Hey Leute! Kennt ihr den schon? Sitzen zwei Elefanten auf einem Stacheldrahtzaun. Plötzlich sagt der eine zum anderen: >Sag mal, weißt du eigentlich das morgen Weihnachten ist?< Sagt der Angesprochene: > Interessiert mich nicht! Ich gehe sowieso nicht hin!< Ehä ehähähähä!

Achselzuckend blickten sich Rudolf und Leander an

„Hm gut! Und wo ist die Pointe?“ Wollte Leander wissen.

„Heh, was für ne Pointe! Man, das war ein Idiotenwitz, der braucht keine. Humor ist wenn man trotzdem lacht. Mensch, zwei Elefanten auf nem Stacheldrahtzaun, ist das nicht komisch? Ehä…ehähähähähä!“

Gleich im Anschluss ging es weiter.

„Passt auf! Kommt ein Skelett zum Zahnarzt. Sagt der Zahnarzt: > Also ihre Zähne sind tiptop in Ordnung, aber ihr Zaaaahnfleisch< ehä…ehähähähähä!“

Nun konnten die anderen lachen, aber weniger über den dämlichen Witz, als vielmehr über die Tatsache das Dirk so herzhaft über seine eigene Witze lachen konnte.

Tobias fand es hingegen ganz und gar nicht komisch. In der Bauchgegend spürte er die Wut, die sich langsam, Schritt für Schritt an seiner Wirbelsäule emporarbeitete. Immer höher kam sie und bildete einen Klos in seiner Brust.

Wie lange vermochte er sie noch im Zaum zu halten? Keine Ahnung? Lange ließ sich diese mit Sicherheit nicht mehr zähmen.

Dirks blödes Gelache, das waren Spitze Nägel die sich langsam in sein Gehirn bohrten, immer tiefer, immer schärfer, immer schmerzhafter.

Zu allem Überfluss begann es in seinem Finger wieder kräftig zu hämmern und der erste Strick riss ihm vorne am Schwungrad weg.

Nun wurden Dirks Witze noch einen Grad idiotischer.

„He, ich hab noch einen: Zwei U-Boote laufen durch einen Wald. Nach einer ganzen Weile sagt das rechte zum linken: > Also weißt du, eigentlich könntest du mich auch mal in der Mitte laufen lassen.< ehä..ehähähähähähä!“

„Also dämlicher geht’s wirklich nicht mehr!“ Gab Rudolf zu verstehen.

„Wieso? Ist doch urkomisch! Zwei U-Boote die durch nen Wald spazieren gehen! Ehä…ehähähähähähä!“

Tobias spürte den Überdrück. Es gab kein entrinnen, es musste raus, sonst drohte er daran zu ersticken.

„Ahah…hahahahahah. Ahahhahah! Ach ist das komisch, ist das komisch! Ich lache mich tot, ich laaaache mich tot. Hahahaha. Was für tolle Witze. Es ist zum toooooootlaaaaachen Hahahahah“

Dabei verkrampft sich Tobias so sehr das er für eine Weile steif wie ein Brett wirkte. Dann brach es vollständig aus ihm heraus. Er hüpfte wie vom Veitstanz ergriffen in der Werkstatt herum. Entleerte die Behälter mit Flusenabfall und verteilte sie im ganzen Raum.

Fassungslos starrten die anderen dem sonderbarem Treiben zu.

„Er ist da! Er ist da! Der Waaaahnsinn ist da! Er steckt uns alle an. Elefanten auf Stacheldrahtzäunen, U-Boote die im Wald spazieren gehen. Skelette die zum Zahnarzt gehen.

Er ist da! Er ist daaaaaaa!“

Tobias rannte nach draußen, man konnte sein Schreien trotz des im ganzen Gebäude herrschenden Lärmpegels noch aus der Ferne hören.

Leander, Rudolf und Dirk folgten ihm, aber es war zu spät ihn einzuholen, was hätten sie auch ausrichten können.

Tobias befand sich nun in der oberen Etage, ein langer Gang an dessen Ende sich ein großes Fenster befand. Jetzt schien es ,als könne er die Engel im Himmel singen hören, warteten sie etwa schon auf ihn?

Er nahm Anlauf und rannte einfach drauf los. Immer schneller immer schneller. Er begann mit den Armen in der Luft zu wirbeln, so als könne er jeden Moment abheben.

„Huuaaah, ich komme! Ich habe Flügel, ich kann fliegeeeeen!“

Mit voller Wucht warf er sich gegen die Fensterscheibe, diese zerbarst im Augenblick und Tobias wurde mit ausgebreiteten Armen in die Luft geschleudert. Es ging etwa 40 Meter die Tiefe, bevor er am Boden aufschlug, er war auf der Stelle tot.

Seine drei Kollegen waren ihm bis zum Fenster gefolgt und starrten auf den zerschmetterten leblosen Körper.

„Junge, den hat`s aber ordentlich zerlegt!“ Meinte Rudolf.

Mehr hatte keiner zu  sagen. Sie konnten nichts mehr tun, alles Weitere lag nicht in ihrem Ermessen. Sie begaben sich augenblicklich zu ihren Arbeitsplätzen zurück.

Es oblag Egbert ,dem großen Chef, zu entscheiden, um das nötigste zu veranlassen. Der entschied kurzerhand, die Produktion nicht zu unterbrechen. Man konnte schließlich nicht wegen solch eines durchgeknallten Typen den Produktionskreislauf unterbrechen. Tot war tot. Man konnte eh nichts mehr für ihn tun. Sollte es polizeiliche Ermittlungen geben, hätten die auch bis zum Feierabend Zeit. Immerhin war Egbert mit dem Polizeichef persönlich befreundet. Dessen Verständnis konnte er voraussetzen.

Wer die zerbrochene Fensterscheibe ersetzen sollte,ließ sich im Moment noch  klären. Tobias hatte hier in der näheren Umgebung keine Angehörigen, die man hätte zur Kasse bitten können. Alles sehr ärgerlich. Was sich die Leute so herausnahmen in letzter Zeit, unerhört. Sich einfach aus dem Fenster stürzen, ohne vorher den Chef um Erlaubnis zu fragen, so etwas wäre noch vor Monaten undenkbar gewesen, glaubte Egbert zu wissen. Das kommt davon, wenn man den einfach gestrickten Geistern zu viele Freiheiten gewährt.

 

Das Leben ging weiter. Schon am Folgetag erinnerte nichts mehr an den peinlichen Vorfall.

Allerdings leerte sich die Handseilerei. Leander hatte die Nase voll. Er konnte oder wollte hier nicht länger arbeiten. Er entschied sich wieder an seine vorherige Arbeitsstelle zurückzukehren, das Band, was ihm auch prompt gewährt wurde.  Dieser Tag sollte lange in seinem Gedächtnis haften, tief hatte sich das Erlebte in seine Seele gegraben. Auf seine weitere Entwicklung würde es maßgeblichen Einfluss nehmen. Lange saß ihm der Schock noch in seinen Knochen.

 

Auch Dirk erschien nicht mehr an seinem Arbeitsplatz, aus einem ganz anderem Grund, den niemand auch nur vermutet hatte.

Die Melancholanier waren der Meinung, dass es in ihrem Land zu wenig  Millionäre gab

Die Bevölkerung wünschte sich mehr von der Sorte und um diesem Umstand Abhilfe zu schaffen, wurde schon vor Jahren eine Lotterie ins Leben gerufen. Nun hatten die Bewohner Melancholaniens die Möglichkeit, selbst Millionäre zu erschaffen. Alle paar Wochen wurde dem Millionärsclub ein weiterer hinzugefügt. Tausende und abertausende machten sich Woche für Woche auf den Weg um an einer Lotterie teilzunehmen.Ein hübsches Sümmchen kam durch den Verkauf von Lottoscheinenzusammen. Mit diesen Einnahmen ließ sich ihr  Millionär kreieren.

Konnte es etwas Schöneres geben? Mit einem kleinen Betrag war man dabei. Am Ende konnte es nur einen geben. Einer machte den Hauptgewinn, die anderen waren eingeladen sich an seinem Glück erfreuen, denn immerhin verdankte der Glückliche seinen Reichtum dem Umstand dass andere für ihn eingezahlt hatten.

Dirk hatte am Tag zuvor am kleinen Zeitungskiosk an der Ecke, auf der gegenüberliegenden Seite des Fabriktores schnell noch einen Lottoschein erworben. Für Zwölfmarkfünfzig. Eher im Vorbeigehen, denn Lotto spielen gehörte eigentlich gar nicht zu seinen angestammten Gewohnheiten.

Am Tag von Tobias Flug in die ewige Freiheit fand die Auslosung statt, am Abend versteht sich, denn schließlich sollten so viele wie nur irgend möglich daran teilhaben.

Auch Dirk klebte an diesem Abend am Bildschirm, in der einen Hand die obligatorische Flasche Bier, so wie sich das gehörte.

Mal sehen was sich da drinnen tat. Als die letzte Kugel ihre Bestimmung gefunden hatte, stand der diesmalige Sieger fest. Es war Dirk, er hat sechs richtige plus Superzahl, der Jackpot war geknackt. Der größte in Melancholaniens Geschichte. 53 Millionen Mark und 16 Pfennig.

So eine große Summe wurde in all den Jahren bisher nicht ausgeschüttet.

