Vertrauensfrage

 

Im Eiltempo bewegte sich die anthrazit-metallic-farbene Limousine durch die Straßen der Hauptstadt. Schon in dieser frühen Morgenstunde bestimmte geschäftiges Treiben die Plätze und Straßen Manrovias. Somit musste sich der Chauffeur immer wieder durch beständiges Hupen seinen Weg bahnen. Was in aller Welt konnte von Bedeutung sein, das ihn der Kanzler zu so früher Stunde in die Regierungszentrale beorderte? Diese Frage stellte sich Dr.Helmfried fortwährend, seines Zeichen Führer der loyalen Opposition im Nationalforum, dem nationalen Parlament Melancholaniens.

Treffen zwischen Vertretern der beiden ständig um die Vormachtstellung im Parlament ringenden Volksparteien waren nicht unüblich.Schließlich musste man sich untereinander abstimmen, wenn es um wichtige Gesetzesvorlagen ging. Nach außen mimten sie zwar die unversöhnlichen Gegner, die sich diametral gegenüberstanden doch in Melancholanien gab es kaum noch jemanden der ihnen diesen Unfug abnahm. In ihrer programmatischen Ausrichtung unterschieden sich die beiden Parteien kaum von einander und so verwunderte es nicht, dass die Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl zum Nationalforum auf einen Rekordtiefststand von 25% absackte.

Das Vertrauensverhältnis der Bevölkerung in seine Regierung galt als in erheblichem Maß gestört. Das brachte es mit sich das in den zurückliegenden Monaten immer deutlicher der Ruf nach einer echten Alternative zu vernehmen war.

Eine äußerst unangenehme Angelegenheit für beide etablierten Parteien, ein Grund mehr sich vor der drohenden Gefahr zu wappnen, sich zu verbünden, wenn es erforderlich erschien.

War es etwa schon soweit? Helmfried sah jedenfalls keinen anderen Grund für dieses spontan ein berufene Gespräch.

Als die Karosse vor dem mondänen Portal der Regierungszentrale zum halten kam, verdichtete sich seine Unsicherheit.

Kühl war es an diesem Morgen, typisches Aprilwetter.

Er schlug den Kragen seines Trenchcoats nach oben und hastete durch die Eingangstür ins Foyer. Sein morgendlicher Besuch sollte nicht schon heute Anlass zu wilden Spekulationen geben. Die Presse war ihm bisher stets wohl gesonnen, aber niemand vermochte zu sagen ob  dieser Umstand auch in Zukunft noch gewährleistet werden konnte. Das hing von ganz verschieden Faktoren ab.

Helmfried hatte die angenehme Atmosphäre in diesen heiligen Hallen immer geschätzt.

Wann würde er wohl hier einziehen um sich am Schreibtisch des Kanzlers zu platzieren?  Im Moment sah es nicht danach aus.

Seine Schritte wurden instinktiv vorsichtiger, als er auf den kostbaren weinroten Spannteppich trat. Hatte er auch keinen Schlamm unter den Schuhen? Konnte nicht sein, denn so stark hatte es nicht geregnet. Die blütend- weiße Raufasertapete zierten die Kostbaren handgemalten Porträts der bisherigen Kanzler Melancholaniens, zumindest derer der Neuzeit. Sie schienen ihn gerade zu flehendlich einzuladen endlich seinen Platz bei ihnen einzunehmen.

Die goldenen Lüster an den Decken spendeten angenehm sanftes Licht.

Im Sekretariat wurde er ohne Formalitäten durch gewunken. Verstaute Hut und Mantel fein säuberlich in einem Garderobenschrank und betrat die Kanzlei.

Prof. Canisius, Melancholaniens langjähriger Kanzler saß hinter seinem eleganten Schreibtisch, begrüßte seinen Gast kurz und bündig und ohne überflüssige Floskeln. Es war in beider Interesse so bald als möglich zum Kern der Sache vorzustoßen.

Er war ein grauhaariger ausgesprochen rundlicher Mann fortgeschrittenen Alters, dessen bartloses Gesicht auch dann noch freundlich wirkte wenn er nicht lachte.

 Er sprach ruhig und fixierte mit den dunklen Augen hinter der goldumrandeten Brille sein Gegenüber. Seinen massigen Oberkörper stützt er mit den Ellenbogen auf den Tisch.

„Ich bin hoch erfreut dass sie meiner Einladung so bereitwillig Folge leisten. Nehmen sie doch Platz.“

„Danke! Und wie komme ich zu dieser Ehre einer außerordentlichen Audienz?“

Helmfried ließ sich auf dem Ledersessel gegenüber nieder. Er war eine hagerere Gestalt mit gierigen Wolfsaugen, einem schmalen zusammengekniffenen Mund und einem spitzen Kinn. Seine eisengrauen Haare verrieten deutlich dass auch er die mittleren Jahre bereits überschritten hatte.

„Ich will mich nicht lange bei Nichtigkeiten auf halten. Seit Jahrzehnten, ach was rede ich seit Generationen gestalten unser beider Parteien das politische Leben in diesem Land. Eine in der Regierung, die andere in der loyalen Opposition. In regelmäßigen Abständen wechseln wir einander in diesen Rollen ab. Bisher funktionierte das reibungslos. Ein Zustand der zu einer lebendigen Demokratie gehört, zumindest nach außen, denn die Bevölkerung wurde damit zufrieden gestellt. Auf diese Weise war es uns möglich stets den Eindruck zu vermitteln, das Volk würde tatsächlich bestimmen, haben uns aber in der Zwischenzeit so sehr an diesen Zustand gewöhnt, dass es uns nie in den Sinn gekommen wäre, dass sich daran jemals etwas ändern könnte. Plötzlich jedoch sehen wir uns mit einer ungeahnten Herausforderung konfrontiert.

 Wie ihnen sicher bekannt sein dürfte gibt es in unserem Lande seit geraumer Zeit eine politische Kraft, die bestrebt ist, sich aus der Bedeutungslosigkeit emporzuheben, um sich, unser beider ebenbürtig, im Rampenlicht des politischen Geschehens zu etablieren.“

„Sie meinen damit diese neue Liga, oder wie sie sich auch in der Zwischenzeit nennen mag. Die von Cornelius angeführt wird?“ Hakte Helmfried nach.

„Genau! Von der spreche ich! Sie hat ihren Namen des Öfteren gewechselt. Bisher ging von ihr für unsere beiden Organisationen keine nennenswerte Gefahr aus. Sicher, Cornelius ist ein allzeit anerkannter Wissenschaftler, zumindest war es das einmal, aber ein Politiker ist der nicht. Dafür bringt er sehr wenig Voraussetzung mit. Viel zu geradlinig, viel zu ehrbar. Mit solchen Eigenschaften kann man in der Politik nicht punkten, wie ihnen ja mit Sicherheit bekannt sein dürfte.“ Versuchte Canisius eine Erklärung.

„Ja und? Wenn von ihm keine Gefahr ausgeht, wo liegt dann für uns das Problem?“ Stellte Helmfried mit Verwunderung fest.

„Ganz einfach, weil mir aus sicherer Quelle berichtet wurde, dass sich diese ominöse Liga mit dem Gedanken trägt, bei den nächsten Wahlen keine geringere als Elena zu ihrer Spitzenkandidatin zu küren!“

„Wie? Elena als Spitzenkandidatin? Sollte das zutreffen sitzen wir aber ganz schön in der Tinte.“ Entfuhr es Helmfried.

„Das kann man wohl sagen! Komisch, dass sie und ihre Leute davon noch keinen Wind bekommen haben? Ihr seid doch sonst immer bestens informiert?“ Gab Canisius mit einen Anflug von Schadenfreude zurück.

„Die Opposition verfügt nun mal nicht über so breit gefächerte Informationskanäle wie die jeweils amtierende Regierungspartei. So verwundert es kaum, dass wir da ins Hintertreffen geraten sind.“  

„Na egal! Sollte sich dieses Gerücht bewahrheiten sehen wir jedenfalls bei der nächsten Wahl ganz schön alt aus. Alle beide. Ich gehe davon aus das sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, das uns ein gemeinsames Interesse verbindet, zu verhindern, das es zu dieser Kandidatur kommt!“

„Selbstverständlich stimme ich ihnen zu! Ich kann mir aber nicht vorstellen wie wir das verhindern wollen. Oder haben sie einen diesbezüglichen Plan?“

„Was denken sie denn? Oder was glauben sie hat mich dazu bewogen sie heute hierher zu bestellen?“ Bürstete Canisius sein Gegenüber ab.

„Na dann lassen sie man die Katze aus dem Sack! Ich gespannt was sie in ihrem intriganten

Hinterkopf ausbrüten!“ Forderte Helmfried ungeduldig auf.

„Lassen wir doch die Floskeln, dafür haben wir im Moment keine Zeit. Also Klartext! Ich werde einfach die Flucht nach vorn antreten. Es wird über kurz oder lang vorgezogene Neuwahlen geben. Noch ist diese Liga nicht im ausreichenden Maße organisiert, es fehlen denen einfach die Mittel um entsprechend in der Öffentlichkeit zu agieren. Das ist ein bunt zusammen gewürfelter Haufen von Idealisten jedweder Couleur. Die haben sich längst noch nicht zusammengerauft. Etwas wie ein verbindendes Programm existiert nicht. Und was die Spitzenkandidatur betrifft ist noch lange nicht entschieden ob Elena es tatsächlich übernehmen wird. Sie zögert wohl, wie mir zu Ohren gekommen ist, hat sich Bedenkzeit ausgebeten.

Und genau das müssen wir ausnutzen!“

„Das ist aber ein gefährliches Spiel mit dem Feuer! Der Schuss könnte leicht nach hinten losgehen, fürchte ich.“ Wiegelte Helmfried ab.

„Ich bin mir der Risiken durchaus bewusst! Ich sehe nur keine andere Möglichkeit. Die Wahlperiode läuft in anderthalb Jahren aus. Warten wir solange, haben die ihre internen Streitigkeiten überwunden und sind zu einem absolut ernst zunehmenden Gefahrenpotenzial angewachsen. Wenn sie eine bessere Lösung haben, dann raus damit! Oder was glauben sie warum ich sie hierher bestellt habe?“

„Also bitte! Sie haben mich nicht einbestellt sondern eingeladen, darauf lege ich allergrößten Wert. Das wollen wir von Anfang an klar stellen!“ Empörte sich Helmfried nun.