Dirk hatte es geschafft. Langsam, nur ganz langsam wurde er sich der Tatsache bewusst, was sich gerade ereignet hatte.

Keinen einzige Strick würde er mehr drehen müssen, nie mehr irgend einer Arbeit nachgehen. Träumte oder wachte er. Nein er träumte nicht, es war ganz real was sich hier auftat. Als Vorarbeiter Kurti am Morgen bei ihm anrief um sich zu erkundigen weshalb er der Arbeit fern geblieben war, erhielt er nur einen einzige Rülpser zur Antwort.

Am Abend konnte man Melancholaniens neuen Supermillionär schon in einer Fernsehshow bewundern. Viel braucht er gar nicht zu sagen, das würden ab sofort ohnehin andere für ihn übernehmen.

Was er nun mit dem vielen Geld tun wolle, lautete die Frage.

„Keine Ahnung! Erst mal ein paar Tage trinken!“ So seine geistreiche Antwort. Daraufhin leerte er das eingeschenkte Glas Sekt in einem Zug um gleich danach in die Kamera zu rülpsen. Die Menschen zu Hause an den Bildschirmen quittierten ihm das mit stehenden Ovationen.

 

 Schon wenige Tage später ebbte die Begeisterung erheblich ab und machte einem Katzenjammer Platz. Tausende Melancholanier begannen sich selbst zu bemitleiden. Warum der? Warum nicht ich? Und so weiter und so fort.

Den Kopf hoch und frohen Mutes weitermachen. Die nächste Auslosung wartete schon.

Leander wollte nicht weiter darüber sinnieren.

Armer Tobias,  noch zwei Tage waren durchzustehen, dann wäre er der Erlösung teilhaftig geworden, keine blöden Witze mehr und keine Rülpser. Er hätte den ihm vor bestimmten Weg unangefochten fortsetzen können. Die höchste Stückzahl aller Zeiten, sie war zum greifen nahe. Nun durfte er deren wundersames Antlitz nicht mehr schauen.

Was tat er jetzt, drüben auf der Anderen Seite? Gab es dort auch festgelegte Normen? Bestimmt, denn wie sollte er in der Ewigkeit ohne solche überleben? Die Arbeitsnorm war sein Schicksal. Für sie hatte er gelebt und war um ihretwillen gestorben.

Ein Held? 

 

 

 

 

   

 

 

 

 

 

 

      

 

 

                      Homo Oekonomikus

 

 

 

Leander hatte nach all den einschneidenden Erlebnissen einfach die Nase voll von der eintönigen Arbeit am Band

Wie durch einen Wink des Schicksals war gerade eine Stelle in der Handseilerei freigeworden und Leander hatte umgehend um seine Versetzung dorthin nachgesucht, die ihm zu seinem Erstaunen auch ohne weiteres gewährt wurde.

Ursprünglich hatte Leander den Beruf eines Handseilers erlernt. Eine vertraute Art zu arbeiten also, die ihm nicht all zu viel Mühe bereiten würde, so dachte er zumindest.

Es oblag ihm Sprungseile zu fertigen, aus Jute in verschiedenen Längen, mit einer verdickten Mitte. Diese Mitte machte es erforderlich dass jedes Seil per Hand zu drehen war, eine maschinelle Fertigung also ausgeschlossen. Dementsprechend hoch war der Verkaufspreis, die Entlohnung dagegen ausgesprochen niedrig.

Die einzelnen Fäden mussten aufgezogen werden, zu diesem Zweck war es erforderlich einmal nach vorn, dann nach hinten zu laufen, kurz andrehen, dann konnte er die etwa 50cm langen Einlagefäden einarbeiten. Dann die Maschine betätigen und mittels eines Leierkopf genannten Holzkolbens, das Seil während des nach vorne Gehens zusammendrehen. Fertig!

Ständig in Bewegung,, ständig laufen, nach vorne, nach hinten, rückwärts, seitwärts. Es kamen schon einige Kilometer zusammen an einem Tag. Die festgesetzte Norm lag bei 400 Seilen pro Schicht, bei einem 8stündigen Arbeitstag bedeutete das ca. 50 Seile pro Stunde.

Somit hatte er etwa 1,20 min zur Verfügung um ein Seil zu fertigen.

Alles andere als ein Spaziergang, denn auch die kleinste Verzögerung konnte die Norm untergraben.

Eine Pinkelpause z.B.bedeutete den Verlust von etwa 2-3,5 Seilen. So ein Ausfall konnte nur unter schwierigsten Bedingungen wieder aufgeholt werden. Überstunden waren somit geradezu vorprogrammiert.

Leander hatte sich, nach kurzer Anlaufzeit ganz gut eingearbeitet und es ging ihm relativ leicht von der Hand. Erleichternd kam hinzu dass er die Angelegenheit ruhig und gelassen anging.

Ganz anders sein Kollege Tobias der die Laufbahn zu seiner Linken benutzte.

Der erwies sich als ein hektischer, nervöser, fast ständig gereizter Zeitgenosse.

Panische Angst ergriff  ihn immer, wenn er sich nur vorstellte einmal die vorgegebene Arbeitsnorm nicht zu erreichen. Eine Nichterfüllung dieser Norm kam einer Gotteslästerung gleich.

Schon wenn er am frühen Morgen die Spinnbahn betrat, mit versteinertem Blick und dunklen Rändern unter den Augen, die darauf hindeuteten, das er wieder die halbe Nacht nicht geschlafen hatte, merkte man ihm die ungeheure Spannung an, die ihn zu lähmen schien.

Obgleich er noch keinen einzigen Strick gedreht hatte, war er schweißgebadet und die Hände zitterten. Nur unter allergrößter Anstrengung konnte er sich ein „Guten Morgen!“ abringen und er verbad sich jedwede Störung seines Arbeitsablaufes. Eine wie auch immer geartete Konversation unter solchen Umständen natürlich ausgeschlossen.

Leander vermied es dann auch, nach anfänglichen Versuchen, ihn überhaupt noch anzusprechen.

Wie ein getriebenes Tier verbrachte Tobias seinen Arbeitstag und hetzte von einem zum anderen Ende der Laufbahn.

Es hatte den Anschein, als triebe ihn ein unsichtbarer böser Geist beständig zur Eile an. Strick für Strick näherte sich Tobias seinem Endziel. 400, eine heilige Zahl.

35 Jahre war er alt, wirkte aber gut und gerne 15-20 Jahre älter. Aschgrau im Gesicht, verhärmt und ausgemergelt. Das ursprüngliche Schwarz seiner Haare war einem bleichem Grau gewichen.

Mit blutunterlaufenen  Augen und triefend vor Schweiß und keuchend wie ein altes Dampfross, beendete er Tag für Tag seine Schicht.

In den Jahren die er hier schuftete, es waren 19 an der Zahl, hatte er sich zu einem perfekten Workaholic entwickelt. Nichts Menschliches schien ihm mehr an zu haften. Ein Preka voll nach dem Geschmack seiner Chefs. Auf Belegschaftsversammlungen kam es immer wieder vor, dass er denn auch von seinen Vorgesetzten lobend erwähnt und als leuchtendes Beispiel für eine vollkommene Arbeitsmoral dargestellt wurde.

Die Stückzahl bestimmte sein Leben, sie war zum bestimmenden Inhalt seines Lebens geworden. Sein ganzes Tun und Trachten galt allein, der Erfüllung der festgesetzten Arbeitsnorm. Es schein geradezu religiöse Züge anzunehmen. Immer dann, wenn er den 400sten Strick aus der Hand legte, glänzten seine Augen vor Ergriffenheit und tiefer Ehrfurcht vor sich selbst. Vor wem sollte er auch sonst in Ehrfurcht erstarren. Ihm allein gebührte der Ruhm, er allein hatte jene Heldentat vollbracht. Leander hingegen tat sich ausgesprochen schwer damit sein tägliches Quantum zu erfüllen. Aber er nahm es mit Gelassenheit zur Kenntnis. Das irritierte Tobias, der konnte sich nicht erklären wie ein Mensch bloß mit einer solchen Schmach leben konnte.

Auch Rudolf, ein anderer Kollege, der zu Leanders Rechten arbeitete, ein ruhiger ausgeglichener Endvierziger konnte schon lange nicht mehr mithalten. Tobias war der Beste, Konnte es etwas Schöneres geben?

Eines Morgens jedoch schien Rudolf gar nicht gut drauf. Wortlos schritt er auf Tobias zu kam vor ihm zum Stehen und zog sein großes spitzes Seilermesser, schärfte es an einem Wetzstein und fuchtelte vor dessen Gesicht herum. Voller entsetzen flüchtete sich Tobias auf das große wuchtige Holzregal an der Wand, kletterte ganz nach oben, bis dies begann bedrohlich hin und her zu schaukeln.

Leander bemerkte es und sprang blitzschnell an Rudolfs Seite.

„Sag mal, du hast sie wohl nicht mehr alle? Was soll das? Steck das Messer weg!“

„Nee, nee kann ich nicht. Du warst doch gestern dabei, auf der Belegschaftsversammlung. Du hast doch Egbert gehört! Tobias ist uns allen ein großes Vorbild. Ein jeder könne sich von ihm eine Scheibe abschneiden. Genau das will ich jetzt tun. Ich will mir ne Scheibe von ihm anschneiden!“ Lallte Rudolf und Leander bemerkte erst jetzt dessen aufdringliche Schnapsfahne.

„Du bist ja besoffen! Los rüber an deinen Platz! Schluss jetzt mit dem Palaver! Und du Tobias komm runter da! Was soll das denn!“

Leander schubste Rudolf an dessen Arbeitsplatz.

„Sieh zu das du heute nach Möglichkeit keinen ansprichst Rudolf, oder willst du mit deiner Schnapsfahne angeben?“

„Jaja, schon gut! Is ja auch gefährlich, denke ich. Stell dir vor, jeder würde sich von Tobias ne Scheibe abschneiden wollen. Das ginge ja gar nicht. Da würde von dem armen Kerl ja nichts mehr übrig bleiben. Nichts, außer einem klapprigen Skelett! Hähähä!“

Nur unter großer Anstrengung gelang es Rudolf seinen sonst so routinierten Gang einzulegen.

„Ist doch war Mensch! Der Trottel da  trüben verdirbt uns noch die ganze Norm. Am Ende werden die uns seine Leistung vorhalten. Werden davon ausgehen, das grundsätzlich jeder in der Lage ist so ein Tempo vorzulegen. Wir sind dann die geblaumeierten.“

Wie ein Besessener schwang sich Tobias an seine Arbeit, wollte er heute alle Rekorde brechen?

„Neidisch! Nur Neidisch seid ihr! Alle! Jeder einzelne von euch! Ihr könnte es nicht ertragen! Ich bin der Beste! Ich allein! Ich arbeite euch alle an die Wand! Ihr werdet`s schon sehen!“

Warf  Tobias den anderen bruchstückhaft entgegen, während er fädeltet, knotete, rannte wie ein Berserker.

„Häh? Hast du das auch gehört Leander? Der Tobias kann ja reden? Nein, wer hätte das gedacht. Ich glaubte immer er habe sein Sprechvermögen schon lange verloren. Nein, das ich da noch erleben darf.“ Wunderte sich Rudolf.

Tobias schien das aber schon gar nicht mehr registriert zu haben, zu sehr nahm ihn seine Arbeit in Anspruch. Wenn er sich richtig in die Sache hineinsteigerte entwickelte er fast so eine Art von Trance.

Der weitere Tag verlief in ruhigen Bahnen. Alles wie gehabt.

In Tobias reifte ein Plan. Er wollte seine Kollegen von nun an Tag für Tag um ein vielfaches überbieten. Und wenn er nur ein Seil pro Tag mehr fertigte. Das heißt, jeden Tag eine weitere Steigerung folgen lies, dann würden die vor Neid in den Boden sinken.

Und so konnte er schließlich kurz vor Feierabend Leander und Rudolf den 401 Strick präsentieren. Dabei wurde er von einem Glücksgefühl von gigantischem Ausmaß durchdrungen. Es kam ihm so vor als würden ihn die Engel im Himmel augenblicklich auf Wolke 7 tragen. Das war wie Musik in seinen Ohren, 401 Seile, das hatte bisher noch keiner geschafft. So phantastisch konnte nicht mal ein Orgasmus sein. Wenn Egbert, der große Chef das erfährt, nein was würde ihn da wohl erwarten. Ein Schulterklopfen, ein feuchter Händedruck, den würde er seine Lebtag nicht mehr vergessen. Und das war nur der Anfang.

Morgen würden es 402, übermorgen 403, und so weiter und so fort.

Tobias hatte seine Würde zurück. Eine Würde die ihm niemand zu nehmen vermochte.

Nicht auszudenken, wenn es dann erst mal 410 oder gar 415 würden. Seine Begeisterung kannte keine Grenzen.

Wie ein kleiner Junge, der nach langem Warten endlich sein Lieblingsspielzeug in den Händen hielt lief er durch die Werkshalle um auch den anderen Kollegen seine soeben vollbrachte Heldentat kundzutun. Der Beifall der von allen Seiten auf ihn niederbrandete, genoss er wie Honig in der Kehle. Dabei übersah er vollständig, die Häme, den Hohn und den Spott der sich darin ausdrückte. Schon lange konnte ihn hier kaum noch einer wirklich ernst nehmen.

Als er am Ende des Korridors angekommen war, an der Treppe die nach unten in die niedriger gelegenen Werksräume führten, überkam es ihm wie eine Eingebung.450 Seile würde er produzieren, freiwillig, ohne dazu aufgefordert zu werden.

Eine stetige Steigerung. Allerdings konnte sich das als schwierig erweisen, denn innerhalb der Regelarbeitszeit würde das kaum zu bewerkstelligen sein. Überstunden? Selbstverständlich würde er Überstunden machen. Die anderen klopften diese ja ständig, aber zu dem Zweck die festgesetzte Norm zu erreichen. Er hatte das nicht nötig. Er war imstande pünktlich Feierabend zu machen. Aber er würde freiwillig bleiben um die Norm zu steigern. Nicht auszudenken welche Ehre ihm dann erst zu Teil würde. Eine Flut von feuchten Händedrücken würde ihn baden. Egberts berühmte feuchte Händedrücke, wie sehnte er sich danach. Welch ein Verlangen, welch eine Entbehrung wenn sie ausblieben.

Ob er dabei auch mehr Geld verdiente, spielt dabei gar nicht einmal die entscheidende Rolle, das war ihm gleich, er hatte ja eh kaum Gelegenheit es auszugeben.

Hier stand einer der seine Bestimmung gefunden hatte.

In seinen Ohren glaubte er wunderbare Musik zu vernehmen. Traumhaft schön, so als ob Bach, Mozart und Beethoven zugleich für ihn aufspielen. Ein Orchester aus himmlischen Klängen nur für ihn allein. Die Anerkennung für eine nie für möglich gehaltene Leistung.

„Freiheit für die Fleißigen!“ Lautete nicht so oder ähnlich der Wahlkampfslogan der  Musterdemokratischen Partei bei den letzten Wahlen? Warum kam er ausgerechnet jetzt darauf? Klar! Es dämmerte ihm! Er war damit gemeint! Er gehörte dazu! Er war ein Fleißiger!

Ihm standen Freiheit und Wohlstand zu, auch wenn ihm seine Arbeit kaum eine Gelegenheit bot davon Gebrauch zu machen. Er zählte zu den ganz besonders Fleißigen.

Doch plötzlich mischte sich Angst in seine Euphorie!  Dies würde jede Menge Neider auf den Plan rufen. Er würde kämpfen müssen, jeden Tage von neuem, jede Stunde, jede Minute, jeden Herzschlag seines Lebens, bis zum Tod. Ein Entrinnen gab es nicht.

Aber er war fest entschlossen diese Herausforderung anzunehmen.

 

 

Schon am Folgetag begann Tobias seinen Plan in die Tat umzusetzen. Zunächst musste er sein Arbeitstempo erheblich steigern. Das bedeutete, dass er pro Seil weniger als eine Minute zur Verfügung hatte. Das zog weitere Einschränkungen nach sich.

Pinkelpausen konnte es demzufolge nur noch im äußersten Notfall geben. Um das zu erreichen, musste er das Trinken drastisch reduzieren. Es versteht sich von selbst, dass dieser Umstand seiner Gesundheit nicht gerade förderlich war. Der Flüssigkeitsmangel barg die Gefahr einer Dehydrierung. Sein Körper wurde erheblich darunter leiden. Aber kein Opfer war ihm zu drastisch um seinem Ziel entgegen zuschreiten, der Erhöhung der Arbeitsnorm. Irgendwann trank er gar nicht mehr während der Arbeitszeit, das erfüllte ihn mit Stolz, dadurch konnte er etwa 20 min an zusätzlicher Zeit herausholen.

Freiwillig hängte er noch mindestens einen Stunde an die Regelarbeitszeit. Schritt er dann am Abend durch das Werkstor kam er sich vor wie ein abgetakeltes Wrack. Die ganze Welt schien sich um ihn zu drehen. Die Umwelt begann vor seinen Augen zu verschwimmen und er glaubte Stimmen zu vernehmen die aus dem Nichts zu ihm sprachen.

Mit letzter Kraft schleppte er sich in seine triste Altbauwohnung. Zu Hause wartete niemand mehr auf ihn, denn seine Frau hatte ihn schon vor langer Zeit verlassen. Was konnte frau auch anstellen, mit einem Typ der sein ganzes Leben nur einem Ziel gewidmet hatte, der Stückzahl, sie allein war seine wirkliche Geliebte.

Es gab nur ein Gesprächsthema, wenn er Feierabend hatte, die Stückzahl. Seine Frau war ebenfalls berufstätig und auch ihr Leben wurde weitgehend vom Akkord bestimmt.

Doch setzte sich bei dieser einestages die Erkenntnis durch, dass das Leben durchaus auch noch andere Vorzüge zu bieten hatte als den täglichen Drang, am Fließband die schnellste zu sein. Ihr schienen die feuchten Händedrücke ihres Chefs nicht annähernd so viel zu bedeuten.

Tobias konnte das nicht nachvollziehen. Wofür lebt ein Mensch denn sonst, wenn nicht dafür dem Chef zu gefallen. Doch er konnte seine Frau nicht dazu bewegen, es ihm gleich zu tun.