„Also gut! Meinetwegen! Dann habe ich sie eben eingeladen. Wenn ihnen das besser gefällt!“

„Bedeutend besser! Gut! Dann zur Sache! Also vorgezogene Wahlen. Von meiner Seite habe ich nichts einzuwenden. Ich sehe zwar noch immer ein Risiko, aber sicher haben sie Recht. Es gibt kaum eine Alternative im Moment. Doch ich sehe zunächst ein Problem in der Tatsache, wie es ihnen gelingen sollte überhaupt Neuwahlen zu  provozieren? Ihre Partei hat eine satte Mehrheit im Nationalforum und Skandale haben sie im Moment wohl keine an der Backe, wenn ich mich nicht irre, oder? Also wie wollen sie den Abgeordneten und darüber hinaus der gesamten Bevölkerung die Notwendigkeit von Neuwahlen unterjubeln? Eine Möglichkeit sehe ich. Die einfachste! Sie treten einfach zurück!“ Schlug Helmfried vor.

„Rücktritt? Einfach so? Nein, kommt überhaupt nicht in Frage. Das sehe wie ein Eingeständnis der Unfähigkeit aus. Nein! Wenn nur ich meinen Hut nehme rückt ein anderer aus meiner Fraktion an meine Stelle und alles läuft weiter wie gehabt. Das ist nicht ausreichend.“

„Natürlich! Aber an was haben sie dann gedacht?“

„Ganz einfach! Ich werde im Parlament die Vertrauensfrage stellen mit dem Ziel  diese zu verlieren!“

„Also jetzt komme ich langsam nicht mehr mit! Eine verlorene Vertrauensfrage? Wie soll dass denn gelingen, ich meine, bei den eindeutigen Mehrheitsverhältnissen zugunsten ihrer Partei. Ich würde ihrer Regierung mit dem allergrößten Vergnügen das Misstrauen aussprechen, keine Frage, das ist ja meine Aufgabe in unserer erhabenen repräsentativen Demokratie. Aber ihre eigenen Leute werden wohl kaum vorgezogene Neuwahlen anstreben.

Oder haben sie die etwa nicht mehr im Griff?“

„Ihre Polemik können sie sich getrost sparen! Mir ist auch bewusst, dass meine Leute aus allen Wolken fallen, wenn ich von denen erwarte, dass sie mir ihr Mistrauen aussprechen.

Sie müssen anderweitig überzeugt werden. Und genau hier kommen sie ins Spiel, diese Aufgabe habe ich ihnen zugedacht!“

„Mir? Und wie in aller Welt stellen sie sich das vor?“ Helmfried fiel beinahe aus allen Wolken.

„Indem sie meine Leute auf ihre Seite ziehen! Das heißt natürlich nur so viele, die für ein Votum notwendig sind. Eine Frage der Mathematik, so viele Überläufer um eine knappe Niederlage zu gewährleisten. Sie können ihnen ja ein paar Anreize bieten! Ich hätte nichts dagegen einzuwenden!“

„Na da hört sich doch alles auf! Wissen sie eigentlich was sie da von mir verlangen? Also nein, wenn das rauskommt was wir hier besprechen, also dann kann ich für gar nichts garantieren. Das tut einfach die Moral unserer Demokratie untergraben.“ Verbat sich Helmfried solcherlei Vorschläge.

„Ach tun sie doch nicht so scheinheilig! Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes Glauben machen, dass sie noch auf diese Art von Demokratie setzen? Die ist lange schon am Ende, besteht doch nur noch auf dem Papier. Den Schein nach außen wahren, das ist unsere Aufgabe. Aber wir wissen es besser. Denken sie doch mal daran!“ Canisius klappte das Revers seines Jackett nach außen so dass ein Button des Blauen Orden zum Vorschein kam.

„Denen sind wir Loyalität schuldig!  Wir gehören beide jener erhabenen Organisation an. Darauf kommt es an, die halten die Macht in ihren Händen. Das Volk? Was ist das schon?“ Verachtung sprach aus seinen Worten.

„Sch…sch..sch! Seien sie doch still! Natürlich sind wir dem verpflichtet! Ich eben so wie sie. Aber das müssen wir doch nicht gleich an die große Glocke hängen.  Geheimhaltung ist das oberste Gebot unseres Ordens, das scheinen sie vergessen zu haben!“ Mahnte Helmfried sich dabei unsicher umblickend.

„Keine Sorge, wir werden nicht abgehört. Der Staatsschutz ist für uns nicht zuständig. Sie brauchen mich nicht über die Geheimhaltung zu belehren. Die ist uns allem heilig.“

Canisius griff in ein kleines goldenes Kästchen, entnahm eine dicke Zigarre und zündete diese an. Den Qualm pustete er in Richtung Decke.

„Ach, wie unhöflich von mir! Wollen sie auch eine?“

„Nein Danke! Nichtraucher!“

Ach so, ja! Ich hoffe, der Rauch stört nicht?“

„Keineswegs! Fahren sie fort mit ihren Vorschlägen!“

„Also gut! Es steht nicht gut in unserem Land. Krisen über Krisen, Rezession, Finanzcrash, steigende Arbeitslosenzahlen, Inflation, etc etc. In der sonst so lammfrommen Bevölkerung macht sich Unmut breit. Das ist neu. Vor allem seit Elena die Rolle der Volkstribunin übernommen hat. Es liegt an uns dieser Entwicklung etwas Fundiertes entgegen zu setzen. Die Uhren zeigen fünf Minuten vor Zwölf. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten noch länger untätig herumzusitzen und die Ahnungslosen zu spielen.“

„Unmut? Hm! Würde ich nicht all zu überbewerten! Den gibt es doch ständig. Ein paar neue Fernsehsender mit den entsprechenden Programmen und die schwenken wieder ganz auf Linie ein. Ein Ablenkungsmanöver, das könnte doch genügen?“

„So einfach ist die Sache diesmal nicht. Elena ist die große Unbekannte in dem Spiel, sie hat das Potenzial zum absoluten Störfaktor. Nein, simple Ablenkungsmanöver helfen nicht mehr. Deren Wirkung würde nach kurzer Zeit verpuffen. Glauben sie mir, vorgezogene Wahlen sind die einzige Lösung. Wir hätten dann wieder Ruhe für vier Jahre und bis zur nächsten Wahl hat sich die Lage stabilisiert. Wir brauchen die Neuwahlen und zwar so bald als möglich.“

Canisius lies keinen Zweifel daran, dass er entschlossen war seinem Vorhaben Taten folgen zu lassen.

„Also gut! Wenn sie unbedingt wollen! Wenn es aber schief geht, wer trägt dann die Verantwortung?  Gut möglich, dass ich dann auf ihrem Stuhl sitze und den ganzen Schlammassel am Hals habe, keine sonderlich erbauliche Vorstellung. Oder sie bleiben, was also wäre gewonnen, außer vier Jahre weiter so? Ich bin mir nicht sicher ob die neue Bewegung bis dahin verschwindet. Dann wäre alles lediglich aufgeschoben.“

„Also ich werde auf gar keinen Fall mehr hier sitzen! Vor einiger Zeit wandte sich eine uns allen wohlbekannte Mineralölgesellschaft an mich mit einem äußerst lukrativen Angebot. Man bietet mir den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden bei denen an. Und ich bin diesem Ansinnen gegenüber sehr aufgeschlossen. Eine herrliche Aussicht, viel weniger arbeiten, dafür um so mehr verdienen. Und mit der Politik habe ich nichts mehr zu tun.“ gestand Canisius. Das gab der ganzen Angelegenheit eine völlig andere Note.

„Ach so! Daher weht der Wind! Sie wollen sich vor der Verantwortung drücken, wollen in die Wirtschaft und das große Geld machen? Hätte ich mir eigentlich denken können. Und ich soll ihnen jetzt dabei helfen hier raus zukommen um im Anschluss den schwarzen Peter zugeschoben zu bekommen? Ich denke nicht dran.“Lehnte Helmfried voller Empörung ab.

„Ach was sie nicht sagen. Sie wollen mir Moral predigen? Denke sie, ich weiß  nichts von ihrer Connection in die Automobilindustrie? Dass pfeifen die Spatzen doch schon lange von den Dächern, dass sie lieber heute als morgen dort einsteigen würden, wenn die denn die Möglichkeit dazu hätten. Die nehmen aber nun mal viel lieber Leute aus der Regierung. Oppositionspolitiker sind weniger gefragt. Tun sie doch nicht so als ob ihnen das entgangen wäre. Ich täte ihnen sogar einen Gefallen, wenn ich den Stuhl hier für sie frei mache. Sie helfen mir und dadurch indirekt auch sich selbst. Regieren sie ein Jahr, danach machen sie es ebenso. Jegliches zu seiner Zeit. Und jetzt bin ich an der Reihe.“

Canisius hielt nicht hinter dem Berg. Der schien es sehr eilig zu haben, seinen neuen Posten anzutreten. Helmfried schwieg verwirrt, der Kanzler hatte ihn an der empfindlichen Stelle getroffen, kehrte er doch bei jeder passenden Gelegenheit den Saubermann heraus, der sich in der Öffentlichkeit fürchterlich über die Selbstbedienungsmentalität der Regierungspartei ereiferte. 

Es führte kein Weg daran vorbei, sie saßen beide im gleichen Boot.

„Na gut! Sie haben mich erwischt! Der Ball gehört ihnen, dann werden wir also überlegen auf welche Weise wir das möglichst sauber auf die Reihe bekommen.“ Gab sich Helmfried geschlagen.

„Sehr gut“ Es ist immer wieder ein beglückender Zustand wenn man sich auf einen kleinen gemeinsamen Nenner einigen kann!“ Lästerte Canisius von oben herab.

„Also dann klären sie mich auf. Welchen Anlass hätten sie um im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, denn irgendeinen müssen wir ja nun mal vorweisen.“ forderte Helmfriede sein Gegenüber energisch auf.

Der erhob sich aus seinem Sessel und schritt zum Fenster, öffnete es und pustete einen Rauschschwaden in die frische Luft.

Draußen vor dem Fenster grünten die Blätter an den Bäumen darauf hoffend bald die wärmende Maisonne einzufangen..