Freizeit? Das war ein unbekanntes Wort.  Eine Leere Hülse ohne Inhalt. Freie Zeit war Ruhezeit. Schließlich musste er sich ja erholen um am anderen Morgen wieder fit zu sein. Irgend etwas zu unternehmen in der freien Zeit, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Die entsprechenden Bitten seiner Frau erschienen ihm rätselhaft. Was in aller Welt wollte die von ihm?  Ausgehen, was erleben? Warum? Leben, das tat er in der Fabrik, die Stückzahl war sein Leben. Sie verlieh seiner Existenz eine Daseinsberechtigung.

Früher, als er noch jünger war, da hatte er am Anfang seiner Beziehung noch richtigen Sex. Doch im Laufe der Zeit? Er konnte sich kaum noch etwas darunter vorstellen. Kam er von der Schicht, müde ausgebrannt und abgeschlafft, empfand er es als Zumutung, wenn seine Frau ihr Recht forderte. Auf was für Ideen die kam. Immerhin hatte er seine ganze Kraft und Leistungsfähigkeit in der Fabrik verbraucht, dann verlangte es ihm nur noch nach Ruhe. Und selbst wenn er es versuchte, es gelang ihm gar nicht mehr sich zu konzentrieren. Denn in Gedanken war er längst schon wieder an seiner Maschine. Die Stückzahl verfolgte ihn sogar bis in seine Träume. Konnte man von etwas schönerem Träumen?

Ja, nun saß er hier, einsam und verlassen, ohne Familie, ohne wirkliche Freunde. Geblieben war allein die Stückzahl.

Eine große Hilfe bei der Bewältigung seiner Probleme wurde ihm natürlich das Fernsehen. Knipste er den Apparat ein, fand er was er suchte, Bestätigung. Andächtig lauschte er allabendlich, wie viele Millionen andere Melancholanier auch, den Experten, die sich in ihren Weisheiten zu überbieten suchten. Das sich die Leistung wieder lohnen müsse, das nur den Fleißigen Ruhm und Ehre gegönnt sei und wie widerlich und abartig es sein musste sich nicht mehr beteiligen zu können an der alltäglichen  Kraftanstrengung.

Tobias ließ sich immer wieder zu neuen Leistungen anspornen. Doch auch das Gewissen meldetet sich beständig zu Wort. Es hatte den Anschein, als leiste er noch immer nicht genug. Ja was in aller Welt sollte er denn noch tun? Ständig unzufrieden! Er konnte noch mehr aus sich herausholen. Er würde seine Ausdauer schon unter Beweis stellen. Er war der Beste, er würde sie alle an die Wand arbeiten. Niemand konnte ihm das Wasser reichen.

 

Die Tage plätscherten dahin, eintönig-gleichförmig, wie ein langsam austrocknender Bach. Es geschah nichts was auch nur einer kleinen Erwähnung wert wäre. Gäbe es da nicht zufällig einen Kalender an der Wand, dessen Umfang  sich täglich um ein Blatt Papier verringerte, man konnte geneigt sein, die Zeit sei zum Stillstand gekommen.

Tobias steigerte seine Leistung tatsächlich jeden Tag um je einen Strick. Inzwischen war er bei 410 angelangt und nichts schien diesem Triumph zu gefährden. Mit einer Mischung aus Neid und Ehrfurcht blickten die Kollegen zu ihm herüber, so glaubte er zumindest. In Wirklichkeit interessierte das was er täglich produzierte schon lange keinen mehr.

Doch dann kam der Tag der sein Leben vollständig aus der Bahn warf. Ein Ereignis so unverhofft, so dominierend, das es fast an Worten fehlt um auszudrücken was Tobias empfand.

Eines Morgens erschien ein neuer Kollege. Der benutzte die vierte Laufbahn, zu Tobias Rechten, die schon seit langer Zeit ihrer Benutzung verlustig gegangen war.

Im Grunde ein ganz normaler Vorgang ohne Belang, kaum der Rede wert. Tobias achtete ja ohnehin schon lange nicht mehr auf das was sich um ihn herum abspielte. Es wäre ihm ein leichtes gewesen auch den neuen Kollegen vollständig zu ignorieren. Doch bei dem hier schien das auf eine drastische Art und Weise nicht zu funktionieren.

Dirk war ein muskelbepackter Glatzkopf, gesund, durchtrainiert und etwa 10 Jahre jünger als Tobias. So eine Art Frohnatur, die so leicht nichts aus der Fassung bringen mochte, ständig zu irgend welchen Scherzen aufgelegt. Der schien überhaupt keine Berührungsängste zu kennen. Schon am ersten Tag riss er einen Witz nach dem anderen.   

Das klang etwa so:

„Eij Leute wisst ihr eigentlich was der Unterschied zwischen einem Motorrad und einem Nachttopf ist?“

„Nee, aber du wirst es uns sicher gleich sagen!“ Gab Leander zu verstehen.

„Es gibt keinen! Auf beide musst du dich draufsetzen und Gas geben! Ehähähähä!“

Allgemeines Gelächter war die Antwort.

Das setzte sich dann über den gesamten Tag weiter fort. Es stellte sich bald heraus, das Dirk scheinbar großen Gefallen gefunden hatte an den Worten die mit sch… begannen. Seine ganzen Witze drehten sich um dieses Thema.

„Also, sitzen zwei Bayern in einen Zugabtei zusammen. Sagt der eine zum anderen: > Seeeh, hams in die Hos`n gschissen?<

>Jo, warum?<

>Jo und da sitzen`s noch hirr?<

<Jo i bin doch noch gor net fertig<

Ehähähähähä!“

Auch hierbei gab es ein Lachkonzert. Es schien als übertrug er seine Heiterkeit auf die Kollegen. Es tat den anderen gut. Das verhalf dem tristen Alltag für eine kurze Zeit zu einem farbigen Anstrich.

Die folgenden Tage setzte sich das ununterbrochen fort. Niemand konnte in Erfahrung bringen woher Dirk all diese Sprüche bezog.

Bald schon machte sich bei den Zuhörern eine allgemeine Ermüdungserscheinung bemerkbar. Stück für Stück wich die anfängliche Heiterkeit der Langeweile.

Wie viel Humor erträgt ein Mensch pro Tag, vor allem dann, wenn dieser Humor sich auf so penetrante Weise aufdrängt und sich nicht danach erkundigt, ob er überhaupt willkommen ist.

Doch während Leander und Rudolf der ganzen Tortur noch mit Gelassenheit begegneten, in der Hoffnung, dass sich das Reservoir an Fäkalwitzen bald erschöpft habe, litt Tobias wie ein Hund. Überhaupt, das ganze Erscheinungsbild das Dirk auf ihn ausstrahlte, empfand er als bedrohlich. Doch was das Schlimmste von allem war. Dirk schaffte dabei seine Arbeit und zwar so perfekt, dass er keine Miene dabei verzog. Die einzelnen Arbeitsvorgänge gingen ihm mit einer Leichtigkeit von der Hand, die Tobias so noch nie zu Gesicht bekommen hatte.

Jeder Arbeitsschritt saß. 400 Seile waren schnell gefertigt. Es blieb ihm noch genügend Zeit um seinen Arbeitsplatz zu säubern und um aufzuräumen. Der hätte mit Leichtigkeit auch noch gut und gerne 20 Seile mehr hochlegen können.

Tobias wurde immer hektischer und nervöser. Ständig fiel ihm der Leierkopf zu Boden und beim zusammendrehen riss der fast fertige Strick am vorderen Laufrad weg. Die Folge, seine Arbeitsleistung nahm rapide ab. 415 waren sein bisheriges Bestergebnis, nun viel er auf 407 zurück und von Tag zu Tag wurden es noch weniger. Hier bahnte sich eine Katastrophe an.

Und dann noch die Witze, diese elenden, schäbigen Witze. Es war nicht mehr zu ertragen.

Tobias arbeitete sich Seil um Seil auf den Wahnsinn zu.

„Eij Leute, kennt ihr den schon: Ein Russe sitzt auf dem Roten Platz in Moskau, vor sich einen großen Bottich prall voll gefüllt mit Scheiße. Mit einem großen Quirl rührt er in der Scheiße. Über ein kleines Rinnsaal wird Wasser in den Bottich geleitet.

Kommt plötzlich ein Amerikaner über den Platz gelaufen und fragt:> Heh Kamerad, was machs du da eigentlich?<

Sagt der Russe: > Ich machen Sozialismus!<

Fragt der Amerikaner: > Wieso? Ich denke ihr seit jetzt wieder dabei den Kapitalismus zu machen?<

Sagt der Russe: > Ach so! Richtig! Wasser halt!< Ehähähähähä!“

Dirk nahm einen kräftigen Schluck Mineralwasser, legte seinen Kopf in den Nacken und rülpste volle Pulle in Richtung Decke.

Diesmal wollte keine so rechte Heiterkeit aufkommen, denn die Pointe konnte sich erst nach und nach erschließen.

Dirk wollte gerade zur Aufklärung ansetzen ,als Tobias plötzlich ausflippte.

„Es reicht! Ich habe genug! Diese dämlichen Witze! Ich kann sie nicht mehr hören! Die kommen mir aus den Ohren! Seit Tagen schon hören wir nichts anderes Als Scheiße, Pisse, Kotze. Ständig nur rülpsen und furzen. Mir wird übel, mir wird speiübel. Hast du denn gar nichts anderes auf Lager?“

„Ja aber schon der Dr. Martin Luther sagte dereinst zu seinen Gästen: Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat euch das Mal nicht geschmacket?“ Konterte Dirk wie immer schlagfertig.

Das aber brachte Tobias nun vollends auf die Palme.

„Aufhören! Genug! Ich will nicht mehr! Behalte deine Klugscheißerei für dich!“

„Ei ei, jetzt hast du aber selber das Wort Scheiße in den Mund genommen!“ Stellte Dirk nun mit Genugtuung fest und grinste dabei über das ganze Gesicht.

„Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr! Ich mache das nicht mehr mit! Dieses dämliche Grinsen, wie ein Honigkuchenpferd. Ich werde verrückt, ich werde waaaaahhhnsinnig!“

Tobias packte seinen Leierkopf und schleuderte diesen mit voller Wucht gegen das geschlossenen Fenster, so dass deren Scheibe mit einem heftigen Geklirr in tausend Scherben zerbarst. Dann hüpfte er wie ein Rumpelstilzchen auf seiner Laufbahn herum, bis er schließlich mit blutrotem Kopf und Schaum vor dem Mund nach draußen ließ.

„Was`n mit dem los? Hat der jetzt den Verstand verloren?“ Entsetzte sich Rudolf.

„Ich könnte mir vorstellen, dass ihm die viele Scheiße in den Magen gefahren ist. Dirk, ist es wirklich nötig?  Ich muss schon sagen. Was zu viel ist ,ist zu viel. Ist es denn nicht möglich das du dich mal ne Zeit zurückhältst mit deinen derben Witzen?“ gab Leander zu verstehen.

„Schuldigung!“ Man, ich konnte ja nicht wissen das der so zart besaitet ist. Wollte doch nur mal en Spaß machen!“ Entgegnete der angesprochene.

„Na das ist dir auch gelungen! Volle Kanne!“ Meinte Leander.

 

Tobias hatte es in der Zwischenzeit bis auf die Toilette geschafft. Dort öffnete er das Fenster um nach Luft zu schnappen. Vor seinen Augen tanzten kunterbunte Lichtblitze. Und es rauschte bedrohlich in den Ohren. Langsam, nur ganz langsam setze sein Bewusstsein wieder ein und er erinnerte sich seines Auftrittes.

Voller Entsetzen nahm er zur Kenntnis, dass ihm diese Szene wertvolle Zeit gekostet hatte. Wie viele Seile hätte er wohl in dieser unproduktiven Zeit fertigen können?

Und was die Fensterscheibe betraf. Es verstand sich von selbst, dass er die ersetzen musste. Das machte bestimmt einen Tagesverdienst aus, wenn nicht noch mehr.

Einem Nervenzusammenbruch gerade noch mal entronnen, begab er sich langsam an seinen Arbeitsplatz zurück. Das Herz flatterte ihm und im Kopf hämmerte es beträchtlich. Wie ein Geist schlich er wieder auf seine Laufbahn.

„Na wieder da?“ Höhnte Dirk.

Wieder stieg die Wut in ihm hoch. Doch er schluckte den Klos hinunter und  versuchte mit seiner Arbeit zu fortzufahren. Doch er fand seinen Leierkopf nicht. Es dämmerte ihm. Der war mit Sicherheit unten auf dem Hof gelandet.

„Suchst`dnn Leierkopf? Der liegt unten auf`m Hof. Oder haste gedacht wie holen den für dich wieder hoch?“ Stachelte Dirk weiter.

Unverzüglich rannte Tobias auf den Hof und begann sein wichtigstes Handwerkszeug zu suchen. Doch der wollte sich nicht finden lassen. Panik bemächtigte sich seiner.

„Ehä, ehähähähähä!“ Hörte er Dirk von oben aus dem zersplitterten Fenster lachen. Das schob den Stachel noch tiefer in sein Herz.

„Dirk? Meinst du nicht, das es für heute genug ist?“ Wollte Leander wissen. „Ich denke, du hast genug gestänkert. Lass Tobias einfach in Ruhe, wenn er wieder oben ist. Ich hab den so noch nie erlebt, seit ich in dieser Abteilung arbeite. Irgend wann brennt scheinbar bei jedem mal die Sicherung durch. Aber man sollte wissen wann es genug ist.“

„Aber der Typ ist doch echt irre. Der gehört, wenn du mich fragst in die Geschlossene. So was sollte man nicht auf die Menschheit loslassen.“ Glaubte Dirk zu wissen.

„Mag sein! Aber ich denke, es ist trotzdem genug für heute. Versuche doch wenigstens dich ein wenig zusammenzureißen.“ Schlug Leander vor.

„Gut, ok! Meinetwegen. Ich versuche das Maul zu halten, obwohl ich nicht hunderpro versichern kann ob mir das gelingt.“ Versprach Dirk zähneknirschend.

Unterdessen hatte Tobias seine Suche nach dem verschwundenen Leierkopf erfolgreich beendet. Beim Aufheben des Corpus delikti spürte er einen stechenden Schmerz in der Hüftgegend. Woran lag das? An der Aufregung? Oder hatte das längerfristige Ursachen? Er vermochte es nicht zu deuten.

Auf jeden Fall war ihm dadurch wieder wertvolle Zeit durch die Lappen gegangen.

Wortlos betrat er seine Laufbahn und machte sich unverzüglich daran seiner Arbeit nach zu gehen. Er musste sich nun mächtig ins Zeug legen um den Verlust auszugleichen.

Dirk hielt wie versprochen seinen Mund, obgleich es ihm schwer fiel. Nur den erneuten Rülpser konnte er nicht an sich halten.

Dafür  schaltete sich Rudolf ein, der sich eine Pinkelpause gegönnt hatte und den vorherigen Dialog zwischen Leander und Dirk nicht mitbekommen hatte.

„Sag mal Tobias, was soll denn nun eigentlich aus den Scherben werden? Willst du die da rumliegen lassen? Soll sich am Ende noch einer in die Hand schneiden? Vor allem, wenn wir nachher den Raum fegen, dürfte das sehr gefährlich werden. Oder erwartest du, das wir deinen Dreck weg machen?“

Mit zitterigen Händen nahm Tobias das Gesagte zur Kenntnis und musst sich eingestehen, dass Rudolf die Wahrheit sprach. Es lag an ihm die Scherben zu entsorgen.

Gerade einmal zwei Seile konnte er drehen, schon wieder musste er seine Arbeit unterbrechen.

Nein, heute würde er die Norm mit Sicherheit nicht mehr erreichen.

Ein Vorstellung so grausam, so entsetzlich, das er gar nicht wagte an die Folgen zu denken.

Im Hals spürte er den Klos, den er kaum noch nach unten würgen konnte. In der Herzgegend einen stechenden Schmerz und die Hände verkrampften sich. Aber trotzdem schritt er zur Tür um sich mit Handfeger und Kehrschaufel zu bewaffnen.

Einen Teil bekam er auf das Kehrblech, aber natürlich nicht alles. Dann blickte er im Raum und hielt Ausschau nach einer Möglichkeit die Scherben zu deponieren.

„Du willst aber doch nicht im ernst die Scherben zu dem Juteabfall schütten. Bring das gefälligst runter auf den Hof, da wo der Glasbruch gelagert wird.“ Rief ihm Rudolf entgegen.

Mit dem Kehrblech in der Hand begab sich Tobias erneut auf den Hof, die Tonnen mit dem Glasabfall ließen sich lange nicht finden. Endlich! Weg mit dem Zeug, aber das war noch lange nicht alles. Wie viele Male würde er noch laufen müssen.

Oben angekommen setzte er sein Werk fort.

„Sag mal Tobias; warum besorgst du dir denn keinen Eimer? Da schüttest du alles rein und bringst den gesamten Inhalt nach unten. Oder willst du noch drei vier mal mit der Kehrschaufel nach unten rennen? Also mich geht`s ja nichts an, aber ich denke, so wirst du deine Stückzahl heute kaum noch erreichen:“ Neckte Rudolf weiter.

Jetzt war es raus. Die Achillesferse getroffen. Die heilige Stückzahl, sein ein und alles, einfach in den Schmutz getreten. Schweißperlen bildeten sich auf Tobias Stirn. Wie konnte ein Mensch nur so grausam sein. Es schnürte ihm die Kehle zu, die Luft drohte auszubleiben.

Verzweifelt suchte er nach einem Eimer, der sich aber nicht finden lies. Wutschnaubend rannte Tobias nach draußen.

„Ich glaube jetzt dreht er endgültig durch!“ meinte Rudolf.

„Leute, ich sage es noch mal! Es reicht! Lasst ihn doch einfach in Ruhe!“ Gebot Leander streng.

„Wieso, ich hab doch gar nichts gesagt!“ Beschwerte sich Dirk.

„Dich meine ich ja auch gar nicht! Rudolf, lass ihn einfach, wenn er wieder zurückkommt. Ich denke, es ist schon genug zu Bruch gegangen heute.“

„Drum eben! Drum eben! Ich meine doch nur, der hätte die Scherben einfach liegen lassen und einer von uns hätte sich womöglich noch verletzt daran.“ Hielt ihm Rudolf entgegen.

„Er ist ja im Begriff aufzuräumen. Also, Ruhe jetzt, verdammt noch mal! Alle beide!“

Keiner wagte jetzt noch zu widersprechen.