„Genau das ist das Problem! Ich habe bisher keinen Grund finden können. Meine Stellung bei den Superdemokraten ist so fest wie kaum jemals zuvor. Niemand käme auf den Gedanken mich zu stürzen. Die Abgeordneten aus meiner Fraktion stehen geschlossen hinter mir. Die müssten sich dann in Windeseile auf den Weg in ihre Wahlkreise machen um erneut auf die lukrativen vorderen Listenplätze nominiert zu werden. Wir wissen  aus eigener Erfahrung um das Hauen und Stechen bei der Platzreservierung. Ein ganzes Jahr könnten sie noch die vollen Diäten in Anspruch nehmen, ein Jammer vor allem auf Grund der Tatsache, dass wir uns unsere Bezüge erst vor zwei Monaten kräftig erhöht haben. Ich gehe mal davon aus, dass es in ihrer Fraktion auch nicht anders aussieht?“

„Nicht im geringsten! Das, was die Leute dort im Moment am allerwenigsten brauchen können, sind vorzeitige Wahlen. Ich wüsste nicht, mit welchen Argumenten ich die überzeugen sollte. Und da erwarten sie von mir dass ich mich auch noch um ihre Leute kümmere? Alles kaum vermittelbar!“

„Ja, guter Rat ist teuer! Ich meine….Genau! Das ist es!“ Der Kanzler schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, so als sei ihm gerade eine spontane Eingebung zuteil geworden.

„Genau! Die Reaktivierung! Die wird den Stein des Anstoßes geben! Die wird mich und meine gesamte Regierung zu Fall bringen!“ Entfuhr es ihm plötzlich.

„Die Reaktivierung? Sie meinen damit die gerade in die Tat umgesetzte Erhöhung des Renteneintrittsalters?“

„Genau die meine ich! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Kaum ein Tatbestand wurde in den zurückliegenden Jahren in Melancholanien so heftig diskutiert, als die Tatsache, dass wir das Renteneintrittsalter auf 80 Jahre erhöhen wollen. Mir ist zu Ohren gekommen, das auch in meiner Partei und Fraktion darüber gestritten wurde, immerhin geben wir uns ja zuweilen noch so eine Art von sozialem Anstrich, dem wir gerecht werden müssen. Etwas, von dem sich ihre Partei  schon vorzeiten verabschiedet hat. Das aber könnte ich ausnützen und geschickt einsetzen. Ein paar Umfaller könnten hier wie schon wie erwähnt ,ausreichen.“

Der Kanzler lies sich wieder in den Bürostuhl fallen, ein Stöhnen der Erleichterung entrang sich seiner Brust.

„Und sie glauben dass ich meine Leute dazu bewegen kann, ihnen aufgrund dessen das Misstrauen auszusprechen? Sie verkennen dabei völlig die Lage der Dinge. Es war bekanntlich meine Partei, die vor wenigen Jahren den Vorschlag unterbreitete das Renteneintrittsalter auf 85 Jahre zu erhöhen und es war ihre Partei, die diesem Ansinnen die rote Karte präsentierte. Jetzt sollen ausgerechnet wir uns als soziales Gewissen präsentieren und eine Gesetzesvorlage kippen, die deutlich milder ins Gewicht fällt als das von uns erstrebte, das kann unmöglich ihr Ernst sein!“

„Es ist mein voller Ernst! Bedenken sie doch, sie können sich dabei nur profilieren. Sie blocken eine Gesetzesvorlage ab, die in den Augen der Öffentlichkeit als unsozial wahrgenommen wird. Das ebnet ihnen den Weg zur Macht. Wenn sie dann erst mal fest im Sattel sitzen, können sie doch dann die bedeutend unsozialere Variante problemlos durchsetzen. Nach dem allseits bewährten Grundsatz > Was stört mich mein Gequatsche von gestern<  Sie brauchen also das soziale Gewissen nicht lange heraushängen zu lassen, mir ist durchaus bekannt, dass ihnen das nicht liegt. Dabei kann es nur Gewinner geben, ihre Partei, meine und natürlich vor allem die Wirtschaft. Oder wollen sie mir jetzt allen Ernstes einreden, das ihnen die Meinung des Pöbels da draußen am Herzen liegt.“

„Der Pöbel ist mir egal! Wo kommen wir hin wenn wir auch noch auf die Befindlichkeiten der Bevölkerung Rücksicht nehmen müssten. Die Wirtschaft ist es, dir mir Sorgen macht. Die liegen mir beständig in den Ohren mit der Bitte die demokratischen Spielregeln einzudämmen, wenn wir an der Macht sind. Die Demokratie muss sich einfach an die Erfordernisse des Marktes anpassen und nicht umgedreht. Diese Meinung habe ich immer vertreten. Wir benötigen einfach bedeutend mehr an demokratiefreien Zonen in diesem unserem Land. Wir müssen mehr Freiheit wagen.“*

Canisius klatschte in die Hände.

„Bravo! Das gäbe doch eine gute programmatische Rede ihrerseits! Genau so könnte es verlaufen. Reden sie so in der nächsten Plenarsitzung, reißen sie die Leute mit und ich garantiere ihnen, da werden einige aus meiner Fraktion schwach und laufen zu ihnen über, genau die Anzahl die wir benötigen.“

Helmfried fühlte sich als habe gerade einer eine lange verschlossene Tür geöffnet. Der Kanzler hatte ihn soeben auf eine glänzende Idee gebracht. Es kam ihm fast wie eine Art von Erweckungserlebnis vor. Er wäre durchaus imstande  jetzt die Macht zu übernehmen.

Ein rumvoller Aufstieg.  Er könnte in die Geschichte eingehen als der große Visionär und nicht Canisius. Ihm käme der Verdienst zu, das soziale Gewissen endgültig und für immer und ewig aus Melancholanien  verbannt zu haben. Ein neues, ein glorreiches Melancholanien könnte sich erheben und er wäre sein Schöpfer. Ein Melnacholanien das den Vorstellungen der Vertreter des Blauen Ordens entsprach, jener Organisation der er sich auf Gedeih und Verderb verpflichtet fühlte, es aber im Moment noch nicht auszusprechen wagte. Ein Melancholanien in dem allein der Markt das Geschehen diktierte und nur er, kein parlamentarisches Gremium würde diesem dann noch ins Gehege kommen. Der Markt würde quasi zum Heiligtum, dem es galt bereitwillig Opfergaben darzubringen. Und der Markt gebärdete sich als ausgesprochen hungriges Ungetüm, um ihn zu sättigen würde so manche Existenz über die Klinge springen.

„Ich schlage ein! Ich bin einverstanden! Wann gedenken sie denn zu stürzen?“ Wollte Helmfried nun wissen.

„In der nächsten Plenarsitzung werde ich eine Stellungnahme zur Reaktivierungspraxis abgeben. Die Zeit bis dahin werden sie nutzen um mit Vertretern meiner Fraktion in Kontakt zu treten. Es wird zu einem leichten Aufruhr kommen, der sich schon in der Sitzung anbahnt. Ich werde dann feststellen, dass ich den Rückhalt in meiner Fraktion verloren habe.

In einer Pressemitteilung setze ich dann  die Öffentlichkeit davon in Kenntnis , dass ich  gedenke die Vertrauensfrage zu stellen. Infolge dessen könnte mir auf der folgenden Plenarsitzung  dass Vertrauen entzogen werden, woraufhin ich sofort meinen Rücktritt erklären werde, natürlich bleibe ich geschäftsführend im Amt, wie sich das gehört. Sie werden auf der gleichen Sitzung den Empörten spielen und vehement Neuwahlen einfordern, dem ich dann ohne Bedenken meine Zustimmung erteilen werde.“ Schlug Canisius detailgenau vor.

„Einverstanden! So kommen wir ins Geschäft. Damit könnten wir beide unseren Beitrag zur Rettung Melancholaniens beisteuern. Sie kommen raus, können sich ihrer neuen Aufgabe widmen, ich kann ihren Platz einnehmen und dem Land meine Reformvorschläge unterbreiten. Die werden aber weit tiefer ein schneiden als die von ihnen angedachten. Ich werde die Reaktivierung unvermindert weiterführen.“

„Davon gehe ich aus! Etwas anderes wäre der Wirtschaft auch nicht zu vermitteln. Also ich kann mich auf sie verlassen?“

„Hundertprozent!“

„Hervorragend! Ich mache mich sogleich an die Planung unseres Vorhabens.“ Canisius atmete erleichtert durch. Er hatte was er wollte. Nun wäre er bald von einer schweren Bürde befreit, konnte sich den Aufgaben widmen, die seiner entsprachen. Die Politik war in Melancholanien schon lange zum bloßen Sprungbrett in die lukrativen Posten in der Wirtschaft mutiert. Dort wurden die wirklichen Entscheidungen getroffen. Politiker waren Marionetten, die man nach Herzenslust an den Fäden tanzen lassen konnte. Sollte sich Helmfried doch mit den an stehenden Reformen herumplagen, keine leichte Aufgabe. Ihn ging das alles nichts mehr an.

Doch plötzlich überkamen Helmfried Zweifel. Ganz so unangefochten schien seine Position doch noch nicht. Elena war und blieb die große Unbekannte in dem Spiel und mit ihr musste man immer rechnen. Sie konnte ihm seinen sicher geglaubten Sieg noch gründlich vermiesen, es war eben nicht mehr so wie in den guten alten Zeiten.

„Gesetzt den Fall, diese Liga schafft aber trotz alledem den Einzug in das Nationalforum, dann ergeben sich plötzlich ganz neue Mehrheitskonstellationen. Unser erhabenes Zweiparteiensystem könnte aus den Fugen geraten. Möglicherweise wäre keiner von uns imstande allein die Regierung zu bilden. Was dann?“

Ratlosigkeit machte sich in Canisius Gesichtesausdruck bemerkbar. Offensichtlich hatte der  diese Möglichkeit noch gar nicht ins Auge gefasst.  Beider harrte einen Moment in Schweigen.

„Nun ich denke, dann werden wir uns über die Bildung einer Koalition Gedanken machen müssen.  Im Notfall müssen wir zusammenstehen. Das sind wir dem Erbe der melacholanischen Republik schuldig. Da müssen wir Gräben überspringen und wenn es sein muss auch so manche Kröte schlucken.“ Durchbrach Canisius das Schweigen.

„das heißt mit anderen Worten, unsere Parteien sollten gemeinsam regieren?“

„Ja sicher!  Als Große Koalition, oder wie man so was zu nennen pflegt. Oder haben sie einen besseren Vorschlag?“

„ Das könnte bedeuten, dass diese Liga die alleinige Opposition stellt. Damit bekäme die eine parlamentarische  Plattform und könnte sich so bedeutend besser als bisher in Szene setzen. Ihre Sympathiewerte würden womöglich in der Bevölkerung sprunghaft ansteigen!“

„Das ist auch wieder richtig! Schwierig, schwierig! Eine von uns sollte in der Regierung sein, eine immer in der Opposition, so dass wir immer beide Seiten repräsentieren!“ Grübelte Canisius und fuhr sich dabei mit der Hand durch sein ergrautes Haar.