Wie ein gehetztes Tier kehrte Tobias in die Werkstatt zurück, er hat doch tatsächlich einen Eimer gefunden.

Nun begann er die Scherben in den Eimer zu füllen, so dass es jedes Mal heftig klirrte. Das rief den Vorarbeiter auf den Plan. Kurt, von allen nur Kurti gerufen, betrat den Raum und hielt sich die Hände vors Gesicht.

„Was ist denn hier los? Wer hat denn das Fenster zertrümmert? Ihr seit wohl alle durchgeknallt?“

„Wir? Was heißt hier wir? Der wars! Oder was glaubst du warum der die Scherben aufließt?“ Beschwerte sich Dirk.

„Wie in aller Welt ist das denn passiert? Ich meine, eine Scheibe geht doch nicht einfach so zu Bruch, oder?“ Wollte Kurti wissen.

„Iss mir was dagegen gefallen!“ Stammelte Tobias verlegen vor sich hin.

„Dagegen gefallen? Hm! Naja, wird wohl so sein. Du weißt was das bedeutet. Wer was zerdeppert, muss für den entstandenen Schaden aufkommen. Na da kannst du aber froh sein das wir September haben und es noch warm ist.  Stell dir vor es wäre kalter Januar. Dann prost Neujahr. Muss ich gleich morgen jemand schicken. Zum Glück haben wir einen Glaser im Haus. Aber die Splitter im Fensterkreuz die machst du gefälligst selber raus“ wies ihn Kurti an. Wortlos setzte Tobias seine Tätigkeit fort.

Nur so schnell wie möglich fertig werden. Damit dieser Horror ein Ende fand.

Fast geschafft nur noch einen kleinen Splitter entfernen, dann merkte er den Schmerz. Geschnitten, direkt in den Zeigefinger, so dass das Blut floss.

Nach einem kurzen Schock, die bittere Erkenntnis. Mit einem verletzte Zeigefinger, konnte er  keinen Strick mehr drehen. Oder, wenn dann nur unter ganz großen Schwierigkeiten und  Schmerzen.

„Ätsch! Geschnitten! Ungeschicktes Fleisch muss weg! Spottete Dirk nun wieder, während Tobias den schmerzenden Finger im Mund verstaute.

Nein, heute blieb ihm wahrlich nichts erspart.

„Ha..ha.. hastdu mal nen Pflaster?“ stotterte Tobias  zu Leander. Der öffnete auch sogleich den Verbandskasten und kramte nach einem geeigneten Verband. Denn ein Pflaster allein reichte nicht aus. Schließlich hatte der in Erster Hilfe bewanderte einen fachmännischen Verband um den Finger angelegt.

„Ja aber, wie in aller Welt soll ich denn damit meine Seile drehen?“ Hilflosigkeit bemächtigte sich seiner.

„Das ist nun wirklich nicht mein Problem! Ich denke du gehst zu Kurti und sagst ihm dass du dich verletzt hast. Natürlich kannst du damit nicht seilern. Da machst du eben heute was anderes. Transportarbeiten oder so! Aber sagen musst du es.“ Schlug Leander vor.

„Kommt…Kommt nicht in Frage! Ich muss auf meine Zahl kommen. Das…das geht doch nicht. Ich muss es einfach versuchen!“ Widersprach Tobias energisch.

„Ach mach doch was du willst! Ich habe es nur gut gemeint.“ Bog Leander ab, nachdem ihm aufging wie sinnlos es war mit Tobias darüber zu streiten.

Der versuchte verzweifelt seine Seile zu drehen, selbstverständlich gelang es ihm nicht. Eins nach dem andern missglückte. Die Panik überwältigte ihn von Augenblick zu Augenblick mehr. Schnell hatte sich der Abfallsack gefüllt.

„Also es geht mich zwar nichts an. Aber meinst du wirklich, Das du so weiter machen kannst.

Du produzierst mit dem lädierten Finger nur noch Ausschuss. Ich glaube nicht das Kurti davon begeistert ist:“ Glaubte Rudolf ihm unter die Nase reiben zu müssen.

„Halt die Schnauze! Haaaaalt die Schnauze! Lass mich in Ruhe!  Du Blödmann, du absolute Null! Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren.“ Polterte Tobias überlaut.

Rudolf war im Begriff auf ihn loszugehen. Doch Leander hielt ihn auf.

Dann packte er Tobias kurz entschlossen am Ärmel und zog in auf den Flur.

„So jetzt reicht es. Ich habe die Nase voll, mit euch allen. Wir gehen jetzt zu Kurti. Der soll entscheiden. So geht das jedenfalls nicht mehr weiter heute.“

„Nein, ich will nicht! Lass mich Ruhe! Lass mich in Ruheeeee!“ Tobias begann um sich zu schlagen. Doch Leander entwand sich und mit einem geschickten Griff hatte er ihn im Schwitzkasten, schleifte ihn im Anschluss direkt zum Vorarbeiter.

„Was ist denn mit euch los? Seit ihr denn jetzt vollkommen übergeschnappt?“ Wollte Kurti wissen.

„Alles in Ordnung!“ Versuchte Leander der angespannten Situation die Schärfe zu nehmen.

„Sieh her Tobias hat sich verletzt! Jetzt kann er natürlich nicht mehr seilern. Aber er hat es versucht, was ihm natürlich nicht gelang. Entscheide du was er tun soll für den Rest des Tages:“

„Klar, wenn ihr nicht mehr weiter wisst, dann muss der alte Kurti ran. Man bist du ein ungeschickter Kerl. Na gut bleib hier. Setzt dich dahin. Wir werden den Tag schon über die Runden bringen. Ach ja, hier du kannst die Karabinerhaken sortieren, sind unterschiedliche Größen, da haste erst mal ne Weile Beschäftigung.“

Leander verabschiedete sich um seiner Arbeit wieder nachzukommen. Nun musste auch er sich mächtig ins Zeug legen um seine Stückzahl noch zu erreichen. Jeder dachten hier nur an sich.  Wie es ihm dabei erging ,danach fragte keiner.

Äußerst unwillig begann Tobias mit der ungeliebten Arbeit. Den Blick dabei immer auf die nun kurzzeitig verwaiste Laufbahn im Nachbarraum gerichtet, die er von hier aus sehen konnte. Nein, ihm so etwas anzutun. Was war nur geschehen? Er war dem Nervenzusammenbruch gerade noch einmal entkommen. Aber wie würde es weitergehen?

Immer wieder bettelte er Kurti an, ihn doch wieder auf die Bahn zu lassen. Er würde es trotz des schmerzenden Finger doch noch schaffen. Doch lehnte dieser stets mit Nachdruck ab.

Es half nichts, er musste den Tag auf diese Art fortführen und schließlich beenden.

Keine Überstunden heute. Ein pünktlicher Feierabend, das hatte Seltenheitswert. Dem hatte ihm der verletzte Finger eingebracht.

„Also kein Akkord heute, ich schreibe dir Durchschnitt auf, Stundenlohn zu den üblichen Konditionen.“ Bot Kurti an.

„Aber, wa..wa..was…wird denn a…a..a…aus den Sei….len vo.. vo  vo.. vom frühen Vo..Vormittag!“ Stotterte Tobias.

„Na hab dich doch nicht so. Sind ja gar nicht viele, die wirst du doch verschmerzen können. Man bist du penibel. So was iss mir ja noch nie untergekommen.“ Wies Kurti das Ansinnen schroff zurück.

Tobias wollte protestieren, doch nun bekam er kein Wort mehr heraus. Offensichtlich büßte er die Fähigkeit der Sprache jetzt vollständig ein.

Wie ein geprügelter Hund verlies er den Betrieb und begab sich schnurstracks nach hause, die hämischen Blick der Kollegen ignorierend. Die Nachricht über seinen Ausraster hatte sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Firma verbreitet.

Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, so früh zu Hause, er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er die viele Zeit totschlagen sollte.

Seine Gedanken galten allein der Sorge um den morgigen Tag. Wäre er imstande seiner gewohnten Tätigkeit nachzukommen?

Er fand keinen Frieden. Vor allem die Nacht wurde zu einer Tortur von gigantischem Ausmaß.

Der schmerzende Finger, das Stechen in der Herzgegend, das Hämmern im Kopf, die Atemnot, es war einfach nur grauenhaft. An Schlaf nicht zu denken. Wie in aller Welt sollte er seine Kräfte regenerieren, um am Morgen wieder leistungsfähig zu sein? Er fand keine Antwort. Wälze sich nur unruhig von einer Seite auf die andere.

Da plötzlich kamen sie wieder, die Stimmen aus der Dunkelheit. „Ehä…ehähähähä!“ Glaubte er nun Dirks aufdringliche Lache zu vernehmen. Angstvoll zog er die Decke über den Kopf, ein heftiger Schweißausbruch folgte. Das beklemmende Gefühl in der Herzgegend nahm bedrohliche Formen an. „Ehä..ehähgähähähä!“ Es hörte nicht auf. War es nun soweit? Stand der Wahnsinn bereit, sein fürchterliches Werk zu vollenden? Er hielt sich beide Ohren zu. „Ehä…ehähähähähgähähähä!“ Wirkungslos! Die Stimme kam aus seinem Inneren. Er schlug die Decke zurück. Eine regelrechte Lache an Schweiß hatte sich auf dem Kopfkissen gebildet.

Er hörte Schritte, erst ganz leise, dann immer lauter immer deutlicher. Schritte auf der Zudecke. Da kamen Gestalten auf ihn zu, kleine Zwerge tanzten auf seinem Bauch ihm dabei hämisch zugrinsend. Voller Panik schloss er die Augen. Doch er sah sie auch dann noch.  Einer von ihnen hatte Dirks Aussehen. „Ehä…ehähähähähähähä!“ Er warf die Decke zurück und ließ sich in panischer Angst auf den Boden gleiten. Dann flüchtete er wie von der Tarantel gestochen in das Badezimmer, die Tür hinter sich abschließend. Den Kopf unter den Wasserhahn. Die kalte Dusche erfrischte. Hatte sie aber auch die bösen Geister vertrieben? Der Blick in den Spiegel, die Augen blutrot, das Gesicht kreidebleich. Der Blick auf den Finger, Blut drang durch den Verband. Damit konnte er unmöglich arbeiten morgen, seine Stückzahl nicht erreichen. Angst, Panik, Hilflosigkeit, das Gefühl ausgeliefert zu sein, ohne Aussicht sich dem zu entziehen.

Dann in die Küche. Eine halbe Flasche Schnaps stand dort auf dem Küchentisch. Er griff nach ihr und leerte sie in einem Zug. Es würgte und schüttelte ihn. Im Hintergrund hörte er es wieder. „Ehä…ehähähähähähä!“ Ab ins Schlafzimmer unter die Decke. Der Alkohol begann seine Wirkung zu entfalten. Bald fiel er einen unruhigen Schlaf.

 

Nur unter Aufbietung der allerletzten Kraftreserven vermochte es Tobias am frühen Morgen seine Arbeitsstätte zu ereichen.

Er kam genau anderthalb Minuten zu spät. Der Pförtner veranstaltete ein fürchterliches Theater. Und das ihm, ihm dem Supervorbild, von dem sich noch wenige Tagen  zuvor alle anderen eine möglichst große Scheiben abschneiden sollten. Für dieses schwere Vergehen konnte es nur eine strenge Abmahnung geben.

„Ja, du kannst gerne einen Tag Urlaub nehmen. Ich habe strenge Anweisung von Egbert keinen zu spät kommenden durch das Tor zu lassen!“ Meinte der Pförtner, sich dabei wie ein Auerhahn aufplusternd.

Tobias war nicht imstande etwas zu erwidern, stimmte bereitwillig zu und trat wie ein begossener Pudel seinen Heimweg an. Einen ganzen Tag frei? Was sollte er nur damit anfangen?  Es versprach ein schöner Tag zu werden. Spätsommer, Altweibersommer, eine der sinnlichsten Jahreszeiten. Angenehme Wärme streichelte seine Haut. Langsamen Schrittes durchstreifte er den Park. Vogelgezwitscher, Kinderlachen schwappte zu ihm, während er sich auf einer Bank niederließ. Doch er bekam von all den vielen positiven Eindrücken nicht das Geringste mit. In Gedanken weilte er nur bei seiner Geliebten, der Stückzahl. Einen ganzen Tag war er dazu verdonnert ihr untreu zu sein, ihr, der sein ganzes Tun und Trachten galt.

Wie konnten die nur so grausam sein. Anderthalb Minuten, wie schnell hätte er die wieder aufgeholt. Andererseits, mit dem schmerzenden Finger, kein leichtes Unterfangen.

Apathisch starrte er nur so vor sich hin, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Bitte, bitte, lass die Zeit ganz schnell vergehen, hörte er sich inständig flehen.

Der schöne Tag verstrich ohne dass er sich seiner bewusst wurde.

 

Die folgende Nacht schlief er besser. Dafür wurde er von Alpträumen geradezu umzingelt.

Er sah sich durch die Fabrikhallen hetzen. Er versuchte seinen Arbeitsplatz zu erreichen, doch er schaffte es nicht. Es schien ,als sinke er mit jeden Schritt tiefer in den Boden ein . Auf allen vieren gelangte er zu seiner Maschine. Zog sich mit letzter Kraft an einem Tisch hoch. Doch wieder schien ihn etwas davon abzuhalten sein Werk zu beginnen.

Da, in der Ecke bemerkte er eine graue Gestalt. Mit finsteren Augen blickte sie zu ihm herüber.

„Wer, wer bist du? Stammelte Tobias.

„Dein böser Engel!“

„Was, was willst du von mir?“

„Du hast mich verlassen, du bist mir untreu geworden, das kann ich nicht zulassen!“

„Was habe ich versäumt? Sage es mir doch! Wie soll ich mich ansonsten bessern?“

„Ich bin die Stückzahl, die du verrietst! Du bist nichts ohne mich! Ich habe dich zu dem gemacht. Ohne mich ist dein Leben sinnlos und leer, bedeutungslos. Ich werde dich jetzt verlassen. Nie wieder wirst du mir dienen, nie wieder in diesem Leben!“

Tobias fiel auf die Knie.

„Nein bitte bleib! Ich tue alles was du willst! Ich arbeite 24 Stunden am Tag, wenn es sein muss, aber bitte verlass mich nicht!“

„Nein, es ist zu spät! Ich gehe, du wirst mir folgen, in den nächsten 24 Stunden!“

Vor sich tat sich ein großes schwarzes Loch auf, das ihm drohte zu verschlingen.

Schweißgebadet erwachte Tobias, das Herz raste wieder und der Kopf schmerzte grausam.

Wie konnte er das alles nur wieder ins rechte Lot rücken.

 

Er hatte sich am Morgen etwa eine Stunde früher als üblich erhoben. In Windeseile ging es zur Fabrik, nur ja nicht wieder zu spät kommen, noch so einen Tag könnte er nicht ertragen.

Am Tor war er der erste. Noch zu. Angespannt wippte er von einem Bein aufs andere. Klopfte und klingelte. Mit verschlafenem Blick schlich der Pförtner auf ihn zu.

„Ja ja schon gut! He, heute so früh, iss doch noch ne halbe Stunde Zeit.“

Tobias achtet nicht auf ihn, sondern hastete wie besessen nach drinnen, ungewöhnliche Ruhe umgab ihn von allen Seiten.

Ein Gutes hatte der unfreiwillige Urlaubstag, dem Finger wurde eine heilsame Pause zuteil. Trotzdem spannte und schmerzte es noch immer, wenn er auffädelte und einlegte, aber immerhin eine halbe Stunde Zeit gewonnen. Er war noch immer zu langsam, viel zu langsam. Höhnisch grinste ihm die Stückzahl aus dem Unterbewussten entgegen.

So lange er alleine war, lief es noch ganz passabel. Als die anderen erschienen und ihre Maschine in Betrieb setzen, war es Schluss mit lustig.

Dirk erschien als letzter. Zunächst der obligatorische Schluck aus der Pulle und der sich anschließende Rülpser zur Decke: „Aaahhhk, oh!“

Dann begann er mit der Arbeit. Noch herrschte Ruhe. Wann würde der erste Witz des Tages folgen. Man konnte nur mutmaßen.

Schließlich war es soweit. Erstaunlicherweise verzichtete Dirk auf seine üblichen  Fäkalwitze, ein kleiner Fortschritt, dafür strotzte das was er jetzt zum Besten gab von grenzenloser Idiotie.

„Hey Leute! Kennt ihr den schon? Sitzen zwei Elefanten auf einem Stacheldrahtzaun. Plötzlich sagt der eine zum anderen: >Sag mal, weißt du eigentlich das morgen Weihnachten ist?< Sagt der andere: > Interessiert mich nicht! Ich gehe sowieso nicht hin!< Ehä ehähähähä!

Es wollte keine rechte Stimmung bei den andern aufkommen.

„Hm gut! Und wo ist die Pointe?“ Wollte Leander wissen.

„Heh, was für ne Pointe! Man, das war ein Idiotenwitz, der braucht keine. Humor ist wenn man trotzdem lacht. Mensch, zwei Elefanten auf nem Stacheldrahtzaun, ist das nicht komisch? Ehä…ehähähähähä!“

Gleich im Anschluss ging es weiter.

„Passt auf! Kommt ein Skelett zum Zahnarzt. Sagt der Zahnarzt: > Also ihre Zähne sind tiptop in Ordnung, aber ihr Zaaaahnfleisch< ehä…ehähähähähä!“

Nun konnten die anderen lachen, aber weniger über den dämlichen Witz, als vielmehr über die Tatsache das Dirk  so herzhaft über seine eigene Witze lachen konnte.

Tobias hingegen war es ganz und gar nicht zum lachen. In der Bauchgegend spürte er die Wut, die sich langsam, Schritt für Schritt an seiner Wirbelsäule emporarbeitete. Immer höher kam sie und bildete einen Klos in seiner Brust.

Wie lange vermochte er sie noch im Zaum zu halten? Keine Ahnung? Lange ließ sich diese aber nicht mehr zähmen.

Dirks blödes Gelache, das waren Spitze Nägel die sich in sein Gehirn bohrten, immer tiefer immer schärfer.

Zu allem Überfluss begann es in seinem Finger wieder kräftig zu hämmern und der erste Strick riss ihm vorne am Schwungrad weg.

Nun wurden Dirks Witze immer idiotischer.