„Dann gibt es keinen anderen Weg als Elena und ihre Chaotentruppe mit ins Boot nehmen! Eine von uns regiert mit ihr, die andere opponiert gegen sie. Wir müssten uns nur abstimmen, wer welchen Part zu welcher Zeit übernehmen soll.“ schlug Helmfried vor und Canisius ärgerte sich der Tatsache, dass dieser Vorschlag nicht von ihm selbst ins Spiel gebracht wurde.

„Ich muss sagen, ein durchaus vernünftiger Vorschlag! Ja, das könnte funktionieren. Wie lautet doch das bekannte Sprichwort: >Wenn du deine Feinde nicht besiegen kannst, dann umarme sie!< Elena in der Regierung mit einem schönen Ministerposten unter ihrem reizvollen Hintern.  Schon nach einem halben Jahr wäre viel von ihrer einstigen Strahlkraft verloren.“

„Dabei sollte ihr, wenn nur irgend möglich, ein ungeliebter Posten zukommen, dort wo es die meisten Einbrüche gibt. Finanzministerin, die einen rigiden Sparkurs verteidigen muss etwa!“

Überkam es Helmfried.

„Oder als Arbeitsministerin, um die ungeliebte Reaktivierung voran zubringen!“ Stimmte ihm Canisius begeistert zu.

„Ja, ich glaube das wäre der effektivere Weg. Damit können wir beide ausgesprochen gut leben. Sie haben mich überzeugt. Ich werde sie unterstützen. Sie können sich darauf verlassen. Also dann, der Kampf um die  Reaktivierung wird die Entscheidung bringen.“

 

Die so genannte Reaktivierung war ein gigantisches Unterfangen, das seinesgleichen in der Geschichte suchte. Durch die drastische Anhebung des Renteneintrittsalters auf  80 Jahre und zwar mit sofortiger Wirkung, mussten Tausende von bereits verrenteten Veteranen aus dem wohl verdienten Ruhestand zurückbeordert werden. Die zum Teil erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen die das Alter nun einmal mit sich brachte, waren dabei ohne Belang.

Amtsärzte wurden eigens zu dem Zweck bestellt um den reaktivierten Rentnern eine volle Arbeitsfähigkeit zu  bescheinigten.  Selbst jene mit schwerwiegenden  Behinderungen wurden per Dekret für Gesund erklärt. In den Fabriken wurden dringend erfahrene und gut ausgebildete Mitarbeiter benötigt, die Ex-Rentner sollten diese Stellen füllen. Eine bahnbrechende Idee. Somit brauchten keine Jüngeren mehr ausgebildet werden. Jugendliche auszubilden konnte eine langwierige und vor allem kostspielige Angelegenheit sein. Der Staat und vor allem die Wirtschaft gedachte auf diese Weise Millionen einzusparen, zumal auch die Renten nicht weiter gezahlt werden mussten. Den erwerbslosen Jugendlichen war es damit möglich sich auf diese Weise vorzeitig auf ein Leben als Paria einstellen. Die Alten schufteten, damit die Jungen sich dem Müßiggang widmen konnten. Ein Müßiggang in der Gosse, wohl bemerkt. Eine geradezu prophetische Entscheidung, dazu ausersehen womöglich eines Tages weltweit als Vorbild zu dienen. 

Wie gerufen meldete sich gerade zur rechten Zeit ein anerkannter Wissenschaftler mit einer geradezu genialen Erfindung. Er behauptete ein Art Verjüngungsmittel erfunden zu haben, dass bei regelmäßiger Einnahme eine Frischzellenkur versprach. Ältere Menschen könnten so ihre Vitalität und Leistungsfähigkeit innerhalb kürzester Zeit wieder erlangen. Dieses Mittel schien wie geschaffen für die Reaktivierung. Bandscheibenvorfälle, Arthrose, Osteoropose und viele andere Leiden würde der Patient einfach nicht mehr wahrnehmen, so die Behauptung. Die lies sich zwar nicht beweisen, trotzdem verordneten Ärzte die neue Wunderpille in Massen. Ein totaler Flop wie sich schon nach kurzer Zeit herausstellte, denn einzig die verheerenden Nebenwirkungen waren garantiert.   

Es versteht sich  von selbst, dass es in Folge dessen zu einem drastischen Anstieg von Arbeitsunfällen kam. Wer etwa mit einer schweren Gehbehinderung seinen Dienst als Dachdecker in Schwindel erregender Höhe anzutreten hatte, konnte mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa einer Woche rechnen. Aber nicht wenige stürzten bereits am ersten Tag in die Tiefe. Ihnen wurde postum eine besondere Ehre zuteil. Sie erhielten den Titel “Märtyrer des Marktes“, soweit sie den Sturz nicht überlebten. All jene, die das Pech hatten, ihr Leben zukünftig als schwerstbehinderter Krüppel zu fristen, waren da bedeutend schlechter dran. Die kamen nicht so ohne weiteres zu einer angemessenen Rente.

Viele Behördenwege waren vorgeschrieben, komplizierte Nachweise mussten erbracht werden. Man hoffte, dass viele vorher das Zeitliche segneten.

In folge dessen konnten gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen werden. Die Reaktivierung diente somit auch als Flurbereinigung. Wer im Arbeitsprozess starb, stellte später keinen Rentenantrag. Schlussendlich konnten die Bestattungsunternehmen einen Boom in ihrem Gewerbe verzeichnen. Die hatten rund um die Uhr zu tun. Nie vorher wurde in Melancholanien so viel gestorben. Somit gab es also viele Profiteure an der Reaktivierung.

 

Als Helmfried sich  von Canisius verabschiedete und den langen Flur der Regierungszentrale entlang schritt, fühlte er sich schon als Melancholaniens neuer Kanzler. Seine Brust weitete sich und er richtete den Blick auf den nun wieder leuchtend blauen Himmel. Die Wolken hatten sich verzogen und die Sonne ließ ihre wärmenden Strahlen herab gleiten. Eine symbolträchtige  Erscheinung. Auch in Melancholanien würde bald wieder die Sonne scheinen. Ohne soziale Hemmschuhe konnte sich die Ödnis bald in blühende Landschaften verwandeln. Helmfried war sich seiner Sache  sicher. Mit ihm konnte es einen wahrhaften Neubeginn geben und das Problem Elena und die neue Konkurrenz würde sich schon bald in Luft auflösen.

 

Auf einer eilends ein berufenen Fraktionssitzung schwor der Führer der loyalen Opposition seine Mitstreiter auf die baldige Machtübernahme ein. Einen Begeisterungsschub konnte er damit, wie nicht anders zu erwarten, nicht auslösen. Denn wie er vorausschauend ahnte, kam  diese Nachricht nicht gut an.

Da musste er schon bedeutend effektivere Geschütze auf fahren um sich  Gehör zu verschaffen. Doch das war noch einfach im Vergleich zu den Methoden, die er anwenden musste um eine ausreichende Anzahl von Abgeordneten aus der gegnerischen Fraktion auf seine Seite zu ziehen. Hier floss ein hübsches Sümmchen an Schmiergeldern. Denn, wie es schon im Volksmund so treffend heißt: „Wer gut schmiert, der gut fährt!“ Das benötigte Kleingeld streckte ihm der Blaue Orden großherzig vor, nachdem er dessen Vertretern seine Visionen eines neuen Melancholanien offenbart hatte.

Immerhin gehörten diesem viele Vertreter beider großen Parteien an. Waren also in einem Bruderbund tief miteinander verwoben. Kämpften gemeinsam für die größtmögliche konservative Erneuerung Melnacholaniens. Dem Führungsstab des Ordens war es demzufolge auch egal welche der beiden Parteien die Regierung stellte, solange diese brav in seinem Sinne operierte. In der letzten Zeit jedoch kam es immer häufiger zu Differenzen, weil die erhabene elitäre Loge ihren politischen Vertretern vorwarfen, in vielen Belangen nicht konsequent genug vor zugehen.

Nun bestand die Möglichkeit das Verhältnis wieder ins rechte Lot zu rücken.

 

Einen Tag vor der entscheidenden Plenarsitzung konnte sich Helmfried gemütlich zurücklehnen. Ihm wurde aus den Reihen der Regierungspartei zugetragen, dass er nun über die nötigen Überläufer verfügte, die sich bereit fanden ihrem Chef das Vertrauen zu entziehen.

 

Als der Kanzler am darauf folgenden Tag durch die vollbesetzten Reihen des Plenarsaales schritt und sich am Rednerpult platzierte, signalisierte ihm Helmfried aus der vorderen Bankreihe, dass alles wie vereinbart eingefädelt sei.

Daraufhin begann Canisius mit seiner Rede, die, obwohl ihr Inhalt erstunken und erlogen, ausgesprochen plausibel klang.

„Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordnete: Unser Land steht vor gravierenden Umwälzungen. Es ist uns gerade mit den zuletzt verabschiedeten Gesetzen gelungen, Bahnbrechendes auf den Weg zu bringen. Ich nenne hier zum Beispiel die Einsparungen im Bildungsbereich. Ich denke, niemand von ihnen wird mir hier widersprechen. Vor allem die Bildung der Prekakinder ist ein völlig überflüssiges Unterfangen. Prekakinder sollen auf ein Leben in den Fabriken und Handwerksbetrieben, in der Landwirtschaft oder Gastronomie vorbereitet werden. Zuviel Bildung würde ihnen erheblichen Schaden zufügen. Diese Menschen sind Arbeiter und zur Arbeit sind sie geschaffen. Nicht mehr und nicht weniger. Ein berühmter Philosoph sagte einmal vor Zeiten >Will man einen Zweck muss man auch die Mittel wollen, will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht<**

Kunst und Kultur, Kreativität oder Innovation bekommt den Preka schlecht, wir sollten dafür Sorge tragen damit diese davon unbeeinflusst , ihr Leben gestalten.  Preka die Bücher lesen sind mir unheimlich. Preka benötigen ihre ganze Kraft und Energie um im Arbeitsprozess zur Höchstleistung befähigt zu werden.

Ähnliches konnten wir im Gesundheitswesen verzeichnen. Gesundheitsvorsorge für alle? Nein!

Wer medizinische Betreuung will, hat dafür zu bezahlen. Wir können es uns nicht mehr leisten Krüppel und Demenzkranke auszuhalten. Überhaupt! Stimmen sie mir nicht zu wenn ich sage, dass der Kranke ein Parasit der Gesellschaft ist. Ab einem bestimmten Stadium ist es einfach nur unanständig, noch länger zu leben. Ein Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten, nachdem der Sinn des Lebens und das Recht auf Leben verloren gegangen ist.

Krankes Leben ist entartetes Leben. Wer nicht mehr in der Lage ist, seine ihm auferlegte Leistung zu vollbringen, hat sein Recht auf Leben verwirkt. Das ist meine Meinung, dass musst  einmal gesagt werden.“

Tosender Beifall brandete ihm von allen Seiten des Hauses entgegen.

 „Um nur einige weitere  Beispiele zu nennen, so etwa die vollständige Streichung des Kindergeldes, oder die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer. Ein Erfolgserlebnis macht dem nächsten Platz. Ob  Abschaffung der Witwen-und Waisenrente, oder die Erhöhung des Renteneintrittsalters, wir haben hervorragende Arbeit geleistet. All diese Dinge und noch viel mehr werden dafür Sorge tragen, das Melancholanien den Platz unter den Besten im Weltmaßstab einnehmen kann, ein Platz der ihm von Natur aus gebührt. Ich habe es immer gesagt und ich werde es immer sagen, auch wenn ich dafür von einigen Neidern regelmäßig gescholten werde. Unser Land muss einfach mehr Freiheit wagen. Wir brauchen mehr Mut auch unliebsamen Aufgabe in Angriff zu nehmen uns von lieb gewonnen Gewohnheiten und Annehmlichkeiten zu verabschieden. Demokratie ist ein hohes Gut und wir werden sie verteidigen mit allen Mittel die uns zur Verfügung stehen. Aber wir dürfen es nicht übertreiben damit. Meine Damen und Herren, Demokratie muss man sich auch leisten können. Demokratie darf nicht zum Hemmschuh werden für Kreativität und Innovation Demokratie darf niemals als Argument gegen die Freiheit in Stellung gebracht werden.

Und noch eine Frage muss erlaubt sein: Ist die Würde des Menschen wirklich unantastbar? Können wir uns solch eine Aussage im Angesicht von nicht enden wollenden Krisen überhaupt noch leisten? Was ist denn überhaupt ein Mensch? Wie definiere ich diesen Begriff? Ich gehe doch sicher recht in der Annahme, dass keiner der hier anwesenden die Meinung vertritt dass es sich bei einem Paria noch um einen Menschen im eigentlichen Sinne handelt. Ein menschenähnliches Wesen, sicher. Aber Gorillas und Schimpansen sind auch in mancher Hinsicht dem Menschen ähnlich, aber niemand käme auf die Idee diese dem Menschen gleich zu stellen, vor allem was Rechte und Pflichten betrifft.“

Die Parlamentarier der rechten als auch der linken Seite signalisierten ihre Zustimmung. Es herrschte in dieser Angelegenheit allgemeiner Konsens. Somit bestand kein Grund einer solchen Aussage zu widersprechen.

Nur Helmfried schmollte auf seinem weichen Oppositionsstuhl. Hatte ihm dieses Fuchsgesicht dort vorn doch gerade seine schöne Rede gestohlen. Er war es doch der sich berufen fühlte von Freiheit und dem notwendigen Demokratieabbau zu reden. Verachtung schlich sich in sein Herz wie Eis über einen See in einer klaren Winternacht. Doch er durfte sich seine Wut nicht anmerken lassen. Somit war er gezwungen sich anderer Worte bedienen.

„Ein edler Hengst muss gezähmt und gebändigt werden, bevor man auf ihn reiten kann, erst dann wird er wirklich edel und verrichtet seinen Dienst korrekt. Genauso müssen wir mit der Demokratie verfahren. Sie muss geschliffen werden wie ein roher Diamant der sich der Fassung eines Goldringes anpasst. Demokratie ist wie eine edle Sahnetorte, kosten wie zuviel davon bekommen wir kräftiges Bauchweh.“

Der Kanzler setzte den Schwall schwulstiger Worte noch eine ganze Weile fort,  griff dabei auf immer abenteuerlichere Vergleiche zurück.

„Demokratie, das ist eine zarte Knospe an einem Frühlingsmorgen, scheint die Sonne darauf, entfaltet sie ihre ganze Pracht, doch schleicht sich die Kühle der Nacht heran schließ sie sich um sie für den Folgetag zu konservieren.“

Nun hielt es Helmfried nicht mehr aus. Eine Welle von Ärger formte sich in seinem Körper, glitt die Wirbelsäule entlang und entlud sich schließlich in seinen Worten.

„ Das alles sind sehr schöne Worte verehrter Herr Kanzler, aber ich würde zu gerne in Erfahrung bringen was das alles mit unseren derzeitigen Problemen zu tun hat. Und Probleme hat Melnacholanien zuhauf, die stinken  schon zum Himmel. Würde es ihnen etwas ausmachen endlich zur Sache zu kommen oder wie lange dürfen wir noch ihre poetischen Ergüsse über uns ergehen lassen?“

Canisius nahm dies erstaunt zur Kenntnis, er vermochte nicht zu deuten ob es sich bei diesem Wutanfall nun um eine Täuschung oder echte Emotionen handelte.

„Nun dann will ich unseren allseits geschätzten Oppositionsführer nicht weiter auf die Folter spannen. Selbstverständlich komme ich zur Sache, ich war gerade ihm Begriff den Zusammenhang zu verdeutlichen als sie mir ins Wort fielen!“

Diese Aussage erntete verhaltenes Gelächter. Eine Tatsache die Helmfried nur noch mehr in Rage versetzte. Was hatte der alte Schleimer vor? Wollte er am Ende seinen Platz doch nicht räumen?

„Die Demokratie eignet sich hervorragen in Zeiten guter Konjunktur, in Zeiten da uns die Früchte unserer Arbeit in den Schoss fallen. In Zeiten der Krise jedoch sollte sie sich wie eine vornehme Dame zurückhalten. Während einer Rezession taugt sie wenig und sollte sich eine Erholungskur gönnen. Wir sollten einfach mehr Demokratiefreie Zonen in unserem Lande dulden, das sind wir unserer Wirtschaft schuldig die so viel für unser Gemeinwohl geleistet hat. Ich habe mir bei meiner Wahl vor drei Jahren großes vorgenommen, ich wollte dieses Land führen wie einen großen Konzern, wie eine Melancholanien AG wenn sie so wollen.*** In einem Unternehmen kann es auch nur einen Kapitän geben der das uneingeschränkte Kommando in den Händen hält. Einen Kapitän sowie treue Gefolgsleute, die Befehle entgegen nehmen und in die Tat umsetzen.“

„Das ist Diktatur! Pfui Teufel! Schäbig!  Geh doch endlich in Rente! Verdrück dich in dein Ölgeschäft!“ Solche und ähnliche Grobheiten wurden ihm nun entgegengeschleudert. Doch das schien ihm wenig auszumachen. In seinen Augen leuchtet der unerschütterliche Glaube an den Sieg.

„Heuchelei, meine Damen und Herren Schreihälse. Was sie hier tun ist Heuchelei Denn im Grunde sind sie mit mir doch schon lange einer Meinung. Es sind allein wahltaktische Gründe die aus ihnen sprechen.

Ich bleibe dabei, dieses Land kann nur gesunden, wenn weit reichende Reformen den Weg dorthin bahnen. Aber gerade hier liegt dass Problem vor dem wir heute stehen. Ich bin mir der Tragweite bewusst, die solche tiefen Einschnitte mit sich bringen. Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen aufs Ganze zu gehen. Heute, jetzt und hier werde ich um ihr Vertrauen bitten. Ja, sie haben recht gehört, ich stelle hiermit ganz offen die Vertrauensfrage. Sie müssen sich nicht sofort entscheiden, sie alle haben Bedenkzeit bis nach der Mittagspause.

Wer der festen Überzeugung ist, das ich, das die von mir geführte Regierung mit all den zurückliegenden Gesetzen zu weit gegangen ist, ich denke hier vor allen an die Reaktivierung

Und die vielen unschönen Dinge die darüber in Umlauf gebracht worden sind, der oder die möge mir das Vertrauen entziehen. Dann werde ich der Entwicklung nicht weiter im Wege stehen und mache den Weg frei für vorgezogenen Wahlen.“

Ungläubiges Schweigen erfüllte den Raum. Nur zaghaftes Gemurmel war zu vernehmen. Es gab nicht wenige die glaubten sich gerade verhört zu haben. Vertrauensfrage? Vorgezogene Wahlen? Warum in aller Welt das? Vor allem wenn es, wie der Rede gerade zu entnehmen war, so gut lief in ihrem schönen Lande. Viele verstanden in diesem Moment die Welt nicht mehr.

„Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt, sich so einfach aus der Verantwortung zu stehen?“ Ereiferte sich Helmfried nun wieder ganz nach der vereinbarten Kungelei.

„Wir sollten in so einer Situation zusammenstehen und gemeinsam überlegen, welche Anstrengungen von Nöten sind, um unser Land aus der Krise zu befreien. Sie aber wollen sich aus dem Staube machen. Nun denn, wenn es sein muss. Ich bin bereit mich der Verantwortung zu stellen. Ja ich stimme ihnen sogar zu, Neuwahlen wären in der Tat eine Gelegenheit zu überprüfen, ob die Bevölkerung unseres Landes ihnen den Reformwillen auch tatsächlich abnimmt. Ich bin davon überzeugt, dass sie es nicht tut. Einzig unsere Partei ist in der Lage, die dringend notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen. Ich kann ihnen daher versichern, dass wir ihnen das Vertrauen ganz und gar nicht aussprechen. Sie haben abgewirtschaftet, sie gehören abgewählt. Sie erweisen dem Lande einen großen Dienst, wenn sie jetzt den Hut nehmen.“

„Eine Schade ist es, was hier vor sich geht!“ Meldete sich ein Abgeordneter der Regierungsfraktion wütend zu Wort.