„He, ich hab noch einen: Zwei U-Boote laufen durch einen Wald. Nach einer ganzen Weile sagt das rechte zum linken: > Also weißt du, eigentlich könntest du mich auch mal in der Mitte laufen lassen.< ehä..ehähähähähähä!“

„Also dämlicher geht’s wirklich nicht mehr!“ Gab Rudolf zu verstehen.

„Wieso? Ist doch urkomisch! Zwei U-Boote die durch nen Wald spazieren gehen! Ehä…ehähähähähähä!“

Tobias spürte den Überdrück der sich aufbaute. Es gab kein entrinnen, der musste raus, sonst drohte er daran zu ersticken.

„Ahah…hahahahahah. Ahahhahah! Ach ist das komisch, ist das komisch! Ich lache mich tot, ich laaaache mich tot. Hahahaha. Was für tolle Witze. Es ist zum toooooootlaaaaachen Hahahahah“

Dabei verkrampft sich Tobias so sehr das er für eine Weile steif wie ein Brett wirkte. Dann brach es vollständig aus ihm heraus. Er hüpfte wie vom Veitstanz ergriffen in der Werkstatt herum. Entleerte die Behälter mit Flusenabfall und verteilte sie im ganzen Raum.

Fassungslos starrten die anderen dem sonderbarem Treiben zu.

„Er ist da! Er ist da! Der Waaaahnsinn ist da! Er steckt uns alle an. Elefanten auf Stacheldrahtzäunen, U-Boote die im Wald spazieren gehen. Skelette die zum Zahnarzt gehen.

Er ist da! Er ist daaaaaaa!“

Tobias rannte nach draußen, man konnte sein Schreien, trotz des im ganzen Gebäude herrschenden Lärmpegels hören.

Leander, Rudolf und Dirk folgten ihm, aber es war zu spät ihn einzuholen, was hätten sie auch tun können.

Tobias befand sich nun in der oberen Etage, ein langer Gang an dessen Ende sich ein großes Fenster befand. Jetzt schien es ,als könne er die Engel im Himmel singen hören, warteten sie etwa schon auf ihn?

Er nahm Anlauf und rannte einfach drauf los. Immer schneller immer schneller. Er begann mit den Armen in der Luft zu wirbeln, so als könne er jeden Moment abheben.

„Huuaaah, ich komme! Ich habe Flügel, ich kann fliegeeeeen!“

Mit voller Wucht warf er sich gegen die Fensterscheibe, diese zerbarst im Augenblick und Tobias wurde mit ausgebreiteten Armen in die Luft geschleudert. Es ging etwa 40 min die Tiefe, bevor er am Boden aufschlug, er war auf der Stelle tot.

Seine drei Kollegen waren ihm bis zum Fenster gefolgt und starrten auf den zerschmetterten leblosen Körper.

„Junge, den hat`s aber ordentlich zerlegt!“ Meinte Rudolf.

Mehr hatte keiner zu  sagen. Sie konnten nichts mehr tun, alles Weitere lag nicht in ihrem Ermessen. Sie begaben sich augenblicklich zu ihren Arbeitsplätzen zurück.

Es lag an Egbert ,dem großen Chef, zu entscheiden, was jetzt zu tun sei. Der entschied kurzerhand, die Produktion nicht zu unterbrechen. Man konnte schließlich nicht wegen solch eines durchgeknallten Typen den Produktionskreislauf lahm legen. Tot war tot. Man konnte eh nichts mehr für ihn tun. Sollte es polizeiliche Ermittlungen geben, hätten die auch bis zum Feierabend Zeit. Immerhin war Egbert mit dem Polizeichef persönlich befreundet. Dessen Verständnis konnte er voraussetzen.

Wer die zerbrochene Fensterscheibe ersetzen sollte, konnte im Moment auch noch niemand klären. Tobias hatte hier in der näheren Umgebung keine Angehörigen, die man hätte zur Kasse bitten können. Alles sehr ärgerlich. Was sich die Leute so herausnahmen in letzter Zeit, unerhört. Sich einfach aus dem Fenster stürzen, ohne vorher den Chef um Erlaubnis zu fragen, so etwas wäre noch vor Monaten undenkbar gewesen, glaubte Egbert zu wissen. Das kommt davon, wenn man den einfachgestrickten Geistern zu viele Freiheiten gewährt.

 

Das Leben ging weiter. Schon am Folgetag erinnerte nichts mehr an den peinlichen Vorfall.

Allerdings leerte sich die Handseilerei. Leander hatte die Nase voll. Er konnte oder wollte hier nicht länger arbeiten. Er entschied sich wieder an seine vorherige Arbeitsstelle zurückzukehren, das Band, was ihm auch prompt gewährt wurde. Er würde diesen Tag so schnell nicht vergessen können, tief hatte sich das erlebte in seine Seele gegraben. Es sollte auf seine weitere Entwicklung maßgeblichen Einfluss nehmen. Lange saß ihm noch der Schock in seinen Knochen.

 

Auch Dirk erschien nicht mehr an seinem Arbeitsplatz, aus einem ganz anderem Grund, der hatte den Vogel abgeschossen.

Die Melancholanier waren der Meinung, dass es in ihrem Land zu wenig  Millionäre gab

Die Bevölkerung wünschte sich mehr von der Sorte und um diesem Umstand Abhilfe zu schaffen, wurde schon vor Jahren eine Lotterie ins Leben gerufen. Nun hatten die Bewohner Melancholaniens die Möglichkeit, selbst Millionäre zu erschaffen. Alle paar Wochen wurde dem Millionärsclub ein weiterer hinzugefügt. Tausende und abertausende machten sich Woche für Woche auf den Weg um Lottoscheine zu kaufen. Da kam ein hübsches Sümmchen zusammen. Mit diesen Einnahmen nun konnten sie sich ihren eigenen Millionär kreieren.

Konnte es etwas Schöneres geben? Mit einem kleinen Betrag war man dabei. Am Ende konnte es nur einen geben. Einer machte den Hauptgewinn, die anderen waren eingeladen sich an seinem Glück erfreuen, denn immerhin verdankte der Glückliche seinen Reichtum dem Umstand dass andere für ihn eingezahlt hatten.

Dirk hatte am Tag zuvor am kleinen Zeitungskiosk an der Ecke, auf der gegenüberliegenden Seite des Fabriktores schnell noch einen Lottoschein erworben. Für Zwölfmarkfünfzig. Eher im Vorbeigehen, denn Lotto spielen gehörte eigentlich gar nicht zu seinen angestammten Gewohnheiten.

Am Tag von Tobias Flug in die ewige Freiheit sollte die Auslosung stattfinden, am Abend versteht sich, denn schließlich sollten so viele wie möglich diesem poetischem Schauspiel beiwohnen können.

Auch Dirk klebte an diesem Abend am Bildschirm, in der einen Hand ne Flasche Bier, so wie sich das gehörte.

Mal sehen was sich da drinnen tat. Als die letzte Kugel ihre Bestimmung gefunden hatte, stand der diesmalige Sieger fest. Es war Dirk, er hat sechs richtige plus Superzahl, der Jackpot war geknackt. Der größte in Melancholaniens Geschichte. 53 Millionen Mark und 16 Pfennig.

So eine große Summe wurde in all den Jahren nicht ausgeschüttet.

Dirk hatte es geschafft. Langsam, nur ganz langsam wurde er sich der Tatsache bewusst, was sich da gerade ereignet hatte.

Keinen einzige Strick würde er mehr drehen müssen, nie mehr irgend einer Arbeit nachgehen. Träumte oder wachte er. Nein er träumte nicht, es war ganz real was sich hier auftat. Als Vorarbeiter Kurti am Morgen bei ihm anrief um sich zu erkundigen weshalb er der Arbeit fern geblieben war, erhielt er nur einen einzige Rülpser zur Antwort.

Am Abend konnte man Melancholaniens neuen Supermillionär schon in einer Fernsehshow bewundern. Viel braucht er gar nicht zu sagen, das würden ab sofort ohnehin andere für ihn übernehmen.

Was er nun mit dem vielen Geld tun wolle, lautete die Frage.

„Keine Ahnung! Erst mal ein paar Tage trinken!“ So seine geistreiche Antwort. Daraufhin leerte er das eingeschenkte Glas Sekt in einem Zug um anschließend in die Kamera zu rülpsen. Die Menschen zu Hause an den Bildschirmen quittierten ihm das mit stehenden Ovationen.

 

 Schon wenige Tage später ebbte die Begeisterung erheblich ab und machte einem Katzenjammer Platz. Tausende Melancholanier begannen sich selbst zu bemitleiden. Warum der? Warum nicht ich? Verständlich!

Den Kopf hoch und frohen Mutes weitermachen. Die nächste Auslosung wartete schon.

Leander wollte nicht weiter darüber sinnieren.

Armer Tobias, zwei Tage hätte er noch durchstehen müssen, dann wäre er erlöst gewesen, keine blöden Witze mehr, keine Rülpser mehr. Er hätte den ihm vorbestimmten Weg unangefochten fortsetzen können. Die höchste Stückzahl aller Zeiten, sie war zum greifen nahe. Nun durfte er das nicht mehr erleben.

Was tat er jetzt, drüben auf der Anderen Seite? Gab es dort auch festgelegte Normen? Bestimmt, denn wie sollte er in der Ewigkeit ohne diese leben? Die Stückzahl war sein Schicksal. Für sie hatte er gelebt, für sie war er gestorben.

Ein Held?