„Wir sollten Canisius auf Knien danken. Er hat uns und unserem Volk ein Geschenk gemacht, das es vielleicht all paar Hundert Jahre gibt. Dieses Reformpaket ist das Beste, das unser Land seit Jahren gesehen hat. Und sie wollen diesem Mann jetzt das Vertrauen entziehen? Das kann sich doch nur um einen schlechten Scherz handeln. Nein, das ist ein abgekarrtes Spiel. Sie wollen doch nur selber auf dem Stuhl den Canisius zu Recht eingenommen hat, Helmfried. Das sage ich ihnen offen ins Gesicht. Ich werde diesem Mann mein Vertrauen nicht entziehen.“

Nun begannen Tumultartige Szenen, ein sich gegenseitiges Beschimpfen. Die Kraftausdrücke wirbelten wie ein Sturmwind durch den Saal. Niemand vermochte mehr die Übersicht zu behalten. Der Parlamentspräsident schüttelte die große Glocke mindestens eine Minute lang bis sich die Situation endlich wieder einigermaßen entspannt hatte.   

„Meine Damen und Herren, beruhigen sie sich doch. Was soll das denn? Ist das hier etwa eine Prekakneipe? In meiner ganzen Laufbahn ist mir so etwas noch nicht vorgekommen. Ich sehe mich gezwungen, unter diesen Umständen die Sitzung für heute abzubrechen!“

Wieder schwoll der Lärmpegel an, viele schienen mit diesem Vorschlag ganz und gar nicht einverstanden.

„Ruhe! Verdammt noch mal Ruhe!“ Grölte der Versammlungsleiter nun aus voller Brust.

Dann verstummte kurzzeitig der Krach.

„Die Sitzung wird vertagt und zwar auf morgen Nachmittag! Ich sehe keinen Sinn, heute noch weiter zu diskutieren. Die Fraktionen haben so die Gelegenheit sich intern abzustimmen. Ich bitte die Fraktionsvorsitzenden zu mir nach vorn. Die Sitzung ist beendet! Basta!“

Das saß, dem hatte niemand etwas hinzu zu fügen. Ruhe kehrte deshalb aber noch lange nicht ein. Sie Streitigkeiten setzen sich in kleinen Gruppen fort, im Foyer, auf den Gängen, ja sogar auf der Straße vor dem Gebäude.

„Was um Himmelswillen geht hier vor sich? Sind sie von allen guten Geistern verlassen? Warum wurde ich von dieser Angelegenheit nicht in Kenntnis gesetzt?“ Heischte der Parlamentspräsident die beiden Fraktionsvorsitzenden an.

„Sie wollen mir doch nicht weiß machen vom Vorhaben ihres Parteioberen nichts gewusst zu haben?“ Romuald, Chef der Regierungsfraktion stand wie ein begossener Pudel vor dem Leitungspult. Er war tatsächlich nicht in die Sache eingeweiht. Helmfried hatte hinter dessen Rücken die Strippen gezogen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wusste er doch sehr genau, welche Abgeordneten der Regierungsfraktion ihren Vorsitzenden schon bald hintergehen würden.

„Sie brauchen gar nicht so höhnisch zu grinsen, Helmfried! Da haben sie wohl wieder ihren Spaß dran, wie? Aber ich kann ihnen versichern, das Lachen wird ihnen im Halse stecken bleiben. Noch haben wir eine Mehrheit in diesem Haus und die steht wie eine Eiche. Ein böses Spiel der Opposition, weiter nichts. Sie können beruhig sein, Herr Präsident. Unser Kanzler will sich nur grünes Licht für seine Reformvorhaben einholen. Damit er ungehemmt und mit vollem Tatendrang ans Werk schreiten kann:“

„Das wollen wir hoffen! Gut, klären die das beide mit ihren Leuten ab! Wir werden das morgen zur festgesetzten Zeit verhandeln. Sie könne sich jetzt entfernen!“

Hastig eilten die beiden durch den Saal, sich dabei keines weiteren Blickes würdigend. Eile war geboten. Jeder musste  Ordnung in seinem Stalle schaffen.

 

Unterdessen hatten draußen dicke dunkle Wolken den Himmel überzogen und ein heftiger Sturm brach sich seine Bahn. Nur kurze Zeit später ergoss sich ein sinnflutartiger Gewitterregen auf die ganze Stadt. Es blitze und donnerte am laufenden Band. Schon bald heulten die Sirenen und die Feuerwehren waren im Dauereinsatz um voll gelaufene Keller leer zu pumpen oder umgestürzte Bäume zu entsorgen.

Doch so schnell der Regen einsetzte war er wieder verschwunden und nach etwa einer Stunde war der Spuk vorbei. Plötzlich überspannte ein majestätisch anmutender Regenbogen den gesamten Himmel. Eine Erscheinung wie aus einem Bilderbuch. Ein Zeichen der Hoffnung? Ein Zeichen der Verbundenheit oder des herannahenden Neubeginnes?  Ein gutes oder böses Omen? Hatte der Folgetag die Antwort auf diese Frage im Gepäck?

 

Fieberhaft arbeitete man innerhalb der beiden Fraktionen daran die alles entscheidende Sitzung so gut wie nur irgend möglich vorzubereiten. Alles wurde in Bewegung gesetzt um es auch wirklich jedem Abgeordneten zu ermöglichen an der Plenartagung teilzunehmen.

In einer Nacht-und Nebelaktion wurden alle herbeigekarrt, aus dem Urlaub zurückgerufen, wenn möglich sogar vom Krankenlager. So kam es, dass am Folgetag sogar Rollstühle und Krankenbetten in den Plenarsaal geschoben wurden. Und tatsächlich, dass Unglaubliche geschah. Zum ersten Mal in seiner Geschichte sah man den erhabenen Saal vollbesetzt.

Der Parlamentspräsident konnte 100% Anwesenheit feststellen. Etwas ähnliches hatte es bisher noch nicht gegeben.

Gähnende Leere bestimmte ansonsten die Tagungssessionen. Die überwiegende Anzahl der Abgeordneten blieben ansonsten den Plenartagungen fern, zogen es stattdessen vor sich ihren lukrativen Nebenbeschäftigungen zu widmen, etwa dem Besuch zahlreicher Aufsichtsratssitzungen großer Konzerne.

Die Wogen schienen einigermaßen geglättet. Angespannte Ruhe senkte sich über der versammelten Schar der Parlamentarier.

Der Parlamentsvorsteher eröffnete die Tagung und leitete zum ersten Tagesordnungspunkt über. Er erteilte Romuald das Wort der vorher darum gebeten hatte um eine Erklärung für seine Fraktion abzugeben.

„Herr Präsident, meine verehrten Damen und Herren! Ich habe um das Wort gebeten um die Überzeugung der Mitglieder meiner Fraktion wieder zugeben. Wir haben in einer aufreibenden Sitzung bis in die frühen Morgenstunden getagt!“ Das war natürlich gelogen, denn in Wirklichkeit hatten sie am Vortag bereits um 21 Uhr geschlossen. Aber frühe Morgenstunde hörte sich nun einmal besser an, suggeriert es doch der Bevölkerung das auch Abgeordnete zuweilen bis in die Nacht zu arbeiten hatten.

„Wir haben im Schweiße unseres Angesichtes beraten und versucht der Sache auf den Grund zu gehen!“ Fuhr er fort.

„Ich kann ihnen versichern, dass die Fraktion der Superdemokraten geschlossen hinter unserem Kanzler steht. Das Gerücht, dass es Abweichler gibt, wurde glänzend widerlegt. In einer Probeabstimmung konnten wir Einstimmigkeit konstatieren. Der Versuch der Oppositionspartei unsere Fraktion zu spalten ist kärglich gescheitert. Ich habe ihnen ja gesagt, dass ihnen ihr Lachen im Halse stecken bleibt verehrter Dr. Helmfried. Meine Fraktion kann gelassen in die Abstimmung gehen. Ich gelobe hier feierlich vor unserer ehrenwerten Versammlung. Sollte auch nur einer meiner Fraktionsmitglieder aus der Reihe tanzen und Canisius das Vertrauen entziehen, esse ich meinen Hut. Sie können mich beim Wort nehmen.“

Diese Aussage sorgte für ein verhaltenes Lachen aus der Mitte des bis auf den letzten Platz gefüllten Saales.

Unruhig rutschte Canisius auf der Regierungsbank hin und her, man konnte ihm die Anspannung an sehen. Eine Zornesfalte trat auf seine Stirn und sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Hilflosigkeit und Wut. Würde ihm dieser Trottel dort unten am Ende noch seinen sicher geglaubten Abgang vermasseln? Was quatschte der für einen bodenlosen Unsinn?

Konnte der nicht endlich seine Klappe halten?

Helmfried hingegen lehnte sich gemütlich zurück. Er konnte mit jedem Ergebnis leben. Auch wenn es sich die „Überredeten“ noch einmal anders überlegen sollten. Dann eben nicht. Er würde  weiter auf seine Chance warten müssen, mehr hatte er nicht zu verlieren.

Es waren 9 zusätzliche Stimmen erforderlich um Canisius zu stürzen. Helmfried kannte die Namen. Die würden dann ihr erhaltenes Honorar an den Blauen Orden zurückerstatten  müssen. Aber das war deren Problem, nicht seines.

„Es ist ein guter Tag, meine Damen und Herren. Ich sehe den Dingen die kommen ausgesprochen optimistisch entgegen. Wir werden unsere Politik so fortsetzen wie begonnen, niemand wird uns daran hindern. Am Ende wird  die Regierung und die sie tragende Fraktion sogar gestärkt aus dieser Abstimmung hervorgehen. Der Schuss wird nach hinten losgehen lieber Helmfried. Sie tun mir jetzt schon leid. Ich habe meine Leute voll im Griff!“

Helmfried konnte es kaum erwarten Romualds dummes Gesicht zu sehen, wenn dieser gezwungen  später wäre seine Niederlagen einzugestehen. Seine Schuld, warum musste er sich mit solch einer pathetischen Rede auch so weit aus dem Fenster lehnen?

„In diesem Lande wird es wohl kaum einen angeseheneren Politiker als Canisius geben. Wir haben volles Vertrauen zu ihm, zu seiner Politik, zu all seinem Denken und Handeln. Unser geliebter Kanzler ist es auf den wir setzen. Er ist es ,mit dem wir in den nächsten Wahlkampf ziehen. Und er wird  auch für weitere vier Jahre auf dieser Bank sitzen.“

Freundlich grinste ihm Canisius zu, doch innerlich begann er vor Wut zu kochen. Romuald sprach Wort für Wort aus, was ihm total widerstrebte und seinen wirklichen Interessen entgegenstand.

Als Romuald dann endlich seine Süßholzraspelei beendete fiel ihm ein Stein vom Herzen.

Es war zu hoffen dass er mit diesem albernen Geschwafel nicht all zu viel angerichtet hatte.

Nicht aus zu denken, sollte es ihn gelingen die sorgfältig ausgewählte Schar der Abweichler wieder ins Boot zu holen.

Der Präsident erteilte nun Helmfried das Wort. Nach einigen zögern schritt er nach vorn.

Es bedurfte nicht vieler Worte, er konnte sich ausgesprochen kurz fassen.

„Bravo lieber Romuald, eine tolle Rede! Findet meine absolute Zustimmung! Ich kann die Aussagen nur unterstützen! Trotzdem wird die Vertrauensabstimmung zu unseren Gunsten ausfallen. Canisius Politik ist korrekt, aber sie ist nicht visionär. Es fehlt der tatsächliche Bezug zum Leben, der Bezug zu den Menschen. Wir können keine Politik gegen die Mehrheit der Menschen  machen.  Und die sind es die letztendlich entscheiden!“

„Hört hört! Wer`s glaubt wird selig! Helmfried der Menschenfreund? Ist ja mal ganz was Neues. Sie wollen mir doch nicht weiß machen dass sie neuerdings auf Volksmeinung einen Pfifferling geben!“ Schleuderte ihm Romuald von seinem Platz in der ersten Bankreihe entgegen.

„ Ich habe niemals behauptet ein Mann aus dem Volke zu sein, aber es ist durchaus von Vorteil hin und wieder auf Volkes Stimme zu achten. Auch ich pflege das zuweilen. Und in diesem Fall hat es sich als ausgesprochen effektiv erwiesen.

Die Zeit zu gehen ist gekommen verehrter Canisius. Meine Fraktion ist ihnen ausgesprochen dankbar für die Tatsache, dass sie die Vertrauensfrage stellen um so den Weg für einen echten Neuanfang zu ebnen. Meine Fraktion wird geschlossen gegen sie votieren!“

„Na, wer hätte auch was anderes erwartet!“ Rief ein Abgeordneter aus den hinteren Bankreihen.

Helmfried nahm wieder Platz. Der Präsident erläuterte nun dass Prozedere der ganzen Abstimmung. Immerhin handelte es sich um ein Novum. Bisher war es unüblich sich dem Vertrauen der eigenen Fraktion zu stellen. Es gab nie einen entsprechenden Anlass, da die Mehrheiten immer entsprechend ausreichten.

Geheime Abstimmung. Die Saaldiener gingen mit transportablen Wahlurnen durch die Reihen. Das nahm natürlich entsprechend viel Zeit in Anspruch. Gelegenheit für allerlei Plausch am Rande. Helmfried schritt, von Romuald argwöhnisch beäugt, auf die Regierungsbank zu um mit Canisius ein paar Worte zu wechseln.

„Und was glauben sie? Werden wir unserem Ziel ein Stück näher kommen?“ Wollte Helmfried wissen.

„Hm, alles offen. Hängt davon ab, wie gut ihre Überzeugungskräfte bei bestimmten Leuten sind.“ Gab der Kanzler zu verstehen.

 „Ich hoffe sie sind stichhaltiger als die Überzeugungskünste ihres eigenen  Fraktionschefs!“

"Der hat mir gerade noch gefehlt. Aber ich denke, ich kenne meine Pappenheimer. Die sind für handfestes deutlich zugänglicher.“

„Ich will mich mal lieber wieder verdrücken! Sehen sie wie Romuald zu uns herüberschielt?“

Stellte Helmfried fest.

„Ich glaube nicht das der den Braten riecht, gehört nicht zu den hellsten. Aber ich denke auch es ist besser, wir unterhalten uns später weiter, wenn alles erledigt ist.“

Helmfried nahm wieder Platz.

Die Abstimmung wurde auch im TV übertragen. Überall hatten sich Reporter postiert um nur ja nahe genug am Geschehen zu sein. Die Zeit schien still zu stehen. Immer wieder blickte Canisius auf seine teure Raduxuhr. Aber auch die gestattet keinen Blick in die Zukunft.

Mit großer Erleichterung nahmen es die meisten auf als der Parlamentspräsident sein Glöckchen läutete und die Versammelten um Ruhe bat. Die Auszählung war beendet. Gespannte Ruhe im sonst so geschwätzigen Nationalforum, man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.

„Sehr geehrte Damen und Herren! Die Auszählung ist abgeschlossen, ich kann ihnen hiermit das endgültige Ergebnis verkünden. Ich stelle fest, dass alle anwesenden  400 Abgeordneten von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben. Abgegebene Stimme 400, ungültige Stimmen 2. Für den Abgeordneten Dr. Canisius stimmten 191 Abgeordnete, gegen ihn votierten 204 Abgeordnete, Enthaltungen 3. Damit stelle ich fest dass die Mehrheit dem Abgeordneten Dr, Canisius das Vertrauen nicht ausgesprochen haben.“

In diesem Moment brach großes Gejohle im Saale aus. Die Opposition jubelte und klatschte, während sich die Regierungsfraktion in Buhrufen gefielen.

Versteinert hatte Romuald das Ergebnis zur Kenntnis genommen, kreidebleich und fassungslos. Hämisch grinste Helmfried zu ihm hinüber, doch der schien das gar nicht zu bemerken.

Canisius rieb sich unterdessen die Hände, natürlich verborgen, denn niemand sollte ihm die Erleichterung anmerkten. Vor der Öffentlichkeit oblag es ihm nun den Betroffenen zu mimen, was ihm nicht sonderlich lag. Aus diesem Grund beschloss er, diese Aufgabe seinem Fraktionsvorsitzenden zu überlassen, den der brauchte nichts zu heucheln. 

Direkt am Eingang zum Plenarsaal, an der großen Glastür, die zur Lobby hinausführte, hatte sich Chantal platziert, jene Möchte-gern-Elena die sich selbst als neuen Stern an Melancholaniens TV-Himmel betrachtete.

„Meine verehrten Zuschauerinnen und Zuschauer, wir berichten live von der Vertrauensabstimmung über unseren Kanzler Dr. Canisius. Soeben wurde das Ergebnis bekannt gegeben. Der Kanzler konnte die erforderliche Mehrheit nicht erreichen. Das bedeutet dass es in seiner eigenen Fraktion U-Boote gibt. Mindestens 9 Vertreter der Regierungsfraktion sind ihrem Chef in den Rücken gefallen und haben gegen ihn gestimmt.

Ein schwerer Eklat mit weit reichenden Folgen. So etwas hat es in der jüngsten Geschichte Melancholaniens nicht gegeben. Nun läuft wohl alles auf vorgezogen Wahlen hinaus, denn eine andere Möglichkeit besteht kaum. Sicher, Dr.Helmfried, seines Zeichens Chef der Oppositionsfraktion könnte sich nun zur Wahl stellen, aber davon geht wohl im Moment niemand aus. Wir können also im Augenblick noch nicht sagen wie es weitergeht.“

In der Zwischenzeit ruderte Canisius durch die Abgeordnetenreihen auf den Ausgang zu.

Diese Gelegenheit wollte sich Chantal natürlich nicht entgehen lassen.

Es bestand die einmalige Gelegenheit den soeben gestürzten Regierungschef als erste zu interviewen.

Sie postierte sich so dass der Kanzler keine Gelegenheit bekam, ihr auszuweichen. Als er schließlich zu ihr vorgedrungen war stieß er frontal mit ihr zusammen.

Sie hatte es geradezu provoziert.

„Sehr geehrter Herr Kanzler! Sie haben wie es scheint, das Vertrauen einiger ihrer Abgeordneten verloren. Die Bevölkerung brennt darauf zu erfahren, wie es weitergehen soll.

Was werden sie jetzt unternehmen?“ bedrängte ihn die wissbegierige Reporterin.

„Die Sachlage ist eindeutig! Die Mehrheit ist abhanden gekommen und ich werde diese auch nicht mehr erlangen, zumindest nicht in dieser Legislaturperiode. Ich werde mit meiner gesamten Regierung beim Staatspräsidenten meinen Rücktritt einreichen. Dieser wird das Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben. Selbstverständlich bleibt die Regierung geschäftsführend im Amt bis zur Bildung einer neuen Regierung nach den Wahlen. Ich bin der Ansicht, wir sollten nicht zögern, sondern so bald als möglich wählen lassen. Dem Volk steht einfach das Recht zu, möglichst schnell eine handlungsfähige Regierung zu bekommen.“

Tatsächlich hatte das Volk sehr wenig damit zu tun. In Wirklichkeit drängte es, da die Konzernleitung des bedeutenden Mineralölunternehmens eine schnelle Entscheidung von Canisius erwartet, ansonsten würde sie den lukrativen Posten einem andere übertragen.

„Werden sie denn wieder für eine erneute Kandidatur zur Verfügung stehen?“ wollte Chantal provokant wissen.

„Das kann ich eindeutig verneinen! Ich werde mich nach Beendigung meiner Tätigkeit aus der aktiven Politik zurückziehen! Meine Partei wird also mit einem anderen Spitzenkandidaten in den Wahlkampf ziehen müssen!“ lautete die unmissverständliche Antwort. Das war das Entscheidende das sein neuer Arbeitgeber von ihm hören wollte und nur darauf kam es ihm an.

„Gibt es eventuell schon Namen?“

„Da bin ich vollkommen überfragt! Da müssen sie in den Folgetagen schon die Sitzung unserer Parteigremien abwarten !“ Lehnte Canisius hier einen Kommentar ab.

„Konnte man denn in Erfahrung bringen, wer die Abweichler sind, gibt es Namen? Ist es möglich etwas über deren Beweggründe zu erfahren?“

„Sie werden verstehen, dass ich  hierzu keinen Kommentar abgeben werde. Ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht im Geringsten!“ Bügelte er Chantal ab.

Dann drängte er sich an der ihr vorbei und tauchte in der Menge unter, froh der Befragung entkommen zu sein.

Unterdessen konnte es sich Helmfried nicht verkneifen seinen unterlegenen Gegner gründlich aufs Korn zu nehmen.

„Sie haben ihre Leute voll im Griff? War wohl nix? Naja nichts für ungut, Romuald, kann doch in den besten Familien einmal vor kommen. Tja, wer von uns beiden lacht denn nun als letzter?“ Höhnte Helmfried während er seinen Kontrahenten dabei kameradschaftlich auf die Schulter klopfte.

Dieser saß noch immer wie geistesabwesend auf seinem Platz und starrte nur teilnahmslos vor sich hin.

Danach machte sich Helmfried auf die Suche nach Canisius. Es konnte von Vorteil sein, sich mit ihm noch einmal auszutauschen. Peinlichst achtete er darauf möglichst den Vertretern der Medien  nicht über den Weg zu laufen.

Dichtes Gedränge auf den Fluren und im Bereich der Lobby. Melancholaniens zukünftiger Exkanzler hatte sich offensichtlich schon aus dem Staub gemacht. In Anbetracht der Situation sicher vernünftig.

Heftig miteinander diskutierende Abgeordnete füllten die Gänge und Nebenzimmer. Bei nicht wenigen herrschte noch immer so etwas wie Fassungslosigkeit. Keiner konnte im Moment so richtig nachvollziehen, was da eben vor sich gegangen war. Es gab doch im Prinzip keinen triftigen Grund die Vertrauensfrage zu stellen. Was hatte Canisius dazu verleitet, so unlogisch  zu handeln. Er setzte damit alles aufs Spiel. Nun galt es sich so bald als möglich auf den bevorstehenden Wahlkampf vorzubereiten, dass alles hatte im Zeitraffer zu geschehen.

Helmfried war gerade dabei das Portal des Parlamentsgebäudes zu durchschreiten als er in einer dunklen Ecke die Konturen von Melancholaniens gerade gestürzten Kanzler  wahr nehmen konnte, der gerade mit einem seiner Fraktionsmitglieder in einer heftigen Auseinandersetzung schien.

Es gab dem Anschein nach viele, die mit seinem Vorgehen nicht einverstanden waren, dem zufolge kam es ihm  sehr gelegen, als Helmfried ihn zu einem Gespräch zur Seite zog.

„Danke sehr! Sie haben mich erneut aus einer prekären Situation gerettet!“ Bedankte sich Canisius überschwänglich.

„Was tut man nicht  alles im Dienst für das Vaterland!“ Entgegnete Helmfried mit ironischen Unterton. Danach reichte ihm der Kanzler die Hand zum Gruss.

„Ich möchte mich noch bedanken! Sie haben mir aus einer sehr verfahrenen Situation  geholfen. Ich werde ihnen das nie vergessen. Das kann ich von meinen Leuten leider nicht im Allgemeinen behaupten, wie sie gerade feststellen konnten. Erwiderte Canisius.

„Oh ja, da scheinen sie einigen auf den Schlips getreten zu haben, besonders ihr Fraktionsvorsitzender kommt nicht gerade gut dabei weg.“ Stellte Helmfried fest.

„Ach der, an den brauchen wir keinen Gedanken zu verschwenden. Solche Leute sind innerhalb kürzester Zeit ersetzbar. Was die Wahlen betrifft, meine Partei wird sie verlieren, da beißt die Maus keinen Faden ab. Nun ist ihre Truppe wieder dran. Kein Grund sich Gedanken zu machen, so läuft das bei uns seit Jahrzehnten. Die Hauptsache ist doch dass die Vertreter der Wirtschaft befriedet sind.“ Gab Canisius zu.

„Wann wollen sie ihren neuen Posten antreten?“

„So bald als möglich! Deshalb trete ich für einen frühst möglichen Termin für die Neuwahl  ein. Gibt es da ihrerseits Bedenken?“

„Nein, nicht wirklich, ich glaube, das bekommen wir hin. Aber diese neuen Kräfte, die ins Parlament streben werden sich ganz schön strecken müssen. Wenn wir die draußen halten, oder wenigstens so klein als möglich, haben wir unser gemeinsames Ziel erreicht.“

„Dann haben wir genug für Volk und Vaterland getan! Ah, da nähern sich schon wieder diese Presseleute. Ist mir nicht gerade angenehm. Ich werde mich jetzt davon schleichen. Ich wünsche ihnen viel Erfolg!“ meinte Canisius und wandte sich zum gehen.

„Ich ihnen auch!“ Rief ihm Helmfried noch nach, bevor nun er von einer Traube von Kameraleuten und Tontechniker umrungen war.

Chantal hatte  ein neues Opfer gefunden. Helmfried schien das gelegen, hatte er doch gerade einen grandiosen Sieg errungen. Unter solchen Umständen gab wohl jeder Politiker bereitwillig Interviews.

„Sehr geehrter Dr. Helmfried! Schön das ich sie hier erreichen konnte. Ganz einfache Frage: Wie fühlt man sich so als großer Sieger des Tages?“ bestürmte ihn Chantal.

„Gut! Ich fühle mich gut! Sehen sie das nicht? Der der kluge Mann ist bestrebt sich in Geduld zu üben um auf seine Chance zu warten. Nun ist es soweit!“ Antwortete Helmfried während er dabei von einem auf den anderen Fuß tänzelte.

„Sie werden bei den bevor stehenden Wahlen als Spitzenkandidat ihrer Partei zur Verfügung stehen?“

„Das versteht sich wohl von selbst! Ich bin bereit die Verantwortung für unser Land zu übernehmen. Es besteht kein Zweifel daran, das ich die Zustimmung meiner Fraktion, ja der gesamten Partei bekommen werde!“ Wähnte sich Helmfried siegessicher.

„Welche Ziele haben sie sich gesteckt? Ich meine gibt es schon ein Konzept für einen eventuellen Politikwechsel, so wie sie es doch stets gefordert haben?“ Bohrte Chantal nach.

„Nun, es wird nach dem guten alten Prinzip verfahren. Wir werden dort ansetzen, wo die alte Regierung aufgehört hat. Das hat Tradition in diesem unserem Lande, und ich wäre der letzte der mit altem bewährten brechen würde. Wir werden lediglich etwas konsequenter und effektiver an die Aufgaben gehen, als unsere Vorgänger, das ist alles. Mehr kann ich da im Moment auch nicht sagen!“ Klärte Helmfried auf.

„Also sie glauben ganz fest an einen Sieg ihrer Partei?“

„Aber natürlich, was denn sonst? Alles andere wäre wider die Natur!“

„Und was ist mit der großen Unbekannten? Ich meine diese neue Kraft, die sich da gerade um diesen Cornelius und um Elena schart. Nehmen sie die ernst?“ provozierte Chantal.

„Nicht im geringsten! Die lassen wir einfach links liegen, dort wo sie hin gehören. Nichtbeachtung ist das Beste das wir in dieser Situation tun können. Sie brauchen sich darum keine Gedanken zu machen, mit denen werden wir sehr schnell fertig. Deshalb befürworte ich ja auch die vorgezogenen Wahlen. Unser Land soll schnellst möglich wieder in gewohntes ruhiges Fahrwasser gelangen. Dieser Spuk wird sein vorzeitiges Ende finden und die Demokraten sind dann wieder unter sich!“

„Dem ist wohl nichts hinzu zufügen! Ich danke für das Gespräch!“ erwiderte Chantal!

„Gern geschehen! Keine Ursache!“ gab Helmfried galant zurück.

 

Ein anderer konnte mit dererlei Aussagen nicht aufwarten. Die Bevölkerung Melancholaniens wurde am späteren Abend noch Zeuge eines bisher beispiellosen Spektakels.

Romuald hatte geschworen, bei einer Niederlage seinen Hut zu essen. Und tatsächlich, es geschah.

Vor laufenden Kameras aß er seinen Hut.

Die Parlamentskantine hatte den Homburg, den er üblicherweise zu tragen pflegte, leicht angeschmort und in Butter gegart, das sollte den Verzehr etwas erleichtern.

Romuald war der große Verlierer des Tages. Bis auf die Knochen blamiert. Von den eigenen Leuten hintergangen, verraten und verkauft. Die Politik war und blieb ein schmutziges Geschäft. Wie gut das es die Wirtschaft gab. Schon seit einiger Zeit pflegte er einen guten Draht in die Holz und Forstwirtschaft, das kam ihm jetzt sehr entgegen. Denn politisch stand er auf dem Abstellgleis.

Eines konnte man den melancholanischen Politikern nicht absprechen, die pflegten stets ihr Wort zu halten..

Die Prozedur zog sich in die Länge, denn es ist nicht gerade ein einfaches Unterfangen einen solchen Filz herunter zu würgen. Romuald erleichterte sich das ganze indem er sich zu diesem außergewöhnlichen Essen einen ganz exzellenten Burgunder servieren ließ. Er nahm davon auch ein wenig mehr als sonst so üblich, bei dieser ungewöhnlichen Kost sicher verständlich.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten? Wer aber lachte jetzt? Romuald hatte es hinter sich! Bald schon konnte er es sich, wie Canisius in der Chefetage eines Großunternehmens behaglich machen und gelassen den Dingen harren, die  noch kommen sollten.

Wie lange jedoch Helmfried der strahlende Sieger des Tages seinen Triumph auskosten konnte, stand derweil  noch in den Sternen. All zu lange sicher nicht! An seinem leichtfertigen Aussagen vor der Kamera würde er bedeutend heftiger würgen müssen, als es jetzt Romuald an seinem Hute tat.

 

 

Die Geschichtsschreibung datiert diese Abstimmung als Anfang vom Ende der alten melancholanischen Republik.

Im guten Glauben das alte Bewährte für die Zukunft konserviert zu haben, wurden Canisius und Helmfried tatsächlich unbewusst zu Totengräbern der alten Ordnung. Die Flucht nach vorn sollte sich schon bald als Sackgasse erweisen.  In absehbarer Zeit würde nichts mehr sein wie es einmal war.  Ein Unwetter mit gigantischen Auswirkungen zog am Horizont heran.  Der bevorstehende Wahlkampf sollte den Auftakt dazu bieten.

Canisius und Romuald konnten erleichtert durchatmen, denn sie waren raus aus dem Geschehen. Helmfried jedoch stand noch mittendrin und würde der Flutwelle standhalten müssen, oder sang und klanglos in ihr versinken. Neues bahnte sich an, wer über seherische Fähigkeiten verfügte, konnte schon erahnen, welch tief greifende Veränderungen es mit sich bringen sollte.    

 

Als Romuald endlich seinen Hut verspeist hatte und von allen unbeachtet durch das Portal nach draußen schritt, verspürte er ein seltsames Völlegefühl in der Magengegend. Er würde in den Folgetagen sicher mit erheblichen Verdauungsproblemen zu kämpfen haben. Aber er hatte es hinter sich.

Somit konnte er noch einmal für eine heitere Episode am Ende seiner politischen Laufbahn sorgen.

So heiter würde es lange nicht mehr zugehen in Melancholanien. Lange, sehr lange, viel zu lange.

 

 

 

* Originalzitat Angela Merkel als Gegenposition Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen!"

** Originalzitat Friedrich Nitzsche

​*** "Ich werde unser Land führen wie eine Deutschland-AG- Originalzitat Gerhard Schröder